Das Spiel der Götter 18 - Steven Erikson - E-Book

Das Spiel der Götter 18 E-Book

Steven Erikson

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Beschreibung

Die Mächte bringen sich in Stellung, das letzte Spiel um die Macht beginnt.

Die Forkruul Assail sind ein altes Volk. Lange Zeit galten sie als beinahe ausgestorben. Niemand hat mit ihnen gerechnet, niemand weiß, was ihre Ziele sind. Doch nun melden sie sich mit Macht zurück. Götter wandeln in der Welt der Sterblichen, Drachen erwachen aus jahrhundertelangem Schlaf. Die Forkruul Assail bekämpfen sie alle – und sind doch kurz davor, das Spiel der Götter für sich zu entscheiden …

Mit dieser komplexen epischen Fantasy-Saga wurde Steven Erikson zu einem der bedeutendsten Vertreter der modernen Fantasy.

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Seitenzahl: 1015

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Buch

Die Forkrul Assail sind ein altes Volk. Lange Zeit galten sie als beinahe ausgestorben. Niemand hat mit ihnen gerechnet, niemand weiß, was ihre Ziele sind. Doch nun melden sie sich mit Macht zurück. Götter wandeln in der Welt der Sterblichen, Drachen erwachen aus jahrhundertelangem Schlaf. Die Forkrul Assail bekämpfen sie alle – und sind doch kurz davor, das Spiel der Götter für sich zu entscheiden …

Autor

Steven Erikson, in Kanada geboren, lebt heute in Cornwall. Der Anthropologe und Archäologe feierte 1999 mit dem ersten Band seines Zyklus Das Spiel der Götter nach einer sechsjährigen akribischen Vorbereitungsphase seinen weltweit beachteten Einstieg in die Liga der großen Fantasy-Autoren.

Die komplette Saga Das Spiel der Götter bei Blanvalet:

1. Die Gärten des Mondes

2. Das Reich der Sieben Städte

3. Im Bann der Wüste

4. Die eisige Zeit

5. Der Tag des Sehers

6. Der Krieg der Schwestern

7. Das Haus der Ketten

8. Kinder des Schattens

9. Gezeiten der Nacht

10. Die Feuer der Rebellion

11. Die Knochenjäger

12. Der goldene Herrscher

13. Im Sturm des Verderbens

14. Die Stadt des blauen Feuers

15. Tod eines Gottes

16. Die Flucht der Kinder

17. Die Schwingen der Dunkelheit

18. Die gläserne Wüste

19. Der verkrüppelte Gott

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Steven Erikson

Die gläserne Wüste

Das Spiel der Götter 18

Deutsch von Simon Weinert

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »The Crippled God (The Malazan Book of the Fallen 10, Part 1)« bei Transworld, London.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Copyright der Originalausgabe © 2011 by Steven Erikson Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Sigrun ZühlkeUmschlaggestaltung: Inkcraft unter Verwendung einer Illustration von Ralf Marczinczik Karten: © Andreas HancockHK · Herstellung: samSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-20274-3V002www.blanvalet.de

Karte

Vor vielen Jahren ging jemand mit einem unbekannten Schriftsteller und seinem ersten Fantasyroman ein Risiko ein – ein Roman, der schon mehrmals erfolglos seine Runden durch die Verlage gedreht hatte. Ohne diesen Jemand und sein Vertrauen, ohne das anschließende jahrelange, unverbrüchliche Engagement dieses Mannes für dieses große Projekt gäbe es kein »Spiel der Götter«. Ich hatte das große Privileg, von Anfang bis Ende mit demselben Lektor zusammenzuarbeiten, und deshalb widme ich The Crippled God in aller Bescheidenheit meinem Lektor und Freund, Simon Taylor.

BUCHEINS

»Er war ein Soldat«

Ich bin bekannt

im Bekenntnis des Zorns.

Betet mich an als einen See

aus Blut in euren Händen.

Trinkt einen kräftigen Schluck von mir.

Was kocht und lodert,

ist bittere Wut.

Eure Messer waren klein,

aber es waren viele.

Ich habe einen Namen

im Bekenntnis des Zorns.

Betet mich an mit euren

beiläufigen Schnitten,

wenn ich längst tot bin.

Es ist ein Lied aus Träumen,

zu Asche verfallen.

Eure Wünsche liefen über

und starren nun leer.

Ich bin untergegangen

im Bekenntnis des Zorns.

Betet mich an bis zum

Tod und bis weiter nichts mehr ist

als ein Haufen Knochen.

Das reinste Buch

ist das, das nie aufgeschlagen wurde.

Kein Bedürfnis ist mehr ungestillt

an diesem kalten, heiligen Tag.

Man findet mich

im Bekenntnis des Zorns.

Betet mich an mit einer

Flut von Flüchen.

Dieser Narr glaubte,

und in seinen Träumen weinte er.

Aber wir durchwandern eine Wüste

mit den Felsen der Anklage,

in der niemand verhungert,

der Hass in den Knochen trägt.

Dichternacht I, IVDas malazanische Buch der Gefallenen

Fisher kel Tath

Kapitel eins

Lerntest du niemals kennen

die Welten in meinem Geist,

dann wäre dein Verlust

ein kleines Erbarmen,

wir werden es unterwegs vergessen.

Nimm, was du gegeben,

und wende ab das verzerrte Gesicht.

Ich verdiene es nicht,

wie eng das Ufer auch sein mag

deiner eigenen Gestade.

Gibst du dein Bestes,

dann erwidere ich deinen Blick.

Den Pfeilen in klammernder Hand,

traue ich nicht,

die sich zum Lächeln neigen, das mir gilt.

Wir begegnen uns nicht in Trauer

oder einem anderen Schließen

von Wunden.

Wir tanzten nicht auf demselben

dünnen Eis,

und mein Mitleid mit deinen Mühen

ist frei von jedem Gedanken

an Gegenseitigkeit und Ausgleich.

Es schickt sich, weiter nichts.

Auch wenn es vielen

fremd ist.

Doch werden Geheimnisse sein,

die du nie kanntest,

und ich würde nicht anders entscheiden.

All meine Pfeile sind begraben, und

der Sand dehnt sich weit,

und das Geheime

kühlt ab am Altar, an dem es hängt.

Selbst das Tropfen hat aufgehört,

dieses Kind der Wünsche

mit einem Kopf voller Welten

und seinen geröteten Tränen.

Ich hasse die Tage, an denen ich mich sterblich fühle.

Die Tage in meinen Welten,

hier lebe ich für immer,

und sollte jemals der Morgen grauen,

werde ich in seinem Licht erwachen

als Neugeborener.

Dichternacht III, IVDas malazanische Buch der Gefallenen

Fisher kel Tath

Cotillion zog zwei Dolche. Sein Blick fiel auf ihre Klingen. Die schwarzen Eisenflächen schienen in Wirbeln zu verschwimmen, als würden zwei Zinnflüsse über die Kerben und Rillen triefen. Wo die Klingen von Rüstungen und Knochen abgefangen worden waren, hatten sie Scharten. Noch einen weiteren Moment beobachtete er, wie sich der kränkliche Himmel grell darauf spiegelte. Dann sagte er: »Ich habe nicht vor, irgendetwas zu erklären.« Er sah auf und seinem Gegenüber in die Augen. »Hörst du mich?«

Die Gestalt ihm gegenüber war zu keiner mimischen Reaktion fähig. Regungslos hingen Fetzen verrotteter Sehnen und Hautstreifen an Stirn-, Wangen- und Kieferknochen. Sein Blick war leer, vollkommen leer.

Besser, dachte Cotillion, als blasierte Skepsis. Oh, davon hatte er wahrlich genug. »Sag mir«, sprach er weiter, »was meinst du, was du da vor dir hast? Verzweiflung? Kopflose Angst? Mangelnde Entschlossenheit, einen unausweichlichen Verfall, der zu Unfähigkeit führt? Glaubst du an Versagen, Randgänger?«

Die Erscheinung schwieg eine Weile, ehe sie ihre brechende, krächzende Stimme hören ließ. »Du kannst nicht so … dreist sein.«

»Ich habe dich gefragt, ob du an Versagen glaubst. Denn ich tu es nicht.«

»Selbst wenn du Erfolg haben solltest, Cotillion. Über jede Erwartung hinaus, sogar über jeden Wunsch hinaus. Sie werden trotzdem nur über dein Versagen reden.«

Er steckte seine Dolche weg. »Und weißt du, was die mich mal können?«

Der Kopf legte sich schräg, sodass Haarsträhnen zur Seite herabhingen und im Wind wehten. »Hochmut?«

»Können«, fuhr ihn Cotillion an. »Wage nicht, meine Worte anzuzweifeln.«

»Sie werden dir nicht glauben.«

»Das ist mir egal, Randgänger. Es ist, wie es ist.«

Er setzte sich in Bewegung, und es überraschte ihn nicht, dass der untote Wächter ihm folgte. Das haben wir schon einmal gemacht. Bei jedem Schritt wurden Staub und Asche aufgewirbelt, und der Wind stöhnte, als wäre er in einer Grabkammer eingeschlossen. »Es ist bald so weit, Randgänger.«

»Ich weiß. Du kannst nicht gewinnen.«

Cotillion blieb stehen und drehte sich halb um. Er verzog das Gesicht zu einem wüsten Lächeln. »Das heißt noch lange nicht, dass ich verlieren muss, oder?«

Hinter ihr stieg Staub auf und tanzte. Von ihren Schultern hingen Dutzende grausiger Ketten, die sie hinter sich herzog: Knochen, die zu ungleichen Kettengliedern verbogen waren, alte Knochen in tausend Schattierungen von Weiß zu dunklem Braun. Jede Kette bestand aus hunderten Individuen, aus missgebildeten Schädeln mit verfilzten Haaren, aus verschmolzenen Wirbelsäulen, langen Knochen, die klapperten und rasselten. Sie fächerten sich hinter ihr auf wie das Vermächtnis eines Tyrannen und ließen ein Band aus Furchen in der verdorrten Erde zurück, das sich über Meilen erstreckte.

