Das Spiel der Götter (4) - Steven Erikson - E-Book

Das Spiel der Götter (4) E-Book

Steven Erikson

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die fanatischen Heerscharen des Pannionischen Sehers stürmen aus dem Süden heran und überziehen Genabackis mit einer Welle der Gewalt. Um die schreckliche Armee abzuwehren, muss sich Hohefaust Dujek Einarm mit seinen früheren Feinden verbünden. Ob er dem Kriegsherrn Caladan Bruth und den Bewohnern der fliegenden Festung Mondbrut trauen kann, ist eine andere Frage. Doch Einarm hat keine Wahl: Die Truppen des Feindes rücken näher ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 903

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © der Originalausgabe 2002 by Steven Erikson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003by Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, InkcraftUmschlagillustration: © Melanie Miklitza, InkcraftRedaktion: Marie-Luise Bezzenberger UH Herstellung: Peter Papenbrok Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin
ISBN 978-3-641-08979-5V004
www.blanvalet.dewww.penguinrandomhouse.de

Buch

Der von Kriegen verwüstete Kontinent von Genabackis kommt nicht zur Ruhe. Tief im Süden ist ein neues Reich entstanden: die Pannionische Domäne. Und die Heerscharen des Sehers überschwemmen das Land wie eine alles verschlingende Flutwelle. Um dem Vordringen der pannionischen Heere Einhalt zu gebieten, muss Hohefaust Dujek Einarm eine Allianz mit seinen ehemaligen Feinden, dem Kriegsherrn Caladan Bruth und den Tiste Andii der fliegenden Festung Mondbrut eingehen. Doch dieses Bündnis steht unter einem schlechten Stern – und niemand weiß, ob es stark genug ist, auch den erwachenden Schrecken der Vergangenheit zu widerstehen.

Autor

Steven Erikson, in Kanada geboren, lebte viele Jahre in der Nähe von London, ehe er kürzlich in seine Heimat nach Winnipeg zurückkehrte. Der Anthropologe und Archäologe legte 1999 nach einer sechsjährigen akribischen Vorbereitungsphase seinen weltweit beachteten Debütroman „Die Gärten des Mondes“ vor.

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorWidmungGENABACKIS: Der malazanische Feldzug etwa im Jahr 1160 von Brands SchlafProlog
III
Buch Eins - Der Funken und die Asche
Kapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel VierKapitel FünfKapitel Sechs
Buch Zwei - Herdstein
Kapitel SiebenKapitel AchtKapitel NeunKapitel ZehnKapitel ElfKapitel ZwölfKapitel Dreizehn
Dramatis Personae
Auf dem KarawanenpfadIn CapustanEinarms HeerBruths HeerDie BarghastGesandte aus DarujhistanDie T’lan ImassDie Pannionische DomäneAndereDie Hexe von Tennes
Glossar
Terminologie der Pannionischen DomäneIn CapustanDie vierzehn Aufgestiegenen des Maskenrats von CapustanVölker und OrteDie Welt der MagieDie Älteren GewirreDie Drachenkarten (Das Fatid) und die mit ihnen in Beziehung stehenden AufgestiegenenHohes Haus TodHohes Haus LichtHohes Haus DunkelHohes Haus SchattenNeutrale KartenAufgestiegene
DanksagungenCopyright

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Memories of Ice. A Tale of the Malazan Book of the Fallen« (Books 1 + 2) bei Bantam Press London.

Für R. S. Lundin

GENABACKIS: Der malazanische Feldzug etwa im Jahr 1160 von Brands Schlaf

Prolog

In jenen alten Tagen rissen die Kriege zwischen den T’lan Imass und den Jaghut die Welt auseinander. Riesige Armeen stritten miteinander in den verwüsteten Landen, die Toten türmten sich auf, ihre Knochen die Knochen von Hügeln, ihr Blut das Blut von Meeren. Magische Kräfte wüteten, bis selbst die Himmel brannten …

 

Alte Geschichte, Band IKinicik Karbar’n

I

Maeth’ki Im (Das Pogrom der Verfaulten Blume), der 33. Jaghut Krieg 298 665 Jahre vor Brands Schlaf.

 

Schwalben schossen durch die Mückenschwärme, die über den schlammigen Tümpel tanzten. Der Himmel über der Marsch war noch immer grau, doch er hatte seinen quecksilbrigen, winterlichen Glanz verloren, und der warme Wind, der seufzend über das verwüstete Land strich, brachte den Geruch von Heilung mit sich.

Was einst ein aus den zerschmetterten Eisfeldern der Jaghut entstandenes Süßwasser-Binnenmeer gewesen war, das die Imass Jaghra Til genannt hatten, lag in seinen letzten Todeszuckungen. So weit das Auge in Richtung Süden reichte, spiegelte sich der blasse Himmel zwar in schrumpfenden Tümpeln und knietiefen Wasserlachen; dennoch beherrschte neu entstandenes Land das Blickfeld.

Der magische Bann, der diesem Land eine Eiszeit beschert hatte, war gebrochen, und nun kehrte es zu den alten, natürlichen Jahreszeiten zurück, doch überall fanden sich Erinnerungen an die gebirgshohen Gletscher. Der nackte Fels im Norden war mit Kratzern und Schrunden übersät, die Senken mit Felsbrocken gefüllt. Aus den dicken Schlammschichten, die den Grund des Binnenmeeres gebildet hatten, stiegen noch immer blubbernde Gasblasen auf, während das Land, vom enormen Gewicht des vor acht Jahren vorbeigezogenen Gletschers befreit, sich weiter langsam hob.

Jaghra Tils Leben war nur kurz gewesen, doch die Schlammschichten, die sich auf seinem Grund abgelagert hatten, waren dick. Und trügerisch.

Pran Chole, Knochenwerfer in Cannig Tols Clan vom Volk der Kron Imass, saß reglos auf einem größtenteils in der Erde vergrabenen Felsblock am Rand eines alten Uferabbruchs. Der Hang vor ihm war ein einziges Durcheinander aus niedrigen, drahtigen Gräsern und verwittertem Treibholz. Zwölf Schritte weiter fiel das Land leicht ab und verwandelte sich dann in ein breites Schlammbecken.

Drei Ranag waren zwanzig Schritte weit im Innern der morastigen Senke in ein Sumpfloch geraten. Ein Bulle, sein Weibchen und ihr Kalb, aufgestellt in einem armseligen Verteidigungskreis. Im Sumpf festsitzend und so gut wie wehrlos, mussten sie dem Ay-Rudel, das sie aufgespürt hatte, als leichte Beute erschienen sein.

Doch das Land war in der Tat trügerisch. Die großen Wölfe der Tundra hatten das gleiche Schicksal erlitten wie die Ranag. Pran Chole zählte sechs Ay, unter ihnen ein Jährling. Spuren deuteten darauf hin, dass ein weiterer Jährling das Schlammloch Dutzende Male umkreist hatte, bevor er in Richtung Westen davongewandert war —zweifellos dazu verurteilt, allein und einsam zu sterben.

Wie lange war es her, seit dieses Drama sich ereignet hatte? Das war unmöglich zu sagen. Der Schlamm war auf den Ranag und den Ay gleichermaßen getrocknet, hatte sie in von Sprüngen durchzogene Mäntel aus Lehm gehüllt. Flecken von hellem Grün zeigten sich überall dort, wo vom Wind herangetragene Samen zu keimen begonnen hatten, und der Knochenwerfer wurde an die Visionen erinnert, die er gehabt hatte, als er seinen Geist auf die Reise geschickt hatte — unzählige weltliche Einzelheiten, die zu etwas Unrealem verwoben worden waren. Für die Tiere war der Kampf zu einem ewigen Kampf geworden — Jäger und Gejagte für alle Zeiten miteinander vereint.

Jemand kam an seine Seite getappt, hockte sich neben ihn.

Pran Choles gelbbraune Augen blieben weiter auf die mitten in der Bewegung erstarrte Szene vor ihm gerichtet. Der Rhythmus der Schritte verriet dem Knochenwerfer, wer zu ihm getreten war, und jetzt kamen auch noch die warmen Gerüche hinzu, so dass er den Mann nicht mehr anzusehen brauchte.

Cannig Tol sprach. »Was liegt unter dem Lehm, Knochenwerfer?«

»Nur das, was der Lehm selbst geformt hat, Clanführer.«

»Du siehst in diesen Tieren also keine Vorzeichen?«

Pran Chole lächelte. »Tust du es denn?«

Cannig Tol dachte einige Augenblicke nach, ehe er sagte: »Es gibt keine Ranag mehr in diesem Land. Auch keine Ay. Vor uns sehen wir einen Kampf, der vor langer Zeit stattgefunden hat. Diese Feststellungen haben eine tiefe Bedeutung, denn sie wühlen meine Seele auf.«

»Genau wie meine«, gab der Knochenwerfer zu.

»Wir haben die Ranag gejagt, bis es keine mehr gab, und das ließ die Ay Hunger leiden, denn zuvor hatten wir auch die Tenag gejagt, bis es keine mehr gab. Die Agkor, die mit den Bhederin über die Tundra wandern, wollten nicht mit den Ay teilen, und jetzt ist die Tundra leer. Daraus schließe ich, dass wir bei unseren Jagden verschwenderisch und gedankenlos waren.«

»Doch die Notwendigkeit, unsere eigenen Kinder zu ernähren …«

»Es hat ein großer Bedarf an mehr Kindern geherrscht.«

»So ist es noch immer, Clanführer.«

Cannig Tol grunzte. »Die Jaghut waren in diesen Landen sehr mächtig, Knochenwerfer. Sie sind nicht geflohen — zumindest anfangs nicht. Du weißt, wie viel Blut das uns Imass gekostet hat.«

»Und das Land ist uns gegenüber großzügig, damit wir den Preis leichter bezahlen können.«

»Um unserem Krieg zu dienen.«

»Und aus diesem Grund sind wir beunruhigt.«

Der Clanführer nickte und schwieg.

