Das Spiel der Götter 19 - Steven Erikson - E-Book

Das Spiel der Götter 19 E-Book

Steven Erikson

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Beschreibung

Nie war das Schicksal von Helden ungewisser – das Finale der großen Fantasy-Saga »Das Spiel der Götter«!

Er ist ein Gott, und doch riss ihn eine unbekannte Macht aus seinem Gefilde und schmetterte ihn auf die Erde. Körperlich verkrüppelt, vor Schmerz, Hass und Wut fast wahnsinnig, verfolgt er nur ein Ziel: Rache! Die Welt soll nicht nur brennen, er will die ganze Schöpfung auslöschen. Und endlich ist es so weit. Der verkrüppelte Gott hat sein Ziel fast erreicht. Götter und Sterbliche kämpfen für seine Sache. Doch auch seine Gegner haben ein mächtiges Bündnis geschmiedet. Die letzte Schlacht beginnt!

Mit dieser komplexen epischen Fantasy-Saga wurde Steven Erikson zu einem der bedeutendsten Vertreter der modernen Fantasy.

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Seitenzahl: 957

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Buch

Er ist ein Gott, und doch riss ihn eine unbekannte Macht aus seinem Gefilde und schmetterte ihn auf die Erde. Körperlich verkrüppelt, vor Schmerz, Hass und Wut fast wahnsinnig, verfolgt er nur ein Ziel: Rache! Die Welt soll nicht nur brennen, er will die ganze Schöpfung auslöschen. Und endlich ist es so weit. Der verkrüppelte Gott hat sein Ziel fast erreicht. Götter und Sterbliche kämpfen für seine Sache. Doch auch seine Gegner haben ein mächtiges Bündnis geschmiedet. Die letzte Schlacht beginnt!

Autor

Steven Erikson, in Kanada geboren, lebt heute in Cornwall. Der Anthropologe und Archäologe feierte 1999 mit dem ersten Band seines Zyklus Das Spiel der Götter nach einer sechsjährigen akribischen Vorbereitungsphase seinen weltweit beachteten Einstieg in die Liga der großen Fantasy-Autoren.

Die komplette Saga Das Spiel der Götter bei Blanvalet:

1. Die Gärten des Mondes

2. Das Reich der Sieben Städte

3. Im Bann der Wüste

4. Die eisige Zeit

5. Der Tag des Sehers

6. Der Krieg der Schwestern

7. Das Haus der Ketten

8. Kinder des Schattens

9. Gezeiten der Nacht

10. Die Feuer der Rebellion

11. Die Knochenjäger

12. Der goldene Herrscher

13. Im Sturm des Verderbens

14. Die Stadt des blauen Feuers

15. Tod eines Gottes

16. Die Flucht der Kinder

17. Die Schwingen der Dunkelheit

18. Die gläserne Wüste

19. Der verkrüppelte Gott

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Steven Erikson

Der verkrüppelte Gott

Das Spiel der Götter 19

Deutsch von Simon Weinert

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »The Crippled God (The Malazan Book of the Fallen 10, Part 2)« bei Transworld, London.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Copyright der Originalausgabe © 2011 by Steven Erikson Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Sigrun ZühlkeUmschlaggestaltung: Inkcraft unter Verwendung einer Illustration von Ralf Marczinczik Karten: © Andreas HancockHK · Herstellung: samSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-20275-0V001www.blanvalet.de

Karte

Vor vielen Jahren ging jemand mit einem unbekannten Schriftsteller und seinem ersten Fantasyroman ein Risiko ein – ein Roman, der schon mehrmals erfolglos seine Runden durch die Verlage gedreht hatte. Ohne diesen Jemand und sein Vertrauen, ohne das anschließende jahrelange unverbrüchliche Engagement dieses Mannes für dieses große Projekt, gäbe es kein »Spiel der Götter«. Ich hatte das große Privileg, von Anfang bis Ende mit demselben Lektor zusammenzuarbeiten, und deshalb widme ich »Der verkrüppelte Gott« in aller Bescheidenheit meinem Lektor und Freund, Simon Taylor.

ERSTESBUCH

Einem Angeketteten

Wenn du gewusst hättest, wohin der Weg führt

Wärst du ihn gegangen?

Wenn du gewusst hättest vom Leid am Ende der Liebe

Hättest du ihr Leben eingehaucht?

Das Rad sich dreht im Dunkeln

Es dämmert der Staub im Dunkeln

Ums Rad die Flammen funkeln

Die Sonne kreist im Dunkeln

Wenn du gekannt hättest den Gedanken im Kopf

Hättest du ihn kundgetan?

Wenn du mit diesem Wort verraten hättest einen Freund,

Hättest du es ausgesprochen?

Das Rad sich dreht im Dunkeln

Es dämmert der Staub im Dunkeln

Ums Rad die Flammen funkeln

Die Sonne kreist im Dunkeln

Wenn du gekannt hättest des Toten Gesicht

Hättest du es berührt?

