Das Spiel der Götter (6) - Steven Erikson - E-Book

Das Spiel der Götter (6) E-Book

Steven Erikson

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Beschreibung

Die erbittert um die Macht ringenden Schwestern Tavore und Sha´ik bereiten sich mit ihrem Gefolge auf eine kriegerische Konfrontation vor. Beide ahnen nicht, dass weit entfernt ein Geschehen seinen Anfang genommen hat, dass dem Spiel der Mächte eine völlig neue Wendung geben wird ...

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Seitenzahl: 848

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »House of Chains. A Tale of the Malazan Book of the Fallen.« (Books 1 & 2) bei Bantam Press London.
Copyright © by Steven Erikson 2002 Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung:© Isabelle Hirtz, Inkcraft Umschlagillustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft Redaktion: Sigrun Zühlke UH erstellung: Peter Papenbrok Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin
ISBN 978-3-641-08978-8 V003
www.blanvalet.de www.penguinrandomhouse.de

Buch

Tavore, die Mandata von Imperatrix Laseen, ist in Aren, der letzten von den Malazanern beherrschten Festung im Reich der Sieben Städte, gelandet, um sich nun mit einer hoffnungslos unterlegenen kleinen Armee den Horden des Wirbelwinds und seiner Seherin Sha’ik entgegenzustellen. Doch Sha’ik hat in ihrer Oase im Herzen der Raraku ganz andere Probleme: Zum einen sind da ihre miteinander rivalisierenden Unteranführer, zum anderen verursacht ihr die Aussicht auf die Konfrontation mit ihrer Schwester, der Mandata, im wahrsten Sinne des Wortes Albträume. Doch keine der beiden im großen Spiel der Mächte auf unterschiedlichen Seiten stehenden Schwestern ahnt etwas von jenen Geschehnissen, die bereits vor einigen Jahren jenseits des Meeres, auf den sturmzerzausten Höhen des Laederon-Plateaus begonnen haben  – und die jetzt von entscheidender Bedeutung im Ringen um die Macht sein werden …

Autor

Steven Erikson, in Kanada geboren, lebte viele Jahre in der Nähe von London, ehe er kürzlich in seine Heimat nach Winnipeg zurückkehrte. Der Anthropologe und Archäologe legte 1999 nach einer sechsjährigen akribischen Vorbereitungsphase seinen weltweit beachteten Debütroman »Die Gärten des Mondes« vor.

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorWidmungDanksagungPrologBuch Eins - Gesichter im Fels
Kapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel Vier
Buch Zwei - Kaltes Eisen
Kapitel FünfKapitel SechsKapitel SiebenKapitel AchtKapitel NeunKapitel ZehnKapitel Elf
Dramatis PersonaeGlossarCopyright

Für Mark Paxton MacRae, für den KO-Schlag. Dies alles ist für dich, mein Freund.

Danksagung

Der Autor möchte seinem Kader von Lesern danken: Chris Porozny, Richard Jones, David Keck und Mark Paxton MacRae. Und wie immer Clare und Bowen. Simon Taylor und der Mannschaft bei Transworld. Und dem fantastischen (und geduldigen) Team von Tony’s Bar Italia: Erica, Steve, Jesse, Dan, Ron, Orville, Rhimpy, Rhea, Cam, James, Dom, Konrad, Darren, Rusty, Phil, Todd, Marnie, Chris, Leah, Ada, Kevin, Jake, Jamie, Graeme und Dom. Ein Dankeschön auch an Darren Nash (denn der Schaum steigt immer) und Peter Crowther.

Prolog

Am Rande des Entstehenden, am 943sten Tag der SucheIm Jahre 1159 von Brands Schlaf

 

Grau, aufgedunsen und narbenübersät lagen die Leichen entlang des salzverkrusteten Ufers, so weit das Auge reichte. Das verwesende Fleisch – wie Treibholz vom ansteigenden Wasser aufgetürmt, das an den Rändern wogte, sich hob und senkte – wimmelte von schwarz gepanzerten, zehnbeinigen Krabben. Die münzgroßen Kreaturen hatten gerade erst begonnen, sich über das mehr als reichhaltige Festmahl herzumachen, welches das Zerbrechen des Gewirrs vor ihnen ausgebreitet hatte.

Das Meer spiegelte den Farbton des tief hängenden Himmels. Trübes, fleckiges Zinngrau oben und unten, nur unterbrochen vom dunkleren Grau des Schlicks und den schmierigen Ockertönen der dreißig Ruderschläge entfernt gelegenen, kaum sichtbaren Obergeschosse der Häuser einer überschwemmten Stadt. Die Stürme waren weitergezogen, die Wasser hatten sich inmitten der Trümmer einer ertrunkenen Welt beruhigt.

Klein und untersetzt waren ihre Einwohner gewesen. Mit breiten, flächigen Gesichtszügen und langen blonden Haaren, die sie offen getragen hatten. Ihre Welt war kalt gewesen, das ließ sich aus ihrer dick wattierten Kleidung schließen. Aber mit dem Zerbrechen des Gewirrs hatte sich alles grundlegend geändert. Die Luft war schwül und feucht und roch jetzt faulig, nach Verfall und Verwesung.

Das Meer war einst – in einer anderen Sphäre – ein Fluss gewesen, eine gewaltige, breite, sich wahrscheinlich über Kontinente erstreckende Arterie aus frischem Wasser, schwer mit dem Schlamm einer Ebene beladen, die dunklen Tiefen das Heim großer Welse und wagenradgroßer Spinnen, die Untiefen von Krabben und Fleisch fressenden, wurzellosen Pflanzen wimmelnd. Wie ein Sturzbach hatte sich der Fluss in diese weite, flache Landschaft ergossen. Tage, Wochen, Monate.

Stürme, die durch den lebhaften Zusammenprall tropischer Luftströmungen mit dem hier herrschenden, gemäßigten Klima entstanden waren, hatten die Flut mit heulenden Winden vorangetrieben, und noch vor den unaufhaltsam steigenden Wassermassen kamen tödliche Seuchen und rafften diejenigen hinweg, die bis dahin noch nicht ertrunken waren.

Irgendwie hatte der Riss sich irgendwann in der vergangenen Nacht wieder geschlossen. Der Fluss aus einer anderen Sphäre war in sein ursprüngliches Bett zurückgekehrt.

Das Ufer vor ihm verdiente diese Bezeichnung eigentlich nicht, doch Trull Sengar fiel kein anderes Wort ein, als er daran entlanggezerrt wurde. Der Strand bestand nur aus Schlick und Schlamm, der vor einer riesigen Mauer aufgehäuft war, die sich von Horizont zu Horizont zu erstrecken schien. Die Mauer hatte der Flut widerstanden, auch wenn jetzt an der anderen Seite Wasser hinunterlief.

Leichen zu Trulls Linken, ein jäher Absturz von sieben, vielleicht auch acht Mannslängen zu seiner Rechten, die Krone der Mauer selbst etwas weniger als dreißig Schritt breit; dass sie ein ganzes Meer zurückhielt, gemahnte an Zauberei. Die breiten, flachen Steine unter seinen Füßen waren schlammverschmiert, doch sie trockneten bereits in der Hitze; bräunliche Insekten tanzten auf ihrer Oberfläche und sprangen davon, wenn Trull Sengar und seine Häscher herankamen.

Trull hatte immer noch Schwierigkeiten mit dieser Bezeichnung. Seine Häscher. Ein Wort, mit dem er kämpfte. Schließlich waren sie seine Brüder. Seine Verwandten. Gesichter, die er sein ganzes Leben lang gekannt hatte, Gesichter, die er hatte lächeln und lachen sehen, Gesichter, in denen er – manchmal – seinen eigenen Kummer wie in einem Spiegel gesehen hatte. Er hatte immer an ihrer Seite gestanden, hatte alles miterlebt – die ruhmreichen Triumphe ebenso wie die seelenzerreißenden Verluste.

Häscher.

Jetzt gab es kein Lächeln. Kein Lachen. Die Gesichter derjenigen, die ihn hielten, waren kalt und starr.

So weit ist es mit uns gekommen.

Der Marsch endete. Hände stießen Trull Sengar zu Boden, ohne auf seine blauen Flecken zu achten, auf die Schnittwunden und Abschürfungen, aus denen immer noch Blut troff. Aus einem unbekannten Grund waren von den Bewohnern dieser Welt schwere eiserne Ringe in die Mauerkrone eingelassen und fest im Herzen der gewaltigen Steinblöcke verankert worden. Die Ringe zogen sich in gleichmäßigen Abständen – etwa alle fünfzehn Schritt – über die gesamte Länge der Mauer, so weit Trull sehen konnte.

Jetzt bekamen diese Ringe eine neue Aufgabe.

Ketten wurden um Trull Sengar geschlungen, Hand- und Fußschellen um seine Handgelenke und Knöchel gelegt und festgehämmert. Ein beschlagener Gurt wurde schmerzhaft eng um seine Taille gezurrt, die Ketten wurden durch eiserne Schlaufen geführt und dann straff angezogen, um ihn neben einem eisernen Ring festzubinden. Ein mit Scharnieren versehener, aufklappbarer Spanner wurde an seinem Kiefer befestigt, sein Mund gewaltsam geöffnet, die Platte hineingeschoben und über seiner Zunge arretiert.