Sie verlangsamte ihre Schritte nicht, sondern bewegte sich so beständig voran wie die Sonne, die vor ihr auf den Horizont zukroch, so unerbittlich wie die Dunkelheit, die sie überholte. Sie hatte keinen Sinn für Ironie und den bitteren Geschmack respektlosen Spotts, der im Gaumen so brennen konnte. In dieser Sache gab es nur Notwendigkeit, die hungrigste aller Göttinnen. Sie hatte Gefangenschaft erlebt. Ihre Erinnerungen daran waren noch lebhaft, doch dachte sie dabei nicht an Kryptawände und unbeleuchtete Grabmäler. An Dunkelheit durchaus, aber auch an Druck. Furchtbaren, unerträglichen Druck.

Wahnsinn war ein Dämon, der in einer Welt der ohnmächtigen Entbehrung und der tausend unerfüllten Wünsche wohnte, einer Welt ohne Erlösung. Wahnsinn, ja, diesen Dämon hatte sie auch erlebt. Sie hatten miteinander gefeilscht um Münzen aus Schmerz, und diese Münzen kamen aus einer Schatzkammer, die sich niemals leerte. Einen solchen Reichtum hatte sie einst erfahren.

Und noch immer verfolgte sie die Dunkelheit.

Sie ging weiter, ein Ding mit haarlosem Haupt, mit Haut in der Farbe von gebleichtem Papyrus, mit überlangen Gliedern, die sie mit unheimlicher Anmut bewegte. Um sie herum war die Landschaft verlassen, zu allen Seiten flach, nur vor ihr erstreckte sich wie eine zittrige Kralle am Horizont eine kraftlose, farblose Hügelkette.

Sie brachte ihre Vorfahren mit, die einen rasselnden chaotischen Chor anstimmten. Nicht einen einzigen hatte sie zurückgelassen. Jedes Grab ihres Stammbaums gähnte leer, ausgehöhlt wie die Schädel, die sie aus ihren Sarkophagen genommen hatte. Stille war stets die Zeugin der Abwesenheit. Stille war der Feind des Lebens, und davon wollte sie nichts wissen. Deshalb unterhielten sich ihre vollkommenen Vorfahren mit Flüstern und Schleifgeräuschen, und es waren die Stimmen ihres ureigenen Lieds, das die Dämonen auf Abstand hielt. Vom Feilschen hatte sie genug.

Vor langer Zeit, das wusste sie, hatte es auf den Welten – auf den blassen Inseln über dem Abgrund – von Geschöpfen nur so gewimmelt. Ihre Gedanken waren plump und einfach gewesen, und jenseits dieser Gedanken hatte es nichts als Dunkelheit gegeben, einen Abgrund der Unwissenheit und der Furcht. Als in dieser Finsternis der Verwirrung die ersten Lichtschimmer aufleuchteten, flackerten sie rasch ins Leben und brannten wie Leuchtfeuer. Doch der Geist wurde sich seiner nicht durch Ruhmesklänge bewusst. Nicht durch Schönheit und nicht einmal durch Liebe. Er regte sich nicht im Gelächter oder im Sieg. All diese Feuer, die da aufloderten, gehörten einer Sache und nur dieser einen Sache.

Das erste Wort des Bewusstseins war Gerechtigkeit. Ein Wort, das Empörung nährte. Ein Wort, das den Willen dazu befähigte, die Welt und all ihre grausamen Verhältnisse zu ändern, ein Wort, um brutaler Infamie mit Rechtschaffenheit zu begegnen. Gerechtigkeit erwachte in der Gleichgültigkeit der Natur zum Leben. Gerechtigkeit, die Familienbande schuf, Städte baute, Erfindungen hervorbrachte und beschützte, Gesetze formte und Verbote, aus dem ungebärdigen Eifer der Götter Religionen schmiedete. All die vorgegebenen Überzeugungen keimten sich windend und sich verzweigend aus dieser einen Wurzel und verloren sich am blendenden Himmel.

Doch sie und ihresgleichen, die sich nahe der Wurzel um den Stamm dieses riesigen Baums gelegt hatten, waren dort geblieben, vergessen, niedergetrampelt. Und dort, unter den Steinen, von Wurzeln in der dunklen Erde gehalten, waren sie Zeugen der Verderbnis der Gerechtigkeit geworden, ihres Bedeutungsverlusts, des Verrats an ihr.

Indem sie Wahrheiten verdrehten, hatten Götter und Sterbliche mit ihren unzähligen Taten das verdorben, was einst rein gewesen war.

Nun, das Ende nahte. Das Ende, ihr Lieben, ist nah. Es würde keine Kinder mehr geben, die sich aus Knochen und Schutt erhoben und wieder aufbauten, was verloren gegangen war. War auch nur eines unter ihnen, das nicht an der Brust der Verderbnis getrunken hatte? Oh, damit hatten sie ihr inneres Feuer genährt, sie hatten das Licht gehortet, die Wärme, als stünde die Gerechtigkeit ihnen alleine zu.

Es widerte sie an. Sie kochte vor Hass. In ihr glühte die Gerechtigkeit, und dieses Feuer loderte von Tag zu Tag heller, während das erbärmliche Herz des Angeketteten endlos blutete, Ströme von Blut. Zwölf Reine waren noch übrig und nährten sich. Zwölf. Vielleicht gab es noch andere, aber von denen wusste sie nichts. Nein, diese zwölf waren die Gesichter des letzten Sturms, und sie, die alle anderen übertraf, würde im Zentrum dieses Sturms stehen.

Zu diesem Zweck hatte sie vor langer, langer Zeit diesen Namen bekommen. Forkrul Assail waren vor allen Dingen geduldig. Doch auch die Geduld zählte inzwischen zu den verschwundenen Tugenden.

Mit klappernder Knochenkette schritt Ruh durch die Ebene, während in ihrem Rücken das Licht des Tages erstarb.

»Gott hat uns nicht erhört.«

Aparal Schmiede zitterte, und ihm war speiübel, weil etwas Kaltes, Fremdes durch seine Adern lief. Er biss die Zähne zusammen, um sich eine Entgegnung zu verkneifen. Diese Rache ist älter als jede Streitsache, die du je erfinden könntest, und ganz egal, wie oft du diese Worte aussprichst, Sohn des Lichts, werden Lügen und Wahnsinn in der Wonne wie Blüten aufgehen. Und vor mir sehe ich nur leuchtend rote Felder, die sich in alle Richtungen erstrecken.

Das war nicht ihre Schlacht, nicht ihr Krieg. Wer hat nur dieses Gesetz ersonnen, das besagt, dass ein Kind das Schwert seines Vaters aufnehmen muss? Und lieber Vater, wolltest du das wirklich so? Hat sie nicht ihren Liebhaber verlassen und dich als den Ihrigen genommen? Hast du uns nicht Frieden befohlen? Hast du uns Kindern nicht geboten, unter dem neugeborenen Himmel deines Bündnisses einig zusammenzustehen?

Welcher Frevel hat uns dazu angestachelt?

Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern.

»Spürst du das, Aparal? Die Macht?«

»Ich spüre sie, Kadagar.« Sie waren von den anderen abgerückt, aber nicht so weit, dass sie den gequälten Schreien entkommen wären, dem Knurren der Hunde oder der eisigen, beißenden Kälte im Rücken, die in geisterhaften Wellen über die gebrochenen Steine wehte. Vor ihnen erhob sich das höllische Hindernis. Eine Wand aus gefangenen Seelen. Eine ewige Brandung der Verzweiflung. Durch den fleckigen Schleier betrachtete er die starrenden Gesichter, erforschte das Entsetzen in ihren Augen. Ihr wart auch nicht anders, nicht wahr? Habt euch mit eurem Erbe unwohl gefühlt, habt die schwere Klinge in eurer Hand mal hierhin, mal dorthin gedreht.

Warum sollen wir für den Hass anderer bezahlen?

»Was macht dir Sorgen, Aparal?«

»Wir können unmöglich wissen, weshalb unser Gott fernbleibt, Lord. Ich fürchte, es ist anmaßend von uns, wenn wir behaupten, er hätte uns nicht erhört.«

Kadagar Fant schwieg.

Aparal schloss die Augen. Er hätte nichts sagen sollen. Ich lerne auch nie dazu. Er ist einen blutigen Weg gegangen, um zu herrschen, und die Lachen im Schlamm schimmern immer noch rot. Die Luft um Kadagar ist mürbe. Die Blumen zittern in geheimen Windstößen. Er ist gefährlich, sehr gefährlich.

»Die Priester sprachen von Schwindlern und Gaunern, Aparal.« Kadagar sprach ruhig, ohne jede Betonung. So sprach er, wenn er wütend war. »Welcher Gott würde so etwas zulassen? Wir sind verlassen. Der Pfad, der jetzt vor uns liegt, gehört uns allein – einzig wir bestimmen darüber.«

Einzig wir. Ja, du sprichst für uns alle, selbst dann noch, wenn wir angesichts unserer eigenen Geständnisse erschreckt zusammenzucken. »Vergib mir meine Worte, Lord. Mir ist übel … der Geschmack …«

»Uns blieb keine andere Wahl, Aparal. Was dir Übelkeit bereitet, ist der bittere Geschmack des Schmerzes. Das geht vorbei.« Kadagar lächelte und klopfte ihm auf den Rücken. »Ich verstehe deinen Schwächeanfall. Deine Zweifel wollen wir vergessen, ja? Und nie wieder darüber reden. Schließlich sind wir Freunde, und es würde mich zutiefst bekümmern, wenn ich dich als einen Verräter brandmarken müsste. Dich auf die Weiße Mauer aufpflanzen müsste … auf den Knien würde ich dann weinen, mein Freund. Das würde ich.«

Wie ein Krampfanfall bemächtigte sich Aparals eine fremdartige Wut, und er zitterte. Beim Abgrund! Mähne des Chaos, ich spüre dich! »Ich lebe dir zum Gehorsam, Lord.«

»Lord des Lichts!«

Aparal drehte sich um, und Kadagar tat es ihm gleich.