Wenn du mit dieser Münze hättest eine Seele auf die Reise schicken können

Hättest du sie gestohlen?

Das Rad sich dreht im Dunkeln

Es dämmert der Staub im Dunkeln

Ums Rad die Flammen funkeln

Die Sonne kreist im Dunkeln

Sparak-GesangPsalm VII »Das Lachen des Geiers«

Der Sparak Nethem

Kapitel eins

Die aufgereihten Gesichter werden warten

Während ich ein jedes in die Hände nehme

Und mich daran erinnere, wie es ist

Nicht ich zu sein.

Werden alle diese Kämpfe

Sich in Weiß verwandeln?

Oder schmelzen wie Schnee auf Stein

In der Hitze des Morgens?

Spürt ihr meine Hände?

Diese wettergegerbten Schwingen

Eines Traums von Flucht

– entblößt –

Sind abgenutzte Geschenke.

Trotzdem halte ich fest und klettere sicher

Durch eure Augen –

Wer wartet auf mich

Fern des verheerten Nests

Der Szenen der Gewalt

Nach kurzer Suche stößt man

Auf die zerbrochenen Zweige

Auf die Federbüschel und Haare

Des nun trocknenden Gewölles –

Bist du hochgeschnellt

Weggesprungen unversehrt?

So viele Lügen lassen wir liegen

Die süße Kost, die uns stärkt

Doch die Reihen rühren sich nicht

Und wir reisen, ohne einen Schritt zu tun

Was ich zu verlieren dich herausfordere

Das habe ich schon lange aufgegeben

Doch was ich dich zu finden bitte

Muss ich es dann verlieren?

In diesen Reihen verbergen sich Geschichten

Für jede Linie, jedes gebrochene Lächeln

Komm näher denn

Und trockne diese Tränen

Denn ich habe eine Geschichte zu erzählen

Die Unbezeugten

Fisher kel Tath

Diese Soldaten. Die beiden Worte hingen in ihrem Bewusstsein wie Fleisch an einem Schlachterhaken. Sie drehten sich langsam und ziellos. Sie tropften, aber die Tropfen fielen immer seltener. Badalle lag auf einem Berg aus eingewickeltem Proviant, und wenn sie den Kopf auf der einen Seite heruntersinken ließ, konnte sie schwach die Spur sehen, die sich in einer langen Linie hinter ihnen abzeichnete. Sie ließen inzwischen nicht mehr viel zurück außer ihren Toten, und im Licht der Jadegrünen Fremden sahen sie aus wie umgestürzte Marmorstatuen, die eine vor langer Zeit aufgegebene Straße säumten. Gegenstände, deren Erlebnisse verloren waren, deren Geschichten für immer vergessen waren. Wenn sie von dem Anblick genug hatte, konnte sie in die andere Richtung sehen, nach vorn, und von ihrer erhöhten Position aus wirkte die Kolonne wie ein aufgeblähter Wurm mit tausend Köpfen auf dem lang gezogenen Rücken, ein jeder von ihnen Sklave des einen kriechenden Leibes.

In unregelmäßigen Abständen warf der Wurm einen abgestorbenen Teil von sich ab, und diese Teile fielen seitlich heraus. Die an ihnen vorbeigingen, streckten die Hände zu ihnen hinab, um Kleiderfetzen aufzusammeln, die man, zu Sonnensegeln zusammengenäht, am Tag gut brauchen konnte – so schenkten die Toten noch ein Stück Schatten. Wenn die abgeworfenen Teile bei Badalle vorbeikamen, waren sie größtenteils nackt und hatten sich in Marmorstatuen verwandelt. Denn wenn Reiche untergehen, wirft man die Statuen um.

Direkt vor ihr glänzten die nackten Rücken der Schlepper, sie schwitzten wertvollen Schweiß, während sie sich in die Joche stemmten. Die dicken Seile spannten sich ruckartig an, schnippten auf ganzer Länge glitzernde Staubwolken in die Luft. Diese Soldaten nennt man Schwere. Ein paar von ihnen zumindest. Diejenigen, die nicht stehen bleiben, die nicht hinfallen, die nicht sterben. Diejenigen, die den anderen Angst einjagen und sie dazu bringen weiterzugehen. Bis sie tot umfallen. Schwere. Diese Soldaten.

Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Die Sonne hatte sich über den Horizont ergossen. Der Tag hatte sich geneigt, und an diesem Tag hatte niemand gesprochen, die Schlange war stumm geblieben. Badalle war drei Schritte hinter Rutt hergegangen, und Rutt hatte sich mit krummem Rücken über Gehalten gebeugt, die er im Arm trug, und Gehalten hatte die Augen im gleißenden Licht zugekniffen – andererseits hielt sie die Augen immer geschlossen, denn es gab zu viele Dinge auf der Welt, deren Anblick sie nicht ertrug.

