Das Spiel der Götter (11) - Steven Erikson - E-Book

Das Spiel der Götter (11) E-Book

Steven Erikson

4,8
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein furioses Fantasy-Epos von einer dunklen Anderswelt!

Das Reich der Sieben Städte ist vorerst befriedet, die letzten Funken des Widerstands sind ausgelöscht. Doch das malazanische Imperium kommt nicht zur Ruhe. Wozu nicht zuletzt die Entscheidungen von Imperatrix Laseen beitragen, die ihren Untergebenen immer merkwürdiger erscheinen. Und im Hintergrund zieht weiterhin der Verkrüppelte Gott die Fäden …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1082

Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die englische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Malazan Vol. 6: Bonehunters, part 2« bei Bantam/Transworld
Deutsche Erstausgabe November 2008 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München.
Copyright © der Originalausgabe 2006 by Steven Erikson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: © Isabelle Hirtz, Inkcraft Umschlagillustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft Redaktion: Sigrun Zühlke & Peter Thannisch HK · Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin
ISBN: 978-3-641-09020-3 V003
www.blanvalet.de
www.penguinrandomhouse.de

Buch

Der Aufstand im Reich der Sieben Städte wurde niedergeschlagen; Dryjna, die Göttin des Wirbelwinds, wurde besiegt, Sha’ik ist tot. Und nach dem Fall von Y’Ghatan spielt auch Leoman von den Dreschflegeln, Sha’iks Feldherr und rechte Hand, keine Rolle mehr. Doch das heißt nicht, dass die Situation damit bereinigt wäre. Ganz im Gegenteil. Denn die Schergen des Verkrüppelten Gottes sind bereits unterwegs, und ihre Schiffe sind nicht die einzigen, die den Kontinent ansteuern, auf dem das Reich der Sieben Städte liegt. Mandata Tavore, die Befehlshaberin der malazanischen Strafarmee, hat zudem noch ganz andere Probleme. Denn selbst ihr sind mittlerweile viele Entscheidungen von Imperatrix Laseen unverständlich. Ihre Motive bleiben rätselhaft – genau wie die vieler Götter, fremder Wesen und ganz normaler Menschen, die auf irgendeine Weise alle am Spiel der Götter teilhaben – auch wenn sich inzwischen die Regeln geändert zu haben scheinen …

Autor

Steven Erikson, in Kanada geboren, lebte viele Jahre in der Nähe von London, ehe er vor einiger Zeit in seine Heimat nach Winnipeg zurückkehrte. Der Anthropologe und Archäologe feierte 1999 mit dem ersten Band seines Zyklus »Das Spiel der Götter« nach einer sechsjährigen akribischen Vorbereitungsphase seinen weltweit beachteten Einstieg in die Liga der großen Fantasy-Autoren.

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorBuch Eins - Die Schatten des Königs
Kapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel VierKapitel Fünf
Buch Zwei - Die Knochenjäger
Kapitel SechsKapitel SiebenKapitel AchtKapitel NeunKapitel ZehnKapitel ElfKapitel ZwölfKapitel Dreizehn
EpilogDramatis Personae
Die MalazanerAusgewählte Soldaten der Vierzehnten ArmeeAndere
Glossar
AufgestiegeneDie DrachenkartenÄltere VölkerDie GewirreVölker und Orte
BegriffeCopyright

Wer kann schon sagen, worin sich die Wahrheit und die unzähligen Wünsche voneinander unterscheiden, die gemeinsam den Erinnerungen Gestalt verleihen? Legenden sind voller tiefer Windungen, so dass das von außen sichtbare Muster eine falsche Einheit von Form und Bedeutung vorspiegelt. Wir verzerren die Tatsachen absichtlich, begrenzen unermessliche Bedeutung durch die Enge vermuteter Unvermeidlichkeit. Hierin liegen sowohl Verfehlung wie auch Gabe, denn durch den Verzicht auf Wahrheit erschaffen wir, zu Recht oder Unrecht, universelle Bedeutung. Das Besondere weicht dem Allgemeinen, die Einzelheit der großartigen Form, und im Erzählen erheben wir uns über unser weltliches Selbst. In der Tat sind wir durch das Geflecht von Worten in eine größere Menschlichkeit eingebunden …

Einführung zu Bei den AnvertrautenHEBORIC

Buch Eins

Die Schatten des Königs

Kapitel Eins

»Er sprach von denjenigen, die fallen würden, und in seinen kalten Augen stand die nackte Wahrheit, dass wir es waren, von denen er sprach. Worte wie gebrochenes Schilfgras und Verheißungen der Verzweiflung, von Kapitulation, die als Geschenk gegeben wird, und Gemetzel im Namen der Erlösung. Er sprach vom sich ausbreitenden Krieg, und er sagte uns, dass wir in unbekannte Länder fliehen sollten, damit uns die Vergeudung unseres Lebens vielleicht erspart bliebe …«

Worte des Eisernen Propheten Elis Terr Die Anibar (das Weidenvolk)

Einen Augenblick zuvor waren die Schatten zwischen den Bäumen noch leer gewesen – doch als Samar Dev das nächste Mal wieder aufblickte, stockte ihr der Atem, denn sie sah Gestalten. Auf allen Seiten, wo ein Dickicht aus Schwarzfichten, Farnen und Efeu auf die sonnenüberflutete Lichtung hinausdrängte, standen Wilde … »Karsa Orlong«, flüsterte sie, »wir haben Besuch …«

Der Teblor, dessen Hände blutig rot waren, schnitt erst noch einen weiteren Fleischstreifen aus der Flanke der toten Bhederinkuh, ehe er aufschaute. Einen Augenblick später grunzte er kurz und fuhr dann mit seiner Arbeit fort.

Sie schoben sich vorwärts, tauchten aus dem Dämmerlicht auf – klein, drahtig, und in gegerbte Felle gekleidet; sie hatten sich Pelzstreifen um die Oberarme gebunden, und ihre Haut, die die Farbe von Sumpfwasser hatte, war auf den entblößten Schultern und der Brust mit rituellen Narben übersät. Was zunächst wie Bärte ausgesehen hatte, erwies sich als graue Farbe oder Holzasche, mit der sie sich am Kinn und oberhalb der Lippen die Gesichter bemalt hatten. Längliche Kreise aus Eisblau und Grau umgaben ihre dunklen Augen. Sie trugen Speere, und an ihren Ledergürteln hingen Äxte und verschiedene Messer, verziert mit Ornamenten aus kalt gehämmertem Kupfer, die anscheinend den Mondphasen nachempfunden waren; ein Mann trug ein Halsband aus den Rückenwirbeln eines großen Fischs, an dem eine in Gold gefasste, schwarze Kupferscheibe hing, die, wie Samar Dev annahm, das Symbol für eine totale Sonnenfinsternis darstellte. Dieser Mann, ganz offensichtlich irgendeine Art Anführer, trat vor. Drei Schritte, die Augen auf einen unachtsamen Karsa Orlong gerichtet, hinaus ins Sonnenlicht, wo er langsam auf die Knie sank.

Jetzt sah Samar, dass er etwas in den Händen hielt. »Karsa, pass auf. Was du jetzt tust, wird darüber entscheiden, ob wir ihr Land friedlich durchqueren werden oder uns vor Speeren ducken müssen, die aus den Schatten auf uns geschleudert werden.«

Karsa drehte das riesige Häutemesser um, mit dem er gearbeitet hatte, und rammte es tief in den Kadaver des Bhederin. Dann stand er auf und blickte den knienden Wilden an.

»Steh auf«, sagte er.

Der Mann zuckte zusammen, senkte den Kopf.

»Karsa, er bietet dir ein Geschenk an.«

»Dann sollte er das im Stehen tun. Seine Leute verstecken sich hier in der Wildnis, weil er es nicht genug getan hat. Sag ihm, dass er aufstehen soll.«

Sie hatten in der Handelssprache gesprochen, und etwas an den Reaktionen des knienden Kriegers ließ in Samar den Verdacht aufsteigen, dass er den Wortwechsel verstanden hatte … und die Aufforderung, denn er erhob sich langsam. »Mann der Großen Bäume«, sagte er nun. Sein Akzent klang in Samars Ohren rau und kehlig. »Überbringer der Vernichtung, die Anibar bieten dir dieses Geschenk und bitten darum, dass du ihnen im Gegenzug ein Geschenk gibst –«

»Dann sind es keine Geschenke«, entgegnete Karsa. »In Wirklichkeit wollt ihr einen Tauschhandel.«

Furcht flackerte in den Augen des Kriegers auf. Die anderen Mitglieder seines Stammes – der Anibar – verharrten stumm und reglos unter den Bäumen, doch Samar spürte, wie sich eine fast greifbare Bestürzung unter ihnen ausbreitete. Ihr Anführer versuchte es noch einmal: »Dies ist die Sprache des Tauschhandels, Erretter, das stimmt. Gift, das wir schlucken müssen. Es passt nicht zu dem, was wir suchen.«

Stirnrunzelnd drehte Karsa sich zu Samar Dev um. »Zu viele Worte, die nirgendwo hinführen, Hexe. Erkläre es mir.«

»Dieser Stamm folgt einem alten Brauch, der bei den meisten Völkern im Reich der Sieben Städte verlorengegangen ist«, sagte sie. »Dem Brauch des Schenkens. Das Geschenk selbst besteht aus einer gewissen Anzahl von Dingen, deren Wert auf subtile und häufig verwirrende Arten festgelegt wird. Diese Anibar haben das Handeln aus der Not heraus gelernt, doch sie messen den Dingen nicht auf die gleiche Weise Wert bei, wie wir es tun, und daher verlieren sie normalerweise beim Tausch. Ich vermute, dass sie besonders schlecht abschneiden, wenn sie es mit gerissenen, skrupellosen Händlern aus den zivilisierten Ländern zu tun haben. Es gibt –«

»Das reicht«, unterbrach Karsa sie. Er deutete auf den Anführer  – der erneut zusammenzuckte – und sagte: »Zeig mir das Geschenk. Aber vorher will ich deinen Namen wissen.«

»In der Giftsprache werde ich Bootfinder genannt.« Er hielt den Gegenstand hoch. »Das Zeichen des Muts eines großen Vaters unter den Bhederin«, sagte er.