Iparth Erule taumelte auf sie zu. Blut rann ihm aus dem Mund, und seine weit aufgerissenen Augen waren auf Kadagar gerichtet. »Mein Lord, Uhandahl, der als Letzter getrunken hat, ist eben gestorben. Er … er hat sich selbst die Kehle herrausgerissen!«

»Dann ist es vollbracht«, erwiderte Kadagar. »Wie viele?«

Iparth leckte sich über die Lippen, zuckte bei dem Geschmack sichtlich zusammen und sagte dann: »Ihr seid der Erste von Dreizehn, Lord.«

Lächelnd ging Kadagar an Iparth vorbei. »Kessobahn atmet noch?«

»Ja. Es heißt, er könne jahrhundertelang bluten …«

»Aber das Blut ist jetzt Gift«, sagte Kadagar und nickte. »Die Verletzung muss frisch sein, die Macht rein. Dreizehn, sagst du. Ausgezeichnet.«

Aparal starrte auf den Drachen, der hinter Iparth Erule an den Hang gespießt war. Die gewaltigen Speere, die ihn an den Boden nagelten, waren von getrocknetem Blut ganz schwarz. Er vermochte den Schmerz zu spüren, der in Wellen von dem Eleint abstrahlte. Ein ums andere Mal wollte der Drache mit blitzenden Augen und schnappenden Kiefern den Kopf erheben, doch das dicke Band hielt. Die vier verbliebenen Lichthunde umkreisten den Drachen in einigem Abstand und beäugten ihn mit aufgestellten Nackenhaaren. Bei ihrem Anblick schlang Aparal die Arme um seinen Oberkörper. Noch so ein verrücktes Spiel. Noch eine bittere Niederlage. Lord des Lichts, Kadagar Fant, du hast im Jenseits nichts Gutes vollbracht.

Hinter diesem furchtbaren Anblick und gegenüber dem senkrechten Meer aus untoten Seelen erhob sich wie ein höhnender Wahn die Weiße Mauer, die die heruntergekommenen Überreste der liosanischen Stadt Saranas verbarg. Die schwachen, langgezogenen, dunklen Schlieren, die von oben bis an den Zinnenkranz heranreichten, waren alles, was er von den Brüdern und Schwestern sah, die als Verräter an der Sache verurteilt worden waren. Alles, was aus ihren Leichen geflossen war, hatte unter ihren verwelkten Körpern Flecken auf der Alabasterverkleidung hinterlassen. Du würdest auf Knien weinen, stimmt’s, mein Freund?

Iparth fragte: »Mein Lord, sollen wir den Eleint so lassen?«

»Nein. Ich schlage etwas weitaus Passenderes vor. Ruf die anderen zusammen. Wir werden uns verwandeln.«

Aparal machte große Augen, drehte sich aber nicht um. »Lord …«

»Wir sind jetzt Kessobahns Kinder, Aparal. Wir haben einen neuen Vater, der jenen ersetzt, der uns im Stich gelassen hat. Osseric ist tot in unseren Augen und soll es auch bleiben. Selbst Vater Licht ist in die Knie gegangen, zerbrochen, nutzlos und blind.«

Aparal wandte den Blick nicht von Kessobahn ab. Wenn man solche Gotteslästerungen nur oft genug ausspricht, werden sie banal und verlieren ihren Schrecken. Die Götter verlieren ihre Macht, und wir steigen an ihre Stelle auf. Der alte Drache weinte Blut, und in seinen riesigen, fremden Augen lag nichts als Zorn. Unser Vater. Dein Schmerz, dein Blut, unser Geschenk an dich. Nun, es ist das einzige Geschenk, auf das wir uns verstehen. »Und wenn wir uns verwandelt haben?«

»Was schon, Aparal, dann nehmen wir den Eleint auseinander.«

Er hatte die Antwort schon vorher gewusst, und er nickte. Unser Vater.

Dein Schmerz, dein Blut, unser Geschenk. Feire unsere Wiedergeburt, Vater Kessobahn, mit deinem Tod. Und für dich wird es keine Wiederkehr geben.

Ich habe nichts, womit ich feilschen könnte. Was führt dich zu mir? Nein, das sehe ich. Mein verkrüppelter Diener kann nicht weit reisen, nicht einmal in seinen Träumen. Verkrüppelt, ja, mein kostbares Fleisch und meine Knochen auf dieser elenden Welt zerschmettert. Hast du seine Schar gesehen? Welchen Segen kann er gewähren? Nun, nichts als Elend und Leid, und dennoch strömt es herbei, das Gesindel, das schreiende, flehende Gesindel. Oh, einst habe ich mit Verachtung auf sie herabgesehen. Einst habe ich mich in ihrem Pathos gesuhlt, in ihren verblendeten Entscheidungen und ihrem erbärmlichen Pech. In ihrer Dummheit.

Aber niemand sucht sich die Größe seines Verstandes aus. Bis auf den Letzten werden sie alle mit dem geboren, was sie haben, mit dem und nicht mehr. Durch meinen Diener sehe ich in ihre Augen – wenn ich es wage – , und sie schauen mich an, sie schauen mich sonderbar an, und ich habe es lange nicht verstanden. Gierig, natürlich, so voller Not. Aber ich bin der Fremde Gott. Der Angekettete. Der Gefallene, und mein heiliges Wort lautet Schmerz.

Aber diese Augen haben mich angefleht.

Jetzt verstehe ich es. Um was bitten sie mich? Diese tauben Toren, die vor Furcht schimmern, diese furchtbaren Gesichter, die den Betrachter schaudern lassen. Was wollen sie? Ich werde es dir beantworten. Sie wollen mein Mitleid.

Siehst du, sie begreifen, wie armselig und spärlich Münzen im Beutel ihres Verstandes sind. Sie wissen um ihren Mangel an Intelligenz, und dass dies der Fluch ihres Lebens und ihrer Existenz ist. Von Anfang an haben sie gekämpft und um sich geschlagen. Nein, schau mich nicht so an, du mit deinen glatten und spitzfindigen Gedanken, du verschenkst dein Mitleid zu voreilig, und darin liegt dein Glaube in deine eigene Überlegenheit. Ich streite gar nicht ab, dass du schlau bist, aber ich stelle dein Mitgefühl in Frage.

Sie wollten mein Mitleid. Sie haben es. Ich bin der Gott, der Gebete beantwortet – kannst du oder kann irgendein anderer Gott dergleichen von sich behaupten? Sieh, wie ich mich verändert habe. Mein Schmerz, an den ich mich so eigennützig geklammert habe, reicht nun hinaus wie eine gebrochene Hand. Wir berühren uns im Verstehen, wir zucken bei der Berührung zusammen. Ich bin nun mit ihnen allen eins.

Du überraschst mich. Ich dachte nicht, dass dies etwas Wertvolles wäre. Was ist Mitgefühl schon wert? Wie viele Münzstapel wiegen es auf? Mein Diener träumte einst von Reichtum. Von einem in den Hügeln vergrabenen Schatz. Auf seinem verkümmerten Bein sitzend, flehte er die Leute auf der Straße an. Und nun schau mich an, zu verkrüppelt, um mich zu bewegen, in den Dünsten verloren, und der Wind peitscht unablässig gegen die Zeltwände. Kein Grund mehr zu feilschen. Mein Diener und ich haben das Verlangen zu betteln verloren. Du willst mein Mitleid? Das bekommst du. Umsonst.

Muss ich dir von meinem Schmerz erzählen? Ich schaue in deine Augen und finde die Antwort.

Es ist mein letztes Spiel, aber das verstehst du. Mein letztes. Sollte ich verlieren …

Nun gut. Das ist kein Geheimnis. Dann werde ich das Gift ernten. Im Donner meiner Qual. Wo sonst?

Tod? Seit wann ist der Tod ein Scheitern?

Verzeih mir das Husten. Es sollte ein Lachen sein. Also geh denn, wringe deine Versprechen aus diesen Emporkömmlingen heraus.

Das ist Glaube und mehr nicht, weißt du? Mitleid für unsere Seelen. Frag meinen Diener, und er wird es dir sagen. Gott sieht in deine Augen, und Gott schaudert.

Drei Drachen, angekettet wegen ihrer Sünden. Bei dem Gedanken seufzte Cotillion und wurde plötzlich missmutig. Er stand zwanzig Schritte davon entfernt, bis zu den Knöcheln in weiche Asche eingesunken. Aufgestiegen zu sein, dachte er, war nicht so weit von der Normalsterblichkeit entfernt, als ihm lieb gewesen wäre. Seine Kehle war angestrengt, als wäre seine Luftröhre zu eng. Er hatte Schmerzen in der Schultermuskulatur, und hinter seinen Augen donnerte es dumpf. Er starrte den gefangenen Eleint an, der ausgezehrt und tödlich in den Staubschwaden lag und sich … sterblich anfühlte. Hol mich der Abgrund, aber ich bin müde.

Randgänger trat neben ihn, lautlos und schemenhaft.

»Knochen und sonst nichts«, grummelte Cotillion.