Es war ihre letzte Nacht. Sie wussten es – die ganze Schlange wusste es. Badalle hatte nicht versucht, sie umzustimmen. Vielleicht hatte auch sie aufgegeben – mit Bestimmtheit ließ sich das nur schwer sagen. Trotz behielt seine Gestalt, auch wenn er nur aus Asche und Schlacke bestand. Wut wirkte oft heiß, auch wenn sie in Wahrheit leblos und kalt war. Solchermaßen konnte die Welt trügen. Konnte lügen, und indem sie log, begünstigte sie die Einbildung. Sie begünstigte den Gedanken, dass das, was war, die Wahrheit sei. Auf diese Weise konnte die Welt aus Glauben eine tödliche Krankheit machen.

Sie starrte auf die Rücken der Schweren, und ihr kamen noch mehr Erinnerungen.

Rutt geriet ins Taumeln. Er verharrte. Ihm versagte die Stimme, er bekam nur einen unartikulierten Laut heraus und dann noch einmal, und er sagte: »Badalle. Die Fliegen gehen jetzt.«

Sie sah zu ihren Füßen hinunter, um sich zu vergewissern, dass sie sie zu ihm tragen konnten, und qualvoll langsam ging sie zu ihm. Und weit vor ihnen, an dem Punkt, auf den er mit seinen blinden, geschlossenen Augen blickte, erkannte sie den Schwarm. Schwarz quollen sie aus dem blendenden roten Abendlicht. Schwarz und schäumend. Fliegen, die auf zwei Beinen gingen, ein Klumpen, dann noch einer und noch einer, so tauchten sie aus dem blutroten Licht auf.

»Die Fliegen«, sagte Rutt. »Sie gehen.«

Aber sie hatte sie fortgeschickt. Es war ihr letzter machtvoller Befehl gewesen, der sie alle Kraft gekostet hatte. Doch heute war nur noch Luft über ihre Lippen gekommen.

Badalle kniff die Augen zusammen.

»Ich will wieder erblinden, Badalle.«

Sie betrachtete die aufgedunsene Masse, die seine Augenhöhlen ausfüllte. »Du bist noch blind, Rutt.«

»Dann … sind sie in meinem Kopf. Die Fliegen … sind in meinem Kopf.«

»Nein, auch ich sehe sie. Aber das Wabern – es ist nur das Sonnenlicht von hinter ihnen. Rutt, das sind Leute.«

Da wäre er beinahe hingefallen, doch er stellte die Beine breit und richtete sich mit schrecklicher Anmut auf. »Väter.«

»Nein. Ja. Nein.«

»Sind wir umgekehrt, Badalle? Sind wir irgendwie umgekehrt?«

»Nein. Schau, Westen – wir sind in die Sonne gelaufen, jeden Tag, jeden Abend.« Dann schwieg sie. Die Schlange ringelte sich hinter ihnen, zog ihren dürren Knochenleib zusammen, als ob die beiden ihn schützen könnten. Die Gestalten im Sonnenuntergang kamen immer noch näher. »Rutt, das sind … Kinder.«

»Was ist das, auf ihrer Haut … auf ihren Gesichtern?«

Sie sah den einen Vater unter ihnen, sein Bart war grau und rostig, in seinen Augen stand das Leiden vieler Väter – die ihre Jungen auf eine letzte Reise schickten. Doch die Gesichter der Kinder weckten ihre Aufmerksamkeit. Tätowierungen. »Sie haben sich gezeichnet, Rutt.« Tropfen, schwarze Tränen. Nein, jetzt erkenne ich es wirklich. Keine Tränen. Die Tränen sind versiegt und kehren niemals wieder. Diese Zeichen auf Gesicht und Händen, Armen und Hals, Schultern und Brust. Diese Zeichen. »Rutt.«

»Badalle?«

»Sie haben Klauen.«

Keuchend entfuhr ihm die Luft, und er zitterte.

»Versuche es jetzt, Rutt. Deine Augen. Versuche, sie zu öffnen.«

»Ich … ich kann nicht …«

»Versuch es. Du musst.«

Der Vater mit seinem Haufen klauenbewehrter Kinder kam näher. Sie waren misstrauisch, das merkte sie. Sie haben nicht mit uns gerechnet. Sie haben nicht nach uns gesucht. Sie sind nicht hier, um uns zu retten. Nun erkannte sie auch, dass sie ebenfalls litten, der Durst zerrte an ihren Gesichtern wie knochige Krallenfinger. Klauen fügen euch Qualen zu.

Doch der Vater, der inzwischen vor Rutt stand, griff zum Wasserschlauch, der an seinem Waffengürtel hing. Es war kaum Wasser darin – er war ganz schlaff und leicht zu heben. Nachdem er den Propfen herausgezogen hatte, hielt er ihn Rutt hin.