Samar Dev zog die Brauen hoch, während sie Karsa anblickte. »Das muss ein Penisknochen sein, Teblor.«

»Ich weiß, was das ist«, antwortete er knurrend. »Bootfinder, was willst du im Gegenzug von mir?«

»Wiedergänger kommen in den Wald und bedrängen die Clans der Anibar nördlich von hier. Sie schlachten alle ab, denen sie begegnen, ohne Grund. Sie sterben nicht, denn sie beherrschen die Luft und können so jeden Speer ablenken, der auf sie geschleudert wird. Das haben wir gehört. Wir verlieren viele Namen.«

»Namen?«, fragte Samar.

Sein Blick flackerte zu ihr, und er nickte. »Verwandte. Achthundertsiebenundvierzig Namen, die mit dem meinen verwoben sind, von den nördlichen Clans.« Er deutete auf die schweigenden Krieger hinter ihm. »Genau so viele Namen haben die hier zu verlieren, jeder von ihnen. Wir betrauern den Verlust für uns, aber mehr noch für unsere Kinder. Wir können die Namen nicht zurückholen  – sie gehen und kommen niemals wieder, und so werden wir immer weniger.«

»Ihr wollt, dass ich die Wiedergänger töte«, sagte Karsa und deutete auf das Geschenk, »im Austausch für das da.«

»Ja.«

»Wie viele von diesen Wiedergängern sind da?«

»Sie kommen in großen Schiffen mit grauen Schwingen und brechen in Jagdtrupps in den Wald auf. Jeder Jagdtrupp besteht aus zwölf Mann. Wut treibt sie an, doch nichts, was wir tun, vermag diese Wut zu besänftigen. Wir wissen nicht, was es ist, womit wir sie so beleidigt haben.«

Vermutlich habt ihr ihnen einen verdammten Penisknochen angeboten. Doch diesen Gedanken behielt Samar Dev für sich.

»Wie viele Jagdtrupps?«

»Zwanzig bis jetzt, aber ihre Boote fahren nicht ab.«

Karsas ganzes Gesicht hatte sich verdunkelt. Samar Dev hatte noch nie zuvor eine so rohe Wut an ihm gesehen. Sie fürchtete plötzlich, dass er den kleinen, sich duckenden Mann in Stücke reißen könnte. Doch stattdessen sagte er: »Legt eure Scham ab, ihr alle. Legt sie ab! Schlächter brauchen keinen Grund, um andere abzuschlachten. Es ist das, was sie tun. Für solche Kreaturen ist es schon Beleidigung genug, dass es euch gibt.« Er trat vor und riss Bootfinder den Knochen aus der Hand. »Ich werde sie alle töten. Ich werde ihre verdammten Schiffe versenken. Das schw –«

»Karsa!«, unterbrach ihn Samar.

Er wirbelte zu ihr herum, und in seinen Augen loderte ein wildes Feuer.

»Bevor du etwas so … Außerordentliches schwörst, wäre es vielleicht gut, etwas in Betracht zu ziehen, das leichter zu erreichen ist.« Sie sah seinen Gesichtsausdruck und fuhr hastig fort: »Du könntest dich beispielsweise damit zufriedengeben, sie aus diesem Land zu vertreiben und zurück auf ihre Schiffe zu jagen. Mach ihnen den Wald … unschmackhaft.«

Nach einem langen, angespannten Augenblick seufzte der Teblor. »Ja. Das würde genügen. Obwohl ich versucht bin, hinter ihnen her zu schwimmen.«

Bootfinder starrte Karsa aus weit aufgerissenen Augen voller Staunen und Ehrfurcht an.

Einen Augenblick lang dachte Samar, dass der Teblor sich tatsächlich an einem Witz versucht haben könnte, was völlig untypisch für ihn gewesen wäre. Aber nein, der riesige Krieger hatte seine Worte ernst gemeint. Und zu ihrer Bestürzung glaubte sie ihm und konnte daher nichts Amüsantes oder Absurdes an seiner Aussage finden. »Diese Entscheidung hat noch Zeit, oder?«

»Ja.« Karsa starrte Bootfinder erneut düster an. »Beschreibe mir diese Wiedergänger.«

»Sie sind groß, aber nicht so groß wie du. Ihr Fleisch hat die Farbe des Todes. Ihre Augen sind kalt wie Eis. Sie tragen eiserne Waffen, und unter ihnen sind Schamanen, deren Atem Krankheit ist – schreckliche Wolken aus giftigem Dunst – alle, die von ihm berührt werden, sterben unter großen Schmerzen.«

»Ich glaube, dass sie den Begriff ›Wiedergänger‹ für jemanden oder etwas benutzen, der oder das nicht von ihrer Welt ist«, sagte Samar Dev zu Karsa. »Aber die Feinde, von denen sie sprechen, kommen mit Schiffen. Was wohl kaum der Fall sein würde, wenn sie tatsächlich untot wären. Der Atem der Schamanen klingt wie Zauberei.«

»Bootfinder«, sagte Karsa, »wenn ich hier fertig bin, wirst du mich zu diesen Wiedergängern führen.«

Jegliche Farbe wich aus dem Gesicht des Mannes. »Die Reise dorthin dauert viele, viele Tage, Erretter. Ich denke, ich werde eine Botschaft zu den Clans im Norden schicken, dass du kommst –«

»Nein. Du wirst uns begleiten.«

»Aber – warum?«

Karsa machte einen Schritt vorwärts. Seine Hand schoss vor, und er packte Bootfinder am Hals, zog den Mann dicht zu sich heran. »Du wirst Zeuge sein, und dadurch, dass du Zeuge bist, wirst du mehr werden, als du jetzt bist. Du sollst vorbereitet sein – auf alles, was über dich und dein armseliges Volk kommen wird.« Er ließ den Mann los, der keuchend rückwärtsstolperte. »Meine eigenen Leute haben einst geglaubt, sie könnten sich verstecken«, sagte der Teblor und bleckte die Zähne. »Sie hatten sich geirrt. Das habe ich begriffen, und das wirst du jetzt begreifen. Du glaubst, dass die Wiedergänger alles sind, was euch heimsuchen wird? Du Narr. Sie sind nur der Anfang.«

Samar sah zu, wie der riesige Krieger zurück zu der Bhederinkuh ging, die er erlegt hatte.

Bootfinder schaute ihm mit glänzenden Augen hinterher, in denen sich Entsetzen spiegelte. Dann wirbelte er herum, zischte etwas in seiner eigenen Sprache. Sechs Krieger eilten vorwärts, an ihrem Anführer vorbei; sie zogen Messer, als sie sich Karsa näherten.

»Teblor«, sagte Samar warnend.

Bootfinder hob die Arme. »Nein! Niemand trachtet danach, dir etwas zu tun, Erretter. Sie wollen dir dabei helfen, das Tier zu zerteilen, das ist alles. Die Beute wird für dich versorgt werden, so dass wir keine Zeit vergeuden müssen –«

»Ich will, dass das Fell getrocknet wird«, sagte Karsa.

»Ja.«

»Und Läufer, die uns das Fell und das geräucherte Fleisch dieses Tiers bringen.«

»Ja.«

»Dann können wir gleich aufbrechen.«

Bootfinder nickte stumm, als könnte er seiner eigenen Stimme nicht trauen, auf diese letzte Forderung zu antworten.

Grinsend zog Karsa sein Messer und ging zu einer nahe gelegenen Pfütze mit brackigem Wasser, wo er sich daranmachte, zunächst die Klinge und dann seine Hände und Unterarme von dem Blut zu säubern.

Während das halbe Dutzend Anibar-Krieger anfing, die Bhederinkuh zu zerlegen, trat Samar Dev dicht an Bootfinder heran. »Bootfinder.«

Er starrte sie aus ängstlichen Augen an. »Du bist eine Hexe – so nennt dich der Erretter.«

»Ja, das bin ich. Wo sind eure Frauen? Eure Kinder?«

»Auf der anderen Seite des Sumpfs, im Westen und im Norden«, antwortete er. »Das Land steigt an, und es gibt Seen und Flüsse, wo wir das schwarze Korn finden, und Beeren zwischen den flachen Felsen. Die große Jagd im offenen Land ist vorüber, und jetzt kehren sie mit dem Fleisch für den Winter zu unseren vielen Lagern zurück. Doch wir«, er deutete auf seine Krieger, »folgen euch. Wir sehen, wie der Erretter die Bhederin tötet. Er reitet ein Knochenpferd – wir sehen nie ein gerittenes Knochenpferd. Er trägt ein Schwert aus Ursprungsstein. Der Eiserne Prophet erzählt unserem Volk von solchen Kriegern – jenen, die den Ursprungsstein schwingen. Er sagt, sie kommen.«

»Von diesem Eisernen Propheten habe ich noch nie gehört«, sagte Samar Dev stirnrunzelnd.