Dann folgte das Scheren. Ein Dolch beschrieb einen Kreis auf seiner Stirn, gefolgt von einem groben Schnitt, um den Kreis zu brechen. Die Messerspitze drang dabei so tief ein, dass sie seinen Knochen ankratzte. Asche wurde in seine Wunden gerieben. Sein langer Zopf wurde mit groben Schnitten, die aus seinem Nacken eine blutige Masse machten, abgesäbelt. Dann wurde eine dickflüssige, widerliche Salbe in die ihm noch verbliebenen Haare geschmiert und in seine Kopfhaut einmassiert. Binnen weniger Stunden würden ihm auch die restlichen Haare noch ausfallen, und er würde für immer kahl bleiben.

Das Scheren war etwas Absolutes, ein unwiderruflicher Akt der Trennung. Er war jetzt ein Ausgestoßener. Für seine Brüder hatte er aufgehört zu existieren. Er würde nicht betrauert werden. Seine Taten würden genau wie sein Name aus der Erinnerung getilgt werden. Seine Mutter und sein Vater würden einfach ein Kind weniger zur Welt gebracht haben. Bei seinem Volk war dies die grässlichste aller Strafen  – weit schlimmer als eine Hinrichtung.

Doch Trull Sengar hatte kein Verbrechen begangen.

So weit ist es nun also mit uns gekommen.

Sie standen über ihm, begriffen vielleicht erst jetzt, was sie getan hatten.

Eine vertraute Stimme brach das Schweigen. »Wir werden jetzt von ihm sprechen, und wenn wir diesen Ort verlassen, wird er aufgehört haben, unser Bruder zu sein.«

»Wir werden jetzt von ihm sprechen«, intonierten die anderen, und dann fügte einer von ihnen hinzu: »Er hat dich verraten.«

Die erste Stimme war kühl. Der Sprecher ließ sich nichts von seiner hämischen Freude anmerken, die er, wie Trull Sengar wusste, wohl empfand. »Du sagst, er hat mich verraten.«

»Das hat er, Bruder.«

»Welchen Beweis hast du dafür?«

»Seine eigenen Worte.«

»Bist nur du es, der behauptet, solch Worte des Verrats gehört zu haben?«

»Nein, auch ich habe es gehört, Bruder.«

»Und ich.«

»Und was hat unser Bruder zu euch gesagt?«

»Er hat gesagt, dass du dich von uns abgewandt hast.«

»Dass du nun einem verborgenen Herrn dienst.«

»Dass dein Ehrgeiz uns allen den Tod bringen wird –«

»Unserem ganzen Volk.«

»Dann hat er also gegen mich gesprochen.«

»Das hat er.«

»Mit seinen eigenen Worten hat er mich angeklagt, unser Volk zu verraten.«

»Das hat er.«

»Und – habe ich das getan? Lasst uns über diese Vorwürfe nachdenken. Die Südlande stehen in Flammen. Die Armeen der Feinde sind geflohen. Die Feinde knien jetzt vor uns und betteln darum, unsere Sklaven werden zu dürfen. Aus dem Nichts wurde ein Reich geschmiedet. Und unsere Macht wächst weiter. Aber … um noch stärker zu werden, was müsst ihr, meine Brüder, da tun?«

»Wir müssen suchen.«

»Ja. Und wenn ihr findet, was gesucht werden muss?«

»Müssen wir es übergeben. Dir übergeben, Bruder.«

»Begreift ihr, wie wichtig das ist?«

»Ja, das begreifen wir.«

»Könnt ihr das Opfer ermessen, das ich bringe – für euch, für unser Volk, für unsere Zukunft?«

»Ja, das können wir.«

»Doch – sogar als ihr gesucht habt, hat dieser Mann, euer ehemaliger Bruder, gegen mich gesprochen.«

»Das hat er.«

»Schlimmer noch, er hat mit seinen Worten die neuen Feinde verteidigt, auf die wir gestoßen waren.«

»Das hat er. Er hat sie die Reinen Verwandten genannt und gesagt, dass wir sie nicht töten sollten.«

»Und … wenn sie tatsächlich die Reinen Verwandten gewesen wären, dann …«

»Wären sie nicht so leicht gestorben.«

»Also?«

»Er hat dich verraten, Bruder.«

»Er hat uns alle verraten.«

Es wurde still. Oh, jetzt möchtest du sie alle an deinem Verbrechen teilhaben lassen. Und sie zögern.

»Er hat uns alle verraten – das hat er doch, Brüder?«

»Ja.« Das Wort kam rau, leise und undeutlich – ein Chor aus Unsicherheit und Zweifel.

Längere Zeit sprach niemand ein Wort. Dann, wild, mit kaum gezügelter Wut: »Also, Brüder. Sollten wir auf diese Gefahr denn nicht Acht geben? Auf diesen bedrohlichen Verrat, dieses Gift, diese Seuche, die unsere Familie auseinander reißen will? Wird sie sich ausbreiten? Werden wir noch einmal hierher kommen? Wir müssen Acht geben, Brüder. Auf uns selbst. Aufeinander. Nun haben wir von ihm gesprochen. Und nun ist er fort.«

»Er ist fort.«

»Er hat niemals existiert.«

»Er hat niemals existiert.«

»Dann lasst uns diesen Ort verlassen.«

»Ja, lasst uns gehen.«

Trull Sengar lauschte, bis er das Knirschen ihrer Stiefelsohlen auf den Steinen nicht mehr hören, die Erschütterungen ihrer Schritte allmählich nicht mehr spüren konnte. Er war allein, unfähig, sich zu bewegen, und konnte nur den schlammverschmierten Stein unter dem Eisenring sehen.

Das Meer ließ die Leichen immer wieder raschelnd ans Ufer treiben. Krabben flitzten hin und her. Wasser sickerte weiter durch den Mörtel, flüsterte dem zyklopischen Wall mit der Stimme murmelnder Geister etwas zu, und strömte auf der anderen Seite hinunter.

In seinem Volk herrschte seit langem die Überzeugung – vielleicht die einzig echte Überzeugung –, dass die Natur nur einen einzigen, ewig währenden Kampf focht. Gegen einen einzigen Feind. Und dass dies zu verstehen bedeutete, die Welt zu verstehen. Jede Welt.

Die Natur hat nur einen einzigen Feind.

Und der heißt Ungleichgewicht.

Die Mauer hielt das Meer zurück.

Und dieser Satz hat zwei Bedeutungen. Könnt ihr das nicht erkennen, meine Brüder? Zwei Bedeutungen. Die Mauer hält das Meer zurück.

Für den Augenblick.

Dies war eine Flut, die man nicht leugnen konnte. Die Sintflut hatte gerade erst begonnen – das war etwas, was seine Brüder nicht verstehen konnten, was sie vielleicht niemals verstehen würden.

Zu ertrinken war etwas Alltägliches bei seinem Volk. Es fürchtete sich nicht vor dem Ertrinken. Und so würde Trull Sengar ertrinken. Bald.

Buch Eins

Gesichter im Fels

Je langsamer ein Fluss ist, desto röter strömt er dahin.

 

Kapitel Eins

Kinder aus einem dunklen Haus wählen schattige Pfade.

Volkstümliches Nathii-Sprichwort

Der Hund hatte eine Frau, einen alten Mann und ein Kind angefallen, bevor die Krieger ihn in eine verlassene Darre am Rande des Dorfs trieben. Niemals zuvor hatte das Tier Anlass zu Zweifeln an seiner Loyalität gegeben. Es hatte die Lande der Uryd mit grimmigem Eifer bewacht, eins mit seinen Verwandten in ihren harten, aber gerechten Pflichten. Es hatte keinerlei Wunden am Körper, die hätten eitern und so dem Geist des Wahnsinns Zugang zu seinen Adern erlauben können. Auch war der Hund nicht von der schäumenden Krankheit befallen, seine Stellung in der zum Dorf gehörenden Meute nicht herausgefordert worden. Tatsächlich schien es nichts, überhaupt nichts zu geben, das als Ursache seiner plötzlichen Wandlung in Frage gekommen wäre.

Die Krieger hefteten das Tier mit ihren Speeren an die gerundete Rückwand der Darre und stachen auf das um sich schnappende, jaulende Biest ein, bis es tot war. Als sie ihre Speere zurückzogen, sahen sie, dass die Schäfte zerbissen und mit Blut und Sabber verschmiert waren; sie sahen Zahnabdrücke im beschädigten Eisen.

Sie wussten, dass Wahnsinn im Verborgenen bleiben, dass er tief unter der Oberfläche hausen konnte wie ein schleichender Beigeschmack, der Blut in etwas Bitteres verwandelte. Die Schamanen untersuchten die drei Opfer; zwei waren bereits an ihren Wunden gestorben, doch das Kind klammerte sich ans Leben.

In einer feierlichen Prozession wurde der Junge von seinem Vater zu den Gesichtern im Fels getragen, wurde auf der Lichtung vor den Sieben Göttern der Teblor niedergelegt und dort zurückgelassen.

Er starb kurze Zeit später. Allein mit seinen Schmerzen, im Angesicht der harten, in die Klippe gemeißelten Gesichter.

Dieses Schicksal kam nicht überraschend. Schließlich war das Kind zu jung gewesen, um beten zu können.

All dies war natürlich schon vor Jahrhunderten geschehen.

Lange bevor die Sieben Götter die Augen öffneten.

 

 

Das Jahr Urugals, des GewobenenIm Jahre 1159 von Brands Schlaf

 

Es waren ruhmreiche Geschichten. Von brennenden Bauernhöfen, von Kindern, die unzählige Meilen hinter den Pferden hergeschleift wurden. Die Trophäen jenes Tages, der nun schon so lange zurücklag, befanden sich im Langhaus seines Großvaters und bedeckten dort die niedrigen Wände. Verkohlte Schädeldecken, zerbrechlich aussehende Kieferknochen. Fetzen von merkwürdigen Kleidern aus irgendeinem unbekannten Material, zerrissen und rauchgeschwärzt. Kleine Ohren, die an jeden Pfosten genagelt waren, der sich zum strohgedeckten Dach hinaufreckte.