Pran Chole wartete. Die Worte, die sie gewechselt hatten, hatten gerade einmal die Oberfläche, die Haut der Dinge gestreift. Was Muskeln und Knochen zu offenbaren hatten, musste erst noch kommen. Er brauchte nicht lang zu warten; schließlich war Cannig Tol kein Narr.

»Wir sind genau wie diese Tiere.«

Der Knochenwerfer richtete den Blick auf den südlichen Horizont, kniff die Augen zusammen.

Cannig Tol sprach weiter. »Wir sind der Lehm, und unser endloser Krieg mit den Jaghut ist das kämpfende Tier darunter. Die Oberfläche wird von dem geformt, was darunter liegt.« Er vollführte eine Geste mit einer Hand. »Und direkt vor uns — in diesen Kreaturen, die langsam zu Stein werden — liegt der Fluch der Ewigkeit.«

Es würde noch mehr kommen. Pran Chole sagte nichts.

»Ranag und Ay«, fasste Cannig Tol zusammen. »Sie sind aus den Ländern der Sterblichen so gut wie verschwunden — Jäger und Gejagte gleichermaßen.«

»Bis auf die Knochen«, flüsterte der Knochenwerfer.

»Ich wünschte, du hättest ein Vorzeichen gesehen«, murmelte der Clanführer und erhob sich.

Pranig Chole richtete sich ebenfalls auf. »Das wünschte ich auch«, stimmte er dem Clanführer zu. In seinem Tonfall schwang nur ein Hauch von dem Sarkasmus mit, der in Cannig Tols Worten gelegen hatte.

»Haben wir sie bald eingeholt, Knochenwerfer?«

Pran Chole warf einen Blick auf den Boden und starrte seinen Schatten an, musterte die von einem Geweih gekrönte Silhouette, die Gestalt, die sich unter dem Fellumhang, den zottigen Häuten und der Kopfbedeckung erahnen ließ. Die Sonne stand tief, so dass sie ihn groß wirken ließ — fast so groß wie einen Jaghut. »Morgen ist es so weit«, sagte er. »Sie werden immer schwächer. Noch eine Nacht, in der sie nicht zur Ruhe kommen, wird sie noch weiter schwächen.«

»Gut. Dann soll der Clan heute Nacht hier lagern.«

Der Knochenwerfer lauschte, während Cannig Tol sich wieder auf den Weg zurück zu jener Stelle machte, an der die anderen warteten. Wenn die Dunkelheit kam, würde Pran Chole seinen Geist wandern lassen. Hinein in die flüsternde Erde, um die anderen seiner Art zu suchen. Denn mochte ihre Beute auch an Kraft verlieren — Cannig Tols Clan war noch schwächer. Es waren nicht einmal mehr ein Dutzend Erwachsene übrig. Wenn es darum ging, Jaghut zu jagen, hatte der Unterschied von Jägern und Gejagten wenig Bedeutung.

Er hob den Kopf und sog schnüffelnd die dämmrige Luft ein. Ein anderer Knochenwerfer wanderte über dieses Land. Der Geruch war unverwechselbar. Er fragte sich, wer es wohl war und warum er — oder sie — allein wanderte, ohne Clanangehörige und Verwandte. Und da er wusste, dass der andere ihn ebenso gespürt hatte, wie er selbst seine Gegenwart wahrgenommen hatte, fragte er sich, warum der Unbekannte sich noch nicht zu ihnen gesellt hatte.

 

Sie zog sich aus dem Schlamm und ließ sich auf das sandige Ufer sinken; ihre keuchenden Atemzüge kamen schwer und mühsam. Ihr Sohn und ihre Tochter wanden sich aus ihren bleischweren Armen, krabbelten weiter den niedrigen Hügelrücken hinauf, der die Insel bildete.

Die Jaghut-Mutter ließ den Kopf sinken, bis ihre Stirn auf dem kühlen, feuchten Sand ruhte. Kieselsteine drückten sich mit rauer Beharrlichkeit in ihre Haut. Die Verbrennungen auf ihrer Stirn waren noch frisch; sie waren noch nicht geheilt — und sie würden auch nicht mehr heilen. Sie war besiegt, und ihr Tod würde nur noch bis zur Ankunft der Jäger auf sich warten lassen.

Glücklicherweise waren ihre Verfolger zumindest tüchtig. Die Imass machten sich nichts aus Folter. Nein, nur ein paar schnelle, tödliche Hiebe, erst für sie, dann für ihre Kinder. Und mit ihnen — mit dieser armseligen, heruntergekommenen Familie — würden die letzten Jaghut von diesem Kontinent verschwinden. Barmherzigkeit konnte vielerlei Gestalt annehmen. Hätten sie sich nicht mit den Imass zusammengetan, um Raest in Ketten zu legen, dann würden sie jetzt alle — Imass und Jaghut gleichermaßen — die Knie vor diesem Tyrannen beugen. Ein zeitweiliger, aus Gründen der Zweckdienlichkeit geschlossener Waffenstillstand. Sie war klug genug gewesen, um zu fliehen, sobald Raest in Bande geschlagen war; ihr war schon damals klar gewesen, dass der Imass-Clan danach die Verfolgung wieder aufnehmen würde.

Die Mutter empfand keine Bitterkeit, doch das minderte ihre Verzweiflung nicht.

Plötzlich spürte sie eine neue Präsenz auf der kleinen Insel. Ihr Kopf ruckte hoch. Ihre Kinder waren wie versteinert, starrten voller Entsetzen die Imass an, die vor ihnen stand. Die grauen Augen der Mutter wurden zu schmalen Schlitzen. »Wie überaus gerissen, Knochenwerferin. Meine Sinne waren voll und ganz auf die gerichtet, die sich hinter uns befinden. Nun gut, dann mach ein Ende.«

Die junge, schwarzhaarige Frau lächelte. »Willst du diesmal nicht feilschen, Jaghut? Sonst versucht ihr doch immer zu feilschen, um das Leben eurer Kinder zu retten. Oder hast du die Familienbande zu diesen beiden schon durchtrennt? Sie scheinen mir ziemlich jung dafür.«

»Es hat keinen Sinn zu feilschen. Dein Volk lässt sich niemals auf einen Handel ein.«

»Das stimmt — und doch versucht dein Volk es immer wieder.«

»Ich werde es nicht tun. Töte uns also. Töte uns schnell.«

Die Imass trug das Fell eines schwarzen Panthers. Ihre Augen waren ebenso schwarz, und im ersterbenden Licht schienen sie genauso zu schimmern. Sie sah wohlgenährt aus, und ihre großen, geschwollenen Brüste deuteten darauf hin, dass sie erst vor kurzem niedergekommen war.

Die Jaghut-Mutter konnte den Gesichtsausdruck der Frau nicht deuten; doch sie bemerkte, dass ihre Miene nicht die typische grimmige Entschlossenheit zeigte, die sie normalerweise mit den fremdartigen, runden Gesichtern der Imass verband.

Die Knochenwerferin sprach. »An meinen Händen klebt schon genug Jaghut-Blut. Ich werde euch dem Kron-Clan überlassen, der euch morgen finden wird.«

»Für mich«, sagte die Jaghut-Mutter grollend, »ist es nicht von Bedeutung, wer von euch uns tötet — nur, dass ihr uns tötet.«

Der Mund der jungen Frau zuckte. »Ich verstehe, was du meinst.«

Die Erschöpfung drohte die Jaghut-Mutter zu überwältigen, aber sie schaffte es, sich aufzusetzen. »Was …«, fragte sie, unterbrochen von keuchenden Atemzügen, »was willst du?«

»Ich möchte dir einen Handel vorschlagen.«

Der Jaghut-Mutter verschlug es schier den Atem. Sie starrte in die dunklen Augen der Knochenwerferin, konnte jedoch keinen Spott darin erkennen. Einen winzigen kurzen Augenblick lang fiel ihr Blick auf ihren Sohn und ihre Tochter, dann wieder auf die Frau, die die Jaghut nicht aus den Augen gelassen hatte.

Die Imass nickte langsam.

 

Vor einiger Zeit war die Erde geborsten, und es war eine Wunde von solcher Tiefe entstanden, dass sie einen Fluss aus geschmolzenem Gestein gebar, so breit, dass er von Horizont zu Horizont reichte. Riesig und schwarz wälzte sich der Fluss aus Steinen und Asche südwestwärts, hinab zum weit entfernten Meer. Nur die kleinsten Pflanzen hatten hier Fuß fassen können, und als die Knochenwerferin mit einem Jaghut-Kind in jeder Armbeuge vorbeiging, wirbelte sie heiße Staubwolken auf, die unbeweglich hinter ihr in der Luft hängen blieben.

Sie schätzte, dass der Junge ungefähr fünf Jahre alt war, seine Schwester vielleicht vier. Keines der beiden Kinder schien ganz bei Sinnen zu sein, und ganz sicher hatte keines der beiden ihre Mutter verstanden, als sie sie umarmt und ihnen Lebewohl gesagt hatte. Die lange Flucht den L’amath hinunter und über das Jaghra Til hatte die beiden in einen Schockzustand versetzt. Und dass sie den schrecklichen Tod ihres Vaters hatten mit ansehen müssen, hatte es nicht gerade besser gemacht.