»Lass dich nicht zum Narren halten«, warnte ihn Randgänger. »Fleisch, Haut, das ist wie Kleidung. Man zieht sie nach Belieben an oder aus. Siehst du die Ketten? An denen wurde gerüttelt. Sie heben die Köpfe … der Geruch von Freiheit.«

»Wie hast du dich gefühlt, Randgänger, als alles, was du hattest, in deiner Hand zerfiel? Kam das Scheitern wie eine Feuersbrunst?« Er drehte sich um, um die Erscheinung zu betrachten. »Diese Fetzen wirken verkohlt, wenn ich es mir recht überlege. Erinnerst du dich an den Augenblick, in dem du alles verloren hast? Hat die Welt auf dein Heulen geantwortet?«

»Wenn du mich quälen willst, Cotillion …«

»Nein, das würde ich nicht tun. Verzeih mir.«

»Wenn es jedoch deine Ängste sind …«

»Nein, nicht meine Ängste. Ganz und gar nicht. Die sind meine Waffen.«

Randgänger schien zu beben, oder vielleicht verrutschte die Asche unter seinen zerfallenen Mokassins, sodass ein Ruck durch ihn hindurchging, ein kurzer Moment des Ungleichgewichts. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, fixierte der Ältere Cotillion mit seinen dunklen, trüben Augen. »Du, Herr der Assassinen, bist kein Heiler.«

Nein. Kann mir bitte jemand dieses Unwohlsein herausschneiden? Den Schnitt reinigen, das Kranke herausnehmen und mich davon befreien. Uns ist übel vom Unbekannten, aber Wissen kann sich als giftig herausstellen. Und verloren zwischen beiden dahinzutreiben, ist auch nicht viel besser. »Es gibt mehr als einen Weg zur Rettung.«

»Das ist eigenartig.«

»Was?«

»Deine Worte … mit einer anderen Stimme, kämen sie … von jemand anders, würden sie den Hörer beruhigen, ihn ermutigen. Von dir jedoch erschrecken sie die Seele eines Sterblichen bis ins Mark.«

»So bin ich eben«, sagte Cotillion.

Randgänger nickte. »So bist du eben, ja.«

Cotillion kam weitere sechs Schritte näher heran, die Augen auf den nächsten Drachen gerichtet, dessen glänzender Schädelknochen zwischen Streifen verfaulter Haut hervorschimmerte. »Eloth«, sagte er. »Ich verlange deine Stimme zu hören.«

»Sollen wir erneut feilschen, Thronräuber?«

Die Stimme war männlich, doch solche Details konnten sich je nach Laune ändern. Dennoch runzelte er die Stirn und versuchte, sich an das letzte Mal zu erinnern. »Kalse, Ampelas, ihr kommt auch noch dran. Spreche ich nun mit Eloth?«

»Ich bin Eloth. Was beunruhigt dich so an meiner Stimme, Thronräuber? Ich spüre dein Misstrauen.«

»Ich muss Gewissheit haben«, erwiderte Cotillion. »Und jetzt habe ich sie. Du nutzt tatsächlich Mockra.«

Eine andere drachische Stimme ließ Gelächter durch Cotillions Schädel donnern. Und dann sagte sie: »Sei auf der Hut, Assassine, sie ist die Herrin der Täuschung.«

Cotillions Brauen gingen nach oben. »Täuschung? Bitte nicht, ich flehe euch an. Ich bin zu unschuldig, um viel darüber zu wissen. Eloth, ich sehe dich hier in Ketten, und dennoch wurde deine Stimme im Reich der Sterblichen vernommen. Anscheinend bist du nicht mehr die Gefangene, die du einst warst.«

»Schlaf entkommt der grausamsten Kette, Thronräuber. Meine Träume erheben sich auf Schwingen, und ich bin frei. Willst du mir nun weismachen, eine solche Freiheit wäre Wahn? Das entsetzt mich so sehr, dass ich es nicht glauben kann.«

Cotillion verzog das Gesicht. »Kalse, wovon träumst du?«

»Eis.«

Überrascht mich das? »Ampelas?«

»Vom Regen, der brennt, Herr der Assassinen, tief im Schatten. Und was für ein grausiger Schatten! Sollen wir drei nun Weissagungen raunen? All meine Wahrheiten sind hier angekettet, lediglich die Lügen fliegen frei umher. Doch gab es einen Traum, einen, der immer noch frisch in meinem Geist lodert. Möchtest du meine Beichte hören?«

»Mein Strick ist nicht so zerschlissen, wie du denkst, Ampelas. Es wäre besser, wenn du Kalse deinen Traum erklären würdest. Nimm meinen Rat als Geschenk.« Er hielt inne und blickte kurz zu Randgänger zurück, bevor er sich wieder den Drachen zuwandte. »Nun denn, lasst uns richtig feilschen.«

»Das hat keinen Wert«, sagte Ampelas. »Du hast nichts, was du uns anbieten könntest.«

»Doch, das habe ich.«

Plötzlich meldete Randgänger sich hinter ihm. »Cotillion …«

»Freiheit«, sagte Cotillion.

Schweigen.

Er lächelte. »Ein schöner Anfang. Eloth, wirst du für mich träumen?«

»Kalse und Ampelas haben dein Geschenk geteilt. Sie betrachteten einander mit Gesichtern aus Stein. Da war Schmerz. Da war Feuer. Ein Auge öffnete sich und sah auf den Abgrund. Herr der Messer, meine in Ketten geschlagene Sippe ist … bestürzt. Herr, ich werde für dich träumen. Sprich.«

»Dann hört gut zu«, sagte Cotillion. »So muss es geschehen.«

Auf dem Grund der Schlucht herrschte kein Licht, so tief unter der Meeresoberfläche war alles von ewiger Nacht verschluckt. In der Dunkelheit gähnten Spalten, Tod und Verfall einer Welt strömten als unablässiger Regen hinab, bildeten eine aufgepeitschte Strömung, wilde Sturzbäche. Ablagerungen wirbelten in rasenden Strudeln auf, die sich erhoben wie Windhosen. Flankiert von den Unterwasserklippen der verwüsteten Schlucht lag eine Ebene, in deren Mitte eine grellrote Flamme flackernd zum Leben erwachte, einsam, beinahe verloren in der Weite.

Mael rückte die fast schwerelose Last auf seiner einen Schulter zurecht und blieb stehen, um das unwahrscheinliche Feuer aus zusammengekniffenen Augen anzustarren. Dann ging er weiter direkt darauf zu.

Lebloser Regen fiel in die Tiefe, ungestüme Fluten peitschten ihn wieder zum Licht hinauf, wo sich Lebewesen an der reichhaltigen Suppe nährten, nur um irgendwann zu sterben und hinabzusinken. So ein anmutiger Austausch, die Lebenden und die Toten, das Lichte und das Lichtlose, die Welt oben und die Welt unten. Fast als hätte es jemand so erdacht.

Jetzt konnte er die gebeugte Gestalt neben der Flamme ausmachen, die ihre Hände der zweifelhaften Wärme entgegenstreckte. Winzige Meeresbewohner bildeten im rötlichen Lichtflor Schwärme wie Falter. Das Feuer pulsierte aus einem Spalt im Boden der Schlucht, aus dem Gase nach oben blubberten.

Mael blieb vor der Gestalt stehen und ließ die umwickelte Leiche zu Boden gleiten, die auf seiner Schulter geruht hatte. Als sie gemächlich in den Schlick sank, eilten winzige Aasfresser herbei, drehten aber ab, ohne sich auf die Leiche zu stürzen. Dünne Wolken stiegen auf, als die umwickelte Leiche im Schlamm zur Ruhe kam.

Die Stimme von K’rul, dem Älteren Gott der Gewirre, drang unter der Kapuze hervor. »Wenn alle Existenz ein Zwiegespräch ist, wie kommt es dann, dass so viel ungesagt bleibt?«

Mael kratzte sich die Bartstoppeln an seinem Kinn. »Ich mit den meinen, du mit den deinen, er mit den seinen, und dennoch schaffen wir es nicht, die Welt von ihrer ihr innewohnenden Sinnlosigkeit zu überzeugen.«

K’rul zuckte die Schultern. »Er mit den seinen. Ja. Sonderbar, dass von allen Göttern ausgerechnet er dieses wahnsinnige und in den Wahnsinn treibende Geheimnis entdeckte. Das kommende Morgengrauen … sollen wir es ihm überlassen?«

»Nun«, knurrte Mael, »erst mal müssen wir die Nacht überleben. Ich habe dir gebracht, was du gesucht hast.«

»Das sehe ich. Danke, alter Freund. Nun sag mir, was mit der Alten Hexe ist.«

Mael verzog das Gesicht. »Immer dasselbe. Sie versucht es schon wieder, aber diejenige, die sie erwählt hat … nun, sagen wir, dass Onos T’oolan über Wissen verfügt, das Olar Ethil niemals erfassen wird, und ich fürchte, sie wird ihre Wahl noch bereuen.«

»Ihm reitet ein Mann voraus.«

Mael nickte. »Ein Mann reitet ihm voraus. Es ist … herzzerreißend.«

»›Vor einem gebrochenen Herz wankt selbst die Sinnlosigkeit.‹«

»›Denn Worte brechen weg.‹«

Im Schimmer zuckten Finger. »›Ein Zwiegespräch der Stille.‹«

»›Ohrenbetäubend.‹« Mael sah in die dämmrige Ferne. »Gallan der Blinde und seine verdammenswerten Gedichte.« Über den farblosen Boden marschierten Armeen blinder Krabben, angezogen von dem fremden Licht und der Wärme. Mael blinzelte sie an. »Viele sind gestorben.«

»Errastas hat Verdacht geschöpft, und mehr braucht der Abtrünnige nicht. Furchtbares Missgeschick oder ein tödlicher Stoß. Es war, wie sie gesagt hat. Ohne Zeugen.« K’rul hob den Kopf, sodass die leere Kapuze nun in Maels Richtung gähnte. »Hat er dann gewonnen?«