Beweise dafür, dass es den Silbersee wirklich gab, dass er tatsächlich existierte, jenseits der waldbestandenen Berge, unterhalb verborgener Pässe, eine Woche – oder vielleicht auch zwei – von den Landen des Uryd-Clans entfernt. Selbst der Weg dorthin war gefährlich, denn er führte durch Gebiete, die von den Clans der Sunyd und der Rathyd gehalten wurden, eine Reise, die für sich betrachtet schon wert war, zur Legende zu werden. Sich lautlos und ungesehen durch feindliche Lager zu bewegen, Herdsteine zu verrücken, um den Feinden die schlimmste aller Beleidigungen zuzufügen, den Jägern und Spurensuchern Tag und Nacht zu entgehen, bis die Grenzlande erreicht und schließlich durchquert waren – und dahinter dann ein unbekanntes Land und unvorstellbare Reichtümer.

Karsa Orlong lebte in den Geschichten seines Großvaters, sog sie ein wie die Atemluft. Sie standen wie eine Legion, trotzig und wild, vor dem farblosen, leeren Vermächtnis von Synyg – Pahlks Sohn und Karsas Vater. Synyg, der sein Leben lang nichts getan hatte, als einfach nur in seinem Tal Pferde zu züchten, und der kein einziges Mal in feindliche Lande gezogen war. Synyg, der die größte Schande seines Vaters und auch seines Sohnes war.

Gewiss, Synyg hatte mehr als einmal seine Pferde gegen Plünderer aus anderen Clans verteidigt, und er hatte sie gut verteidigt, mit rühmlicher Wildheit und bewundernswertem Können. Aber etwas anderes war von denen, in deren Adern das Blut der Uryd floss, auch nicht zu erwarten. Urugal der Gewobene war das Gesicht im Fels, das ihrem Clan zugeordnet war, und Urugal zählte zu den wildesten der sieben Götter. Die anderen Clans hatten allen Grund, die Uryd zu fürchten.

Zweifellos hatte Synyg auch seinen einzigen Sohn meisterhaft in den Kampftänzen unterrichtet. Karsas Fertigkeiten im Umgang mit der Klinge aus Blutholz waren weit größer, als sein Alter hätte vermuten lassen. Er zählte zu den besten Kriegern des Clans. Während die Uryd den Gebrauch des Bogens verachteten, konnten sie hervorragend mit Speer und Atlatl umgehen, mit der gezackten Wurfscheibe und dem Schwarzen Seil, und Synyg hatte seinem Sohn auch im Umgang mit diesen Waffen zu einer beeindruckenden Geschicklichkeit verholfen.

Allerdings war diese Art von Ausbildung genau das, was von jedem Vater im Uryd-Clan erwartet wurde. Daher waren all diese Dinge für Karsa kein Grund, stolz auf seinen Vater zu sein. Die Kampftänze waren schließlich nichts anderes als Vorbereitungen. Ruhm war in all dem zu finden, was darauf folgte – in den Kämpfen, den Raubzügen, der bösartigen Fortführung von Fehden.

Karsa würde nicht tun, was sein Vater getan hatte. Er würde nicht … nichts tun. Nein, er würde auf den Spuren seines Großvaters wandeln. Er würde ihnen viel genauer folgen, als irgendjemand sich vorstellen konnte. Der Ruf des Clans zehrte viel zu sehr von der Vergangenheit allein. Dass die Uryd allen anderen Teblor überlegen waren, hatte sie selbstgefällig gemacht. Pahlk hatte diese Tatsache mehr als einmal vor sich hin gemurmelt, in den Nächten, in denen seine Knochen von alten Wunden schmerzten und die Schmach, dass sein Sohn so war, wie er war, besonders bitter schmeckte.

Wir werden zu den alten Wegen zurückkehren. Und ich, Karsa Orlong, werde der Anführer sein. Delum Thord begleitet mich. Genau wie Bairoth Gild. Wir alle sind in unserem ersten Jahr der Narben. Wir haben tollkühne Taten vollbracht. Haben Feinde erschlagen. Pferde gestohlen. Die Herdsteine der Kellyd und der Buryd verrückt.

Und jetzt, an Neumond im Jahr deines Namens, Urugal, werden wir uns zum Silbersee hinabschlängeln. Um die Kinder zu erschlagen, die dort leben.

Er blieb weiter auf seinen Knien auf der Lichtung hocken, den Kopf vor den Gesichtern im Fels geneigt, und er wusste, dass Urugals Antlitz, hoch oben an der Felswand, den wilden Wunsch widerspiegelte, der sich auf seinen eigenen Zügen abzeichnete; und dass die Gesichter der anderen Götter, die alle ihre eigenen Clans besaßen – außer Siballe, die die Ungefundene war –, voller Hass und Missgunst auf Karsa hinabstarrten. Schließlich kniete keines ihrer Kinder vor ihnen, um solch kühne Eide zu schwören.

Karsa vermutete, dass alle Clans der Teblor unter Selbstzufriedenheit litten. Die Welt jenseits der Berge wagte es nicht, unbefugt hier einzudringen, hatte es jahrzehntelang nicht versucht. In die Lande der Teblor kamen keine Besucher. Genauso wenig hatten die Teblor ihrerseits mit dunklem Hunger über die Grenzlande hinausgeblickt, wie sie es vor Generationen oft getan hatten. Der letzte Mann, der einen Raubzug in fremdes Gebiet angeführt hatte, war sein Großvater gewesen. Zu den Ufern des Silbersees, an denen Bauernhöfe wie verfaulte Pilze kauerten und Kinder wie Mäuse hin und her huschten. Damals waren es zwei Bauernhöfe gewesen, mit einem halben Dutzend Außengebäuden. Jetzt würden es mehr sein, glaubte Karsa. Drei, vielleicht auch vier Höfe. Selbst Pahlks Tag des Gemetzels würde im Vergleich zu dem, was Karsa, Delum und Bairoth anrichten würden, blass erscheinen.

Das schwöre ich, geliebter Urugal. Ich werde dir einen Berg von Trophäen bringen, wie sie noch niemals die Krume dieser Lichtung geschwärzt haben. Vielleicht sogar genug, um dich vom Stein zu befreien, so dass du wieder in unserer Mitte schreiten wirst – ein Überbringer des Todes all unseren Feinden.

Das schwöre ich, Karsa Orlong, der Enkel von Pahlk Orlong. Und solltest du Zweifel haben, Urugal, so wisse, dass wir noch in dieser Nacht aufbrechen werden. Die Reise wird beginnen, sobald die Sonne untergegangen ist. Und so wie die Sonne eines jeden Tages die Sonne des nächsten Tages gebiert, so wird sie auf drei Krieger aus dem Uryd-Clan herabschauen, die ihre Streitrosse durch die Pässe führen, hinab in die unbekannten Lande. Und die Kinder am Silbersee werden nach mehr als vier Jahrhunderten erneut bei der Ankunft der Teblor erzittern.

Langsam hob Karsa den Kopf, ließ den Blick über die verwitterte Oberfläche der Klippe wandern, suchte das grobe, tierische Gesicht Urugals inmitten seiner Verwandten. Der Blick aus den leeren Augenhöhlen schien auf ihn gerichtet zu sein, und Karsa glaubte, Begeisterung in den Teichen aus Dunkelheit erkennen zu können. Tatsächlich war er sich dessen sicher und würde es Delum und Bairoth gegenüber als Tatsache hinstellen – und gegenüber Dayliss, so dass sie ihren Segen sprechen würde, denn er wünschte sich ihren Segen, ihre kalten Worte … Ich, Dayliss, die noch einen Familiennamen finden muss, segne dich, Karsa Orlong, auf deinem entsetzlichen Raubzug. Mögest du eine Legion Kinder erschlagen. Mögen ihre Schreie deine Träume nähren. Möge ihr Blut dich nach mehr dürsten lassen. Mögen Flammen den Pfad deines Lebens ständig begleiten. Mögest du zu mir zurückkehren, mit tausend Toten auf deiner Seele, und mich zu deinem Weibe nehmen.

Vielleicht würde sie ihn tatsächlich so segnen. Es wäre ein erster, jedoch unbestreitbarer Ausdruck ihres Interesses an ihm. Nicht an Bairoth  – sie spielte nur mit Bairoth, wie es jede junge, unverheiratete Frau zu ihrem Vergnügen tun würde. Ihr Messer der Nacht blieb natürlich in der Scheide, denn Bairoth fehlte jeglicher kalter Ehrgeiz – eine Schwäche, die er vielleicht abstreiten würde, die sich jedoch in der Tatsache, dass er nicht anführte, sondern nur folgte, offenbarte, und damit würde Dayliss sich nicht zufrieden geben.

Nein, wenn er zurückkehrte, würde sie ihm, Karsa, gehören – es würde der Höhepunkt seines triumphalen Raubzugs zum Silbersee sein. Für ihn, einzig und allein für ihn, würde Dayliss ihr Messer der Nacht zücken.

Mögest du eine Legion Kinder erschlagen. Mögen Flammen den Pfad deines Lebens ständig begleiten.