Bootfinder machte eine Handbewegung und blickte gen Süden. »Davon kann man nur in der gefrorenen Zeit sprechen.« Er schloss die Augen, und schlagartig veränderte sich sein Tonfall. »In der Zeit des Großen Gemetzels, das die gefrorene Zeit der Vergangenheit ist, lebten die Anibar auf der Ebene und reisten fast bis zum Ostfluss, wo die großen, ummauerten Lager der Ugari sich aus dem Land erhoben, und die Anibar pflegten mit den Ugari Tauschhandel zu betreiben – Fleisch und Felle gegen eiserne Werkzeuge und Waffen. Dann kam das Große Gemetzel über die Ugari, und viele flohen und suchten Zuflucht bei den Anibar. Doch die Mörder folgten ihnen – Mezla wurden sie von den Ugari genannt –, und eine schreckliche Schlacht wurde geschlagen, und all jene, die bei den Anibar Schutz gesucht hatten, wurden von den Mezla niedergemacht.

Die Anibar befürchteten, dafür bestraft zu werden, dass sie den Ugari geholfen hatten, und bereiteten sich darauf vor zu fliehen – tiefer in die Odhan zu fliehen –, doch der Anführer der Mezla fand sie vorher. Er kam mit hundert dunklen Kriegern, doch er sorgte dafür, dass sie ihre eisernen Waffen stillhielten. Die Anibar waren nicht seine Feinde, sagte er ihnen, und dann sprach er eine Warnung aus – andere würden kommen, und sie würden kein Erbarmen kennen. Sie würden die Anibar vernichten. Dieser Anführer war der Eiserne Prophet, König Elis Terr, und die Anibar achteten auf seine Worte und flohen, nach Westen und Norden, bis diese Lande hier und die Wälder und Seen dahinter ihre Heimat wurden.« Er blickte zu Karsa hinüber, der seine Vorräte zusammengepackt hatte und auf dem Rücken seines Jhag-Pferdes saß, und sein Tonfall änderte sich erneut. »Der Eiserne Prophet sagt uns, dass in der größten Gefahr Krieger kommen, die Schwerter aus Ursprungsstein schwingen und uns verteidigen. Und als wir nun sehen, wer durch unser Land reist, und was für ein Schwert er in den Händen hält … diese Zeit wird bald zu einer gefrorenen Zeit werden.«

Samar Dev musterte Bootfinder mehrere Herzschläge lang und richtete dann den Blick auf Karsa. »Ich glaube nicht, dass du in der Lage sein wirst, Havok zu reiten«, sagte sie. »Wir werden in unwegsames Gelände kommen.«

»Bis dahin werde ich reiten«, sagte der Teblor. »Es steht dir frei, dein eigenes Pferd am Zügel zu führen. Ja, du kannst es sogar überall tragen, wo du das Gelände für schwierig hältst.«

Verärgert begab sie sich zu ihrem Pferd. »Schön. Für den Anfang werde ich hinter dir reiten, Karsa Orlong. Zumindest muss ich mir keine Gedanken über zurückschnellende Äste machen, denn du wirst alle Bäume auf deinem Pfad fällen.«

Bootfinder wartete, bis sie beide fertig waren, dann ging er am nördlichen Rand der sumpfigen Lichtung entlang, bis er das Ende erreichte, wo er sich plötzlich umwandte und im Wald verschwand.

Karsa zügelte Havok und starrte düster auf das dichte, verfilzte Unterholz und die dicht stehenden Schwarzfichten.

Samar Dev lachte, was ihr einen wilden Blick von dem Teblor einbrachte.

Dann glitt er vom Rücken seines Hengstes.

Sie stellten fest, dass Bootfinder auf sie wartete, einen entschuldigenden Ausdruck in seinem grau bemalten Gesicht. »Wildwechsel, Erretter. In diesen Wäldern gibt es Hirsche, Bären, Wölfe und Wapitis – selbst die Bhederin stöbern nicht weit jenseits der Lichtungen herum. Elche und Karibus gibt es weiter im Norden. Wie du siehst, sind diese Wildwechsel niedrig. Selbst die Anibar bücken sich, wenn sie hier rasch gehen. In der ungefundenen Zeit vor uns, über die nur wenig gesagt werden kann, finden wir mehr flache Felsen, und der Weg ist leichter.«

Die endlose, eintönige Reise war eine frustrierende Angelegenheit, denn es hatte fast den Anschein, als würde der Wald – niedrig, eng verwachsenes und wild wucherndes Gestrüpp – nur existieren, um ihnen die Durchreise zu verweigern. Das Grundgestein lag dicht unter der Oberfläche, ein zerschlagener purpurner und schwarzer Fels, an einigen Stellen von langen Quarzadern durchzogen. Aber die Oberfläche war uneben, geneigt und gefurcht, bildete Senken mit hohen Wänden, Dolinen und Schluchten voller abgeblätterter, flacher Gesteinsbrocken, die mit glitschigem, smaragdgrünem Moos bewachsen waren. In diesen Senken lagen unzählige umgestürzte Bäume, und die Rinde der Schwarzfichten war so rau wie Haihaut, die nadellosen, dicht wie Netze wachsenden Zweige grimmig wie Klauen und unnachgiebig.

Speere aus Sonnenlicht drangen hier und da bis zum Erdboden und warfen Splitter aus leuchtenden Farben in eine ansonsten düstere, höhlenartige Welt.

Als die Abenddämmerung näher rückte, führte Bootfinder sie zu einem trügerischen, mit Geröll übersäten Abhang, den er hochkletterte. Karsa und Samar Dev, die ihre Pferde am Zügel führten, fanden schnell heraus, dass der Aufstieg gefährlich, der Untergrund bei jedem Schritt unsicherer als beim vorhergehenden war – Moos rutschte weg wie verfaulte Haut, und scharfkantiges, eckiges Felsgestein und tiefe Löcher wurden sichtbar, an dem oder in denen sich ein Pferd leicht das Bein brechen konnte.

Schmutzig und schweißüberströmt, zerschrammt und zerkratzt, erreichte Samar Dev schließlich die Hügelkuppe, wo sie sich umdrehte, um ihrem Pferd die letzten paar Schritte nach oben zu helfen. Vor ihnen erstreckte sich mehr oder weniger flaches Grundgestein, das mit grauen Flechten bewachsen war. Aus bescheidenen Senken hier und da erhoben sich Seidenkiefern und Bankskiefern sowie einzelne zottelige Eichen, umsäumt von Wacholder und Flächen voller Heidelbeeren und immergrüner Büsche. Spatzengroße Libellen schossen im verblassenden Sonnenlicht durch wirbelnde Wolken kleinerer Insekten.

Bootfinder deutete nach Norden. »Dieser Pfad führt zu einem See. Dort lagern wir.«

Sie setzten sich in Bewegung.

Gleichgültig, in welche Richtung man blickte – nirgendwo waren irgendwelche Erhebungen auszumachen, und während der längliche Basolith sich in diese und jene Richtung wand, hier und da von etwas niedrigeren Terrassen und Stümpfen flankiert, wurde Samar Dev rasch klar, wie leicht man sich in diesem wilden Land verirren konnte. Ein Stück voraus gabelte sich der Pfad, und als sie sich der Gabelung näherten, schritt Bootfinder am östlichen Rand entlang und blickte einige Zeit nach unten, entschied sich dann für den Grat zur Rechten.

Samar Dev tat es ihm nach und blickte ebenfalls über den Rand, und sie sah, wonach er Ausschau gehalten hatte – eine gewundene Linie ziemlich kleiner Felsbrocken, die auf einem Sockel aus Grundgestein knapp unter ihnen lagen. Ihre Anordnung erinnerte vage an eine Schlange, der Kopf bestand aus einem keilförmigen, abgeflachten Felsbrocken, während der letzte Stein des Schwanzes am anderen Ende nicht größer als ihr Daumennagel war. Flechten überzogen die Steine; sie umhüllten jeden einzelnen, was darauf hindeutete, dass das Wegzeichen sehr alt war. An dem versteinerten Gebilde war nichts zu erkennen, was eindeutig auf den richtigen Weg hingewiesen hätte, obwohl der Kopf der Schlange in die Richtung wies, die sie eingeschlagen hatten.

»Bootfinder«, rief sie, »wie liest du diese Schlange aus Felsstücken?«

Er blickte zu ihr zurück. »Eine Schlange ist vom Herzen entfernt. Eine Schildkröte ist der Pfad des Herzens.«

»In Ordnung. Aber warum sind diese Zeichen dann nicht hier oben, so dass du nicht nach ihnen suchen musst?«

»Wenn das schwarze Korn nach Süden getragen wird, sind wir beladen – weder Schildkröte noch Schlange darf die Form oder die Anordnung verlieren. Wir laufen auf diesen steinernen Straßen. Beladen.«

»Wo bringt ihr die Ernte hin?«

»Zu unseren Sammellagern in der Ebene. Jede Gruppe tut das. Wir sammeln die Ernte. An einer Stelle. Und dann teilen wir sie, so dass jede Gruppe genügend Korn hat. Seen und Flüssen und ihren Ufern darf man nicht trauen. Manche Ernte erweist sich als gut. Andere Ernte erweist sich als schlecht. Wie das Wasser ansteigt und fällt. Es ist nicht das Gleiche. Der flache Fels versucht eben zu sein, überall auf der Welt, aber er kann es nicht, und so steigt das Wasser und fällt. Wir knien nicht vor der Ungerechtigkeit, denn dann geben wir die Gerechtigkeit auf, und ein Messer findet das andere.«

»Alte Regeln, um mit dem Mangel umzugehen«, sagte Samar Dev nickend.