Mit ihren kleinen, schmuddeligen Händen klammerten die zwei sich an der Knochenwerferin fest, eine Geste, die grausame Erinnerungen an das Kind heraufbeschwor, das sie erst vor kurzem verloren hatte. Es dauerte nicht lange, und die beiden begannen an ihren Brüsten zu saugen, ein Zeichen dafür, dass sie schrecklich hungrig sein mussten. Einige Zeit später schliefen sie ein.

Als sie sich der Küste näherte, wurde der Lavastrom schmaler. Zu ihrer Rechten erhob sich eine Hügelgruppe, die in der Ferne in ein Gebirge überging. Direkt vor ihr erstreckte sich eine ebene Fläche, die in einer halben Länge Entfernung an einer Kammlinie endete. Sie konnte es zwar nicht sehen, aber sie wusste, dass auf der anderen Seite des Kamms das Land zum Meer hin abfiel. Auf der Ebene selbst erhoben sich eine Reihe ebenmäßiger kleiner Buckel, und die Knochenwerferin blieb stehen, um sie zu mustern. Die Erdhügel bildeten konzentrische Kreise, und im Zentrum befand sich eine größere Kuppel — alles von einem Mantel aus Lava und Asche bedeckt. Die Ruine eines zerstörten Turms erhob sich am Rand der Ebene, am Fuß der ersten Hügelreihe. Schon als sie das erste Mal hier gewesen war, hatte sie bemerkt, dass diese Hügel viel zu gleichmäßig waren, um natürlichen Ursprungs zu sein.

Die Knochenwerferin hob den Kopf. Die sich miteinander vermischenden Ausdünstungen waren unverwechselbar — die eine alt und tot, die andere … nicht ganz so alt. Der Junge bewegte sich unruhig auf ihrem Arm, wachte aber nicht auf.

»Oh, ja«, murmelte sie. »Du spürst es auch, nicht wahr?«

Sie umging die Ebene und hielt auf den geschwärzten Turm zu.

Das Tor zum Gewirr befand sich direkt hinter dem mitgenommenen Bauwerk; es hing in einer Höhe, die etwa sechsmal ihrer Körpergröße entsprach, über ihr in der Luft. Für sie sah es aus wie eine rote Strieme — etwas, das verwundet worden war, aber nicht mehr blutete. Sie konnte nicht genau erkennen, um welches Gewirr es sich handelte; die alte Verletzung verschleierte die charakteristischen Eigenschaften des Portals. Ganz kurz beschlich sie ein leichtes Unbehagen.

Die Knochenwerferin setzte die Kinder beim Turm ab und hockte sich dann selbst auf ein Stück umgestürztes Mauerwerk. Ihr Blick fiel auf die beiden noch immer im Schlaf zusammengerollten Jaghut-Kinder, die in ihrem Bett aus Asche lagen. »Was habe ich denn für eine Wahl?«, flüsterte sie. »Es muss Omtose Phellack sein. Es ist ganz sicher nicht Tellann. Und Starvald Demelain? Nein, das ist unwahrscheinlich.« Ihre Blicke richteten sich auf die Ebene; erneut musterte sie die konzentrischen Erdhügel mit zusammengekniffenen Augen. »Wer hat hier gehaust? Welche Wesen außer uns und den Jaghut hatten die Angewohnheit, Häuser aus Stein zu bauen?« Sie schwieg längere Zeit, richtete ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf die Ruine. »Dieser Turm ist der letzte Beweis, denn er ist ganz eindeutig von einem Jaghut erbaut worden, und niemand würde ein solches Bauwerk in nächster Nähe zu einem feindlichen Gewirr errichten. Nein, das Tor ist Omtose Phellack. Es kann gar nicht anders sein.«

Natürlich gab es noch weitere Risiken. Ein erwachsener Jaghut, der sich in dem Gewirr aufhielt und auf zwei Kinder stieß, die nicht von seinem Blut waren, könnte sie ebenso gut töten wie adoptieren. »Aber dann klebt ihr Blut an anderen Händen, an den Händen eines Jaghut.« Doch dieser feine Unterschied war nur ein billiger Trost. Es ist nicht von Bedeutung, wer von euch uns tötet, nur dass ihr uns tötet. Die junge Frau stieß zischend den Atem zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Was habe ich für eine Wahl?«, wiederholte sie noch einmal.

Sie würde sie noch ein bisschen länger schlafen lassen. Und dann würde sie sie durch das Tor schicken. Ein paar Worte an den Jungen — pass auf deine Schwester auf; die Reise wird nicht lange dauern. Und noch ein paar an sie beide — eure Mutter wartet auf der anderen Seite auf euch. Eine Lüge, aber sie würden Mut brauchen. Und wenn sie euch nicht finden kann, wird jemand von ihrer Verwandtschaft es tun. Geht jetzt. Ihr seid in Sicherheit. Ihr seid gerettet.

Was könnte schließlich schlimmer sein als der Tod?

 

Sie stand langsam auf, als die Jäger sich näherten. Pran Chole prüfte die Luft, runzelte die Stirn. Die Jaghut hatte ihr Gewirr nicht geöffnet. Und was noch beunruhigender war: Wo waren ihre Kinder?

»Sie begrüßt uns vollkommen ruhig«, murmelte Cannig Tol.

»Ja, das tut sie«, stimmte der Knochenwerfer zu.

»Ich traue dem Frieden nicht — wir sollten sie unverzüglich töten.«

»Sie will mit uns sprechen«, meinte Pran Chole.

»Es ist höchst gefährlich, auf ihren Wunsch einzugehen.«

»Ich kann dir nicht widersprechen, Clanführer. Nur … was hat sie mit ihren Kindern gemacht?«

»Kannst du sie nicht spüren?«

Pran Chole schüttelte den Kopf. »Mach deine Speerwerfer bereit«, sagte er und trat ein paar Schritte vor.

In den Augen der Jaghut lag ein friedlicher Ausdruck, eine so eindeutige Akzeptanz ihres direkt bevorstehenden Todes, dass der Knochenwerfer erschüttert war. Pran Chole stapfte durch wadenhohes Wasser und trat dann auf das sandige Ufer der Insel. Auge in Auge stand er jetzt der Jaghut gegenüber. »Was hast du mit ihnen gemacht?«, wollte er wissen.

Die Mutter lächelte, verzog dabei die Lippen und entblößte die mächtigen Hauer. »Sie sind fort.«

»Wo sind sie?«

»Außerhalb deiner Reichweite, Knochenwerfer.«

Pran Choles Stirn furchte sich noch mehr. »Dies hier ist unser Land. Hier gibt es keinen Ort, der außerhalb unserer Reichweite ist. Hast du sie etwa eigenhändig umgebracht?«

Die Jaghut legte den Kopf ein wenig schief, musterte den Imass. »Ich habe immer geglaubt, ihr wärt euch einig in eurem Hass auf unsere Art. Ich habe immer geglaubt, dass euch Dinge wie Mitleid und Barmherzigkeit fremd sind.«

Der Knochenwerfer starrte die Frau lange an. Dann wandte er den Blick ab, schaute an ihr vorbei, musterte den weichen Lehmboden. »Eine Imass ist hier gewesen«, sagte er. »Eine Frau. Die Knochenwerferin  –« Diejenige, die ich auf meiner Geisterreise nicht finden konnte. Diejenige, die es vorgezogen hat, sich nicht finden zu lassen. »Was hat sie getan?«

»Sie hat dieses Land erforscht«, antwortete die Jaghut. »Und sie hat ein Tor gefunden. Weit im Süden. Es ist ein Tor zu Omtose Phellack.«

»Ich bin froh«, sagte Pran Chole, »dass ich keine Mutter bin.« Und du, Weib, solltest froh sein, dass ich nicht grausam bin. Er machte eine Geste. Schwere Speere flogen an dem Knochenwerfer vorbei. Sechs lange, geriefte Spitzen aus Feuerstein bohrten sich in die Brust der Jaghut. Sie taumelte und brach dann unter dem Geklapper der Speerschäfte zusammen.

So endete der dreiunddreißigste Jaghut-Krieg.

Pran Chole wirbelte herum. »Wir haben keine Zeit für einen Scheiterhaufen. Wir müssen so schnell wie möglich nach Süden ziehen.«

Cannig Tol trat vor, während seine Krieger sich ihre Waffen zurückholten. Der Clanführer sah den Knochenwerfer aus zusammengekniffenen Augen an. »Was beunruhigt dich?«

»Eine abtrünnige Knochenwerferin hat die Kinder mitgenommen.«

»Nach Süden?«

»Nach Morn.«

Fragend zog der Clanführer die Augenbrauen zusammen.

»Die Abtrünnige wollte die Kinder dieser Frau retten. Sie glaubt, der Riss ist ein Tor zu Omtose Phellack.«

Pran Chole sah, wie das Blut aus Cannig Tols Gesicht wich. »Geh nach Morn, Knochenwerfer«, flüsterte der Clanführer. »Wir sind nicht grausam. Geh. Sofort.«

Pran Chole verbeugte sich. Das Tellan-Gewirr hüllte ihn ein.

 

Eine winzige Entfaltung ihrer Macht sandte die beiden Jaghut-Kinder aufwärts, in das klaffende Maul des Tors. Das Mädchen schrie kurz auf, ehe sie es erreichte; es klang wie ein sehnsüchtiges Schluchzen nach der Mutter, von der sie glaubte, dass sie auf der anderen Seite wartete. Dann verschwanden die beiden kleinen Gestalten im Tor.