Karsa richtete sich auf. Nicht der leiseste Windhauch raschelte in den Blättern der Birken, die die Lichtung umgaben. Die Luft war drückend, eine Luft aus dem Tiefland, die sich im Gefolge der Sonne ihren Weg hinauf ins Gebirge gesucht hatte, und nun, da die Sonne sank, auf der Lichtung vor den Gesichtern im Fels gefangen war. Wie ein Atemzug der Götter, der schon bald in den faulenden Boden einsickern würde.

Karsa hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Urugal gegenwärtig war, dicht hinter der steinernen Haut seines Gesichts, wie er es immer gewesen war. Angezogen durch die Macht von Karsas Schwur, durch das Versprechen einer Rückkehr zu ruhmreichen Tagen. Genau wie die anderen Götter. Beroke Sanfte Stimme, Kahlb der Schweigende Jäger, Thenik der Zerschmetterte, Halad von den Folterqualen, Imroth die Grausame und ’Siballe die Ungefundene – sie alle waren einmal mehr erwacht und lechzten nach Blut.

Und ich habe diesen Pfad gerade erst eingeschlagen. Frisch im achtzigsten Jahr meines Lebens angekommen, endlich wirklich ein Krieger. Ich habe die ältesten Worte gehört, das Geraune von dem Einen, der die Teblor vereinen wird, der alle Clans miteinander verbinden, sie hinab in die Tieflande führen und so den Krieg der Völker beginnen wird. Dieses Geraune ist die Stimme des Versprechens – und diese Stimme ist die meine.

Verborgene Vögel kündeten vom Anbruch der Abenddämmerung. Es war Zeit zu gehen. Delum und Bairoth erwarteten ihn im Dorf. Und Dayliss, schweigend, doch festgelegt auf die Worte, die sie zu ihm sprechen würde.

Bairoth wird schrecklich wütend sein.

 

Noch lange, nachdem Karsa gegangen war, hing die warme Luft über der Lichtung. In der weichen, sumpfigen Erde lösten sich die Abdrücke seiner Knie und Mokassins nur langsam auf, und die allmählich verblassenden Strahlen der Sonne beschienen selbst dann noch die rauen Gestalten der Götter, als die Lichtung schon längst von Schatten beherrscht wurde.

Sieben Gestalten erhoben sich aus dem Boden, mit faltiger, von dunkelbraunen Flecken übersäter Haut über verwitterten Muskeln und schweren Knochen, mit Haaren, rot wie Ocker, aus denen abgestandenes, schwarzes Wasser troff. Einigen fehlten Gliedmaßen, andere standen auf zersplitterten, zerschmetterten oder verdrehten Beinen. Der einen fehlte ein Unterkiefer, während bei einer anderen der linke Wangenknochen und die Stirn flach gehämmert waren, so dass keine Augenhöhle mehr vorhanden war. Alle sieben waren auf irgendeine Weise nicht mehr heil. Sie waren unvollkommen. Fehlerhaft.

Irgendwo hinter der Felswand war eine versiegelte Höhle, die einige Jahrhunderte lang ihr Grab gewesen war – eine kurze Gefangenschaft, wie sich jetzt herausstellte. Keine der Gestalten hatte erwartet, dass sie erlöst werden würden. Zu stark verletzt, um noch bei ihren Verwandten zu bleiben, waren sie zurückgelassen worden, wie es bei ihrem Volk Brauch war. Die Strafe für Versagen war Aussetzung, eine Ewigkeit der Unbeweglichkeit. War das Versagen ehrenhaft gewesen, wurden ihre empfindungsfähigen Überreste unter offenem Himmel zurückgelassen, an Aussichtspunkten, von denen sie die Welt betrachten konnten, so dass sie Frieden im Vorbeiziehen der Äonen finden mochten. Doch das Vesagen dieser sieben war nicht ehrenhaft gewesen, und so war die Dunkelheit eines Grabes ihre Strafe gewesen. Wobei sie deshalb jedoch keine Bitterkeit verspürt hatten.

Jenes dunkle Geschenk kam später, von außerhalb ihres unerleuchteten Gefängnisses – und mit ihm eine Gelegenheit.

Man musste nur einen Eid brechen und jemand anderem Treue schwören. Die Belohnung hieß Wiedergeburt und Freiheit.

Ihre Verwandten hatten diesen Ort, an den sie verbannt worden waren, mit in den Fels gehauenen Abbildern gekennzeichnet – Abbildern, die ihnen glichen, deren leere, blinde Augenhöhlen angesichts der Aussicht, die die Verbannten niemals genießen konnten, einer Verhöhnung gleichkamen. Sie hatten ihre Namen gesprochen, um das Ritual des Bindens zu vollenden, und diese Namen dräuten an diesem Ort mit einer Macht, die den Verstand der Schamanen des Volkes verdrehte, das in diesen Bergen und auf dem Plateau mit dem alten Namen Laederon Zuflucht gefunden hatte.

Die Sieben standen stumm und reglos auf der Lichtung, während es immer dunkler wurde. Sechs warteten darauf, dass einer von ihnen sprach, doch dieser eine hatte keine Eile. Freiheit war reines Frohlocken, und auch wenn sie auf diese Lichtung begrenzt war, dauerte das Gefühl immer noch an. Nicht mehr lange, dann würden auch die letzten Ketten zerbrechen – die begrenzte Sichtweite aus den in den Fels gemeißelten Augenhöhlen. Der Dienst für den neuen Herrn versprach Reisen; sie würden eine ganze Welt entdecken und zahllose Wesen töten können.

Schließlich sprach Urual, dessen Name Bemooster Knochen bedeutete und der bei den Teblor als Urugal bekannt war. »Er wird genügen.«

Sin’b’alle – Flechten-Statt-Moos –, die ’Siballe die Ungefundene war, verbarg den Zweifel in ihrer Stimme nicht. »Du setzt zu viel Vertrauen in diese gefallenen Teblor. Teblor. Die wissen ja nicht einmal, wie sie wirklich heißen.«

»Sei froh, dass sie es nicht wissen«, erwiderte Ber’ok; seine Stimme war ein raues Krächzen, das aus einer zerquetschten Kehle drang. Da sein Hals verrenkt war und sein Kopf sich zu einer Seite neigte, war er gezwungen, den ganzen Körper zu drehen, um das steinerne Gesicht anzusehen. »Auf alle Fälle hast du deine eigenen Kinder, Sin’b’alle, und die sind die Hüter der Wahrheit. Was die anderen angeht, so ist es für unsere Ziele am besten, wenn die vergessene Geschichte auch weiterhin vergessen bleibt. Ihre Unwissenheit ist unsere größte Waffe.«

»Tote Esche spricht die Wahrheit«, meinte Urual. »Wir hätten ihren Glauben nicht so sehr verdrehen können, wären sie sich ihres Erbes bewusst.«

Sin’b’alle zuckte geringschätzig die Schultern. »Der mit Namen Pahlk hat auch … ausgereicht. Deiner Meinung nach, Urual. Einer, der es wert schien, meine Kinder zu führen, so hat es ausgesehen. Doch er ist gescheitert.«

»Das war unser Fehler, nicht seiner«, brummte Haran’alle. »Wir waren ungeduldig, haben zu sehr auf unsere Kraft vertraut. Den Eid zu brechen hat uns viel von unserer Macht geraubt –«

»Doch was hat unser neuer Meister uns von seiner Macht gegeben, Geweih des Sommers?«, wollte Thek Ist wissen. »Gerade mal ein Tröpfchen.«

»Und was erwartest du?«, fragte Urual ruhig. »Er erholt sich von seinen Qualen wie wir uns von den unseren.«

Jetzt sprach Emroth, und ihre Stimme war weich wie Seide. »Dann glaubst du also, Bemooster Knochen, dass dieser Enkel von Pahlk uns den Pfad in die Freiheit bereiten wird.«

»Ja, das glaube ich.«

»Und wenn wir erneut enttäuscht werden?«

»Dann werden wir von neuem beginnen. Mit Bairoths Kind in Dayliss’ Bauch.«

Emroth zischte. »Das bedeutet, dass wir noch einmal ein Jahrhundert warten müssen! Verdammt sollen diese langlebigen Teblor sein!«

»Ein Jahrhundert ist nichts –«

»Nichts, und doch alles, Bemooster Knochen! Und du weißt ganz genau, was ich meine.«

Urual musterte die Frau, die höchst treffend Skelett mit Fängen genannt wurde, was an ihre Neigungen als Wechselgängerin erinnerte – und an den Hunger, der vor langer Zeit so offensichtlich zu ihrer aller Versagen geführt hatte. »Das Jahr meines Namens ist wiedergekehrt«, sagte er. »Wer von uns hat je einen Clan der Teblor so weit auf unseren Pfad geführt wie ich? Du, Skelett mit Fängen? Du, Flechten-Statt-Moos? Du, Speerbein?«

Niemand antwortete.

Schließlich gab Tote Esche ein Geräusch von sich, das ein leises Lachen hätte sein können. »Wir sind wie Rotes Moos – wir schweigen. Der Weg wird geöffnet werden. So hat es uns unser neuer Herr versprochen. Er wird seine Macht finden. Uruals erwählter Krieger besitzt bereits ein gutes Dutzend Seelen in seiner Kette des Schlächters. Teblor-Seelen, was das angeht. Erinnert euch außerdem daran, dass Pahlk seinen Raubzug allein unternommen hat. Karsa dagegen wird zwei vortreffliche Krieger an seiner Seite haben. Sollte er sterben, ist da immer noch Bairoth – oder Delum.«

»Bairoth ist zu klug«, schnaubte Emroth. »Er schlägt Pahlks Sohn, seinem Onkel, nach. Und was noch schlimmer ist – sein Ehrgeiz gilt nur seinen persönlichen Zielen. Er gibt vor, Karsa zu folgen, doch er hält seine Hand in Karsas Rücken.«

»Und meine ist in seinem«, murmelte Urual. »Es ist fast Nacht. Wir müssen in unser Grab zurück.« Der uralte Krieger drehte sich um. »Skelett mit Fängen, bleibe dicht bei dem Kind in Dayliss’ Bauch.«

»Ich nähre sie schon jetzt an meiner Brust«, versicherte Emroth.