Der ihm im Gegenzug Gehalten hinhielt. »Erst sie«, sagte er. »Bitte erst die Kleine.«

Die Geste war unzweideutig, und ohne zu zögern trat der Vater vor, und während Rutt den Stofffetzen vor Gehaltens kleinem, schrumpeligen Gesicht wegzog, beugte der Vater sich zu ihr herab.

Doch er fuhr zurück, sah auf und schaute durchdringend in Rutts Augenschlitze.

Badalle hielt den Atem an. Wartete.

Dann kippte er den Wasserschlauch, hielt das Mundstück über Gehaltens Lippen, und das Wasser tropfte heraus.

Sie seufzte. »Dieser Vater, Rutt, ist ein guter Vater.«

Dann kam eines der klauenbewehrten Kinder zu ihnen, ein oder zwei Jahre älter als Rutt, und nahm Gehalten vorsichtig aus Rutts Armen – womöglich hätte er sich widersetzt, doch er hatte nicht mehr die Kraft dazu, und als das Kleine in den Armen des fremden Jungen gewiegt wurde, hielt Rutt die Arme immer noch so angewinkelt, als hielte er sie darin, und Badalle sah, wie sich die Sehnen an seinem Ellbogen zusammengezogen hatten. Und sie dachte zurück, wollte sich daran erinnern, wann sie Rutt zum letzten Mal ohne Gehalten im Arm gesehen hatte, aber es gelang ihr nicht.

Jetzt war das Kleine ein Geist in seinen Armen.

Der Vater weinte – das erkannte sie an den Spuren, die sich über seine dunklen, vernarbten Wangen zogen – und führte den Schlauch an Rutts Mund, zwischen die Lippen des Jungen. Ein paar Tropfen, dann zog er ihn wieder heraus.

Rutt schluckte.

Die anderen Kinder mit Krallen huschten an ihnen vorbei zu der zusammengerollten Schlange, und ein jedes zog einen Wasserschlauch hervor. Doch es waren nicht genug. Trotzdem taten sie es.

Und nun erblickte Badalle eine neue Schlange, die aus dem Sonnenuntergang auftauchte, und diese bestand aus Eisen und Ketten, und ihr war klar, dass sie sie schon einmal gesehen hatte, in ihren Träumen. Da hatte sie auf diese glitzernde Schlange hinabgeblickt. Väter und Mütter, aber allesamt Kinder. Und da – ich sehe sie – das ist ihre Mutter – ich sehe sie. Sie kommt.

Rund um die Frau quollen weitere Leute hervor und brachten weitere Wasserschläuche.

Sie blieb neben dem bärtigen Vater stehen, den Blick auf Badalle gerichtet, und als die Frau sprach, tat sie es in der Sprache von Badalles Träumen. »Fiedler, sie gehen in die falsche Richtung.«

»Ja, Mandata.«

»Ich sehe nur Kinder.«

»Ja.«

Hinter der Frau stand ein weiterer Soldat. »Aber … Mandata, zu wem gehören die?«

Sie drehte sich zu ihm um. »Das spielt keine Rolle, Faust, denn jetzt gehören sie zu uns.«

Rutt wandte sich zu Badalle um. »Was meinst du?«

»Sie sagen, dass wir zurückgehen sollen.«

Mit den Lippen formten sie beide ein Wort. Zurück?

Badalle sagte: »Rutt, du hast nicht versagt. Du hast die Schlange geführt, und deine blinde Zunge schnellte heraus und hat diese Fremden gefunden, die nicht länger Fremde sind. Rutt, du hast uns aus dem Tod ins Leben geführt. Rutt«, sie trat näher heran, »du kannst dich jetzt ausruhen.«

Der Bärtige – der Fiedler hieß – konnte Rutt auffangen, aber sie gingen dabei beide auf die Knie.

Die Mandata machte einen halben Schritt. »Hauptmann? Lebt er?«

Nach einem Augenblick sah er auf. »Wenn sein Herz noch schlägt, Mandata, dann höre und fühle ich es jedenfalls nicht mehr.«

Badalle sagte in der Sprache der Fremden: »Er lebt, Vater. Er ist nur fortgegangen. Eine Zeit lang.«

Der Mann, den Mutter Faust genannt hatte und der sich im Hintergrund gehalten hatte, drängte sich nun nach vorn und sagte: »Kind, wie kommt es, dass du Malazanisch sprichst? Wer bist du?«

Wer bin ich? Ich weiß es nicht. Das habe ich nie gewusst. Sie blickte in Mutters Augen. »Rutt hat uns zu euch geführt. Denn ihr seid die Einzigen, die übrig sind.«