Mael zog die drahtigen Augenbrauen nach oben. »Das weißt du nicht?«

»So nahe an Kaminsods Herz sind die Gewirre ein Haufen aus Wunden und Gewalt.«

Mael sah auf den eingewickelten Leichnam hinab. »Brys war dort. Durch seine Tränen habe ich es gesehen.« Er schwieg lange, während er den Erinnerungen eines anderen nachhing. Plötzlich schlang er die Arme um sich und atmete keuchend aus. »Im Namen des Abgrunds, diese Knochenjäger waren ein Anblick!«

Die vagen Andeutungen eines Gesichts im Dunkel der Kapuze schienen allmählich Form anzunehmen. Zähne blitzten hervor. »Wahrlich? Mael … wahrlich?«

Emotionen verwandelten seine Worte in ein Knurren. »Es ist noch nicht vorbei. Errastas hat einen furchtbaren Fehler begangen. Götter, das haben sie alle getan!«

Es verging eine ganze Weile, dann seufzte K’rul und wandte sich wieder dem Feuer zu. Seine bleichen Hände schwebten über dem pulsierenden Glühen des brennenden Steins. »Ich werde nicht blind bleiben. Zwei Kinder. Zwillinge. Mael, es scheint, wir widersetzen uns dem Wunsch der Mandata Tavore Paran, uns auf ewig unbekannt zu bleiben, allen unbekannt zu bleiben. Was hat es zu bedeuten, dieses Verlangen, ohne Zeugen zu bleiben? Ich verstehe es nicht.«

Mael schüttelte den Kopf. »In ihr ist so viel Schmerz … nein, ich wage es nicht, näher daran zu rühren. Im Thronsaal stand sie vor uns wie ein Kind mit einem fürchterlichen Geheimnis, Schuldgefühlen und Scham, die alles übersteigen.«

»Vielleicht hat mein Gast hier die Antwort.«

»Hast du ihn deshalb gesucht? Nur um deine Neugier zu befriedigen? Ist dies das Spiel eines Gaffers, K’rul? In das gebrochene Herz einer Frau zu spähen?«

»Zum Teil schon«, gab K’rul zu. »Aber nicht aus Grausamkeit oder der Verlockung des Verbotenen. Ihr Herz muss das ihre bleiben, gefeit vor allen Angriffen.« Der Gott betrachtete die umwickelte Leiche. »Nein, der Leib ist tot, aber seine Seele ist noch kräftig, gefangen in ihrem eigenen Albtraum der Schuld. Ich möchte sie daraus befreien.«

»Wie?«

»Bereit zum Handeln, wenn der Augenblick gekommen ist. Bereit zum Handeln. Ein Leben für einen Tod, das muss genügen.«

Mael seufzte rau. »Dann wird es auf ihr lasten. Eine einsame Frau. Eine bereits zerriebene Armee. Mit Verbündeten, die fieberhaft geifernd dem nächsten Krieg entgegenblicken. Ein Feind, der sie alle erwartet, ungebeugt, mit unmenschlichem Selbstvertrauen und darauf versessen, die Falle zuschnappen zu lassen.« Er hob die Hände zum Gesicht. »Eine Sterbliche, die sich zu sprechen weigerte.«

»Und doch folgen sie ihr.«

»Sie folgen ihr.«

»Mael, haben sie wirklich eine Chance?«

Er sah auf K’rul herab. »Das malazanische Imperium hat sie aus dem Nichts beschworen. Dassems Erstes Schwert, die Brückenverbrenner und nun die Knochenjäger. Was soll ich dir sagen? Es ist, als wären sie Kinder eines anderen Zeitalters, eines goldenen Zeitalters, das in der Vergangenheit verloren ist. Und die Sache ist die: Sie wissen es nicht einmal. Vielleicht möchte sie deshalb, dass sie in allen ihren Taten ohne Zeugen bleiben.«

»Was meinst du damit?«

»Sie möchte die Welt nicht daran erinnern, was sie früher einmal gewesen sind.«

K’rul schien das Feuer zu beobachten. Schließlich sagte er: »In diesen dunklen Wassern kann man die eigenen Tränen nicht spüren.«

Maels Antwort klang bitter: »Was glaubst du, weshalb ich hier lebe?«

»Wenn ich mir nicht selbst Höchstes abverlangt habe, wenn ich mich nicht bemüht habe, alles von mir zu geben, dann werde ich mit hängendem Kopf vor dem Richterstuhl der Welt stehen. Aber wenn man mir vorwirft, schlauer zu sein, als ich bin – und wie soll das überhaupt möglich sein? – , oder, das mögen die Götter verhindern, dass ich zu sehr jedem Echo lausche, das in die Nacht hinaushallt, um abzuprallen, herumzuspringen, widerzuhallen wie eine Schwertklinge auf dem Schildrand, wenn ich gegeißelt werde, weil ich auf meine empfindliche Wahrnehmung höre, nun, dann steigt in mir so etwas wie Feuer auf. Dann bin ich, und ich benutze das Wort mit voller Überzeugung, entbrannt.«

Udinaas schnaubte. Darunter war die Seite abgerissen, als wäre der schäumende Autor einem Wutanfall erlegen. Er fragte sich, wer die wahren oder eingebildeten Verleumder dieses unbekannten Verfassers wohl gewesen waren, und dachte an die längst vergangenen Zeiten zurück, als sein allzu scharfer, allzu rascher Witz mit einer Faust beantwortet worden war. Kinder spürten so etwas, erkannten den Jungen, der schlauer war, als ihm guttat, und wussten, was man dagegen unternehmen konnte. Haut ihn zusammen, Jungs. Das geschieht ihm recht. Deshalb konnte er dem lange verstorbenen Schreiber gut nachfühlen.

»Aber, mein alter Narr, die Verleumder sind Staub, und deine Worte leben weiter. Wer lacht also zuletzt?«

Das faulende Holz um ihn herum gab keine Antwort. Seufzend warf Udinaas das Fragment zur Seite und beobachtete wie Asche niedersinkende Pergamentflocken. »Ach, was kümmert’s mich? Nicht mehr lange, nein, nicht mehr lange.« Die Öllampe ging flackernd aus, und die Kälte war wieder hereingekrochen. Er spürte seine Hände nicht mehr. Altlasten, die niemand abschütteln konnte, diese grinsenden Schleicher.

Ulshun Pral hatte mehr Schnee vorausgesagt, und Schnee war etwas, das er zunehmend verabscheute. »Als würde der Himmel selbst sterben. Hört ihr das, Forcht Sengar? Ich bin schon fast so weit, eure Geschichte aufzugreifen. Wer hätte sich diese Altlast vorstellen können?«

Ächzend und mit steifen Gliedern kletterte er aus dem Laderaum des Schiffs und stand blinzelnd auf dem schrägen Deck. Der Wind schlug ihm ins Gesicht. »Weiße Welt, was hast du uns zu sagen? Dass nichts in Ordnung ist. Dass das Geschick uns eine Belagerung beschert hat.«

Er war dazu übergegangen, mit sich selbst zu reden. So musste niemand anders weinen, denn er war der glänzenden Tränen auf verwelkten Gesichtern müde. Ja, er konnte sie alle mit einer Handvoll Worten auftauen. Doch die Hitze im Innern hatte keinen Ausweg, oder doch? Er entließ sie lieber in die kalte, leere Luft. Keine einzige gefrorene Träne war zu sehen.

Udinaas kletterte über die Schiffsreling, ließ sich in den knietiefen Schnee fallen und bahnte sich einen neuen Pfad zurück zum Lager, das im Schutz des Felsens lag. Watschelnd pflügte er in seinen dicken, pelzbesetzten Mokassins durch die Schneewehen. Er roch Holzfeuer.

Auf halbem Weg zum Lager entdeckte er die Emlava. Die beiden riesigen Katzen standen hoch auf einem Felsen, sodass ihre Silberrücken mit dem weißen Himmel verschmolzen. Sie beobachteten ihn. »Dann seid ihr also zurück. Das ist nicht gut, was?« Er spürte, wie ihre Blicke ihm folgten. Die Zeit verging langsamer. Er wusste, dass es nicht möglich war, aber er konnte sich eine ganze Welt vorstellen, die unter Schnee begraben war, ein Ort ohne Tiere, ein Ort, in dem die Jahreszeiten zu einer einzigen gefroren, die ewig währte. Er konnte sich vorstellen, wie jede Wahl verschluckt wurde, bis nur noch eine einzige verblieb.

»Wenn es ein Mensch kann, warum dann nicht auch eine ganze Welt?« Schnee und Wind gaben keine Antwort außer der einen grausamen Erwiderung, die in ihrer Gleichgültigkeit bestand.

Zwischen den Felsen ließ der harsche Wind nach, und der beißende Rauch kitzelte seine Nasenlöcher. Im Lager herrschte Hunger, und überall sonst war nur Weiß. Und trotzdem sangen die Imass ihre Lieder. »Nicht genug«, murmelte Udinaas, dessen Atem Wolken bildete. »Es reicht einfach nicht, mein Freund. Sieh es ein, sie stirbt. Unser liebes, kleines Kind.«

Er fragte sich, ob Silchas Ruin es schon die ganze Zeit über gewusst hatte. Das drohende Scheitern. »Am Ende sterben alle Träume. Wenn jemand das weiß, dann ich. Träume von Schlaf, Träume von der Zukunft, früher oder später kommt das kalte, harsche Morgengrauen.« Er ging an den Jurten mit ihren Schneemützen vorbei, runzelte die Stirn ob der leiernden Gesänge, die durch die Zeltklappen herausdrifteten, und hielt auf den Pfad zu, der zur Höhle führte.