Die Knochenwerferin seufzte und starrte weiter nach oben, suchte nach einem Hinweis, dass irgendetwas schief gegangen war. Doch anscheinend hatten sich weder Wunden von neuem geöffnet, noch fegte eine Böe wilder Macht aus dem Portal. Sah es irgendwie anders aus? Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Dies hier war Neuland für sie; hier verfügte sie nicht über jene tief in den Knochen steckende Empfindsamkeit, die sie ihr ganzes Leben lang in den Landen des Tarad-Clans, im Herzen des Ersten Imperiums, gekannt hatte.

Das Tellann-Gewirr öffnete sich hinter ihr. Die Frau wirbelte herum, war kurz davor, sich in ihre Wechselgänger-Gestalt zu verwandeln.

Ein Polarfuchs sprang hervor, wurde langsamer, als er sie sah, und verwandelte sich dann zurück in seine Imass-Gestalt. Sie sah einen jungen Mann vor sich, der den Pelz seines Totem-Tieres um die Schultern und ein zerkratztes Geweih auf dem Kopf trug. Sein angespannter Gesichtsausdruck zeigte Furcht, seine Blicke waren jedoch nicht auf sie, sondern auf das Portal hinter ihr gerichtet.

Die Frau lächelte. »Ich grüße dich, Kamerad Knochenwerfer. Ja, ich habe sie hindurchgeschickt. Sie sind außerhalb deiner Reichweite, sind deiner Rache entzogen, und das gefällt mir.«

Die gelbbraunen Augen richteten sich auf sie. »Wer bist du? Zu welchem Clan gehörst du?«

»Ich habe meinen Clan verlassen, doch einst habe ich zu den Logros gehört. Mein Name ist Kilava.«

»Du hättest dich letzte Nacht von mir finden lassen sollen«, sagte Pran Chole. »Dann hätte ich dich wahrscheinlich davon überzeugen können, dass für diese beiden Kinder ein schneller Tod eine größere Gnade gewesen wäre, als das, was du getan hast, Kilava.«

»Sie sind noch jung genug, um adoptiert zu werden …«

»Du bist an diesen Ort gekommen, der Morn genannt wird«, unterbrach Pran Chole sie mit kalter Stimme. »Zu den Ruinen einer uralten Stadt –«

»Die einst von den Jaghut –«

»Nein, sie ist nicht von den Jaghut erbaut worden! Der Turm da, ja, der schon, aber der wurde erst lange danach gebaut, in der Zeit zwischen der Vernichtung der Stadt und dem T’ol Ara’d — diesem Lavastrom, der etwas begraben hat, das schon lange tot war.« Er hob die Hand, deutete hinauf zu dem in der Luft schwebenden Tor. »Das da — diese Wunde — hat die Stadt zerstört, Kilava. Das Gewirr dahinter — begreifst du es denn immer noch nicht? Es ist nicht Omtose Phellack! Sag mir eines: Wie werden solche Wunden verschlossen? Du kennst die Antwort, Knochenwerferin!«

Die Frau drehte sich langsam um, musterte den Riss. »Wenn eine Seele diese Wunde versiegelt hat, dann hätte sie befreit werden müssen … in dem Augenblick, als die Kinder angekommen sind –«

»Sie hätte im Tausch befreit werden müssen«, zischte Pran Chole. Zitternd wandte Kilava sich ihm wieder zu. »Aber wo ist diese Seele dann? Warum ist sie hier nicht erschienen?«

Pran Chole drehte sich um und betrachtete die Kuppel aus Erde in der Mitte der Hügel. »Oh«, flüsterte er, »sie ist erschienen.« Er warf der Knochenwerferin einen Blick zu. »Sag mir, wirst du im Gegenzug dein eigenes Leben für diese Kinder opfern? Sie sind jetzt in einem endlosen Albtraum aus Schmerz gefangen. Geht dein Mitleid so weit, dass du dich in einem weiteren Austausch selbst opfern wirst?« Er musterte sie und seufzte dann. »Das habe ich mir gedacht, also wisch dir die Tränen ab, Kilava. Scheinheiligkeit passt nicht besonders gut zu einer Knochenwerferin.«

»Was …«, brachte die Frau nach einiger Zeit heraus, »was ist befreit worden?«

Pran Chole schüttelte den Kopf. Er betrachtete noch einmal die Erdkuppel. »Ich bin mir nicht sicher, aber wir werden uns früher oder später damit befassen müssen. Ich vermute, dass wir eine Menge Zeit haben. Die Kreatur muss sich jetzt selbst aus ihrem Grab befreien, und das ist vollständig von Schutzzaubern umgeben. Außerdem ist da noch der steinerne Mantel des T’ol Ara’d, der den Grabhügel umhüllt.« Nach einem Augenblick fügte er hinzu: »Aber Zeit werden wir haben.«

»Was meinst du damit?«

»Die Große Zusammenkunft ist einberufen worden. Das Tellann-Ritual wartet auf uns, Knochenwerferin.«

Sie spuckte aus. »Ihr seid alle verrückt. Die Unsterblichkeit zu wählen, nur um einen Krieg führen zu können — das ist doch Wahnsinn. Ich werde dem Ruf nicht folgen, Knochenwerfer.«

Er nickte. »Aber das Ritual wird dennoch stattfinden. Ich habe meinen Geist in die Zukunft gesandt, Kilava. Dabei habe ich mein verwittertes Gesicht gesehen — mehr als zweihunderttausend Jahre in der Zukunft. Wir werden unseren ewigen Krieg bekommen.«

Bitterkeit schwang in Kilavas Stimme mit, als sie sagte: »Mein Bruder wird erfreut sein.«

»Wer ist dein Bruder?«

»Onos T’oolan, das Erste Schwert.«

Bei diesen Worten wirbelte Pran Chole herum. »Du bist die, die sich allem widersetzt. Du hast deinen Clan niedergemetzelt — deine Verwandten –«

»Um die Verbindung zwischen uns zu zerstören und auf diese Weise meine Freiheit zu erlangen, ja. Leider waren die Fähigkeiten meines ältesten Bruders den meinen mehr als ebenbürtig. Aber jetzt sind wir beide frei, auch wenn Onos T’oolan das verflucht, was ich freudig begrüße.« Sie schlang die Arme um ihren Körper, und Pran Chole sah Schmerz auf ihr lasten, viele, viele Schichten von Schmerz. Ihr war eine Freiheit zuteil geworden, die er ihr nicht neidete. Schließlich sprach sie wieder. »Diese Stadt hier — wer hat sie erbaut?«

»Die K’Chain Che’Malle.«

»Ich kenne den Namen, aber sonst weiß ich nichts über sie.« Pran Chole nickte. »Ich gehe davon aus, dass wir schon bald mehr über sie erfahren werden.«

II

Die Kontinente Korelri und Jacuruku, in der Zeit des Sterbens 119 736 Jahre vor Brands Schlaf (drei Jahre nach dem Herabstürzen des Verkrüppelten Gottes)

 

 

Der Sturz des Verkrüppelten Gottes hatte einen Kontinent zerschmettert. Wälder hatten gebrannt, Feuerstürme den Horizont in alle Richtungen hell erleuchtet und die schweren, aschegefüllten Wolken, die den Himmel bedeckten, in einen karmesinroten Schimmer getaucht. Es war, als hätte die Feuersbrunst nie mehr enden wollen — sie wütete weltverschlingend, wochenlang, monatelang, und die ganze Zeit über waren die Schreie eines Gottes zu hören gewesen.

Schmerz gebar Wut. Wut wurde zu Gift, einer Infektion, die nichts und niemanden verschonte.

Ein paar wenige weit verstreute Überlebende blieben übrig. In die Barbarei zurückgefallen, wanderten sie durch eine Landschaft, die mit den Pockennarben großer, jetzt mit schmutzigem, leblosem Wasser gefüllter Krater übersät war. Der Himmel über ihnen brodelte unaufhörlich. Verwandschaftliche Bindungen waren zerbrochen, Liebe hatte sich als eine Last erwiesen, die zu schwer zu tragen war. Sie aßen, was sie in die Finger bekamen, oft genug ihre Artgenossen, und ließen ihre Blicke mit mörderischen Absichten über die verwüstete Welt um sich herum schweifen.

Eine Gestalt wanderte ganz allein durch diese Landschaft. Der Wanderer war in verrottete Lumpen gehüllt und von durchschnittlicher Größe; seine Gesichtszüge waren derb und nicht sonderlich anziehend. Etwas Dunkles war in seinem Gesicht, eine schwere Unbeugsamkeit in seinen Augen. Er schritt dahin, als lüde er immer mehr Leid auf sich, ohne an das große Gewicht zu denken; er ging, als wäre er unfähig nachzugeben, als könnte er die Gaben seines eigenen Geistes nicht leugnen.

Aus der Ferne beobachteten zerlumpte Banden, wie die Gestalt dahinstapfte, wie sie Schritt um Schritt das überquerte, was von jenem Kontinent übrig geblieben war, der eines Tages Korelri genannt werden würde. Der Hunger hätte sie vielleicht näher an ihn herangetrieben, doch unter denen, die den Sturz überlebt hatten, gab es keine Narren mehr, und so blieben sie wachsam auf Distanz, zügelten voller Furcht ihre Neugier. Denn der Mann war ein uralter Gott, und er wandelte unter ihnen.

Über das Leid hinaus, das er in sich aufnahm, hätte K’rul auch bereitwillig ihre gebrochenen Seelen zu sich genommen, doch er hatte sich von dem Blut ernährt — ernährte sich noch immer davon  –, das auf diesem Land vergossen worden war, und die Wahrheit war: Er würde die Macht, die hieraus geboren wurde, bald benötigen.

In K’ruls Kielwasser töteten Männer und Frauen andere Männer, töteten Frauen, töteten Kinder. Dunkles Gemetzel hieß der Fluss, auf dem die Älteren Götter dahinglitten.