»Die Einzigen?«

»Die Einzigen, die sich nicht von uns abwenden. Du bist unsere Mutter.«

Die Mandata schien daraufhin einen Schritt zurückzuweichen, und in ihren Augen flackerte es, als hätte sie Schmerzen. Dann wandte sie den Blick von Badalle ab, die auf Fiedler zeigte. »Und er ist unser Vater, und bald wird er weggehen, und wir werden ihn nie wiedersehen. So ist das immer mit den Vätern.« Dieser Gedanke machte sie traurig, doch sie stemmte sich mit einem Kopfschütteln gegen dieses Gefühl. »So ist es eben.«

Die Mandata schien zu zittern und nicht in der Lage zu sein, Badalle anzuschauen. Stattdessen wandte sie sich an den Mann neben ihr. »Faust, stecht die Reservefässer an.«

»Mandata! Schaut sie doch an! Doch nicht für diese … diese …«

»Gehorcht meinem Befehl«, sagte die Mandata erschöpft. »Oder ich lasse Euch hinrichten. Hier. Auf der Stelle.«

»Damit würdet Ihr einen Aufstand auslösen! Ich schwöre …«

Fiedler hatte sich aufgerichtet und stand jetzt direkt vor Faust Blistig, so dicht, dass die Faust einen Schritt zurückmachte. Er sagte kein Wort, sondern grinste nur, sodass seine Zähne weiß aus dem wirren rostroten Bart hervorleuchteten.

Blistig stieß fauchend einen Fluch hervor und drehte sich um. »Nun gut, aber dafür werdet Ihr den Kopf hinhalten müssen.«

Die Mandata sagte: »Hauptmänner Yil und Gudd, begleitet Faust Blistig.«

Ein Mann und eine Frau, die sich im Hintergrund gehalten hatten, wirbelten ebenfalls herum, um Blistig zu flankieren, der an der Kolonne entlang nach hinten marschierte.

Fiedler kehrte zu dem liegenden Rutt zurück. Er kniete sich neben den Jungen und legte ihm eine Hand auf das schmale Gesicht. Dann sah er zu Badalle auf. »Er hat euch geführt?«

Sie nickte.

»Wie weit? Wie lange?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Kolanse.«

Der Mann blinzelte, sah kurz zur Mandata hinüber und dann wieder zu Badalle. »Wie viele Tage sind es denn dann noch bis zu einer Wasserstelle?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nach Icarias, wo es Brunnen gibt … Ich … ich kann mich nicht erinnern. Sieben Tage? Zehn?«

»Unmöglich«, sagte jemand aus der Menge, die sich hinter der Mandata versammelt hatte. »Wir haben noch Vorräte für einen Tag übrig. Ohne Wasser, höchstens noch drei Tage – Mandata, wir schaffen das nicht.«

Badalle neigte den Kopf zur Seite. »Wo es kein Wasser gibt, gibt es Blut. Fliegen. Scherben. Wo es keine Nahrung gibt, da gibt es Kinder, die gestorben sind.«

Jemand sagte: »In diesem Fall hat Faust Blistig recht, Mandata. Das können wir nicht machen.«

»Hauptmann Fiedler.«

»Ja?«

»Lasst diejenigen, die noch gehen können, von Euren Kundschaftern zu den Proviantwagen bringen. Bittet die Khundryl, sich um diejenigen zu kümmern, die es nicht mehr können. Sorgt dafür, dass alle Wasser bekommen und auch etwas zu essen, wenn sie es zu sich nehmen können.«

»Jawohl, Mandata.«

Badalle sah ihm zu, wie er die Arme unter Rutt schob und den Jungen hochhob. Jetzt ist Rutt Gehalten. Er hat Gehalten getragen, bis er sie nicht mehr weitertragen konnte, und jetzt wird er getragen, und so geschieht es immer.

»Mandata«, sagte sie, während Fiedler Rutt wegschleppte. »Ich heiße Badalle, und ich habe ein Gedicht für dich.«

»Kind, wenn du noch lange hier rumstehst, ohne dass wir uns um dich kümmern, dann stirbst du mir noch. Ich werde mir dein Gedicht anhören, aber nicht jetzt.«

Badalle lächelte. »Ja, Mutter.«

Und ich habe ein Gedicht für dich. Sie sah starr auf die sich mühenden Rücken, die ausgefransten Seile, die umgestürzten Statuen am Wegrand. Seit dieser Begegnung, seit Badalle das letzte Mal mit der Mandata – oder mit dem Mann namens Fiedler – gesprochen hatte, waren zwei Nächte vergangen. Und inzwischen war das Wasser aufgebraucht, Rutt war noch immer nicht aufgewacht, und Saddic saß auf den Ballen und legte Muster aus seinen Sachen, nur um sie gleich wieder einzupacken. Dann kam das nächste Muster dran.