»Es ist ein Mädchen?«

»Nur äußerlich. Was ich in sie hineinlege, ist weder Mädchen noch Kind.«

»Gut.«

Die sieben Gestalten kehrten in die Erde zurück, als die ersten Sterne der Nacht blinzelnd am Himmel über ihren Köpfen erwachten. Blinzelnd erwachten und auf eine Lichtung herabblickten, auf der keine Götter hausten. Auf der niemals Götter gehaust hatten.

 

Das Dorf lag am steinigen Ufer des Laderii, eines von den Bergen gespeisten, reißenden Stroms aus bitterkaltem Wasser, der auf seinem Weg hinunter zu einem weit entfernten Meer ein Tal durch den Nadelwald schnitt. Die Häuser waren auf Fundamenten aus Felsblöcken errichtet, mit Wänden aus grob behauenen Zedernstämmen, die Dächer dick mit Matten bedeckt, bucklig und von Moos überwuchert. Überall am Ufer standen Gittergestelle, an denen Unmengen von Fisch zum Trocknen aufgehängt waren. Hinter einer Einfriedung aus Bäumen war der Wald gerodet worden, um Weiden für die Pferde zu schaffen.

Vom Nebel gedämpftes Feuerlicht flackerte durch die Bäume, als Karsa das Haus seines Vaters erreichte, wobei er an dem Dutzend Pferde vorbeikam, die still und reglos auf der Lichtung standen. Die einzige Bedrohung für sie waren Plünderer, denn diese Tiere wussten sich ihrer Haut mit Hufen und Zähnen zu wehren, und die Bergwölfe hatten schon vor langer Zeit gelernt, den großen Pferden aus dem Weg zu gehen. Gelegentlich kam ein Bär mit rostfarbenem Halsstreifen aus seinem Schlupfwinkel in den Bergen heruntergetrottet, aber das fiel normalerweise mit dem Zug der Lachse zusammen, und die Bären zeigten dann wenig Interesse, die Pferde, die Dorfhunde oder die furchtlosen Krieger herauszufordern.

Synyg war in der Übungs-Koppel und striegelte Havok, sein hoch geschätztes Streitross. Karsa konnte die Wärme des Tieres spüren, als er näher kam, obwohl es kaum mehr als eine schwarze Masse in der Dunkelheit war. »Rotauge streift noch immer ohne Zaumzeug herum«, sagte er grollend. »Du willst also nichts für deinen Sohn tun?«

Sein Vater striegelte Havok weiter. »Rotauge ist zu jung für so eine Reise; das habe ich dir doch schon gesagt –«

»Aber er gehört mir, und daher werde ich ihn reiten.«

»Nein. Ihm fehlt es an Unabhängigkeit, und bisher waren die Pferde von Bairoth und Delum nie dabei, wenn du ihn geritten hast. Du wirst ihm einen Dorn in die Nerven jagen.«

»Dann soll ich also zu Fuß gehen?«

»Ich gebe dir Havok, mein Sohn. Er ist heute Abend leicht gelaufen und trägt noch immer das Zaumzeug. Geh und such deine Ausrüstung zusammen, bevor er zu sehr abkühlt.«

Karsa sagte nichts. Er war tatsächlich erstaunt. Er drehte sich um und ging zum Haus. Sein Vater hatte seinen Packsack in der Nähe des Eingangs an einen Firstbalken gehängt, um ihn trocken zu halten. Sein Blutholzschwert hing in seinem Wehrgehenk daneben; es war frisch eingeölt, das Kriegswappen der Uryd frisch auf die breite Klinge gemalt. Karsa zog die Waffe herunter und schnallte sich den Gurt so um, dass der lederumwickelte, zweihändige Griff des Schwertes über seine linke Schulter ragte. Der Packen würde – am Steigbügelgurt befestigt – auf Havoks Schultern ruhen, wobei Karsas Knie allerdings den größten Teil des Gewichts übernehmen würden.

Ein Sattel gehörte nicht zu dem Geschirr, das die Teblor für ihre Pferde verwendeten; ein Krieger saß direkt auf dem Pferderücken, mit hochgezogenen Knien, die Hauptlast seines Gewichts gleich hinter den Schultern seines Reittiers. Zu den Trophäen aus dem Tiefland gehörten auch Sättel, und es hatte sich gezeigt, dass es eine deutliche Gewichtsverlagerung nach hinten gab, wenn sie den kleineren Tiefland-Pferden aufgelegt wurden. Doch ein wahres Streitross mochte kein zusätzliches Gewicht auf der Hinterhand, denn es wollte rasch auskeilen können. Außerdem musste ein Krieger den Hals und den Kopf seines Reittiers schützen – mit dem Schwert und – wenn nötig – mit den gepanzerten Unterarmen.

Karsa kehrte zu seinem Vater und Havok zurück.

»Bairoth und Delum erwarten dich an der Furt«, sagte sein Vater.

»Und Dayliss?«

Karsa konnte das Gesicht seines Vaters nicht sehen, als der tonlos erwiderte: »Dayliss hat Bairoth ihren Segen gegeben, nachdem du dich zu den Gesichtern im Fels aufgemacht hattest.«

»Sie hat Bairoth gesegnet?«

»Das hat sie.«

»Es scheint, als hätte ich sie falsch eingeschätzt«, sagte Karsa und kämpfte gegen ein ungewohntes Gefühl, das ihm die Kehle zuschnüren wollte.

»Das kann leicht geschehen, schließlich ist sie eine Frau.«

»Und du, Vater? Wirst du mir deinen Segen geben?«

Synyg reichte Karsa den Zügel und wandte sich um. »Pahlk hat das bereits getan. Das muss dir genügen.«

»Pahlk ist nicht mein Vater!«

Synyg verharrte in der Dunkelheit. Er schien nachzudenken, dann sagte er: »Nein, das ist er nicht.«

»Dann wirst du mich also segnen?«

»Was soll ich denn deiner Meinung nach segnen, mein Sohn? Die Sieben Götter, die eine Lüge sind? Den Ruhm, der hohl ist? Wird es mir gefallen, wenn du Kinder erschlägst? Werden mir die Trophäen gefallen, die du dir an den Gürtel binden wirst? Mein Vater, Pahlk, ist in einem Alter, da er seine eigene Jugend hell erstrahlen sehen will. Mit welchen Worten hat er dich gesegnet, Karsa? Dass du das, was er erreicht hat, übertreffen sollst? Das kann ich mir nicht vorstellen. Denke sorgfältig über seine Worte nach, und ich nehme an, du wirst feststellen, dass sie mehr für ihn bestimmt waren als für dich.«

»›Ich, Pahlk, der Entdecker des Pfades, dem du folgen wirst, segne deine Reise.‹ Das waren seine Worte.«

Synyg schwieg einen Augenblick lang, doch als er jetzt sprach, konnte sein Sohn das grimmige Lächeln aus seinen Worten heraushören, obwohl er es nicht sehen konnte. »Wie ich gesagt habe.«

»Mutter hätte mich gesegnet«, schnappte Karsa.

»Wie eine Mutter es tun muss. Aber ihr Herz wäre schwer gewesen. Geh denn also, mein Sohn. Deine Kameraden warten auf dich.«

Mit einem wütenden Knurren schwang sich Karsa auf den breiten Rücken des Streitrosses. Havok wandte den Kopf angesichts des unvertrauten Reiters und schnaubte.

Aus dem Zwielicht erklang Synygs Stimme. »Es gefällt ihm nicht, Wut zu tragen. Beruhige dich, mein Sohn.«

»Ein Schlachtross, das sich vor Wut fürchtet, ist so gut wie nutzlos. Havok wird sich eben an den gewöhnen müssen, der ihn jetzt reitet.« Bei diesen Worten legte Karsa ein Bein zurück und wendete das Streitross mit einem Schnalzen des einzigen Zügels. Eine leichte Bewegung der Zügelhand schickte das Pferd vorwärts auf den Pfad.

Vier Blutpfähle, die jeweils für eines von Karsas geopferten Geschwistern standen, waren am Rand des Pfades aufgereiht, der ins Dorf führte. Im Gegensatz zu vielen anderen hatte Synyg die geschnitzten Pfähle ungeschmückt gelassen; er hatte nur die Schriftzeichen eingeritzt – die Namen seiner drei Söhne und der einen Tochter, die er den Gesichtern im Fels gegeben hatte –, gefolgt von einem kleinen Spritzer seines Blutes, das kaum den ersten Regen überdauert hatte. Und es wanden sich auch keine Zöpfe die mannshohen Pfähle hinauf und vereinten sich an der Spitze zu einem gefiederten, mit Darm verknoteten Schopf; stattdessen rankten nur Reben um das verwitterte Holz, und die abgeflachte Spitze war voller Vogelkot.

Karsa wusste, dass seine Geschwister mehr als dieses Gedenken verdient hatten, und er nahm sich vor, im Augenblick des Angriffs ihre Namen auf den Lippen zu führen – so dass er töten würde, während ihre Schreie noch durch die Luft gellten. Seine Stimme würde ihre Stimme sein, wenn es so weit war. Sie hatten schon viel zu lange unter der Missachtung ihres Vaters gelitten.