Der Felsenschlund war mit schmutzigem Eis verkrustet – wie gefrorener Schaum. Im Schutz der Höhle wurde die Luft wärmer, aber auch feucht, und es roch nach Salz. Er klopfte sich den Schnee von den Mokassins und betrat dann den sich windenden Steinkorridor, die Hände seitlich ausgestreckt, sodass seine Finger an den feuchten Wänden entlangstrichen. »Oh«, sagte er leise, »du bist aber mal ein kalter Bauch, was?«

Weiter vorn waren Stimmen zu hören. Oder vielmehr eine Stimme. Nun achte auf deine empfindliche Wahrnehmung, Udinaas. Sie steht ungebeugt, für immer ungebeugt. Liebe kann das wohl zustande bringen.

Die alten Blutflecken auf dem Boden waren immer noch da, zeitlose Zeugen vergossenen Bluts und verlorener Menschenleben in dieser elenden Kammer. Fast konnte er das Echo hören, Schwerter und Speere, das verzweifelte Keuchen und Japsen. Forcht Sengar, ich könnte schwören, dass dein Bruder noch immer hier steht. Silchas Ruin taumelt zurück, einen Schritt um den anderen, sein ungläubiges Stirnrunzeln wie eine Maske, die er noch nie zuvor getragen hat, und hat sie ihm nicht auch schlecht gestanden? Ganz sicher. Onrack T’emlava stand rechts neben seiner Frau. Ulshun Pral kauerte links, ein paar Schritte von Kilava entfernt. Vor ihnen ragte ein verwittertes, kränkliches Gebäude auf. Todeshaus, dein Kessel ist gesprungen. Sie war ein tauber Samen.

Bei seiner Ankunft drehte Kilava sich zu ihm um. Ihre dunklen Tieraugen verengten sich wie bei einer jagenden Katze, die sich zum Sprung bereit macht. »Ich dachte schon, du wärst davongesegelt, Udinaas.«

»Die Karten führen nirgendwo hin, Kilava Onass, was der Steuermann bestimmt bemerkt hat, als er mitten auf einer Ebene herausgekommen ist. Gibt es etwas Verloreneres als ein gestrandetes Schiff, frage ich mich?«

Onrack sprach: »Udinaas, Freund, mich freut deine Weisheit. Kilava spricht vom Erwachen der Jaghut, dem Hunger der Eleint und der Hand der Forkrul Assail, die niemals zittert. Rud Elalle und Silchas Ruin sind verschwunden. Sie spürt sie nicht mehr und fürchtet das Schlimmste.«

»Mein Sohn lebt.«

Kilava trat näher heran. »Das kannst du nicht wissen.«

Udinaas zuckte die Schultern. »Er hat mehr von seiner Mutter genommen, als Menandore sich je vorstellen konnte. Als sie diesem malazanischen Magier entgegentrat, als sie ihre Macht herbeirufen wollte, nun, an diesem Tag gab es viele tödliche Überraschungen.« Sein Blick fiel auf die schwarzen Flecken. »Was wurde aus unserem heldenhaften Gelingen, Forcht? Aus der Rettung, für die du dein Leben gegeben hast? ›Wenn ich mir nicht selbst Höchstes abverlangt habe, wenn ich mich nicht bemüht habe, alles von mir zu geben, dann werde ich mit hängendem Kopf vor dem Richterstuhl der Welt stehen.‹ Aber der Richterstuhl der Welt ist grausam.«

»Wir erwägen eine Reise aus diesem Reich«, sagte Onrack.

Udinaas sah Ulshun Pral an. »Bist du damit einverstanden?«

Der Krieger löste eine Hand, um damit einige fließende Bewegungen zu vollführen.

Udinaas grunzte. Vor dem gesprochenen Wort, vor dem Lied existierte das da. Aber die Hand spricht eine gebrochene Sprache. Das Zeichen hier gehört zu seiner Haltung, dem Kauern eines Nomaden. Niemand fürchtet das Gehen oder die Entfaltung einer neuen Welt. Der Abtrünnige möge mich holen, diese Unschuld versetzt mir einen Stich ins Herz. »Es wird euch nicht gefallen, was ihr vorfinden werdet. Gegen meine Art kann nicht einmal das wildeste Tier dieser Welt bestehen.« Er starrte Onrack an. »Was glaubst du, worum es bei diesem Ritual ging? Bei dem, das deinem Volk den Tod nahm?«

»So schmerzhaft seine Worte sind«, knurrte Kilava, »so spricht Udinaas doch die Wahrheit.« Noch einmal wandte sie sich dem Azath-Haus zu. »Wir können dieses Tor verteidigen. Wir können sie aufhalten.«

»Und sterben«, blaffte Udinaas.

»Nein«, gab sie zurück und fuhr zu ihm herum. »Du wirst meine Kinder von hier wegführen, Udinaas. In deine Welt. Ich bleibe.«

»Ich dachte, du hättest ›wir‹ gesagt, Kilava.«

»Ruf deinen Sohn.«

»Nein.«

Ihre Augen flackerten auf.

»Such dir einen anderen, der dir in die letzte Schlacht folgt.«

»Ich werde zu ihr halten«, sagte Onrack.

»Das wirst du nicht«, zischte Kilava. »Du bist sterblich …«

»Und du bist es nicht, meine Liebe?«

»Ich bin eine Knochenwerferin. Ich habe einen Ersten Helden zur Welt gebracht, der zu einem Gott wurde.« Ihr Gesicht zuckte, doch in ihrem Blick lag Leid. »Gemahl, ich werde Verbündete zu dieser Schlacht herbeirufen. Aber du, du musst gehen mit unserem Sohn und mit Udinaas.« Sie zeigte mit einem Krallenfinger auf den Letherii. »Führe sie in eure Welt. Finde einen Ort für sie …«

»Einen Ort? Kilava, Orte sind wie die Tiere meiner Welt – es gibt keine Orte mehr!«

»Du musst einen finden.«

Hört ihr das, Forcht Sengar? Ich soll also doch nicht wie du sein. Nein, ich soll Hull Beddict sein, ein weiterer todgeweihter Bruder. »Folgt mir. Hört auf all meine Versprechen! Sterbt!« »Es gibt keinen Ort«, sagte er mit vor Kummer zugeschnürter Kehle. »Auf der ganzen Welt nicht … nirgends. Wir lassen nichts unangetastet. Nie. Ja, die Imass können ein leeres Land für sich beanspruchen, bis jemand seinen begehrlichen Blick darauf wirft. Und dann fangen sie an, euch zu töten. Häute und Skalps zu sammeln. Sie werden eure Nahrung vergiften. Eure Töchter vergewaltigen. Alles im Namen der Befriedung oder der Neubesiedelung oder was auch immer ihnen für eine euphemistische Bhederinscheiße in den Sinn kommt. Und je eher ihr alle tot seid, desto besser, denn dann können sie vergessen, dass es euch jemals gegeben hat. Schuld ist das erste Unkraut, das wir ausrupfen, damit der Garten hübsch aussieht und süß duftet. Das ist unsere Art, und ihr könnt uns nicht aufhalten … konntet ihr noch nie. Niemand kann das.«

Kilavas Gesicht blieb ausdruckslos. »Ihr könnt aufgehalten werden. Ihr werdet aufgehalten werden.«

Udinaas schüttelte den Kopf.

»Führe sie in deine Welt, Udinaas. Kämpfe für sie. Ich habe nicht vor, hier zu fallen, und wenn du dir einbildest, ich könnte meine Kinder nicht beschützen, dann kennst du mich schlecht.«

»Du verurteilst uns zum Tod, Kilava.«

»Rufe deinen Sohn.«

»Nein.«

»Dann verurteilst du dich selbst, Udinaas.«

»Kannst du das so kalt aussprechen, wenn mein Schicksal auch das deiner Kinder berührt?«

Als ihm klar wurde, dass er keine Antwort erhalten würde, seufzte Udinaas, wandte sich um und ging hinaus in die Kälte und den Schnee, in das Weiß und die eingefrorene Zeit. Doch zu seinem Unbehagen folgte ihm Onrack.

»Mein Freund.«

»Es tut mir leid, Onrack, ich kann dir nichts Nützliches sagen … nichts, was dich beruhigen würde.«

»Und doch«, polterte der Krieger, »glaubst du, du hättest die Antwort.«

»Wohl kaum.«

»Dennoch.«

Beim Rippenstoß des Abtrünnigen, es ist hoffnungslos. Oh, schau, mit welcher Entschlossenheit ich gehe. Ich führe euch alle, ja. Der kühne Hull Beddict ist zurückgekehrt, um die Vielzahl seiner Verbrechen noch einmal zu begehen.

Suchst du immer noch Helden, Forcht Sengar? Dann solltest du dich nun lieber abwenden.

»Du wirst uns führen, Udinaas.«

»Es scheint so.«

Onrack seufzte.

Vor dem Höhleneingang peitschte der Schnee.

Er hatte nach einem Weg hinaus gesucht. Er hatte sich aus dem Feuer hinausgeschleudert, aber selbst die Macht des Azaths konnte Akhrast Korvalain nicht brechen, und deshalb wurde er niedergeworfen, sein Geist zerschmettert, und seine Scherben versanken in einem Meer fremdartigen Bluts. Würde er sich wieder erholen? Ruh war sich nicht sicher, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Außerdem stellte die latente Macht, die noch in ihm war, eine Gefahr dar, die all ihre Pläne bedrohte. Man konnte sie gegen sie einsetzen, und das durfte nicht passieren. Nein, besser, ich wende diese Waffe um, nehme sie selbst und führe sie gegen unsere Feinde, denen ich bald gegenübertreten muss. Oder falls sich das als unnötig herausstellen sollte, töte ich ihn.