Und sie lauschte den Streitgesprächen. Sie hörte die Zankereien, sah die Ausbrüche, das Durcheinander aus um sich schlagenden Fäusten, ringenden Soldaten, gezückten Messern. Sie sah zu, wie diese Männer und Frauen dem Tod entgegengingen, denn Icarias lag zu weit entfernt. Sie hatten nichts mehr zu trinken, und diejenigen, die ihre eigene Pisse soffen, wurden allmählich verrückt, denn Pisse war Gift – den Toten wollten sie allerdings nicht das Blut abzapfen. Die ließen sie einfach liegen.

In dieser Nacht hatte sie vierundfünfzig gezählt. Die Nacht zuvor waren es neununddreißig gewesen, und dazwischen, den Tag über, hatten sie zweiundsiebzig Leichen aus dem Lager geschleppt, ohne sich die Mühe zu machen, Gräber zu schaufeln. Man legte sie einfach in mehreren Reihen auf den Boden.

Die Kinder der Schlange waren auf den Proviantwagen. Sie mussten nicht mehr weitergehen, aber auch sie starben.

Icarias. Ich sehe deine Brunnen. Sie waren fast ausgetrocknet, als wir von dir aufgebrochen sind. Etwas raubt das Wasser, sogar jetzt noch. Ich weiß nicht, warum. Aber es ist auch egal. Wir werden nicht dorthin gelangen. Ist es tatsächlich so, dass alle Mütter scheitern müssen? Und dass alle Väter weggehen, ohne wiederzukehren?

Mutter, für dich habe ich ein Gedicht. Kommst du zu mir? Hörst du dir meine Worte an?

Die Wagen wackelten, die Schweren stemmten sich in die Joche. Die Soldaten starben.

Sie folgten einem Pfad. Fiedlers Kundschafter hatten wenig Mühe, ihm zu folgen. Kleine gebleichte Knochen von all denen, die hinter dem Jungen namens Rutt und dem Mädchen namens Badalle zusammengebrochen waren. Jede kleine Ansammlung, über die er stolperte, war eine Anschuldigung, ein stummer Tadel. Diese Kinder. Sie hatten das Unmögliche vollbracht. Und nun lassen wir sie hängen.

Er hörte das Blut in seinen Adern, das panische Rauschen durch hohle Räume, und es klang wie ein unablässiges Heulen. Glaubte die Mandata noch daran? Jetzt, wo sie zu Dutzenden starben, hielt sie noch an ihrem Glauben fest? Wenn Entschlossenheit, wenn ein sturer Wille nicht ausreichte, was dann? Auf solche Fragen hatte er keine Antwort. Vielleicht sollte er mit ihr sprechen – nein, davon hat sie schon genug. Sie wird ständig belagert. Fäuste, Hauptleute, die Feldschere. Außerdem war Sprechen eine Qual – mit aufgeplatzten Lippen, die geschwollene Zunge tat sich schwer, und der angespannte, aufgekratzte Rachen schmerzte bei jedem Wort.

Er ging mit seinen Kundschaftern und wollte sich nicht zurückfallen lassen, um nach der Kolonne zu sehen. Er wollte nicht Zeuge davon werden, wie sie zerfiel. Zogen seine Schweren noch die Wagen? Wenn sie es taten, waren sie Idioten. Waren von den verhungerten Kindern noch welche übrig? Dieser Junge, Rutt – der dieses Ding so lange getragen hatte, dass seine Arme für immer verkrüppelt aussahen – , lag der noch im Koma, oder hatte er sich verabschiedet im Glauben, er hätte sie alle gerettet?

Das wäre das Beste. Mit dieser Wahnvorstellung ins Vergessen hinüberzugleiten. Hier gibt es keine Geister, nicht in dieser Wüste. Seine Seele schwebt einfach davon. Ganz einfach. Friedlich. Steigt auf, trägt das Kleine – denn er wird auf ewig das Kleine tragen. Geh, Junge. Geht, ihr zwei.

Sie waren auf der Suche nach einer Mutter und einem Vater zu ihnen gekommen. Tausend Kinder, tausend Waisen – doch hier auf diesem Pfad erkannte Fiedler allmählich, wie viele mehr sie einst gewesen waren – alle in einer Kolonne, die Badalle die Schlange genannt hatte, und diese Erkenntnis schmerzte wie ein Messer in seiner Brust. Kolansii, was habt ihr getan? Was habt ihr eurem Volk angetan? Euren Kindern? Kolansii, hattet ihr keine bessere Antwort darauf als das? Götter, wenn wir es zu euch geschafft hätten – wenn wir euch auf dem Schlachtfeld hätten entgegentreten können. Wir hätten euch für eure Verbrechen bezahlen lassen.

Mandata, es war richtig von dir, in diesen Krieg zu ziehen.

Aber zu glauben, dass wir ihn gewinnen könnten, darin hast du dich geirrt. Gegen Gleichgültigkeit kann man keinen Krieg führen. Ach, hör auf mich. Aber bin ich tot? Noch nicht.