Ältere Götter verkörperten eine Unmenge höchst unangenehmer Eigenschaften.

 

Der fremde Gott war bei seinem Abstieg zur Erde in Stücke gerissen worden. Er war in kleinen Fetzen heruntergekommen, in brennenden Streifen. Sein Schmerz war Feuer, Schreie und Donner — eine Stimme, die von der halben Welt gehört werden konnte. Schmerz und Empörung. Und, wie K’rul sich erinnerte, Kummer. Es würde lange dauern, bis der fremde Gott anfangen könnte, die noch vorhandenen Stückchen seines Lebens einzusammeln und so seinen Charakter zu enthüllen. K’rul fürchtete diesen Tag. Wer solcherart zerschmettert worden war, konnte nur im Wahnsinn enden.

Die Beschwörer waren tot. Vernichtet von dem, den sie zu sich heruntergerufen hatten. Es hatte keinen Sinn, sie zu hassen, es gab keinen Grund, Bilder der Strafe heraufzubeschwören, die sie tatsächlich verdienten. Schließlich waren sie verzweifelt gewesen. Verzweifelt genug, um das Gewebe des Chaos zu zerreißen, einen Weg in eine fremde, weit entfernte Sphäre zu öffnen. Um dann einen neugierigen Gott jener Sphäre heranzulocken, näher und näher an die Falle, die sie vorbereitet hatten. Die Beschwörer auf Macht aus gewesen.

Und das alles nur, um einen einzigen Mann zu vernichten.

Der Ältere Gott hatte den verwüsteten Kontinent durchquert, hatte das immer noch lebende Fleisch des Gefallenen Gottes erblickt, hatte die unirdischen Larven gesehen, die von dem verfaulenden, immerfort pulsierenden Fleisch und den zerschmetterten Knochen weggekrochen waren. Er hatte erlebt, in was sich die Larven verpuppt hatten. Selbst jetzt noch, da er die zerschmetterte Küstenlinie von Jacuruku, dem alten Schwesterkontinent von Korelri erreichte, jagten sie über ihm auf ihren breiten, schwarzen Schwingen dahin. Sie spürten die Macht in ihm, hungerten nach ihrem Geschmack.

Aber ein starker Gott konnte die Aasfresser ignorieren, die in seinem Gefolge dahinzogen, und K’rul war ein starker Gott. In seinem Namen waren Tempel errichtet worden. Generationen lang waren Altäre mit Blut getränkt worden, um ihm zu huldigen. Die neu entstehenden Städte waren in den Rauch von Schmieden und Scheiterhaufen gehüllt, in den roten Schimmer der Morgendämmerung der Menschheit. Das Erste Imperium hatte seinen Aufstieg begonnen, auf einem Kontinent, der eine halbe Welt von dem Ort entfernt war, wo K’rul jetzt wandelte. Ein Imperium der Menschen, geboren aus dem Erbe der T’lan Imass, von denen sie sich den Namen geliehen hatten.

Doch das Erste Imperium war nicht lange Zeit allein geblieben. Hier, in Jacuruku, im Schatten der längst verfallenen Ruinen der K’Chain Che’Malle, hatte sich ein anderes Reich erhoben. Sein Herrscher war ein Krieger ohnegleichen, ein brutaler Seelenverschlinger.

K’rul war gekommen, um ihn zu vernichten, um die Ketten von zwölf Millionen Sklaven zu zerschmettern — noch nicht einmal die Jaghut-Tyrannen hatten solch eine grausame Herrschaft über ihre Untertanen ausgeübt. Nein, es hatte eines sterblichen Menschen bedurft, um diesen Grad der Tyrannei zu erreichen.

Noch zwei andere Ältere Götter näherten sich dem Kallorianischen Reich. Die Entscheidung war gefallen. Die drei, die letzten der Älteren Götter, würden der despotischen Herrschaft des Hochkönigs ein Ende bereiten. K’rul konnte seine Gefährten spüren. Beide waren nahe; beide waren einst Kameraden gewesen, doch sie alle — auch K’rul selbst — hatten sich verändert, hatten sich weit voneinander entfernt. Dies hier würde ihr erstes Zusammentreffen seit Jahrtausenden sein.

Er konnte auch noch eine vierte Präsenz spüren, ein wildes, uraltes Tier, das seiner Spur folgte. Ein Tier der Erde, vom gefrorenen Atem des Winters, ein Tier, dessen weißes Fell blutverschmiert war, das beim Sturz des Gottes beinahe tödlich verwundet worden war. Ein Tier, das mit dem einen Auge, das es noch besaß, über das zerstörte Land schaute, das einst — lange vor dem Aufstieg des Kallorianischen Reiches — seine Heimat gewesen war. Es folgte ihm, aber es kam nicht näher. Und es würde, wie K’rul nur zu gut wusste, ein entfernter Beobachter all dessen bleiben, was geschehen würde. Der Ältere Gott konnte keine Trauer für das Tier erübrigen, doch der Schmerz dieses Wesens war ihm nicht gleichgültig.

Wir alle überleben so gut es geht, und wenn es an der Zeit ist zu sterben, finden wir die Orte, an denen uns die Einsamkeit erwartet …

Das Kallorianische Reich hatte sich bis an alle Küsten von Jacuruku ausgedehnt, doch als K’rul seine ersten Schritte ins Landesinnere machte, sah er keine Menschenseele. Lebloses Ödland erstreckte sich in alle Richtungen. Die mit Asche und Staub geschwängerte Luft war grau, der Himmel über ihm schäumte wie Blei im Kessel eines Schmiedes. Der Ältere Gott verspürte einen ersten Anflug von Unbehagen und erschauerte tief im Innern.

Über K’rul jagten die gottgeborenen Aasfresser krächzend am Himmel dahin.

Eine vertraute Stimme sprach in seinem Geist. Bruder, ich bin an der Nordküste.

»Und ich an der Westküste.«

Bist du besorgt?

»Das bin ich. Alles ist … tot.«

Verbrannt. Noch immer herrscht große Hitze tief unter den Schichten aus Asche. Aus Asche … und Knochen.

Ein dritte Stimme sprach. Brüder, ich komme aus dem Süden, wo einst die Städte waren. Alle sind zerstört. Das Echo des Todesschreis eines ganzen Kontinents ist noch immer zu hören. Werden wir getäuscht? Ist dies alles eine Illusion?

K’rul wandte sich an den ersten Älteren Gott, der in seinem Geist gesprochen hatte. »Draconus, auch ich kann jenen Todesschrei spüren. Solch ein Schmerz … in der Tat, er scheint noch schlimmer als der Schmerz des Gefallenen Gottes. Wenn das keine Täuschung ist, wie unsere Schwester meint — was hat er dann nur getan ?«

Wir haben dieses Land betreten, und so teilen wir alle, was du fühlst, K’rul, erwiderte Draconus. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es die Wahrheit ist. Schwester, näherst du dich dem Wohnsitz des Hochkönigs?

Die dritte Stimme antwortete. Das tue ich, Bruder Draconus. Wirst du dich zusammen mit unserem Bruder K’rul zu mir gesellen, auf dass wir diesem Sterblichen wie ein einziges Lebewesen entgegentreten?

»Das werden wir tun.«

Gewirre öffneten sich, das eine weit im Norden, das andere direkt vor K’rul.

Die beiden Älteren Götter trafen auf einer verwüsteten Hügelkuppe mit ihrer Schwester zusammen, wo der Wind die Asche aufwirbelte und düstere graue Schwaden zum Himmel aufsteigen ließ. Direkt vor ihnen erhob sich ein Haufen verbrannter Knochen, und darauf stand ein Thron.

Der Mann, der auf dem Thron saß, lächelte. »Wie ihr sehen könnt«, krächzte er, nachdem er sie einen Augenblick spöttisch betrachtet hatte, »habe ich mich auf eure Ankunft … vorbereitet. Oh ja, ich habe gewusst, dass ihr kommen würdet. Draconus von der Sippe Tiams. K’rul, der Öffner der Pfade.« Seine grauen Augen richteten sich auf die dritte Ältere Göttin. »Und du. Meine Liebe, ich war der Meinung, du hättest dein … altes Selbst aufgegeben. Unter den Sterblichen zu wandeln, die Rolle einer mittelmäßigen Zauberin zu spielen – welch tödliches Risiko; aber vielleicht ist es gerade das, was dich reizt, am Spiel der Sterblichen teilzunehmen. Du hast auf Schlachtfeldern gestanden, Weib. Ein einziger verirrter Pfeil, und …«Er schüttelte langsam den Kopf.