Karsa Orlong blickte Samar Dev an. »Was ist das – diese gefrorene Zeit, Hexe?«

»Die Vergangenheit, Teblor.«

Sie sah, wie seine Augen sich nachdenklich verengten, dann gab er ein schwer zu deutendes Geräusch von sich und sagte: »Und die ungefundene Zeit ist die Zukunft, was bedeutet, dass jetzt die fließende Zeit ist –«

»Ja!«, rief Bootfinder. »Du sprichst vom großen Geheimnis des Lebens!«

Samar Dev zog sich in den Sattel; auf diesem Grat konnten sie reiten – wenn sie vorsichtig waren. Sie sah, wie Karsa Orlong es ihr nachtat, während eine merkwürdige Stille sich in ihrem Innern ausbreitete. Die, wie ihr klar wurde, auf Bootfinders Worte zurückzuführen war. »Das große Geheimnis des Lebens.« Diese fließende Zeit, die noch nicht gefroren ist und gerade jetzt erst in der ungefundenen Zeit gefunden wird. »Bootfinder, der Eiserne Prophet ist vor langer Zeit zu euch gekommen – in der gefrorenen Zeit –, doch er hat zu euch von der ungefundenen Zeit gesprochen.«

»Ja, du verstehst es, Hexe. Elis Terr spricht nur eine einzige Sprache, doch in ihr ist jedes und alles. Er ist der Eiserne Prophet. Der König.«

»Euer König, Bootfinder?«

»Nein. Wir sind seine Schatten.«

»Weil ihr nur in der fließenden Zeit existiert.«

Der Mann drehte sich um und machte eine ehrerbietige Verbeugung, die etwas in Samar Dev aufwühlte. »Deine Weisheit ehrt uns, Hexe.«

»Und wo«, fragte sie, »ist Elis Terrs Königreich?«

Plötzlich hatte der Mann Tränen in den Augen. »Wir sehnen uns danach, eine Antwort darauf zu finden. Es ist verloren –«

»In der ungefundenen Zeit.«

»Ja.«

»Elis Terr war ein Mezla.«

»Ja.«

Samar Dev öffnete den Mund, um noch eine weitere Frage zu stellen, doch dann wurde ihr klar, dass das nicht notwendig war. Sie kannte die Antwort. Stattdessen sagte sie: »Bootfinder, sag mir – gibt es eine Brücke von der gefrorenen Zeit zur fließenden Zeit?«

Sein Lächeln war wehmütig, voller Sehnsucht. »Ja.«

»Aber ihr könnt sie nicht überqueren.«

»Nein.«

»Weil sie brennt.«

»Ja, Hexe, die Brücke brennt.«

König Elis Terr und das ungefundene Königreich …

Felsplatten fielen in gewaltigen, groben Stufen ab, bis sie ganz unten in Schaum und Gischt verschwanden. Ein heftiger Wind wühlte die dunklen Wogen des nördlichen Meeres bis zum Horizont auf, wo Gewitterwolken von der Farbe geschwärzter Rüstungen den Himmel beherrschten. Hinter ihnen zog sich ein Wald an der Küstenlinie entlang weiter nach Westen, ein Wald aus landeinwärts gebogenen Kiefern, Fichten und Zedern, deren Äste und Zweige von den immer wieder über sie hereinbrechenden Böen zerfranst und zerrissen waren.

Zitternd zog Taralack seine Felle enger um sich und wandte der tobenden See den Rücken zu. »Wir reisen jetzt westwärts«, sagte er so laut, dass er trotz der frischen Brise zu verstehen war. »Folgen dieser Küste, bis sie sich nach Norden wendet. Dann geht’s ins Landesinnere, genau nach Westen, ins Land der Steine und Seen. Es ist schwierig, denn dort lässt sich kaum Wild finden, allerdings werden wir fischen können. Schlimmer ist, dass es blutrünstige Wilde gibt, die zu feige sind, um tagsüber anzugreifen. Immer nur nachts. Wir müssen auf sie vorbereitet sein. Wir müssen sie niedermachen.«

Icarium sagte nichts; sein unmenschlicher Blick war immer noch starr auf den heraufziehenden Sturm gerichtet.

Stirnrunzelnd zog Taralack sich zu der von Felswänden umgebenen Stelle zurück, an der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, kauerte sich in den gesegneten Windschatten und hielt seine roten, von der Kälte rissigen Hände über das Lagerfeuer aus Treibholz. Von dem legendären, beinahe schon mythischen Gleichmut des Jhag war kaum noch etwas zu merken. Nein, er war jetzt düster und mürrisch. Eine Umgestaltung Icariums durch Taralack Veeds eigene Hände, auch wenn er nur den Anweisungen folgte, die die Namenlosen ihm gegeben hatten. Die Klinge ist stumpf geworden. Du wirst der Wetzstein sein, Gral.

Aber Wetzsteine waren gefühllos, ihnen war die Klinge und die Hand, die sie führte, gleichgültig. Doch für einen Krieger, der von Leidenschaft angetrieben wurde, war solch eine Unempfänglichkeit schwer zu erreichen und erst recht kaum durchzuhalten. Er konnte die Last jetzt spüren, die sich immer weiter aufbaute, und er wusste, dass er eines Tages Mappo Runt um den barmherzigen Tod, den er erlitten hatte, beneiden würde.

Sie waren bisher rasch vorangekommen. Icarium war unermüdlich, sobald man ihm eine Richtung gewiesen hatte. Und Taralack war trotz all seiner Tüchtigkeit und Ausdauer erschöpft. Ich bin kein Trell, und wir wandern auch nicht einfach nur so herum. Nicht mehr – und für Icarium wird das niemals mehr so sein.

Und wie es schien, auch nicht für Taralack Veed.

Er blickte auf, als er kratzende Geräusche hörte, und sah Icarium herabsteigen.

»Diese Wilden, von denen du gesprochen hast«, sagte der Jhag ohne irgendeine Einleitung, »warum sollten sie versuchen, uns herauszufordern?«

»Ihr verlassener Wald ist voller heiliger Stätten, Icarium.«

»Dann müssen wir es nur vermeiden, sie widerrechtlich zu betreten.«

»Solche Stätten sind nicht leicht zu erkennen. Die eine könnte eine Reihe von Felsbrocken auf dem Grundgestein sein, größtenteils unter Flechten und Moos vergraben. Oder die Überreste eines Geweihs in der Gabelung eines Baums, so überwuchert, dass es praktisch nicht mehr zu sehen ist. Oder eine Quarzit-Ader mit ein paar glänzenden Einsprengseln aus Gold. Oder der grüne Werkzeugstein  – die Steinbrüche sind nichts weiter als fahle Dellen im senkrechten Fels, denen der grüne Stein mit Hilfe von Feuer und kaltem Wasser geraubt wurde. Vielleicht auch kaum mehr als eine Bärenspur auf dem Grundgestein, die seit zahllosen Generationen von den elenden Biestern ausgetreten wurde. Alles heilig. Die Gedanken solcher Wilden lassen sich nicht ergründen.«

»Es scheint, als ob du viel über sie wüsstest, aber du hast mir erzählt, dass du ihr Land noch nie zuvor bereist hast.«

»Ich habe vieles über sie gehört, Icarium.«

Plötzlich lag eine gewisse Schärfe im Blick des Jhag. »Und wer hat dich so genau unterrichtet, Taralack Veed von den Gral?«

»Ich bin weit herumgekommen, mein Freund. Ich habe tausend Geschichten gehört –«

»Du bist vorbereitet worden. Auf mich.«

Ein schwaches Lächeln – das war es, was in diesem Augenblick am besten passte, und Taralack brachte es leicht zustande. »Den größten Teil der Zeit, in der ich weit herumgekommen bin, habe ich in deiner Gesellschaft verbracht, Icarium. Ich wollte, ich könnte dir meine Erinnerungen an die Zeit schenken, die wir miteinander verbracht haben.«

»Ich wollte, das könntest du«, stimmte Icarium ihm zu. Er starrte jetzt ins Feuer.

»Natürlich«, fügte Taralack hinzu, »würde dieses Geschenk auch viel Dunkelheit, viele grimmige, unangenehme Taten beinhalten. Die Leere in deinem Innern, Icarium, ist sowohl ein Segen als auch ein Fluch – das verstehst du doch, oder?«

»Die Leere ist kein Segen«, sagte der Jhag und schüttelte den Kopf. »All das, was ich getan habe – es kann den gerechten Preis nicht einfordern. Kann meine Seele nicht zeichnen. Und so verändere ich mich nicht, sondern bleibe, wie ich bin … für immer einfältig –«

»Unschuldig –«

»Nein, nicht unschuldig. In der Unwissenheit liegt nichts Entlastendes, Taralack Veed.«

Du nennst mich jetzt beim Namen, nennst mich nicht mehr »Freund«. Hat das Misstrauen schon begonnen, dich zu vergiften? »Und daher ist es meine Aufgabe, dich jedes Mal zu all dem zurückzuführen, was du verloren hast. Es ist mühsam und es zermürbt mich – leider. Mein Wunsch, dir die grässlichsten Erinnerungen zu ersparen, ist meine größte Schwäche. In meinem Herzen ist zu viel Mitleid, und ich merke inzwischen, dass ich dich durch den Versuch, dich zu verschonen, nur noch mehr verwunde.« Er spuckte in die Hände und strich sich die Haare zurück, hielt die Hände dann erneut dicht an die Flammen. »Also gut, mein Freund. Einst, vor langer Zeit, wurden wir von dem Bedürfnis getrieben, deinen Vater zu befreien, der von einem Azath-Haus gefangen genommen worden war. Angesichts eines schrecklichen Fehlschlags wurde eine tiefere, tödlichere Macht geboren – deine Wut. Du hast ein verwundetes Gewirr zerschmettert und ein Azath-Haus zerstört, hast einen Haufen dämonischer Wesen auf die Welt losgelassen, die alle nach nichts anderem als Herrschaft und Tyrannei strebten. Ein paar von ihnen hast du getötet, aber viele sind deinem Zorn entkommen und leben weiter bis zum heutigen Tag, überall auf der Welt verstreut wie so viel üble Saat.