Am Tag war das Lager still gewesen, die Soldaten hatten regungslos unter den Sonnensegeln gelegen, und er hatte in seinen Beutel gegriffen und die Drachenkarten berührt. Und … nichts. Leblos. Diese Wüste war leer, und keine Macht drang zu ihnen durch. Wir haben die Götter blind gemacht uns gegenüber. Die Götter und die Feinde vor uns. Mandata, ich verstehe deine Absicht dahinter. Ich habe sie damals verstanden und tue es auch jetzt noch. Aber schau uns an – wir sind Menschen. Sterbliche. Nicht stärker als andere. Und sosehr du auch mehr aus uns machen wolltest, etwas Größeres, scheinen wir doch nicht das sein zu können, was du möchtest.

Wir können auch nicht das sein, was wir selbst möchten. Und mehr als alles andere schmettert uns das nun nieder. Und dennoch bin ich noch nicht tot.

Er dachte an den Augenblick zurück, als sie die Kinder gefunden hatten. Wie die Kundschafter – kaum älter als die Kinder – voller Ernst zwischen den Flüchtlingen herumgegangen waren und ihnen ihr Wasser gegeben hatten. Die gesamte Ration für den nächtlichen Marsch, verteilt von einem Mund zum nächsten, bis kein Tropfen mehr in den Schläuchen war. Und dann blieb den jugendlichen Khundryl nichts mehr, als hilflos dazustehen, ein jeder von ihnen umringt von Kindern, die ihnen die Hände entgegenstreckten – nicht um sie zu packen oder etwas zu fordern, sondern um sie zu berühren und ihnen damit zu danken. Nicht für das Wasser – das war weg – , sondern für die Geste.

Wie tief muss man fallen, um sich für nichts weiter als den guten Willen zu bedanken? Für leeren Willen?

Diejenigen, die euch vertrieben haben …

Aber wir haben Verbündete, und vor denen erhebt sich kein Hindernis, nichts, was ihren Marsch auf Kolanse aufhalten würde. Gesler, zeige Stürmisch die Wahrheit, und lasse ihm dann die Zügel schießen. Lass ihn, damit er losheult und selbst die Hunde davor zurückschrecken. Lass ihm freie Bahn, Ges, ich bitte dich.

Denn ich glaube nicht, dass wir es schaffen.

Seine Nackenwirbel knirschten, als er aufblickte und die Jadegrünen Fremden anstarrte. Inzwischen füllten sie den Nachthimmel aus wie große Wunden im Antlitz des Firmaments. Vorzeichen, bei denen ich kotzen könnte. Ich hab die Schnauze voll von diesen verreckten Teilen. Aber … was, wenn ihr das gar nicht seid, ihr da oben? Was, wenn eure Reise einzig und alleine euch selbst was angeht, ohne ein Ziel, ohne einen Grund oder einen Zweck? Was, wenn ihr morgen oder übermorgen wieder herabsteigt – um uns alle auszulöschen, um unsere Mühen vergeblich zu machen und all unsere edlen Vorhaben? Was dann, o herrliches Universum, was sagst du uns dann?

Das Schicksal ist eine Lüge.

Doch juckt mich das überhaupt? Schau dir diese Knochen an, über die wir steigen. Wir gehen, so weit wir können, und dann bleiben wir stehen. So ist es. Mehr nicht. Also … und was jetzt?

»Schlangen«, sagte Banaschar und blinzelte, weil er nüchtern alles so scharf sah. Verschwommen war das alles besser. Viel besser. »Das war vielleicht die erste Angst, wegen der ich direkt in die Schlangengrube getappt bin, die wir so unbekümmert Tempel des D’rek nennen. Stelle dich deinen Ängsten, lautet so nicht ein weiser Rat? Vielleicht ist das der wahre Fluch der Nüchternheit, die Erkenntnis, dass Angst nicht den Charakter bildet und dass dieser Ratschlag scheiße war und die Welt voller Lügner ist.«

Die Mandata ging schweigend neben ihm her. Nicht dass er eine Antwort erwartet hätte, er war sich nicht mal mehr sicher, ob seine Worte überhaupt noch an seiner Kehle vorbeikamen. Möglich, sogar sehr wahrscheinlich, dass das, was er in den letzten beiden Tagen gesagt hatte, nur in seinem Kopf ausgesprochen worden war. Schließlich war es auch einfacher so.

»Aufstand. Das Wort allein schon macht mich … neidisch. Ich habe es nie gespürt – hier, in meiner Seele. Kein einziges Mal habe ich einen Augenblick trotziger Wut erlebt, in dem das Ich das Recht einforderte, einfach nur zu sein, was es sein möchte. Auch wenn es gar nicht weiß, wie dieses Wesen eigentlich aussieht. Es will es einfach.