Bevor eins von beidem geschehen konnte, musste sie erst einmal hierher zurückkehren. Und tun, was getan werden muss. Wäre das Risiko nicht so groß, würde ich es jetzt tun. Sollte er erwachen, sollte er mich zwingen … nein, zu früh. Dafür sind wir noch nicht bereit.

Ruh stand neben dem Gefallenen und musterte ihn, die kantigen Züge, die Hauer, die leichte Rötung, die auf Fieber hindeutete. Dann sprach sie mit ihren Vorfahren. »Nehmt ihn. Fesselt ihn. Webt eure Zauberei – er muss bewusstlos bleiben. Die Gefahr, dass er aufwacht, ist zu groß. Sehr bald werde ich zurückkehren. Nehmt ihn. Fesselt ihn.« Wie Schlangen wanden sich die Knochenketten hervor, stießen in den festen Boden hinein, packten die Glieder des Körpers, wanden sich um den Hals und über den Rumpf, nähten ihn mit ausgestreckten Gliedern auf dem Hügel fest.

Sie sah die Knochen beben. »Ja, ich verstehe. Seine Macht ist zu gewaltig – deshalb muss er bewusstlos bleiben. Aber ich kann noch etwas anderes tun.« Sie trat näher heran und kauerte sich hin. Ihre rechte Hand schoss hervor, die Finger gestreckt wie eine Klinge. Damit stieß sie ein Loch in die Seite des Mannes. Sie keuchte und wäre fast nach hinten gefallen – war es zu viel? Hatte sie ihn geweckt?

Blut sickerte aus der Wunde.

Doch Icarium rührte sich nicht.

Ruh atmete lang und stockend aus. »Lasst das Blut weiter heraussickern«, sagte sie den Vorfahren. »Nährt euch von seiner Macht.«

Sie richtete sich auf und hob den Blick, suchte den Horizont auf allen Seiten ab. Die alten Länder der Elan. Aber die hatten sie ausgelöscht, sodass nur noch die elliptischen Felsbrocken übrig waren, mit denen einst die Zeltplanen beschwert worden waren, und die alten Ansitze und Wechsel aus noch älterer Zeit. Von den großen Tieren, die einst auf diesen Ebenen gelebt hatten, war keine einzige Herde mehr geblieben, weder wild noch als Vieh. Ihr fiel auf, dass dieser neue Zustand eine bewundernswerte Ordnung aufwies. Ohne Verbrecher gab es auch keine Verbrechen. Und keine Opfer. Der Wind stöhnte, und niemand stellte sich ihm entgegen, um ihm zu antworten.

Der vollkommene Urteilsspruch, ein Vorgeschmack auf das Paradies.

Wiedergeboren. Das wiedererstandene Paradies. Aus dieser leeren Ebene die Welt. Aus diesem Versprechen die Zukunft.

Bald.

Sie machte sich auf den Weg, ließ den Hügel in ihrem Rücken zurück und mit ihm den Körper von Icarium, der mit Knochenketten an den Boden gefesselt war. Wenn sie hierher zurückkehren würde, dann mit der Röte der Siegerin im Gesicht. Oder verzweifelt. In letzterem Fall würde sie ihn aufwecken. Im ersteren Fall würde sie seinen Kopf in die Hände nehmen und dem Scheusal mit einem einzigen, kräftigen Ruck den Hals brechen.

Und ganz gleich, welche Entscheidung dann auf sie warten würde, ihre Vorfahren würden vor Freude singen.

Auf einem Berg Abfall unten im Hof brannte der verbogene Thron der Festung. Graue und schwarze Rauchsäulen stiegen auf, bis sie sich über die Zinnen erhoben, wo der Wind sie auseinanderriss, sodass die Fetzen wie Banner über dem verwüsteten Tal flatterten.

Halbnackte Kinder tobten über die Wehrgänge, und ihre Stimmen schnitten schrill durch das Klappern und Ächzen vom Haupttor, wo die Steinmetze die Schäden von gestern ausbesserten. Die Wache wurde abgelöst, und die Hohefaust lauschte den Befehlen, die wie Fahnen hinter ihm knatterten. Er blinzelte sich Schweiß und Staub aus den Augen und lehnte sich vorsichtig gegen die baufällige Zinne. Aus zusammengekniffenen Augen suchte er das wohlgeordnete Lager der Feinde ab, das sich über den Talboden breitete.

Auf dem Dach des viereckigen Turms rechts von ihm kämpfte sich ein Kind von höchstens neun oder zehn Jahren mit etwas ab, was einmal ein Signaldrachen gewesen war, hielt es krampfhaft über seinen Kopf, bis sich der zerschlissene Seidendrache mit dröhnenden Flügelschlägen plötzlich in die Luft erhob und wirbelnde Kreise zog. Ganoes Paran sah zu ihm hinauf. Der lange Schwanz des Drachen blitzte silbern im mittäglichen Sonnenlicht. Es war derselbe Drache, erinnerte er sich, der auch am Tag der Eroberung in der Luft geschwebt hatte.

Welches Signal hatten die Verteidiger damals aussenden wollen?

Notfall. Hilfe.

Er starrte zu dem Drachen hinauf, sah ihn höher steigen, bis der vom Wind verwirbelte Rauch ihn verschlang.

Er hörte einen vertrauten Fluch und drehte sich zum Hohemagier des Heers um, der sich am oberen Ende der Treppe an einem Pulk Kinder vorbeizwängte. Dabei verzog er angewidert das Gesicht, als handle es sich um eine Meute Leprakranker. Die Rückengräte, die er zwischen den Zähnen hielt, wippte aufgeregt auf und ab, als er auf die Hohefaust zuschritt.

»Ich schwöre, heute sind es mehr als gestern, und wie ist das möglich? Die springen doch nicht halb ausgewachsen aus den Bäuchen, oder?«

»Die kommen immer noch aus den Höhlen gekrochen«, entgegnete Ganoes Paran und richtete den Blick wieder auf die Reihen der Feinde.

Noto Beul grunzte. »Und das ist noch so was. Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, dass eine Höhle einen angemessenen Wohnraum bieten könnte? Ranzig, feucht, überall Ungeziefer. Das gibt eine Seuche, hört auf mich, Hohefaust, und das Heer hatte davon schon genug.«

»Beauftragt Faust Bude, er soll eine Säuberungsmannschaft zusammenstellen«, sagte Paran. »Welche Trupps sind im Rumlager?«

»Siebte, Zehnte und Dritte der Zweiten Kompanie.«

»Die Sappeure von Hauptmann Liebkriek.«

Noto Beul nahm die Gräte aus dem Mund und begutachtete die rosafarbene Spitze. Dann beugte er sich über die Mauer und spuckte etwas Rotes aus. »Jawohl, Hohefaust. Das sind ihre.«

Paran lächelte. »Na dann.«

»Jawohl, das geschieht ihnen recht. Also, wenn sie noch mehr Ungeziefer aufstöbern …«

»Das sind Kinder, Magier, keine Ratten. Verwaiste Kinder.«

»Wirklich? Bei diesen weißen dürren da stellen sich mir die Nackenhaare auf, mehr will ich ja nicht sagen, Hohefaust.« Er steckte sich die Gräte wieder in den Mund, und sie fing wieder an zu wippen. »Und warum noch mal soll das jetzt besser als Aren sein?«

»Noto Beul, als Hohefaust habe ich mich nur gegenüber der Imperatrix zu verantworten.«

Der Magier schnaubte. »Die ist bloß tot.«

»Was bedeutet, dass ich mich vor niemandem verantworte, nicht einmal vor Euch.«

»Und das ist das Problem, auf den Punkt gebracht, Hohefaust. Auf den Punkt.« Anscheinend war er mit dieser Aussage zufrieden und deutete mit einem Nicken und einem Wippen der Fischgräte in seinem Mund auf etwas. »Da drüben gibt’s ordentlich Gerenne. Wird das wieder ein Angriff?«

Paran zuckte die Schultern. »Die sind immer noch … sauer.«

»Ihr wisst, wenn die jemals auf die Idee kommen, dass wir bluffen …«

»Wer sagt denn, dass ich bluffe, Beul?«

Der Mann biss auf etwas, was ihn zusammenzucken ließ. »Was ich meine, Hohefaust: Niemand spricht Euch ab, dass Ihr Talent habt und so, aber diese beiden Kommandanten da drüben, nun, wenn die mal genug davon haben, Verwässerte und Losgesprochene auf uns zu hetzen … wenn die losmarschieren, zu uns, als Heer, nun … das habe ich gemeint, Hohefaust.«

»Ich glaube, ich habe Euch eben einen Befehl gegeben.«

Noto runzelte die Stirn. »Faust Bude, jawohl. Die Höhlen.« Er wandte sich zum Gehen um, hielt aber noch einmal inne und schaute zurück. »Die sehen Euch, wisst Ihr? Wie Ihr hier steht, Tag für Tag. Sie verhöhnt.«

»Das frage ich mich«, grübelte Paran, während er seine Aufmerksamkeit wieder dem feindlichen Lager zuwandte.