Doch die bitterste Ironie dieser Geschichte liegt darin, dass dein Vater gar nicht befreit werden wollte. Er hatte aus freiem Willen beschlossen, der Wächter eines Azath-Hauses zu werden, und es könnte sein, dass er es bis zum heutigen Tag ist.

Als Folge der Zerstörung, die du angerichtet hast, Icarium, hat ein Kult, der sich seit Anbeginn der Zeit den Azath-Häusern verschrieben hatte, es für nötig erachtet, eigene Wächter zu erschaffen. Ausgewählte Krieger, die dich begleiten würden, ganz egal, wo du auch hingehen würdest – denn deine Wut und die Vernichtung des Gewirrs hatte dir sämtliche Erinnerungen an deine Vergangenheit entrissen – und so warst du nun für alle Zeit verflucht, wie es schien, die Wahrheit über all das herauszufinden, was du getan hast. Und wieder und wieder in einen Wutanfall zu stolpern und erneut alles zu vernichten.

Dieser Kult – der Kult der Namenlosen – ist daher auf die Idee gekommen, dich mit einem Gefährten zu verbinden. Einem wie mir. Ja, mein Freund, es hat andere gegeben, lange bevor ich geboren wurde, und jeder von ihnen war von Zauberei durchdrungen, die die Unbilden des Alterns verlangsamt und gegen alle Arten von Krankheiten und Giften schützt, so lange der Gefährte seinen Dienst erfüllt. Unsere Aufgabe ist es, dich in deiner Wut zu lenken, moralische Einstellungen geltend zu machen und vor allem, dein Freund zu sein, und die letzte Aufgabe hat sich wieder und wieder als die einfachste und ja, auch die verführerischste erwiesen, denn es ist leicht für unsereinen, in uns eine tiefe und beständige Liebe zu dir zu entdecken. Aufgrund deiner Ernsthaftigkeit, deiner Loyalität und der unbefleckten Ehre in dir.

Ich gebe zu, dass dein Sinn für Gerechtigkeit hart ist, Icarium. Doch letzten Endes auch groß in seiner Vornehmheit. Und jetzt gibt es einen Feind, der auf dich wartet. Einen Feind, dem nur du dich entgegenstellen kannst, mein Freund, weil nur du stark genug bist. Und darum sind wir nun unterwegs, und alle, die aus welchen Gründen auch immer versuchen, sich uns entgegenzustellen, müssen beiseitegefegt werden. Für die größere Sache.« Er gestattete sich, erneut zu lächeln, doch dieses Mal verbunden mit einem Hauch gewaltiger, tapfer gebändigter Qual. »Du wirst dich nun fragen, ob die Namenlosen einer solchen Verantwortung würdig sind? Ob ihre moralische Rechtschaffenheit und ihr Sinn für Ehre deinem gleichkommen? Die Antwort liegt in der Notwendigkeit und darüber hinaus in dem Beispiel, das du gibst. Du führst die Namenlosen, mein Freund, durch alles, was du tust. Wenn sie versagen, dann deswegen, weil du versagt hast.«

Zufrieden damit, dass er sich so genau an die Worte erinnerte, die man ihm gesagt hatte, musterte Taralack Veed den großen Krieger, der vor ihm stand, vom Feuer angestrahlt, das Gesicht hinter den Händen verborgen. Wie ein Kind, für das etwas nicht zu sehen bedeutete, dass dieses Etwas nicht existierte.

Icarium weinte, wie er schließlich bemerkte.

Gut. Sogar er. Sogar er wird sich von seiner eigenen Qual nähren und aus ihr einen suchterzeugenden Nektar machen, ein süßes Rauschmittel aus Selbstbeschuldigung und Schmerz.

Und so wird jeder Zweifel und jegliches Misstrauen verschwinden.

Denn solchen Dingen kann keine süße Glückseligkeit entrungen werden.

Plötzlich prasselte ein kalter Regenschauer auf sie herab, und ein tiefes Donnergrollen war zu hören. Der Sturm würde bald über ihnen sein. »Ich bin genügend ausgeruht«, sagte Taralack und stand auf. »Vor uns liegt ein langer Marsch –«

»Dazu besteht keine Veranlassung«, sagte Icarium hinter seinen Händen.

»Wie meinst du das?«

»Das Meer. Es ist voller Schiffe.«

Der einsame Reiter kam von den Hügeln herunter, kurz nach dem Überfall. Barathol Mekhar, dessen gewaltige, vernarbte und von unzähligen kleinen Brandwunden übersäte Unterarme voller Blutspritzer waren, hatte den toten Dämon lange schweigend gemustert und stand nun auf. Er trug seine Rüstung und seinen Helm, und jetzt zog er seine Axt aus der Gürtelschlaufe.

Monate waren vergangen, seit die T’lan Imass zum ersten Mal aufgetaucht waren – er hatte gedacht, dass sie lange verschwunden wären, dass sie schon verschwunden gewesen wären, noch ehe der alte Kulat in seinem neuentdeckten Wahnsinn davongewandert war. Ihm war nicht klar gewesen – keinem von ihnen war klar gewesen  –, dass die schrecklichen, untoten Kreaturen niemals fort gewesen waren.

Die Reisenden waren niedergemetzelt worden, der Überfall so rasch ausgeführt worden, dass Barathol nichts davon mitbekommen hatte – bis es viel zu spät gewesen war. Jhelim und Filiad waren plötzlich in die Schmiede gestürmt und hatten etwas von Mord und Totschlag gleich außerhalb des Weilers geschrien. Er hatte nach seiner Waffe gegriffen und war mit ihnen zur Weststraße gelaufen – um dort festzustellen, dass der Feind schon wieder verschwunden war, seine Aufgabe erledigt hatte und überall auf der alten Straße sterbende Pferde und reglose Körper wie vom Himmel gefallen herumlagen.

Er hatte Filiad losgeschickt, nach der alten Nulliss zu suchen, die über bescheidene Fähigkeiten als Heilerin verfügte, und war zur Schmiede zurückgegangen, ohne weiter auf Jhelim zu achten, der wie ein verlorenes Hündchen hinter ihm her getrottet war. Er hatte seine Rüstung angelegt, hatte sich dabei Zeit gelassen. Vermutlich waren die T’lan Imass überaus gründlich gewesen. Sie hatten mehr als genug Zeit gehabt sicherzustellen, dass sie keinen Fehler begangen hatten. Nulliss würde feststellen, dass für die armen Opfer nichts mehr getan werden konnte.

Als er allerdings zur Weststraße zurückkehrte, musste er zu seinem Erstaunen feststellen, dass die alte Semk neben einer Gestalt kniete und Filiad Anweisungen zurief. Barathol beschleunigte seine Schritte, starrte zu Nulliss hin – er hatte den Eindruck, als hätte sie ihre Hände in den Körper des Mannes gestoßen und bewegte die Arme, als würde sie Brotteig kneten. Während sie dies tat, war ihr Blick auf die Frau gerichtet, die ganz in der Nähe lag und zu stöhnen begonnen hatte, dabei wieder und wieder um sich trat und mit den Fersen Furchen in den Dreck zog. Sie lag in einer Blutlache, die sich immer noch verbreiterte.

Nulliss entdeckte ihn und rief ihn zu sich.

Barathol sah, dass der Mann, neben dem sie kniete, ausgeweidet worden war. Nulliss schob seine Gedärme wieder zurück in den Bauch. »Um des Vermummten willen, Frau«, knurrte der Schmied, »lass ihn in Ruhe. Er ist erledigt. Du hast seine Bauchhöhle mit Dreck gefüllt –«

»Kochendes Wasser ist unterwegs«, fuhr sie ihn an. »Ich habe vor, den Bauchraum auszuwaschen.« Sie wies mit einem Nicken auf die zuckende Frau. »Der da wurde die Schulter durchbohrt, und jetzt kommt sie nieder.«

»Sie kommt nieder? Bei den Göttern hienieden. Hör zu, Nulliss: Kochendes Wasser wird nicht ausreichen, es sei denn, du willst seine Leber fürs Abendessen kochen –«

»Geh zurück zu deinem verdammten Amboss, du hirnloser Affe! Es war ein sauberer Schnitt – ich habe gesehen, was Eber mit ihren Hauern anrichten können, und das war viel schlimmer.«

»Der Schnitt mag anfangs sauber gewesen sein –«

»Ich habe gesagt, dass ich vorhabe, ihn sauber zu machen! Aber wir können ihn nicht zum Dorf tragen, so lange seine Eingeweide hinter ihm herschleifen, oder?«

Ratlos blickte Barathol sich um. Er wollte irgendetwas umbringen. Ein schlichter Wunsch, aber er wusste bereits jetzt, dass er sich nicht in die Tat umsetzen lassen würde, und das verdüsterte seine Stimmung noch mehr. Er ging zu dem dritten Körper. Ein alter Mann, über und über tätowiert und ohne Hände – die T’lan Imass hatten ihn in Stücke gehauen. Sieh an. Er war ihr Ziel. Die anderen waren einfach nur im Weg. Und darum war es ihnen egal, ob sie überleben oder sterben würden. Wohingegen dieser arme Kerl kaum toter sein konnte.