»Wir sind gekommen«, sagte K’rul, »um deine Schreckensherrschaft zu beenden.«

Kallor zog eine Augenbraue hoch. »Ihr würdet mir all das wegnehmen, wofür ich so hart gearbeitet habe? Fünfzig Jahre, werte Rivalen — werte Rivalin —, um einen ganzen Kontinent zu erobern. Oh, mag sein, dass Ardatha sich noch behauptet hat — sie war immer etwas zögerlich, wenn es darum ging, mir den Tribut zu zollen, der mir rechtmäßig zusteht —, aber ich habe solch unbedeutende Gesten ignoriert. Sie ist geflohen, habt ihr das gewusst? Diese Hexe. Glaubt ihr, ihr seid die Ersten, die mich herausfordern? Der Zirkel hat einen fremden Gott herabgerufen. Tja, der Versuch ist … irgendwie misslungen; immerhin hat mir das die Mühe erspart, diese Narren eigenhändig zu töten. Und der Gefallene Gott? Nun, es wird einige Zeit dauern, bis er sich erholt hat, und selbst dann — glaubt ihr wirklich, er würde sich irgendjemandes Geheiß unterwerfen? Ich hätte –«

»Genug«, unterbrach ihn Draconus mit grollender Stimme. »Dein Geschwätz fängt allmählich an, uns zu ermüden, Kallor.«

»Nun denn«, entgegnete der Hochkönig seufzend. Er beugte sich vor. »Ihr seid gekommen, um mein Volk von meiner tyrannischen Herrschaft zu befreien. Leider gehöre ich nicht zu denen, die so etwas jemand anderem überlassen. Euch nicht, und auch sonst niemandem.« Er lehnte sich wieder zurück, wedelte gelangweilt mit der Hand. »Aus diesem Grund werde ich das, was ihr mir verweigern wolltet, nun euch verweigern.«

Obwohl die Wahrheit klar und deutlich vor K’ruls Augen lag, konnte er es dennoch nicht glauben. »Was hast du —«

»Bist du blind?«, kreischte Kallor und umklammerte die Armlehnen seines Throns. »Es ist fort! Sie sind fort! Ihr wollt die Ketten zerbrechen? Na, dann los — nein, ich übergebe sie euch! Hier, alles um euch herum ist jetzt frei! Staub! Knochen! Alles ist frei!«

»Du hast tatsächlich einen ganzen Kontinent in Schutt und Asche gelegt?«, fragte die Ältere Göttin flüsternd. »Jacuruku —«

»Ist nicht mehr und wird auch nie mehr sein! Was ich vernichtet habe, wird niemals mehr heilen. Habt ihr mich verstanden? Niemals! Und es ist alles eure Schuld. Eure ganz allein. Sie ist mit Asche und Knochen gepflastert, diese ach so edle Straße, auf der ihr unbedingt wandeln wolltet. Eure Straße.«

»Das können wir nicht zulassen —«

»Es ist bereits geschehen, du dummes, närrisches Weib.«

K’ruls Stimme ertönte im Geist seiner Artgenossen. Es muss getan werden. Ich werde einen … einen Ort für dies hier schaffen. In meinem Innern.

Ein Gewirr, das all das hier aufnehmen soll? Entsetzen schwang in Draconus’ Frage mit. Mein Bruder —

Nein, es muss getan werden. Vereint euch jetzt mit mir, denn dies zu vollbringen wird nicht einfach werden —

Es wird dich zerbrechen, K’rul, warnte seine Schwester. Es muss eine andere Möglichkeit geben.

Nein, es gibt keine. Diesen Kontinent so zu lassen, wie er ist … nein, diese Welt ist jung. Wenn sie eine solche Narbe tragen muss …

Was ist mit Kallor?, wollte Draconus wissen. Was machen wir mit diesem … mit dieser Kreatur?

Wir zeichnen ihn, erwiderte K’rul. Schließlich kennen wir seinen innigsten Wunsch, oder nicht?

Und wie lange wird sein Leben dauern?

Lange, meine Freunde. Sehr lange.

Einverstanden.

K’rul blinzelte, richtete seine dunklen, ernsten Augen auf den Hochkönig. »Kallor, für dieses Verbrechen werden wir dir eine angemessene Strafe zuteil werden lassen. Höre dies: Dir, Kallor Eiderann Tes’thesula, wird ein unendliches sterbliches Leben zuteil werden. Sterblich in dem Sinne, dass du die verheerenden Auswirkungen des Alters, die Schmerzen von Wunden und die Qual der Verzweiflung spüren wirst. Dass du Träume haben wirst, die zu nichts zerfallen. Dass die Liebe vergehen wird. Dass du stets im Schatten des Schreckgespenstes des Todes leben wirst, der jederzeit droht, das zu beenden, was du nicht hergeben willst.«

Draconus sprach: »Kallor Eiderann Tes’thesula, du wirst niemals aufsteigen.«

Ihre Schwester sagte: »Kallor Eiderann Tes’thesula, jedes Mal wenn du emporsteigst, wirst du fallen. Alles, was du erreichst, soll in deinen Händen zu Staub werden. Genauso, wie du es mutwillig hier getan hast, wird es im Gegenzug mit allem sein, was du tust.«

»Drei Stimmen verfluchen dich«, intonierte K’rul. »Es ist geschehen.«

Der Mann auf dem Thron zitterte. Er verzog die Lippen, fletschte die Zähne in einem verzerrten Grinsen. »Ich werde euch vernichten. Jeden von euch. Das schwöre ich bei den Knochen von sieben Millionen Opfern. K’rul, du wirst vom Antlitz dieser Welt verschwinden, wirst vergessen werden. Draconus, alles was du erschaffst, soll wider dich aufstehen. Und was dich angeht, Weib — unmenschliche Hände sollen dich auf einem Schlachtfeld in Stücke reißen, doch du sollst niemals einen Augenblick lang Ruhe finden — das ist mein Fluch für dich, Schwester der Kalten Nächte. Kallor Eiderann Tes’thesula, eine Stimme, hat drei Flüche ausgesprochen. So sei es.«

 

Sie ließen Kallor auf seinem Thron, auf seinem Knochenhaufen zurück. Dann vereinigten sie ihre Kräfte, um Ketten um einen Kontinent zu legen, auf dem ein Gemetzel stattgefunden hatte, und zogen ihn in ein Gewirr, das nur zu diesem einen Zweck erschaffen worden war. Sie ließen das Land nackt und bloß zurück. Damit es heilen konnte.

Die Anstrengung zerbrach K’rul im Innersten; er trug Wunden davon, an denen er für den Rest seiner Existenz leiden würde, das wusste er. Und mehr noch, er konnte bereits spüren, dass die Zeit seiner Anbetung sich dem Ende zuneigte — das war der Pesthauch von Kallors Fluch. Zu seiner Überraschung schmerzte ihn der Verlust weniger als er gedacht hatte.

Die drei standen am Portal der im Werden begriffenen, leblosen Sphäre, und schauten lange auf das hinab, was sie geschaffen hatten.

Dann ergriff Draconus das Wort. »Seit der Zeit der Allumfassenden Dunkelheit habe ich ein Schwert geschmiedet.«

Sowohl K’rul als auch die Schwester der Kalten Nächte drehten sich bei diesen Worten zu ihm um, denn davon hatten sie nichts gewusst.

Draconus fuhr fort. »Es hat sehr, sehr lange gedauert, dieses Schwert zu schmieden, aber jetzt nähert es sich der Vollendung. Die Macht, mit der es ausgestattet ist, besitzt eine gewisse … Endgültigkeit.«

»Dann«, flüsterte K’rul, nachdem er einen Augenblick lang nachgedacht hatte, »solltest du beim letzten Schliff ein paar Veränderungen vornehmen.«

»So scheint es. Ich werde lange darüber nachdenken müssen.«

Nach einer Weile wandten sich K’rul und sein Bruder ihrer Schwester zu.

Sie zuckte die Schultern. »Ich werde mich vorsehen. Wenn mein Ende kommt, dann durch Verrat und nichts anderes. Gegen so etwas gibt es keine geeigneten Vorsichtsmaßnahmen, wenn mein Leben nicht zu einem Albtraum aus Misstrauen und Verdächtigungen werden soll. Und dazu werde ich es nicht kommen lassen. Bis zu jenem Augenblick werde ich das Spiel der Sterblichen weiterspielen.«

»Dann solltest du bei der Auswahl derjenigen, für die du kämpfst, vorsichtig sein«, murmelte K’rul.

»Such dir einen Gefährten«, riet Draconus ihr. »Einen, der deiner wert ist.«

»Das waren weise Worte von euch beiden. Ich danke euch.«

Es gab nichts mehr zu sagen. Die drei waren mit einer bestimmten Absicht zusammengekommen, und sie hatten ihr Ziel erreicht. Vielleicht nicht so, wie sie es sich gewünscht hatten, doch es war vollbracht. Und der Preis war bezahlt worden. Bereitwillig. Drei Leben und noch ein weiteres — alle zerstört. Für das eine der Beginn ewigen Hasses. Für die drei anderen ein fairer Tausch.

Ältere Götter, so hat man sich erzählt, verkörperten eine Unmenge unangenehmer Eigenschaften.

 

Aus einiger Entfernung schaute das Tier zu, wie die drei Gestalten getrennte Wege gingen. Von Schmerzen gepeinigt, den weißen Pelz blutbefleckt und immer noch blutend, die leere Höhle, in der einst das verlorene Auge gesessen hatte, feucht glänzend, hielt es seinen ungeschlachten Körper auf zitternden Beinen aufrecht. Es sehnte sich nach dem Tod, aber der Tod würde nicht kommen. Es sehnte sich nach Rache, aber jene, die es verwundet hatten, waren tot. Nur der Mann, der auf dem Thron saß und der die Heimat des Tieres verwüstet hatte, war noch übrig.

Doch es würde noch genug Zeit bleiben, um diese alte Rechnung zu begleichen.

Ein letztes Sehnen erfüllte die zerrissene Seele der Kreatur. Irgendwann zwischen der Feuersbrunst, die der Sturz hervorgerufen hatte, und dem darauf folgenden Chaos hatte es seine Gefährtin verloren und war jetzt allein. Vielleicht lebte sie noch. Vielleicht wanderte sie, verwundet wie er selbst, durch die zerstörten Lande und suchte nach ihm.

Oder vielleicht war sie auch voller Schmerz und Entsetzen in jenes Gewirr geflohen, das ihrem Geist Feuer verliehen hatte.

Wohin auch immer sie sich gewendet hatte — vorausgesetzt, dass sie tatsächlich noch lebte –, er würde sie finden.

Die drei fernen Gestalten öffneten Gewirre, und dann verschwanden sie in ihre Älteren Sphären.