Der Pfad weitete sich, flankiert von alten Baumstümpfen und niedrig wachsendem Wacholder. Voraus schimmerte der fahle Schein von Feuerstellen inmitten dunkler, flacher, kegelförmiger Häuser durch den Dunst, der vom Holzrauch stammte. Nah bei einer dieser Feuergruben warteten zwei berittene Gestalten. Eine dritte stand, in Felle gehüllt, etwas abseits. Dayliss. Sie hat Bairoth Gild gesegnet und ist nun gekommen, um sich von ihm zu verabschieden.

Karsa ritt zu ihnen herüber, wobei er Havok lässig dahintrotten ließ. Er war der Anführer, und das würde er deutlich machen. Schließlich warteten Bairoth und Delum auf ihn – und wer von ihnen dreien war zu den Gesichtern im Fels gegangen? Dayliss hatte einen Gefolgsmann gesegnet. War Karsa zu zurückhaltend gewesen? Aber das war die Bürde derjenigen, die befehligten. Das hätte sie doch verstehen müssen. Es ergab alles keinen Sinn.

Ohne ein Wort brachte er sein Pferd vor ihnen zum Stehen.

Bairoth war zwar nicht so groß wie Karsa oder gar Delum, aber deutlich schwerer. Er hatte etwas Bärenhaftes an sich, was ihm selbst schon lange klar geworden war, so dass er es nun selbstbewusst zur Schau trug. Er rollte die Schultern, als würde er sie für ihre Reise lockern, und grinste. »Ein verwegener Anfang, Bruder«, sagte er mit dröhnender Stimme, »das Pferd deines Vaters zu stehlen.«

»Ich habe es nicht gestohlen, Bairoth. Synyg hat mir sowohl Havok als auch seinen Segen gegeben.«

»Dann muss dies eine Nacht der Wunder sein. Und ist auch Urugal aus den Felsen getreten, um deine Stirn zu küssen, Karsa Orlong?«

Dayliss stieß bei diesen Worten ein Schnauben aus.

Wenn er tatsächlich durch die Welt der Sterblichen geschritten wäre, hätte er nur einen von uns dreien vor sich stehen sehen. Auf Bairoths Stichelei erwiderte Karsa nichts. Er richtete langsam den Blick auf Dayliss. »Du hast Bairoth gesegnet?«

Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern.

»Ich trauere«, sagte Karsa, »um deinen Mangel an Mut.«

Das brachte ihm einen wütenden Blick ein.

Lächelnd wandte sich Karsa wieder zu Bairoth und Delum um. »›Die Sterne kreisen. Lasst uns reiten.‹«

Aber Bairoth ignorierte seine Worte; anstatt die rituelle Antwort zu geben, knurrte er: »Eine schlechte Entscheidung, deinen verletzten Stolz an ihr auszulassen. Dayliss wird mein Weib werden, wenn wir zurückkehren. Sie anzugreifen heißt mich anzugreifen.«

Karsa erstarrte zur Bewegungslosigkeit. »Aber Bairoth«, sagte er leise und sanft, »ich greife an, wo ich will. Mangel an Mut kann sich wie eine Seuche ausbreiten – hat sich ihr Segen bei dir in einen Fluch verwandelt? Ich bin der Kriegsführer. Ich ermutige dich, mich herauszufordern – jetzt gleich, noch ehe wir unsere Heimat verlassen.«

Bairoth zog die Schultern hoch, beugte sich langsam nach vorn. »Es ist nicht Mangel an Mut«, knurrte er, »der meine Hand ruhig hält, Karsa Orlong –«

»Ich bin erfreut, das zu hören. ›Die Sterne kreisen. Lasst uns reiten. ‹«

Bairoth machte ein finsteres Gesicht, als er unterbrochen wurde, und einen Augenblick sah es so aus, als wollte er noch mehr sagen, doch dann hielt er inne. Er lächelte und entspannte sich wieder. Dann warf er Dayliss einen Blick zu und nickte, als bekräftigte er stumm ein Geheimnis, und intonierte: »›Die Sterne kreisen. Führe uns zum Ruhm, Kriegsführer.‹«

Delum, der die ganze Zeit schweigend und mit ausdruckslosem Gesicht zugesehen hatte, sprach nun ebenfalls. »›Führe uns zum Ruhm, Kriegsführer.‹«

Mit Karsa an der Spitze ritten die drei Krieger durch das Dorf. Die Ältesten des Stammes hatten sich gegen die Reise ausgesprochen, daher kam niemand heraus, um sie aufbrechen zu sehen. Aber Karsa wusste, dass alle hörten, wie sie vorbeiritten, und er wusste auch, dass sie es eines Tages bedauern würden, dass alles, was sie von diesem Aufbruch mitbekommen hatten, gedämpftes Hufgetrappel gewesen war. Nichtsdestotrotz wünschte er sich sehnlichst zumindest noch einen Zuschauer außer Dayliss. Nicht einmal Pahlk war aufgetaucht.

Und doch habe ich das Gefühl, als würden wir beobachtet. Vielleicht von den Sieben. Von Urugal, der bis zu den Sternen emporgestiegen ist, der auf den Strömungen des Himmelsrades reitet und jetzt auf uns herabschaut. Höre mich, Urugal! Ich, Karsa Orlong, werde für dich tausend Kinder erschlagen! Tausend Seelen, um sie dir zu Füßen zu legen!

Ganz in der Nähe jaulte ein Hund unruhig im Schlaf, wachte aber nicht auf. Auf der Nordseite des Tals, oberhalb des Dorfes direkt an der Baumgrenze, standen dreiundzwanzig stumme Zeugen des Aufbruchs von Karsa Orlong, Bairoth Gild und Delum Thord. Geisterhaft warteten sie in der Dunkelheit zwischen den breitblättrigen Bäumen und verharrten noch reglos, als die drei Krieger schon längst auf dem östlichen Pfad außer Sicht waren.

Sie waren als Uryd geboren worden – und dann geopfert worden. Blutsverwandte von Karsa, Bairoth und Delum. In ihrem vierten Lebensmonat waren sie alle den Gesichtern im Fels übergeben worden, waren von ihren Müttern bei Sonnenuntergang auf der Lichtung abgelegt worden. Sie hatten die Umarmung der Sieben erhalten sollen, doch sie waren alle verschwunden, bevor die Sonne wieder aufgegangen war. Sie waren allesamt einer neuen Mutter übergeben worden.

Sie waren ’Siballes Kinder, damals und jetzt. ’Siballe, die Ungefundene, die einzige Göttin unter den Sieben, die keinen eigenen Stamm hatte. Und daher hatte sie sich einen geschaffen, einen geheimen Stamm, der von den sechs anderen genährt wurde. Sie hatte ihnen von ihren persönlichen Blutsbanden erzählt – um sie mit ihren ungeopferten Verwandten zu verbinden. Sie hatte ihnen auch von ihrer eigenen, ganz besonderen Aufgabe erzählt, von dem Schicksal, das auf sie – und nur auf sie – wartete.

Sie nannte sie ihre Gefundenen, und das war auch die Bezeichnung, unter der sie sich selbst kannten, der Name ihres eigenen verborgenen Stammes. Sie hausten ungesehen inmitten ihrer Verwandten, niemand in den sechs Stämmen ahnte etwas von ihrer Existenz. Es gab ein paar, wie sie wussten, die vielleicht einen Verdacht hegten – aber dieser Verdacht war auch schon alles. Männer wie Synyg, Karsas Vater, der die Erinnerungs-Blutpfähle mit Gleichgültigkeit wenn nicht gar Verachtung behandelte. Solche Männer stellten normalerweise keine echte Bedrohung dar, obwohl gelegentlich härtere Maßnahmen erforderlich wurden, wenn sich eine echte Gefahr abzeichnete. So wie bei Karsas Mutter.

Die dreiundzwanzig Gefundenen, die verborgen unter den Bäumen am Rande des Tals Zeuge wurden, wie die drei Krieger ihre Reise begannen, waren durch das Blut die Brüder und Schwestern von Karsa, Bairoth und Delum, doch sie waren auch Fremde, so wenig Bedeutung dies im Augenblick auch haben mochte.

»Einer wird es schaffen.« Diese Worte kamen von Bairoths ältestem Bruder.

Delums Zwillingsschwester zuckte zur Antwort die Schultern. »Wir werden da sein, wenn dieser eine zurückkehrt.«

»Das werden wir.«

Es gab noch ein Merkmal, das allen Gefundenen gemeinsam war. ’Siballe hatte ihre Kinder mit einer üblen Entstellung gekennzeichnet: von der Schläfe bis hinunter zum Unterkiefer fehlten ihren Gesichtern auf der linken Seite Fleisch und Muskeln, was ihre Ausdrucksfähigkeit deutlich minderte. Auf dieser Seite waren ihre Gesichtszüge zu einer nach unten gezogenen Grimasse erstarrt, als würden sie ständig Entsetzen empfinden. Auf eine seltsame Weise hatte dieser körperliche Makel ihren Stimmen auch die Modulation genommen – vielleicht hatte sich aber auch nur ’Siballes eigene tonlose Stimme auf überwältigende Weise ausgewirkt.

Der Mangel an Intonation ließ die hoffnungsvollen Worte in ihren Ohren irgendwie falsch klingen – so falsch, dass jene, die sie gesprochen hatten, verstummten.

Einer würde es schaffen.

Vielleicht.

 

Synyg rührte weiter in dem Eintopf über dem Kochfeuer, als sich die Tür hinter ihm öffnete. Ein leises Schnaufen, ein nachgezogener Fuß, das Klappern eines Gehstocks gegen den Türrahmen. Dann eine raue, anklagende Frage.