Nach einem kurzen Augenblick machte Barathol sich zu dem letzten Opfer auf, das er sehen konnte. Vom Weiler her näherten sich noch mehr Leute, zwei von ihnen trugen Decken und Lumpen. Storuk, Fenar, Hayrith, Stuk – sie alle wirkten irgendwie klein, geschrumpft und bleich vor Angst. Nulliss rief schon wieder Anweisungen.

Vor ihm lag eine Art Dämon, dem auf der einen Seite seines Körpers beide Gliedmaßen abgetrennt worden waren. Viel Blut war nicht geflossen, wie er bemerkte, aber im Augenblick ihres Todes schien etwas Seltsames die Kreatur befallen zu haben. Sie sah … entleert aus, als hätte das Fleisch unter der Haut begonnen sich aufzulösen, zu nichts zu verschwinden. Die merkwürdigen Augen waren bereits ausgetrocknet und zersprungen.

»Schmied! Hilf mir, den hier hochzuheben!«

Barathol ging zurück.

»Auf die Decke. Storuk, du und dein Bruder, ihr geht an das Ende. Jeder nimmt eine Ecke. Fenar, du kommst mit mir an das andere Ende –«

Hayrith, die beinahe so alt wie Nulliss war, hatte die Arme voller Lumpen. »Und was ist mit mir?«, fragte sie.

»Setz dich zu der Frau. Stopf ein Stück Stoff in die Wunde – wir werden sie später nähen, es sei denn, die Geburt macht Probleme  –«

»Wenn ich mir ansehe, wie viel Blut sie verloren hat«, sagte Hayrith und kniff die Augen zusammen, »wird sie die Geburt wahrscheinlich nicht überleben.«

»Vielleicht. Setz dich erst mal einfach nur zu ihr. Halte ihre verdammte Hand und rede mit ihr, und –«

»Ja, ja, Hexe, du bist nicht die Einzige hier, die über all diese Dinge Bescheid weiß.«

»Gut. Dann mach.«

»Du hast doch nur auf so etwas gewartet, was?«

»Sei still, du euterlose Kuh.«

»Königin Nulliss, die Hohepriesterin der Gemeinheit.«

»Schmied«, knurrte Nulliss, »verpass ihr eins mit deiner Axt, ja?«

Vor sich hin zischelnd schlurfte Hayrith davon.

»Hilf mir«, sagte Nulliss zu ihm. »Wir müssen ihn jetzt hochheben.«

Es schien eine sinnlose Aufgabe, aber er tat, wie ihm geheißen, und war überrascht, als sie sagte, dass der junge Mann immer noch lebte, nachdem sie ihn auf die Decke gelegt hatten.

Während Nulliss und die anderen ihn wegtrugen, ging Barathol zurück zu dem in Stücke gehauenen Leichnam des alten, tätowierten Mannes und hockte sich neben ihn. Was er vorhatte, war unangenehm, aber möglicherweise konnte er anhand der Besitztümer des Toten etwas über den alten Mann erfahren. Er drehte den Leichnam auf den Rücken, dann hielt er inne und starrte in die leblosen Augen hinunter. Katzenaugen. Mit neu erwachtem Interesse musterte er die Tätowierungen genauer und lehnte sich dann langsam auf die Fersen zurück.

Erst jetzt bemerkte er all die toten Fliegen. Sie bedeckten auf allen Seiten den Boden, mehr Fliegen als er jemals zuvor gesehen hatte. Barathol stand wieder auf, ging zurück zu dem toten Dämon.

Und starrte nachdenklich auf ihn hinunter, bis eine Bewegung in der Ferne und Hufgetrappel seine Aufmerksamkeit erregten. Hinter ihm waren die Dorfbewohner zurückgekehrt, um die schwangere Frau zu holen.

Und jetzt beobachtete er den Reiter, der genau auf ihn zugeritten kam.

Auf einem schäumenden Pferd, das die Farbe von der Sonne ausgebleichter Knochen hatte. Er trug eine staubige, weiß lackierte Rüstung. Das Gesicht des Mannes unter dem Helm war bleich, von Kummer gezeichnet. Er zügelte das Pferd, glitt aus dem Sattel und stolperte ohne weiter auf Barathol zu achten zu dem Dämon, fiel auf die Knie.

»Wer – wer hat das getan?«, fragte er.

»T’lan Imass. Sie waren zu fünft. Ein ziemlich kaputter Haufen, selbst für T’lan Imass. Sie haben einen Hinterhalt gelegt.« Barathol deutete auf den Leichnam des tätowierten Mannes. »Ich glaube, sie waren hinter dem da drüben her. Ein Priester, von einem Kult, der sich dem Ersten Helden Treach verschrieben hat.«

»Treach ist jetzt ein Gott.«

Barathols Antwort bestand in einem undeutlichen Geräusch. Er blickte zurück zu den baufälligen Hütten des Weilers, den er mittlerweile als seine Heimat betrachtete. »Es gibt noch zwei andere. Beide sind noch am Leben, obwohl der eine es nicht mehr lange machen wird. Die andere ist schwanger und kommt in ebendiesem Augenblick nieder –«

Der Mann blickte zu ihm auf. »Zwei? Nein, es müssten drei gewesen sein. Ein Mädchen …«

Barathol runzelte die Stirn. »Ich dachte, der Priester wäre ihr Ziel gewesen – sie waren sehr gründlich, was ihn betrifft – aber jetzt wird mir klar, dass sie ihn niedergemacht haben, weil er die größte Gefahr dargestellt hat. Sie müssen wegen des Mädchens gekommen sein – denn die ist nicht hier.«

Der Mann erhob sich. Er war so groß wie Barathol, wenn auch nicht so breit. »Vielleicht ist sie geflohen … zu den Hügeln.«

»Das ist möglich. Obwohl«, fügte Barathol nach einer kurzen Pause hinzu, »ich mich schon über das zusätzliche Pferd gewundert hatte, das genau wie die anderen gesattelt ist.« Er deutete auf einen weiteren Pferdekadaver unweit ihres Standpunkts. »Es wurde auf dem Pfad niedergehauen.«

»Oh. Ja, ich verstehe …«

»Wer seid Ihr?«, fragte Barathol. »Und was hat Euch das verschwundene Mädchen bedeutet?«

Das Gesicht des Mannes war noch immer vom Schock gezeichnet, und er blinzelte mehrmals, als er die Frage hörte. Dann nickte er. »Ich heiße L’oric. Das Kind war … es war für die Königin der Träume bestimmt. Ich bin gekommen, um sie zu holen – sie und meinen Hausdämon.« Er blickte erneut auf den Dämon hinunter, und der Schmerz ließ ein paar Muskeln in seinem Gesicht zucken.

»Dann hat das Glück Euch verlassen«, sagte Barathol. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »L’oric, verfügt Ihr über irgendwelche Heilkünste?«

»Was?«

»Nun, schließlich seid Ihr einer von Sha’iks Hohemagiern –«

L’oric sah weg, als wäre er getroffen. »Sha’ik ist tot. Die Rebellion ist zerschmettert.«

Barathol zuckte die Schultern.

»Ja«, sagte L’oric, »ich kann auf Denul zurückgreifen, wenn es nötig ist.«

»Ist das Leben dieses Mädchens alles, was Euch kümmert?« Barathol deutete auf den Dämon hinunter. »Für Euren Hausdämon könnt Ihr nichts mehr tun – aber was ist mit denjenigen, die ihn und das Mädchen begleitet haben? Der junge Mann wird sterben – wenn er nicht längst schon tot ist. Wollt Ihr weiter hier stehen bleiben und nur bei dem verweilen, was Ihr verloren habt?«

Über das blasse Gesicht flackerte ein verärgerter Ausdruck. »Ich rate zur Vorsicht«, sagte L’oric leise. »Du warst einst Soldat – das ist offensichtlich –, aber du hast dich hier verborgen wie ein Feigling, während das ganze Reich der Sieben Städte sich erhoben hat … von der Freiheit geträumt hat. Von jemandem wie dir lasse ich mich nicht tadeln.«

Barathol musterte L’oric noch einen Moment mit seinen dunklen Augen, dann drehte er sich um und machte sich auf den Weg zu den Gebäuden. »Es wird jemand kommen«, sagte er, »um die Toten für das Begräbnis herzurichten.«

Nulliss hatte sich entschieden, ihre Schutzbefohlenen in das alte Wirtshaus bringen zu lassen. Für die Frau war ein Feldbett aus einem der Zimmer herbeigeschafft worden, während der ausgeweidete Junge auf den gemeinschaftlichen Esstisch gelegt worden war. Ein Kochtopf voller Wasser dampfte auf dem Herd, und Filiad benutzte einen Stock, um nasse Stoffstreifen aus dem Topf zu holen und zu der alten Semk zu tragen.

Sie hatte die Eingeweide wieder aus der Bauchhöhle gezogen, schien das pulsierende Durcheinander aber für den Augenblick nicht weiter zu beachten. Statt dessen hatte sie wieder beide Hände tief in der Bauchhöhle des Verletzten vergraben. »Fliegen!«, zischte sie, als Barathol den Raum betrat. »Sein ganzer verdammter Bauch ist voller toter Fliegen!«

»Du wirst ihn nicht retten«, sagte Barathol und ging zum Tresen, wo er seine Axt auf die zerschrammte, staubige Oberfläche legte. Es gab ein schweres, dumpfes Geräusch. Er machte sich daran, seine Handschuhe auszuziehen, und blickte dabei Hayrith an. »Hat sie geboren?« fragte er.