»Hohefaust?«

»Die Belagerung von Fahl. Mondbrut hockte einfach über der Stadt. Monate, Jahre. Ihr Herrscher hat sich nie gezeigt, bis zu dem Tag, an dem Tayschrenn beschlossen hat, ihn auf die Probe zu stellen. Aber Folgendes: Was, wenn er es getan hätte? Was, wenn er sich jeden verdammten Tag auf diesen Vorsprung gestellt hätte? Sodass Einarm und all die anderen hätten innehalten können, nach oben blicken und ihn dort stehen sehen? Mit wehendem Silberhaar und Dragnipur wie ein götterscheißender schwarzer Fleck hinter sich.«

Noto Beul bearbeitete einen Augenblick lang seinen Zahnstocher und sagte dann: »Was, wenn er das getan hätte, Hohefaust?«

»Furcht, Hohemagier, braucht Zeit. Wahre Furcht, diejenige, die deinen Mut zersetzt und deine Beine weich werden lässt.« Er schüttelte den Kopf und warf einen kurzen Blick zu Noto Beul. »Wie dem auch sei, das war nicht sein Stil, oder? Ich vermisse ihn, wisst Ihr?« Er grunzte. »Stellt Euch das mal vor.«

»Wen, Tayschrenn?«

»Noto, versteht Ihr überhaupt ein Wort von dem, was ich sage? Auch nur einmal?«

»Ich bemühe mich, es nicht zu tun, Hohefaust. Nehmt es mir nicht übel. Es hat mit dieser Furchtsache zu tun, von der Ihr gesprochen habt.«

»Trampelt mir keine Kinder nieder auf dem Weg nach unten.«

»Das ist deren Problem, Hohefaust. Außerdem würde es nicht schaden, ihre Zahl etwas auszudünnen.«

»Noto.«

»Wir sind eine Armee, keine Kinderkrippe, mehr will ich ja gar nicht sagen. Eine belagerte Armee. Zahlenmäßig unterlegen, zu eng eingepfercht, verwirrt, gelangweilt … außer wenn wir Schiss haben.« Wieder nahm er seine Gräte heraus und sog pfeifend Luft durch die Zähne ein. »Höhlen voller Kinder … was haben sie mit denen nur gemacht? Wo sind ihre Eltern?«

»Noto.«

»Wir sollten sie einfach zurückgeben, mehr will ich ja gar nicht sagen, Hohefaust.«

»Ist Euch nicht aufgefallen, dass heute der erste Tag ist, an dem sie sich wie normale Kinder verhalten? Was sagt Euch das?«

»Das sagt mir gar nichts, Hohefaust.«

»Faust Rythe Bude. Sofort.«

»Jawohl, Hohefaust, bin schon unterwegs.«

Ganoes Paran richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Armee der Belagerer, auf die präzise abgesteckten Zeltreihen wie Knochenmosaiken auf einem welligen Boden. Winzig wie Fliegen wirkten die Gestalten, die über die Katapulte und Großen Wagen krabbelten. Der faulige Gestank der Schlacht schien nie aus diesem Tal zu weichen. Sie scheinen bereit, uns erneut auf die Probe zu stellen. Lohnt sich ein neuerlicher Ausfall? Mathok löchert mich mit seinen gierigen Blicken. Er will auf sie eindreschen. Er rieb sich das Gesicht. Wieder traf es ihn wie ein Schock, als er seinen Bart spürte, und er verzog das Gesicht. Niemand mag Veränderungen, oder? Aber genau das sage ich ja.

Der Seidendrache schob sich in sein Blickfeld, als er aus den Rauchschwaden nach unten tauchte. Paran sah zu dem Jungen auf dem Turm hinüber, sah, wie er sich mühte, den Halt nicht zu verlieren. Ein dürrer Kerl, einer von denen aus dem Süden. Ein Losgesprochener. Wenn es dir zu viel wird, Junge, lass los.

Inzwischen herrschte Bewegung im fernen Lager. Piken blitzten, die angeketteten Sklaven marschierten zu den Jochen der Großen Wagen, Hohe Verwässerte tauchten auf, umzingelt von Läufern. Über den Katapulten stieg Staub auf, weil sie auf ihren Rädern geschoben wurden.

Aha, sie sind wirklich noch sauer, also gut.

Ich kannte mal einen Krieger, der erwachte von einer Kopfverletzung und hielt sich für einen Hund, und was sind Hunde schon anderes als Treue ohne Verstand? Und so stehe ich nun hier, Frau, und meine Augen füllen sich mit Tränen. Um diesen Krieger, der mein Freund war und starb im Glauben, er wäre ein Hund. Zu treu, um nach Hause geschickt zu werden, zu sehr von Glauben erfüllt, um zu gehen. Dies sind die Gefallenen der Welt. Wenn ich träume, sehe ich sie zu Tausenden, wie sie an ihren eigenen Wunden nagen. Also erzähle mir nichts von Freiheit. Er hatte die ganze Zeit über recht. Wir leben in Ketten. Glaube, um uns zu fesseln, Schwüre, um unsere Kehlen einzuschnüren, der Käfig der Sterblichkeit, das ist unser Schicksal. Wem gebe ich die Schuld? Ich beschuldige die Götter. Und verfluche sie mit dem Feuer in meinem Herzen.

Wenn sie zu mir kommt, wenn sie sagt, dass die Zeit gekommen ist, werde ich mein Schwert ergreifen. Du sagst, ich wäre ein Mann zu weniger Worte, doch gegen das Meer der Bedürfnisse sind Worte so schwach wie Sand. Nun, Frau, erzähle mir noch einmal von deiner Langeweile, von diesen ausgedehnten Tagen und Nächten vor den Mauern einer von Trauer beherrschten Stadt. Ich stehe vor dir mit Augen, die vor Trauer über einen toten Freund überlaufen, und alles, was ich von dir bekomme, ist ein Belagerungsring aus Schweigen.

Sie sagte: »Du hast dich auf verdammt armselige Weise in mein Bett geredet, Karsa Orlong. Nun gut, dann komm in mein Bett. Aber zerbrich mich nicht.«

»Ich zerbreche nur, was ich nicht will.«

»Und wenn die Tage dieser Beziehung gezählt sind?«

»Das sind sie«, erwiderte er, um darauf zu grinsen. »Aber nicht ihre Nächte.«

Als die Dunkelheit hereinbrach, läuteten die Glocken schwach in der Ferne ihre Trauer, und in den blau erleuchteten Straßen und Gassen heulten die Hunde.

In der innersten Kammer des Palastes des Stadtherrn stand sie im Schatten und beobachtete, wie er sich von der Feuerstelle wegbewegte und sich Kohle von den Händen wischte. Sein blutiges Vermächtnis war nicht zu verkennen, und es wirkte, als legte sich das Gewicht, das sein Vater getragen hatte, wie ein alter Mantel auf die überraschend breiten Schultern seines Sohnes. Solche Gestalten konnte sie nicht begreifen. Ihre Bereitwilligkeit zum Märtyrertum. Die Bürden, mit denen sie ihren Selbstwert wogen. Die Liebe zur Pflicht.

Er setzte sich auf den hochlehnigen Stuhl, streckte die Beine aus, während das flackernde Licht des erwachenden Feuers an den Nieten seiner kniehohen Lederstiefel leckte. Er legte den Kopf zurück, schloss die Augen und sagte: »Der Vermummte weiß, wie du es hereingeschafft hast, und ich vermute, dass sich gerade Silanahs Nackenschuppen aufstellen, aber wenn du nicht hier bist, um mich zu töten, dann findest du auf dem Tisch links von dir Wein. Bedien dich.«

Stirnrunzelnd schob sie sich aus den Schatten heraus. Plötzlich wirkte die Kammer zu klein, als drohten ihre Wände um sie herum zuzuschnappen. Den Himmel so bereitwillig aufzugeben im Tausch gegen schweren Stein und geschwärztes Holz, nein, das konnte sie ganz und gar nicht nachvollziehen. »Nur Wein?« Ihre Stimme war etwas rau, was sie daran erinnerte, dass sie sie schon lange nicht mehr benutzt hatte.

Seine lang gezogenen Augen gingen auf, und er betrachtete sie mit gespielter Neugier. »Was wäre dir denn lieber?«

»Bier.«

»Verzeih. Dafür musst du wohl nach unten in die Küche gehen.«

»Dann eben Stutenmilch.«

Er zog die Brauen hoch. »Runter zum Palasttor, raus, dann links und fünfhundert Meilen geradeaus. Aber das ist nur geraten.«

Mit einem Schulterzucken ging sie näher ans Feuer heran. »Das Geschenk tut sich schwer.«

»Geschenk? Ich verstehe nicht.«

Sie deutete auf die Flammen.

»Ah«, sagte er und nickte. »Nun, du stehst im Atem von Mutter Dunkel …« Und dann stockte er. »Weiß sie, dass du hier bist? Aber dann …« Er lehnte sich wieder zurück. »Wie sollte sie es nicht wissen?«

»Weißt du, wer ich bin?«, fragte sie.

»Eine Imass.«

»Ich bin Apsal’ara. Während seiner Nacht im Schwert, seiner einen Nacht, hat er mich befreit. Dafür hatte er Zeit. Für mich.« Sie merkte, dass sie zitterte.

Immer noch musterte er sie. »Und deshalb bist du gekommen.«

Sie nickte.

»Du hast das nicht von ihm erwartet, nicht wahr?«

»Nein. Dein Vater … er hatte keinen Grund zur Reue.«

Jetzt stand er auf, ging zum Tisch und schenkte sich einen Becher Wein ein. Mit dem Kelch in der Hand blieb er stehen und starrte sie an. »Weißt du«, murmelte er, »ich will das gar nicht. Diesen Zwang … etwas zu tun.« Er schnaubte. »›Kein Grund zur Reue‹, tja …«

»Sie suchen nach ihm … in dir. Oder nicht?«

Er knurrte. »Selbst in meinem Namen wirst du ihn finden. Nimander. Nein, ich bin nicht sein einziger Sohn. Noch nicht einmal sein liebster … Ich glaube, einen solchen hatte er nicht, wenn ich es mir genau überlege. Dennoch«, er machte eine ausschweifende Bewegung mit dem Becher, »sitze ich hier, auf diesem Stuhl, vor diesem Feuer. Dieser Palast fühlt sich an wie … fühlt sich an wie …«

»… seine Gebeine.«