»Hast du deinen Sohn gesegnet?«

»Ich habe ihm Havok gegeben, Vater.«

»Warum?« Irgendwie schaffte es Pahlk, gleichzeitig Verachtung, Widerwillen und Misstrauen in ein einziges Wort zu legen.

Synyg drehte sich immer noch nicht um, während er hörte, wie sein Vater sich mühsam zu dem Stuhl begab, der der Feuerstelle am nächsten stand. »Havok hat eine letzte Schlacht verdient, eine, von der ich weiß, dass ich sie ihm nicht bieten werde. Darum.«

»Also ist es so, wie ich gedacht habe.« Pahlk ließ sich mit einem schmerzerfüllten Grunzen auf den Stuhl sinken. »Du hast es für dein Pferd getan, nicht für deinen Sohn.«

»Hast du Hunger?«, fragte Synyg.

»Diese Geste werde ich dir nicht abschlagen.«

Synyg gestattete sich ein schwaches, bitteres Lächeln, griff dann nach einer zweiten Schüssel und stellte sie neben seine eigene.

»Er würde einen Berg zum Einsturz bringen«, knurrte Pahlk, »wenn er dadurch deine Gleichgültigkeit erschüttern könnte.«

»Was er tut, tut er nicht für mich, Vater. Er tut es für dich.«

»Er erkennt, dass nur der wildeste Ruhm das erreichen kann, was bitter nötig ist – die Schande hinwegzuspülen, die du uns bereitest, Synyg. Du bist der zottelige Busch zwischen zwei hoch aufragenden Bäumen, Kind des einen und Erzeuger des anderen. Darum hat er die Arme nach mir ausgestreckt, ja ausgestreckt – ärgerst du dich dort im Schatten zwischen Karsa und mir? So ein Pech aber auch, dabei hattest du immer die Wahl.«

Synyg füllte beide Schüsseln und richtete sich auf, um eine seinem Vater zu geben. »Die Narbe um eine alte Wunde spürt nichts«, sagte er.

»Nichts zu spüren ist keine Tugend.«

Lächelnd setzte Synyg sich auf den anderen Stuhl. »Erzähl mir eine Geschichte, Vater, so wie du es früher getan hast. In jenen Tagen nach deinem Triumph. Erzähl mir noch einmal von den Kindern, die du getötet hast. Von den Frauen, die du niedergemetzelt hast. Erzähl mir von den brennenden Gehöften, von den Schreien des Viehs und der Schafe, die in den Flammen gefangen waren. Ich will diese Feuer noch einmal sehen, neu entfacht in deinen Augen. Rühre in der Asche, Vater, wirble sie auf.«

»Wenn du in letzter Zeit den Mund aufmachst, Sohn, höre ich immer nur diese verdammte Frau.«

»Iss, Vater, sonst beleidigst du noch mich und mein Heim.«

»Ich werde essen.«

»Du warst immer ein aufmerksamer Gast.«

»Das ist wahr.«

Die beiden Männer sprachen nicht mehr miteinander, bis sie ihr Mahl beendet hatten. Dann stellte Synyg seine Schüssel ab, stand auf und griff nach Pahlks Schüssel. Er drehte sich um und warf sie ins Feuer.

Die Augen seines Vaters weiteten sich.

Synyg starrte auf ihn hinunter. »Keiner von uns beiden wird Karsas Rückkehr erleben. Die Brücke zwischen dir und mir ist nun endgültig abgebrochen. Wenn du noch einmal an meine Tür kommst, Vater, werde ich dich töten.« Er packte Pahlk mit beiden Händen und zog ihn vom Stuhl hoch, zerrte den verdutzten alten Mann zur Tür und warf ihn kurzerhand hinaus. Der Gehstock flog hinterher.

 

Sie reisten auf dem alten Pfad, der sich parallel zum Rücken der Berge dahinzog. Hier und da machten alte Felsrutsche den Weg unkenntlich; Fichten und Zedern waren mit ins Tal gerissen worden, und an diesen Stellen hatten Büsche und breitblättrige Bäume Halt gefunden und erschwerten das Fortkommen. Zwei Tage und drei Nächte voraus lag das Herrschaftsgebiet der Rathyd, und von allen Teblor-Stämmen waren die Rathyd diejenigen, mit denen die Uryd die meisten Fehden ausfochten. Raubzüge und grausame Morde verflochten beide Stämme in einer Kette aus Hass miteinander, die Jahrhunderte in die Vergangenheit zurückreichte.

Aber Karsa hatte nicht vor, das Territorium der Rathyd ungesehen zu durchqueren. Er wollte mit dem Schwert einen blutigen Pfad der Rache durch wirkliche und vermeintliche Beleidigungen schlagen und dadurch seinem Namen anderthalb Dutzend oder mehr Teblor-seelen hinzufügen. Die beiden Krieger hinter ihm, das wusste er genau, glaubten, dass die Reise, die vor ihnen lag, eine Reise voller Heimlichkeit und List sein würde. Schließlich waren sie nur zu dritt.

Aber Urugal ist mit uns in dieser, seiner Zeit. Und wir werden uns in seinem Namen ankündigen, und zwar mit Blut. Wir werden die Hornissen aus ihrem Nest aufscheuchen, und die Rathyd werden den Namen Karsa Orlong kennen und fürchten lernen. Genau wie die Sunyd.

Die Schlachtrosse bewegten sich vorsichtig über das lockere Geröll eines erst kürzlich abgegangenen Erdrutschs. Im vergangenen Winter hatte es eine Menge Schnee gegeben – mehr als in allen Wintern zuvor, an die Karsa sich erinnern konnte. Lange bevor die Gesichter im Fels erwacht waren und den Ältesten in Träumen und Trancen kundgetan hatten, dass sie die alten Geister der Teblor besiegt hatten und nun Gehorsam verlangten – und lange bevor die Seelen der Feinde zu nehmen das Wichtigste für die Teblor geworden war –, hatten die Knochen des Felsens, das Fleisch der Erde, das Haar und das Fell von Wald und Lichtung das Land und das dort lebende Volk beherrscht, und der Atem dieser Geister war der Wind einer jeden Jahreszeit gewesen. Hoch oben in den Bergen kam und ging der Winter mit heftigen Stürmen, den heftigen Bemühungen der Geister in ihrem ewigen, wechselseitigen Krieg. Sommer und Winter waren gleich: trocken und starr, doch Ersterer verriet Erschöpfung, während Letzterer einen eisigen, zerbrechlichen Frieden brachte. Passenderweise betrachteten die Teblor den Sommer mit Sympathie für die vom Kampf erschöpften Geister, während sie den Winter – wegen der Schwäche der aufgestiegenen Kämpfer – verabscheuten, denn in der Illusion von Frieden lag kein Wert.

Keine zwanzig Tage mehr, dann würde der Frühling vorüber sein. Die Stürme in der Höhe ließen nach; sie wurden seltener und waren längst nicht mehr so wild. Obwohl die Gesichter im Fels schon vor langer Zeit die alten Geister vernichtet hatten und ihnen das Vergehen der Jahreszeiten anscheinend gleichgültig war, betrachtete Karsa sich und seine zwei Gefährten insgeheim als Vorboten eines letzten Sturms. Ihre Blutholzschwerter würden ein Echo uralter Wut auf die ahnungslosen Rathyd und Sunyd niederfahren lassen.

Sie ließen die Stelle, an der kürzlich der Felsrutsch abgegangen war, hinter sich. Vor ihnen wand sich der Pfad in ein schmales Tal mit einer Hochlandwiese hinab, die offen im hellen Sonnenlicht dalag.

Bairoth meldete sich hinter Karsa zu Wort. »Wir sollten auf der anderen Seite dieses Tals unser Lager aufschlagen, Kriegsführer. Die Pferde brauchen eine Pause.«

»Dein Pferd braucht vielleicht eine Pause, Bairoth«, erwiderte Karsa. »Du hast zu viele Nächte voll üppiger Gelage auf den Rippen. Aber ich vertraue darauf, dass diese Reise wieder einen Krieger aus dir machen wird. Dein Rücken hat in letzter Zeit zu viel Stroh gesehen.« Während Dayliss dich geritten hat.

Bairoth lachte, erwiderte aber sonst nichts.

»Mein Pferd braucht ebenfalls eine Pause, Kriegsführer«, rief Delum. »Die Lichtung dort vorne würde sich gut als Lagerplatz eignen. Hier gibt es Kaninchenpfade, und ich würde gern meine Schlinge auslegen.«

Karsa zuckte die Schultern. »Dann halten mich also zwei beschwerte Ketten fest. Die Kriegsschreie eurer Bäuche machen mich fast taub. So sei es denn. Wir werden hier lagern.«

 

Sie wollten kein Feuer machen, daher aßen sie die Kaninchen, die Delum gefangen hatte, roh. Früher einmal wäre das eine ziemlich gefährliche Sache gewesen, denn Kaninchen trugen oft Krankheiten in sich, die nur durch Kochen abgetötet werden konnten – und die meisten davon waren tödlich für die Teblor. Doch seit die Gesichter im Fels erschienen waren, gab es bei den Stämmen keine Krankheiten mehr. Sicher, Wahnsinn plagte sie noch immer, doch das hatte nichts damit zu tun, was gegessen oder getrunken wurde. Manchmal, so hatten die Ältesten erklärt, erwies sich die Bürde, die einem Mann von den Sieben auferlegt wurde, eben als zu gewaltig. Der Verstand musste stark sein, und Stärke lag im Glauben. Für einen schwachen Mann, für einen Mann, der voller Zweifel war, konnten Regeln und Riten zu einem Käfig werden, und Gefangenschaft führte zu Wahnsinn.