»Ja. Ein Mädchen.« Hayrith wusch sich die Hände in einer Schüssel, aber sie wies mit einem Nicken auf ein kleines Bündel, das auf der Brust der Frau lag. »Sie saugt schon. Ich hab’ zuerst gedacht, alles wäre schiefgelaufen, Schmied. Richtig schief. Das Kind war ganz blau, als es rausgekommen ist. Aber die Nabelschnur hatte sich gar nicht um seinen Hals verknotet.«

»Und warum war es dann blau?«

»Was heißt war? Es ist immer noch blau. Der Vater war ein Napanese, würde ich sagen.«

»Und was ist mit der Mutter?«

»Sie wird’s überleben. Ich habe Nulliss gar nicht gebraucht. Ich weiß, wie man eine Wunde saubermacht und näht. Natürlich weiß ich das, schließlich bin ich einst der Heiligen Armee des Falah’d von Hissar gefolgt und habe schon viele Schlachtfelder gesehen. Und auch viele Wunden saubergemacht.« Sie schüttelte die Hände und trocknete sie dann an ihrem schmuddeligen Kasack ab. »Sie wird natürlich Fieber bekommen, aber wenn sie das überlebt, wird sie in Ordnung sein.«

»Hayrith!«, rief Nulliss. »Komm her und wring die Lumpen aus! Und dann wirf sie wieder ins kochende Wasser – bei den Göttern hienieden, ich verliere ihn – sein Herzschlag wird schwächer.«

Die Tür schwang auf. Köpfe drehten sich, und alle Augen richteten sich auf L’oric, der langsam ins Innere des Gasthauses trat.

»Wer ist denn das, im Namen des Vermummten?«, fragte Hayrith.

Barathol, der gerade die Riemen seines Helms löste, sagte: »Das ist Hohemagier L’oric, ein Flüchtling der Apokalypse.«

Hayrith kicherte. »Na, da hat er ja genau den richtigen Ort gefunden! Willkommen, L’oric! Nehmt Euch einen Krug voller Staub und einen Teller voller Asche und gesellt Euch zu uns! Fenar, hör auf, in der Gegend rumzuglotzen, und geh und such Chaur und Urdan – da draußen liegt Pferdefleisch rum, um das man sich kümmern muss – wir wollen doch nicht, dass die Wölfe aus den Hügeln hier runterkommen und sich zuerst drüber hermachen.«

Barathol schaute zu, wie L’oric zu Nulliss hinüberging, die über dem Jungen auf dem Tisch kniete. Sie schob Lumpen in die Bauchhöhle und zog sie wieder heraus – da war viel zu viel Blut – kein Wunder, dass sein Herzschlag schwächer wurde.

»Geh zur Seite«, sagte L’oric zu ihr. »Ich beherrsche zwar kein Hoch-Denul, aber zumindest kann ich die Wunde säubern und verschließen und dafür sorgen, dass es nicht zu einer Entzündung kommt.«

»Er hat zu viel Blut verloren«, zischte Nulliss.

»Vielleicht«, stimmte L’oric ihr zu, »aber lass uns zumindest seinem Herzen eine Möglichkeit geben, sich wieder zu erholen.«

Nulliss wich zurück. »Wie Ihr wollt«, schnappte sie. »Ich kann nichts mehr für ihn tun.«

Barathol ging hinter den Tresen, kauerte sich vor ein Stück Holztäfelung, dem er einen kräftigen Schlag versetzte. Das Holzstück fiel zu Boden, gab den Blick auf drei staubige Krüge frei. Er nahm einen, stand auf und stellte ihn auf den Tresen. Dann suchte er sich einen Bierkrug, wischte ihn sauber und füllte ihn.

Erst danach stellte er fest, dass er die Blicke aller Anwesenden auf sich gezogen hatte – mit Ausnahme von L’oric, der neben dem Jungen stand und ihm die Hände auf die Brust gelegt hatte. Hayrith fragte in ehrfürchtigem Tonfall: »Wo hast du den denn her, Schmied?«

»Aus dem Versteck vom alten Kulat«, antwortete Barathol. »Ich glaube nicht, dass er zurückkommen wird, um ihn sich zu holen.«

»Und was rieche ich da?«

»Falarischen Rum.«

»Gesegnet seien die Götter droben und hienieden!«

Schlagartig versammelten sich die Einheimischen im Raum um den Tresen. Knurrend schob Nulliss Filiad zurück. »Du nicht – du bist zu jung –«

»Zu jung? Frau, ich bin sechsundzwanzig!«

»Du hast gehört, was ich gesagt habe! Sechsundzwanzig? Das reicht nicht, um falarischen Rum genießen zu können, du dürrer Welpe.«

Barathol seufzte. »Sei nicht so gierig, Nulliss. Außerdem sind da unten noch zwei Krüge.« Er nahm seinen Bierkrug und trollte sich, während Filiad und Jhelim miteinander rangelten und dabei gleichzeitig versuchten, hinter den Tresen zu krabbeln.

Von ein paar getrockneten Blutspritzern abgesehen, war eine fahle Narbe alles, was von dem Schwerthieb quer über den Bauch des Jungen geblieben war. L’oric stand noch immer neben ihm, die Hände reglos auf seiner Brust. Nach ein paar Herzschlägen öffnete er die Augen und trat zurück. »Er hat ein starkes Herz … wir werden sehen. Wo ist die andere?«

»Da drüben. Sie hat eine Schulterwunde. Sie ist ausgebrannt worden, aber ich kann garantieren, dass eine Entzündung entstehen und sie am Ende wahrscheinlich töten wird, wenn Ihr nicht irgendetwas tut.«

L’oric nickte. »Sie heißt Scillara. Den jungen Mann hier kenne ich nicht.« Er runzelte die Stirn. »Heboric Geisterhand« – er rieb sich das Gesicht –, »ich hätte nicht gedacht …« Er warf Barathol einen Blick zu. »Als Treach ihn zu seinem Destriant erwählt hat … nun, da war so viel … Macht. T’lan Imass? Fünf zerbrochene T’-lan Imass?«

Barathol zuckte die Schultern. »Ich selbst habe den Überfall nicht gesehen. Die Imass sind vor einigen Monaten schon einmal hier aufgetaucht, aber dann sah es aus, als wären sie wieder verschwunden. Schließlich gibt es hier nichts, was sie wollen würden. Noch nicht einmal mich.«

»Diener des Verkrüppelten Gottes«, sagte L’oric. »Die Ungebundenen, vom Hohen Haus der Ketten.« Er ging zu der Frau, die er Scillara genannt hatte. »Die Götter führen in der Tat Krieg gegeneinander …«

Barathol starrte ihm nach. Er trank die Hälfte des Rums in seinem Bierkrug und gesellte sich dann wieder zu dem Hohemagier. »Die Götter, sagt Ihr.«

»In ihr flüstert schon das Fieber – das wird nicht ausreichen.« Er schloss die Augen und begann, leise vor sich hin zu murmeln. Nach ein paar Herzschlägen trat er zurück, blickte Barathol in die Augen. »Dies ist genau das, was geschehen wird. Das Blut von Sterblichen wird vergossen werden. Unschuldige Leben … vernichtet. Sogar hier, in diesem verfaulten Loch von einem Dorf, könnt ihr euch nicht vor der Plage verstecken – sie wird euch finden. Sie wird uns alle finden.«

Barathol trank den Rum aus. »Werdet Ihr Euch jetzt auf die Suche nach dem Mädchen machen?«

»Und sie ganz allein den Ungebundenen entreißen? Nein. Selbst wenn ich wüsste, wo ich suchen müsste – es ist unmöglich. Der Zug der Königin der Träume ist fehlgeschlagen – wahrscheinlich weiß sie es schon.« Er holte tief und zittrig Luft; erst jetzt bemerkte Barathol, wie erschöpft der Mann eigentlich war. »Nein«, sagte er noch einmal; sein Gesichtsausdruck veränderte sich, war aber schwer zu deuten – doch ein, zwei Herzschläge später sah er auf einmal ziemlich unglücklich aus. »Ich habe meinen Hausdämon verloren … aber …«, er schüttelte den Kopf, »aber ich spüre keinen Schmerz – die Trennung sollte Schmerzen hervorrufen – ich verstehe es nicht …«

»Hohemagier, es gibt hier freie Räume«, sagte Barathol. »Ruht Euch aus. Ich werde Hayrith beauftragen, Euch etwas zu essen zu besorgen, und Filiad kann sich um Euer Pferd kümmern. Wartet hier, bis ich zurückkomme.«

Der Schmied sprach kurz mit Hayrith, dann verließ er das Wirtshaus und machte sich einmal mehr zur Weststraße auf. Er sah, dass Chaur, Fenar und Urdan den toten Pferden die Sättel und das Zaumzeug abnahmen. »Chaur!«, rief er, »geh von dem da weg – nein, in diese Richtung, dahin, bleib einfach stehen, verdammt. Da. Rühr dich nicht von der Stelle.« Das Pferd des Mädchens. Als er es erreicht hatte, ging er vorsichtig darum herum, suchte nach Spuren.

Chaur zappelte herum – ein großer Mann, aber mit dem Verstand eines Kindes, auch wenn der Anblick von Blut ihn sonst nie beunruhigt hatte.