Das Tier beschloss, keiner von ihnen zu folgen. So weit es ihn und seine Gefährtin betraf, waren diese Götter junge Geschöpfe, und das Gewirr, in das seine Gefährtin vielleicht geflohen war, war im Vergleich zu denen der Älteren Götter uralt.

Buch Eins

Der Funken und die Asche

Der Verlust von fünf Magiern, einer Mandata und zahllosen Imperialen Dämonen sowie das Debakel, das mit dem Namen Darujhistan verbunden war — all das diente dazu, öffentlich die Tatsache zu rechtfertigen, dass Imperatrix Laseen Dujek Einarm und seine übel zugerichteten Legionen zu Ausgestoßenen erklärt hatte. Dass dies Einarm und seinem Heer die Möglichkeit verschaffte, einen neuen Feldzug zu beginnen, diesmal als unabhängige militärische Kraft, und seine eigenen ruchlosen Bündnisse zu schmieden, die dazu bestimmt waren, das schreckliche magische Flankenfeuer auf Genabackis fortzusetzen, war — so könnte man sagen — ein zufälliger Nebeneffekt. Wobei man einräumen muss, dass die zahllosen Opfer jener fürchterlichen Zeit vielleicht — sollte der Vermummte ihnen das Privileg gewähren — völlig anderer Meinung wären. Das vielleicht romantischste unbedeutende Detail dessen, was später einmal die Pannionischen Kriege genannt werden würde, war tatsächlich ein Vorläufer des eigentlichen Feldzugs: die unachtsame, gleichgültige Zerstörung einer einsamen Steinbrücke durch den Jaghut-Tyrannen bei seinem unglückseligen Marsch nach Darujhistan …

 

Imperiale Feldzüge (Der Pannionische Krieg)1194–1195, Band IV, GenabackisImrygyn Tallobant (geb. 1151)

Kapitel Eins

Erinnerungen sind gewobene Wandbehänge, hinter denen sich harte Wände verbergen — sagt mir, welche Farbe der Faden hat, den ihr bevorzugt, meine Freunde, und ich werde euch im Gegenzug den Farbton eurer Seele nennen …

 

Das Leben der TräumeIlbares, die Hexe

 

 

Das 1164. Jahr von Brands Schlaf (zwei Monate nach dem Fest von Darujhistan) Das 4. Jahr der Pannionischen Domäne Das Tellann-Jahr der Zweiten

 

 

Die Kalkstein-Blöcke der Brücke lagen angesengt und zerbrochen überall im aufgewühlten Schlamm des Flussufers verstreut, als wäre die Hand eines Gottes herabgekommen und hätte den steinernen Bogen mit einer einzigen, gehässigen Geste der Verachtung beiseite gewischt. Und das, vermutete Grantl, war nicht weiter als einen halben Schritt von der Wahrheit entfernt.

Die Nachricht war weniger als eine Woche nach der Zerstörung nach Darujhistan gelangt, als die ersten Karawanen auf ihrem Weg nach Osten diesseits des Flusses den Übergang erreicht und festgestellt hatten, dass dort, wo einst eine brauchbare Brücke gestanden hatte, jetzt nur noch ein Haufen Steine lag. Geflüsterte Gerüchte erzählten von einem uralten Dämonen, der von Agenten des malazanischen Imperiums entfesselt worden und die Gadrobi-Hügel herabgeschritten war, um Darujhistan zu vernichten.

Grantl spuckte in das geschwärzte Gras neben dem Wagen. Er hatte so seine Zweifel, was diese Geschichte anging. Zugegeben, in jener Nacht, bei dem Fest vor zwei Monaten, waren merkwürdige Dinge in der Stadt vorgegangen — nicht dass er nüchtern genug gewesen wäre, um selbst irgendetwas Ungewöhnliches zu bemerken —, und es hatte genügend Zeugen gegeben, um die Geschichten von Drachen, Dämonen und dem Furcht erregenden Herabsinken von Mondbrut glaubwürdig erscheinen zu lassen, aber jeder heraufbeschworene Dämon, der stark genug gewesen wäre, einen ganzen Landstrich zu verwüsten, hätte auch Darujhistan erreicht. Und da die Stadt keineswegs nur noch ein schwelender Schlackehaufen war — zumindest nicht mehr als sonst nach einer Feier, an der die ganze Stadt beteiligt gewesen war –, war genau das nicht geschehen.

Nein, es war viel wahrscheinlicher, dass es die Hand eines Gottes gewesen war oder auch ein Erdbeben — obwohl die Gadrobi-Hügel nicht unbedingt als besonders instabile Zone galten. Vielleicht hatte sich auch nur Brand in ihrem ewigen Schlaf unruhig bewegt.

Wie auch immer, die unwiderlegbaren Tatsachen standen jetzt vor ihm. Oder genauer, sie standen nicht, sondern lagen bis zum Tor des Vermummten verstreut herum, und noch darüber hinaus. Und es bewahrheitete sich einmal mehr, dass egal, welche Spiele die Götter auch immer spielten, dreckige, hart arbeitende arme Schweine wie er darunter zu leiden hatten.

Die alte Furt wurde jetzt wieder benutzt; sie lag dreißig Schritt flussaufwärts von dort, wo die Brücke errichtet worden war. Jahrhundertelang war sie nicht mehr in Gebrauch gewesen, und nach einer Woche mit für diese Jahreszeit untypischen Regenfällen waren beide Flussufer die reinsten Schlammlöcher. Unzählige Karawanen drängten sich am Flussübergang; diejenigen, die sich dort befanden, wo früher Rampen gewesen waren, und diejenigen weiter draußen im angeschwollenen Fluss steckten hoffnungslos fest. Außerdem warteten Dutzende weitere auf den Karawanenwegen, wobei die Stimmung der Händler, Wachen und Tiere von Stunde zu Stunde schlechter wurde.

Zwei Tage warteten sie jetzt schon darauf, den Fluss überqueren zu können, und Grantl war überaus zufrieden mit seiner kleinen Truppe. Sie waren wirklich Inseln der Ruhe. Harllo war zu den Überresten eines auf dieser Seite gelegenen Brückenpfeilers hinausgewatet und saß jetzt darauf, die Angelrute in der Hand. Stonny Menackis hatte eine zerlumpte Bande anderer Karawanenwächter zu Storbys Wagen geführt, und Storby war nicht allzu ungehalten darüber, krügeweise Bier aus Gredfallan zu Höchstpreisen verkaufen zu können. Dass die Bierfässer eigentlich für eine abgelegene Schänke außerhalb von Saltoan bestimmt waren, war eben Pech für den auf seine Vorräte wartenden Wirt. Wenn die Dinge sich so weiterentwickelten, würde hier in kürzester Zeit ein Marktflecken entstehen, und dann eine ganze verfluchte Stadt, beim Vermummten. Irgendwann würde schließlich ein Beamter im Planungsamt von Darujhistan zu dem Schluss kommen, dass es eine gute Idee wäre, die Brücke wieder aufzubauen, und in zehn Jahren oder so würde das Bauwerk dann endlich wieder stehen. Es sei denn, natürlich, die Stadt wäre dann ein florierendes Gemeinwesen; in diesem Fall würden sie einen Steuereintreiber schicken.

Grantl war ebenso erfreut über die Gelassenheit, mit der sein Auftraggeber die Verspätung hinnahm. Er hatte gehört, dass dem Kaufmann Manqui auf der anderen Seite des Flusses vor Ärger eine Ader im Kopf geplatzt sei und er prompt gestorben war, was viel typischer für diese Brut war. Nein, ihr Herr Keruli war so untypisch, dass sein Verhalten sogar drohte, den sorgsam gehegten Widerwillen, den Grantl allen Kaufleuten gegenüber hegte, in Frage zu stellen. Andererseits hatten Kerulis besondere Charakterzüge beim Anführer der Karawanenwächter ohnehin schon den Verdacht aufkommen lassen, dass ihr Herr eigentlich überhaupt kein Kaufmann war.

Nicht dass es irgendeine Rolle gespielt hätte. Münzen waren Münzen, und Keruli bezahlte gut. Genau gesagt sogar überdurchschnittlich. Daher hätte es Grantl auch nicht weiter gekümmert, wenn der Mann Fürst Arard gewesen wäre, der sich als Händler verkleidet hatte.

»Ihr da, mein Herr!«

Grantl riss den Blick von Harllos bisher erfolglosen Versuchen, einen Fisch zu fangen, los. Ein grauhaariger alter Mann stand neben dem Wagen und blinzelte zu ihm hoch. »Ganz schön anmaßend, Euer Tonfall«, sagte der Anführer der Karawanenwächter mit grollender Stimme. »Nach den Lumpen zu urteilen, die Ihr tragt, seid Ihr nämlich entweder der mieseste Kaufmann der Welt oder der Diener eines armen Mannes.«

»Kammerdiener, um es ganz genau auszudrücken. Mein Name ist Emancipor Reese. Was jedoch Eure Bemerkung betrifft, dass meine Herren arm sein müssen — das ist nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Wir sind allerdings schon ziemlich lange unterwegs.«

»Dann will ich das mal so glauben«, meinte Grantl, »denn ich kenne Euren Akzent nicht, und wenn ich das sage, dann heißt das eine ganze Menge. Was wollt Ihr, Reese?«

Der Diener kratzte sich das faltige Kinn, aus dem silbrige Stoppeln sprossen. »Vorsichtige Befragungen des hier versammelten Pöbels haben ergeben, dass Ihr allgemein als ein Mann geltet, der sich ein gewisses Maß an Respekt verschafft hat — soweit man das von einem Karawanenwächter sagen kann.«

»Soweit man das von einem Karawanenwächter sagen kann, könnte es schon sein, dass ich das getan habe«, bemerkte Grantl trocken. »Um was geht es?«

»Meine Herren wünschen mit Euch zu sprechen. Falls Ihr im Moment nicht zu beschäftigt seid — wir haben unser Lager nicht weit von hier aufgeschlagen.«

Grantl lehnte sich auf dem Kutschbock zurück und musterte Reese einen Augenblick, dann grunzte er. »Bevor ich mich mit irgendwelchen anderen Kaufleuten treffe, muss ich das erst mit meinem Auftraggeber besprechen.«

»Aber natürlich, Karawanenführer. Und Ihr könnt ihm versichern, dass meine Herren nicht den Wunsch haben, Euch abzuwerben oder Euren Kontrakt auf irgendeine andere Weise zu gefährden.«

»Tatsächlich? In Ordnung, wartet hier.« Grantl schwang sich auf der von Reese abgewandten Seite vom Kutschbock. Er trat an die kleine, mit Verzierungen eingefasste Tür und klopfte einmal. Die Tür öffnete sich sanft, und aus der Dunkelheit im Innern des Wagens schaute Kerulis rundes, ausdrucksloses Gesicht heraus.