Sie saßen um die kleine Grube herum, die Delum für die Kaninchenknochen gegraben hatte, und sprachen kaum, während sie aßen. Über ihnen verlor der Himmel allmählich seine Farbe, und das Rad der Sterne begann seine Wanderung. In der hereinbrechenden Finsternis lauschte Karsa, wie Bairoth einen Kaninchenschädel aussaugte. Er wurde immer als Letzter fertig, denn er ließ nichts übrig und pflegte am nächsten Tag auch noch die dünne Fettschicht unter der Haut abzunagen. Schließlich warf Bairoth den leeren Schädel in die Grube und lehnte sich zurück, wobei er sich die Finger leckte.

»Ich habe über die Reise nachgedacht, die vor uns liegt«, sagte Delum. »Durch die Lande der Rathyd und Sunyd. Wir sollten keine Pfade benutzen, auf denen wir uns gegen den Himmel oder auch nur vor dem nackten Fels abzeichnen. Deshalb sollten wir die tiefer liegenden Pfade nehmen. Doch das sind diejenigen, die uns am nächsten an die Lager heranbringen werden. Ich glaube, wir sollten in Zukunft nur noch nachts reisen.«

»Das ist auch besser, um tollkühne Taten zu vollbringen«, sagte Bairoth nickend. »Um Herdsteine umzuwerfen und Federn zu stehlen. Vielleicht können uns ein paar einsame schlafende Krieger ihre Seelen geben.«

Karsa ergriff das Wort. »Wenn wir uns bei Tag verstecken, sehen wir wenig Rauch, der uns verraten würde, wo die Lager sind. Bei Nacht weht der Wind in Wirbeln, so dass er uns nicht helfen wird, die Feuerstellen zu finden. Die Rathyd und die Sunyd sind keine Narren. Sie werden keine Feuerstellen unter Überhängen oder vor Felswänden errichten – wir werden keine Lichtflecken auf Steinen sehen, die uns willkommen heißen. Außerdem sehen unsere Pferde tagsüber besser und sind trittsicherer. Wir werden am Tag reiten«, schloss er.

Sowohl Bairoth als auch Delum schwiegen daraufhin ein paar Herzschläge lang.

Dann räusperte sich Bairoth. »Wir werden uns inmitten eines Krieges wiederfinden, Karsa.«

»Wir werden wie ein Pfeil der Lanyd in seinem Flug durch den Wald sein, der bei jedem Zweig, Ast oder Stamm die Richtung ändert. Wir werden in einem brausenden Sturm Seelen sammeln, Bairoth. Ein Krieg? Ja. Hast du Angst vor dem Krieg, Bairoth Gild?«

»Wir sind zu dritt, Kriegsführer«, sagte Delum.

»Stimmt, wir sind Karsa Orlong, Bairoth Gild und Delum Thord. Ich habe vierundzwanzig Kriegern gegenübergestanden und sie alle erschlagen. Ich tanze besser als alle anderen – wollt ihr das etwa leugnen? Selbst die Ältesten haben voller Ehrfurcht davon gesprochen. Und du, Delum, ich sehe achtzehn Zungen an dem Riemen um deine Hüfte. Du kannst die Spur eines Geists lesen und noch aus zwanzig Schritt Entfernung einen Kieselstein rollen hören. Und Bairoth – in den Tagen, in denen du nur Muskeln mit dir herumgetragen hast, hast du da nicht einem Buryd mit bloßen Händen das Rückgrat gebrochen? Hast du nicht ein Schlachtross niedergerungen? Diese Wildheit schlummert nur in dir, und unsere Reise wird sie von neuem zum Leben erwecken. Wenn wir drei andere wären, irgendwelche Krieger … ja, dann würden wir im Dunkeln die windigen Wege entlanghuschen und Herdsteine umwerfen und Federn stehlen und die Kehlen von ein paar schlafenden Feinden zerschmettern. Das wäre genug Ruhm für irgendwelche anderen Krieger. Aber für uns? Niemals. Euer Kriegsführer hat gesprochen.«

Bairoth grinste Delum an. »Lass uns zum Himmel aufschauen und das Rad der Sterne betrachten, Delum Thord, denn dieser Anblick wird uns nicht mehr oft vergönnt sein.«

Karsa stand langsam auf. »Du hast deinem Kriegsführer zu folgen, Bairoth Gild. Du hast ihn nicht in Frage zu stellen. Dein schwindender Mut droht uns alle zu vergiften. Glaube an den Sieg, Krieger, oder kehre auf der Stelle um.«

Bairoth zuckte die Schultern, lehnte sich zurück und streckte die fellumwickelten Beine aus. »Du bist ein großer Kriegsführer, Karsa Orlong, hast aber traurigerweise keinerlei Humor. Ich vertraue darauf, dass du tatsächlich den Ruhm finden wirst, den du suchst, und dass Delum und ich zwar nur als kleinere Monde scheinen werden – aber scheinen werden wir trotzdem. Uns genügt das. Du solltest aufhören, das in Frage zu stellen, Kriegsführer. Wir sind hier, mit dir –«

»… und ihr stellt meine Weisheit in Frage!«

»Weisheit ist etwas, über das wir bisher noch nicht gesprochen haben«, entgegnete Bairoth. »Wir sind Krieger, wie du gesagt hast, Karsa. Und wir sind jung. Weisheit ist eine Eigenschaft alter Männer.«

»Ja, der Ältesten«, schnappte Karsa, »die unsere Reise nicht segnen wollten!«

Bairoth lachte. »Das ist eine Wahrheit, die wir kennen, und diese Wahrheit müssen wir unverändert und bitter in unseren Herzen tragen. Aber bei unserer Rückkehr werden wir herausfinden, dass sich die Wahrheit während unserer Abwesenheit verändert hat, Kriegsführer. Der Segen wird schließlich doch gegeben worden sein. Warte nur ab.«

Karsas Augen weiteten sich. »Die Ältesten werden lügen?« »Natürlich werden sie lügen. Und sie werden von uns erwarten, dass wir ihre neue Wahrheit akzeptieren, und das werden wir auch – nein, das müssen wir, Karsa Orlong. Der Ruhm unseres erfolgreichen Raubzugs muss dazu dienen, die Menschen zusammenzuschließen – ihn für uns zu behalten wäre nicht nur selbstsüchtig, sondern möglicherweise sogar tödlich. Denk darüber nach, Kriegsführer. Wir werden in unser Dorf zurückkehren und die Geschichte unserer Reise mitbringen. Klar, wir werden ohne Zweifel ein paar Trophäen dabei haben, um die Geschichte zu beweisen, aber wenn wir den Ruhm nicht mit den anderen teilen, werden die Ältesten dafür sorgen, dass unsere Erzählungen vom Gift des Unglaubens verunreinigt werden.«

»Vom Gift des Unglaubens?«

»Ja. Sie werden uns glauben, aber nur, wenn sie an unserem Ruhm teilhaben können. Sie werden uns glauben, aber nur, wenn wir im Gegenzug ihnen glauben, ihrer Umdeutung der Vergangenheit – dass sie den Segen, der nicht erteilt wurde, sehr wohl erteilt haben, dass alle Dorfbewohner Spalier gestanden haben, als wir losgeritten sind. Sie waren alle da, oder zumindest werden sie es uns erzählen, und schließlich werden sie es selbst glauben, wird sich der Anblick tief in ihr Gedächtnis eingegraben haben. Verwirrt dich das noch immer, Karsa? Wenn dem so ist, dann sollten wir lieber nicht von Weisheit sprechen.«

»Die Teblor spielen keine Spiele der Täuschung«, knurrte Karsa.

Bairoth musterte ihn einen Augenblick lang und nickte. »Das ist wahr, das tun sie nicht.«

Delum warf Erde und Steine in die Grube. »Es ist Zeit zu schlafen«, sagte er und stand auf, um ein letztes Mal nach den Pferden zu sehen.

Karsa beäugte Bairoth. Sein Geist ist wie ein Pfeil der Lanyd im Wald, aber wird ihm das helfen, wenn wir unsere Blutholz-Schwerter blankgezogen haben und auf allen Seiten Kriegsschreie gellen? So etwas geschieht, wenn Muskeln sich in Fett verwandeln und einem Stroh am Rücken klebt. Dich mit Worten zu schlagen wird dir nichts bringen, Bairoth Gild, außer vielleicht, dass deine Zunge nicht ganz so schnell am Gürtel eines Rathyd-Kriegers vertrocknen wird.

 

»Mindestens acht«, murmelte Delum. »Und vielleicht ist ein Jugendlicher dabei. Es sind in der Tat zwei Feuerstellen. Sie haben den grauen Bären gejagt, der in Höhlen haust, und schleppen eine Trophäe mit.«

»Das bedeutet, dass sie vollkommen von sich überzeugt sind.« Bairoth nickte. »Das ist gut.«

Karsa blickte Bairoth stirnrunzelnd an. »Warum?«

»Es geht darum, in welcher geistigen Verfassung unsere Feinde sind, Kriegsführer. Sie werden sich unbesiegbar fühlen, und das wird sie sorglos machen. Haben sie Pferde, Delum?«

»Nein. Graue Bären kennen das Geräusch von Hufen zu gut. Sofern sie Hunde dabei hatten, hat keiner überlebt, um mit ihnen nach Hause zurückzukehren.«

»Noch besser.«