Barathol achtete nicht weiter auf ihn, sondern musterte eingehend die Kratzer, Furchen und verrutschten Steine und fand schließlich einen kleinen Fußabdruck – nur einen einzigen, und merkwürdig verdreht, wo der Fußballen auf dem Boden aufgekommen war. Auf beiden Seiten davon waren größere Abdrücke, von skelettartigen Füßen, die hier und dort mit Lederriemen oder Fellstücken zusammengebunden waren.

So. Sie war von dem tödlich verwundeten Pferd heruntergesprungen, doch genau in dem Augenblick, als sie mit einem Fuß den Boden berührt hatte, hatten die T’lan Imass sie gepackt und sie hochgehoben – sie hatte sich zweifellos gewehrt, doch gegen solch eine unmenschliche, unerbittliche Kraft war sie hilflos gewesen.

Und dann waren die T’lan Imass verschwunden. Zu Staub zerfallen. Und hatten sie irgendwie mitgenommen. Er hätte nicht gedacht, dass das möglich war. Doch … es führten keine Spuren von der Stelle weg.

Enttäuscht und gereizt machte Barathol sich auf den Weg zurück zum Wirtshaus.

Als er hinter sich ein wimmerndes Geräusch hörte, drehte er sich um. »Es ist in Ordnung, Chaur. Du kannst mit dem weitermachen, was du angefangen hattest.«

Ein breites Lächeln antwortete ihm.

Barathol spürte sofort, als er den Raum betrat, dass sich etwas verändert hatte. Die Einheimischen hatten sich an die Wand hinter dem Tresen zurückgezogen. L’oric stand mitten in der Schankstube und sah den Schmied an, der gleich hinter dem Eingang stehengeblieben war. Der Hohemagier hatte sein Schwert gezogen, eine schimmernde weiße Klinge.

L’oric starrte Barathol unverwandt an. »Ich habe gerade erst deinen Namen gehört.«

Der Schmied zuckte die Schultern.

Ein höhnisches Grinsen verzerrte L’orics bleiches Gesicht. »Ich nehme an, dass der Rum ihnen die Zunge gelockert hat, oder sie haben deinen Befehl, es zu verschweigen, schlicht und einfach vergessen.«

»Ich habe keine Befehle erteilt«, erwiderte Barathol. »Diese Leute hier wissen nichts von der Welt da draußen – und sie kümmert sie noch viel weniger. Was den Rum angeht …« Er ließ seinen Blick zu den Dorfbewohnern hinter dem Tresen schweifen. »Nulliss, ist noch was übrig?«

Sie nickte stumm.

»Dann stell ihn bitte auf den Tresen«, sagte Barathol. »Am besten neben meine Axt.«

»Ich wäre ein Narr, wenn ich dich in die Nähe deiner Waffe lassen würde«, sagte L’oric und hob sein Schwert.

»Das hängt davon ab, ob Ihr vorhabt, gegen mich zu kämpfen, oder?«, erwiderte Barathol.

»Mir fallen die Namen von hundert Männern ein, die – wenn sie jetzt an meiner Stelle wären – keinen Augenblick zögern würden.«

Barathol zog die Brauen hoch. »Die Namen von hundert Männern, sagt Ihr. Und wie viele von diesen Männern sind noch am Leben?«

L’orics Mund wurde zu einem schmalen Strich.

»Glaubt Ihr etwa«, fuhr Barathol fort, »dass ich damals, vor all diesen Jahren, einfach aus Aren weggegangen bin? Ich war nicht der einzige Überlebende, Hohemagier. Sie sind mir gefolgt. Man könnte fast schon sagen, dass es ein einziges verdammtes Rückzugsgefecht war – die ganze Strecke vom Arenweg bis Karashimesh. Bis ich den Letzten in einem Graben liegengelassen habe, wo er dann verblutet ist. Es mag sein, dass Ihr meinen Namen kennt, und es mag sein, dass Ihr glaubt, mein Verbrechen zu kennen … aber Ihr wart nicht dort. Diejenigen, die dort waren, sind alle tot. Nun – seid Ihr wirklich daran interessiert, diesen Fehdehandschuh aufzunehmen?«

»Sie sagen, du hättest die Tore geöffnet –«

Barathol schnaubte, ging quer durch den Raum zu dem Krug mit Rum, den Nulliss auf den Tresen gestellt hatte. »Lächerlich. T’lan Imass brauchen keine Tore.« Die Hexe vom Volk der Semk fand einen leeren Bierkrug und knallte ihn auf den Tresen. »Oh, es stimmt, ich habe eins aufgemacht – als ich auf dem Weg nach draußen war, auf dem schnellsten Pferd, das ich finden konnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Gemetzel bereits angefangen.«

»Aber du bist nicht dort geblieben, oder? Du hast nicht gekämpft, Barathol Mekhar! Der Vermummte soll dich holen, Mann – sie haben in deinem Namen rebelliert!«

»Zu dumm, dass sie vorher nicht daran gedacht haben, mich zu fragen«, erwiderte er grollend und füllte den Bierkrug. »Und jetzt legt das verdammte Schwert weg, Hohemagier.«

L’oric zögerte, dann sackte er dort, wo er stand, ein wenig in sich zusammen und schob die Waffe langsam wieder in die Scheide. »Du hast recht. Ich bin zu müde für so etwas. Zu alt.« Er runzelte die Stirn, dann richtete er sich wieder gerade auf. »Du hast gedacht, die T’lan Imass wären deinetwegen gekommen, stimmt’s?«

Barathol musterte den Mann über den zerschlagenen Rand seines Bierkrugs hinweg, sagte jedoch nichts.

L’oric strich sich mit einer Hand durchs Haar und blickte sich um, als hätte er vergessen, wo er sich befand.

»Bei den Knochen des Vermummten«, sagte Barathol seufzend, »Nulliss, besorg dem armen Kerl einen Stuhl, ja?«

Der graue Nebelschleier und die blendenden silbrigen Flecken lösten sich langsam auf, und schlagartig konnte Felisin die Jüngere ihren Körper wieder spüren – und scharfe Steine, die sich in ihre Knie gruben, und den Geruch von Staub, Schweiß und Angst, der die Luft sättigte. Bilder von Chaos und Gemetzel erfüllten ihre Gedanken. Sie fühlte sich betäubt und konnte nichts anderes tun, als zuzusehen, wie die Dinge um sie herum allmählich wieder Gestalt annahmen. Vor ihr warf das Sonnenlicht scharfe Strahlen gegen eine von Spalten und Rissen durchzogene Felswand. Sandverwehungen säumten breite, flache Steinstufen, die in die Felswand selbst hinaufzuführen schienen. Weitaus näher waren die großen Knöchel der Hand – blass unter verwitterter Haut –, die ihren rechten Arm über dem Ellenbogen umklammerte; die sichtbaren Bänder des Handgelenks waren angespannt, und sie gaben schwache Geräusche von sich, wie Leder, das verdreht wird. Sie konnte den Griff nicht lösen – sie hatte es versucht, bis zur vollkommenen Erschöpfung. Nah war auch der überwältigende Gestank von uraltem Verfall, und dann und wann geriet eine blutverschmierte, geriffelte Klinge in ihr Blickfeld, breit nahe der gekrümmten Spitze, schmaler werdend zum lederumwickelten Heft hin. Schwarzer, glasiger Stein, entlang der Schneide so dünn, dass er halb durchsichtig war.

Andere standen um sie herum, mehr grässliche T’lan Imass. Sie waren blutbespritzt, und einigen fehlten Gliedmaßen – oder die, die da waren, waren verzerrt und verdreht; dem einen fehlte das halbe Gesicht, aber diese Beschädigung musste schon alt sein, erkannte sie. Ihr letzter Kampf – kaum mehr als ein Scharmützel – hatte sie nichts gekostet.

Der Wind strich traurig seufzend an der Felswand entlang. Felisin mühte sich auf die Beine, wischte sich die Steinchen von den Knien. Sie sind tot. Sie sind alle tot. Sie sagte es sich wieder und wieder, als hätte sie die Worte gerade erst entdeckt – Worte, die ihr noch nichts bedeuteten, eine Sprache, die sie noch nicht verstehen konnte. Meine Freunde sind alle tot. Was hatte es für einen Sinn, diese Worte zu sagen? Doch sie kehrten immer wieder zurück, als würden sie verzweifelt um Antwort heischen – irgendeine Antwort.

Ein neues Geräusch drang an ihr Ohr. Ein Scharren, das von der Felswand vor ihnen zu kommen schien. Als sie sich den brennenden Schweiß aus den Augen geblinzelt hatte, sah sie, dass eine der Spalten so aussah, als wäre sie erweitert worden, die Ränder wie mit einem Pickel weggeschlagen, und aus dieser Spalte tauchte eine gebeugte Gestalt auf. Ein alter Mann, der kaum mehr als Lumpen am Leibe trug und mit Staub bedeckt war. Irgendeine Flüssigkeit rann aus eiternden Wunden auf seinen Unterarmen und den Handrücken.

Als er sie sah, fiel er auf die Knie. »Du bist gekommen! Sie haben es versprochen – aber warum hätten sie auch lügen sollen?« Er machte merkwürdige, klickende Geräusche beim Sprechen. »Ich werde dich jetzt mitnehmen – du wirst sehen. Es ist alles gut. Du bist sicher, Kind, denn du bist erwählt worden.«

»Wovon redest du?«, wollte Felisin wissen, während sie einmal mehr versuchte, sich loszureißen – und dieses Mal hatte sie Erfolg, als die tödliche Hand sich öffnete. Sie geriet ins Stolpern.

Der alte Mann sprang auf und stützte sie. »Du bist erschöpft – das ist keine Überraschung. So viele Regeln wurden gebrochen, um dich hierherzubringen –«