»Ja, Grantl, geht auf alle Fälle hin. Ich muss zugeben, dass mich eine gewisse Neugier umtreibt, was die beiden Herren dieses Mannes betrifft. Seid bitte bei diesem Treffen höchst aufmerksam, achtet selbst auf die kleinsten Kleinigkeiten. Und wenn Ihr könnt, findet heraus, was die beiden seit gestern getan haben.«

Der Karawanenführer grunzte, um seine Überraschung zu verbergen; Kerulis Wissen war ganz sicher unnatürlich — der Mann hatte den Wagen die ganze Zeit nicht ein einziges Mal verlassen. »Wie Ihr wünscht, Herr«, sagte Grantl schließlich.

»Oh, und holt auf dem Rückweg Stonny ab. Sie hat bereits viel zu viel getrunken und wird allmählich ziemlich streitlustig.«

»Dann sollte ich sie vielleicht besser jetzt gleich einsammeln. Sonst spießt sie womöglich noch jemanden mit ihrem Rapier auf. Ich kenne ihre Stimmungen.«

»Aha. Nun, dann schickt Harllo hin.«

»Äh, der würde wahrscheinlich kräftig mitmischen, Herr.«

»Und doch sprecht Ihr stets voller Wohlwollen von den beiden.«

»Das tue ich«, erwiderte Grantl. »Ich will nicht unbescheiden erscheinen, Herr, aber wenn wir drei für den gleichen Auftraggeber arbeiten, sind wir ebenso gut wie doppelt so viele andere, wen es darum geht, unseren Herrn und seine Waren zu beschützen. Deshalb sind wir auch so teuer.«

»Oh, Euer Preis war hoch? Ich verstehe. Hm. Dann teilt Euren beiden Gefährten mit, dass ich ihrem Lohn einen anständigen Bonus hinzufügen werde, wenn sie es schaffen, jedem Ärger aus dem Weg zu gehen.«

Grantl schaffte es irgendwie, den Mund wieder zuzumachen und nicht Maulaffen feilzuhalten. »Oh, äh, das sollte das Problem wohl lösen, Herr.«

»Hervorragend. Dann sagt Harllo Bescheid und schickt ihn los.«

»Ja, Herr.«

Die Tür schwang zu.

Es stellte sich heraus, dass Harllo bereits auf dem Rückweg zum Wagen war, die Angelrute in der einen riesigen Hand, in der anderen ein trauriges Etwas, das wohl ein Fisch sein sollte. Die leuchtend blauen Augen des Mannes tanzten vor Aufregung.

»Schau her, du armseliger Ersatz für einen Mann — ich habe uns ein Abendessen gefangen!«

»Das Abendessen für eine Klosterratte, meinst du wohl. Ich könnte das verdammte Ding durch ein Nasenloch einatmen.«

Harllo machte ein finsteres Gesicht. »Fischsuppe. Der Geschmack …«

»Das ist ja wirklich toll. Ich liebe nach Schlamm schmeckende Fischsuppe. Schau doch, das Vieh atmet noch nicht einmal — es war wahrscheinlich schon tot, als du es gefangen hast.«

»Ich habe ihm einen Felsbrocken zwischen die Augen gehauen, Grantl …«

»Das muss ein ziemlich kleiner Felsbrocken gewesen sein.«

»Dafür kriegst du nichts ab —«

»Und dafür hast du meinen Segen. Hör zu. Stonny wird allmählich betrunken –«

»Komisch. Ich höre noch gar kein Handgemenge —«

»Es gibt einen Bonus von Keruli, wenn es kein Handgemenge gibt. Hast du verstanden?«

Harllo warf einen Blick zur Tür des Wagens und nickte. »Ich sage ihr Bescheid.«

»Du solltest dich lieber beeilen.«

»Da hast du Recht.«

Grantl schaute ihm hinterher, als er davonhastete, noch immer die Angelrute und seinen Fang in den Händen. Die Arme des Mannes waren gewaltig, viel zu lang und muskulös für seine ansonsten dürre Gestalt. Er hatte sich als Waffe ein Zweihandschwert ausgesucht, das sie einem Waffenschmied in einem Kaff namens Geschichte des Toten Mannes abgekauft hatten. Und mit seinen affenartigen Armen schwang er es, als ob es aus Bambus wäre. Harllos hellblonder Haarschopf saß wie ein Knäuel verwickelter Angelschnüre auf seinem Kopf. Fremde lachten oft, wenn sie ihn das erste Mal sahen, doch Harllo bediente sich der flachen Seite seiner Klinge, um derartige Reaktionen abzuwürgen. Kurz und bündig.

Seufzend drehte sich Grantl zu Emancipor Reese um, der immer noch dastand und auf ihn wartete. »Dann geht voran«, sagte er.

Reese neigte den Kopf. »Hervorragend.«

Der Wagen war gewaltig, ein richtiges Haus, das auf hohen Speichenrädern hockte. Reiche Schnitzereien bedeckten den fremdartig gewölbten Aufbau, kleine, bemalte Gestalten, die mit einem anzüglichen Grinsen herumtollten und -kletterten. Die Kutschbank wurde von einer ausgeblichenen Markise aus Leinenstoff geschützt. Vier Ochsen trampelten frei in einem behelfsmäßigen Gehege herum, das sich in zehn Schritt Entfernung auf der windabgewandten Seite des Lagers befand.

Ruhe war den Herren des Dieners ganz offensichtlich wichtig, denn sie hatten ihr Lager ein ganzes Stück abseits der Straße und in einiger Entfernung von den anderen Kaufleuten aufgeschlagen. Ihr Lagerplatz bot ihnen freie Sicht auf die Hügel südlich der Straße und die weite, offene Fläche der Ebene dahinter.

Auf dem Kutschbock lag eine räudige Katze und beobachtete, wie Grantl und Reese näher kamen.

»Ist das Eure Katze?«, fragte der Hauptmann.

Reese schaute blinzelnd zu ihr hin, dann seufzte er. »Ja, mein Herr. Ihr Name ist Eichhörnchen.«

»Jeder Alchemist könnte diese Räude behandeln. Genau wie jede Wachshexe.«

Der Diener schien sich unbehaglich zu fühlen. »Ich werde mich auf alle Fälle darum kümmern, wenn wir nach Saltoan kommen«, murmelte er. »Oh«, er deutete mit einem Kopfnicken auf die Hügel jenseits der Straße, »da kommt Meister Bauchelain.«

Grantl drehte sich um und musterte den großen, hageren Mann, der soeben die Straße erreicht hatte und jetzt lässig auf sie zukam. Er trug einen teuren, knöchellangen Umhang aus schwarzem Leder und hohe Reitstiefel aus dem gleichen Material, graue Überhosen sowie ein locker fallendes, ebenfalls schwarzes Seidenhemd, durch das ein gutes, geschwärztes Kettenhemd hindurchschimmerte.

»Schwarz«, sagte Grantl zu Reese, »war der Farbton, den ganz Darujhistan letztes Jahr bevorzugt hat.«

»Schwarz ist der Farbton, den Bauchelain stets bevorzugt, Karawanenführer.«

Das Gesicht von Reeses Herr war blass und fast dreieckig, ein Eindruck, der durch den sorgfältig gestutzten Bart noch verstärkt wurde. Das stark eingeölte Haar hatte er straff aus der hohen Stirn gekämmt. Seine Augen waren von einem matten Grau — genauso farblos wie der Rest des Mannes –, und als ihr Blick dem seinen begegnete, spürte Grantl, wie seine Eingeweide sich erschrocken zusammenzogen.

»Karawanenführer Grantl.« Bauchelains Stimme klang sanft und kultiviert. »Euer Auftraggeber geht bei seiner Schnüffelei nicht besonders subtil vor. Zwar gehören wir sonst nicht zu den Leuten, die solche Neugier hinsichtlich unserer Aktivitäten belohnen, doch diesmal wollen wir eine Ausnahme machen. Ihr dürft mich begleiten.« Er warf einen Blick auf Reese. »Deine Katze scheint unter Herzjagen zu leiden. Ich würde vorschlagen, dass du dich um die arme Kreatur kümmerst.«

»Sofort, Herr.«

Grantl legte die Hände auf die Knäufe seiner Macheten und starrte Bauchelain aus zusammengekniffenen Augen an. Die Federn des Wagens quietschten, als der Diener auf den Kutschblock kletterte.

»Nun, Karawanenführer?«

Grantl rührte sich nicht von der Stelle.