Natürlich ist Trinken süße Selbstaufgabe. Das Heiligtum der Feiglinge – und wir sind alle Feiglinge, wir Säufer, lasst Euch von niemandem das Gegenteil weismachen. Es ist das Einzige, was wir gut können, größtenteils, denn es ist sowohl der Grund dafür, dass wir wegrennen, als auch das Mittel dazu. Vor allem. Und deshalb muss ein Säufer betrunken bleiben.«

Er sah zu ihr hinüber. Hörte sie ihm zu? Gab es etwas zum Zuhören?

»Lasst uns das Thema wechseln – dieses lässt mich … schaudern. Uns erwartet ein weiteres großes Thema, sobald mir eines einfällt. Schlangen, fragt Ihr? Nun, klar, das war ein großes Thema – dass das Mädchen uns solche Namen gegeben hat. Ihre. Unsere. Schlangen in der Wüste. Wie kühn, wenn man es recht bedenkt. Schlangen lassen sich verdammt schwer töten. Sie schlüpfen einem zwischen den Füßen davon. Sie müssen sich gar nicht verstecken, und man sieht sie trotzdem nicht.

Also … hm, wie wäre es mit Wissen? Wenn Wissen dazu führt, dass man in Ungnade fällt. Wenn die Wahrheit einen eher verdammt als befreit. Wenn Erleuchtung nichts anderes aufzeigt als das dunkle Pathos der endlosen Liste unserer Fehler. All das. Doch diese Argumente stammen von jenen, die für Unwissen plädieren – eine entscheidende Taktik des Machterhalts. Außerdem zwingt einen wahres Wissen zum Handeln …

Oder?«

Er hielt inne und versuchte, die Sache zu durchdenken. Nur um sich vor Furcht zu verkrampfen. »Ihr habt recht, lasst uns erneut das Thema wechseln. Wenn ich eines weiß, dann ist es das, dass ich über manche Dinge gar nichts wissen will. Also … äh, um bei unerwarteten Gästen zu bleiben, sollen wir uns über Heldentum unterhalten?«

Lächeln schwankte und fiel auf ein Knie. Buddl nahm den Platz hinter ihr ein und hielt ihr den Rücken frei. Das Kurzschwert in seiner Hand schien von ganz alleine zu zittern.

Er sah Starr hinterher, der sich durch das Gedränge stieß. Sein Miene war finsterer, als Buddl sie je gesehen hatte. »Koryk!«, blaffte er.

»Hier, Sergeant.«

»Wirst du’s überleben?«

»Hab mir da einen Blick eingefangen«, gab der Mann zurück und tauchte im Gesichtsfeld auf. Die eine Hälfte seines Gesichts war blutüberströmt, aber es war nicht sein eigenes. »Hab schon Hyänen gesehen, die vernünftiger wirkten.« Er zeigte mit einem blutigen Messer. »Der Korporal da hat ihm einen Stups gegeben …«

Der Mann, auf den Koryk zeigte, war in die Knie gegangen. Ein Regulärer.

Stämmig, breitschultrig. Rechts ragte ihm ein Messergriff aus der Brust. Aus Mund und Nasenlöchern lief blasiges Blut.

Starr sah sich finster um, sein Blick streifte Buddl. Er ging hinüber. »Lächeln – schau mich an, Soldatin.«

Sie hob den Kopf. »Wie Koryk gesagt hat, Sergeant – wir sind nicht blind, wir sind auch nicht dumm. Bin auch gestoßen worden, deshalb hat er mein Messer abgekriegt.«

Starr sah Buddl in die Augen.

Buddl nickte. »Zwölf Schritt voneinander entfernt, im Dunkeln, in der Menge.«

Der sterbende Korporal hatte das bärtige Kinn auf die Brust fallen lassen und schien auf seine Knie zu starren. Corabb näherte sich ihm vorsichtig und gab dem Mann einen Stoß. Er fiel um. Als er dumpf auf dem Boden aufschlug, gurgelte ein letzter Schwall aufgeschäumtes Blut aus Mund und Nase.

»Zwei Opfer?«, fragte Starr.

Buddl spürte den Hass in den Blicken der Regulären rings um sie herum, und er zuckte zusammen, als Corabb sagte: »Drei, Sergeant. Die ersten beiden waren die Ablenkung – zwei weitere kamen von hinten und hatten es auf die Wagen abgesehen. Ich habe den Ersten erledigt, und Krake hat den Letzten verjagt – ich vermute, er verfolgt ihn immer noch.«

»Er ist da draußen?«, wollte Starr wissen. »Beim Atem des Vermummten!«

Lächeln richtete sich auf, taumelte zu dem roten Korporal und holte sich ihr Messer zurück. »Das is’ nich’ in Ordnung«, grummelte sie und wandte sich der Menge zu. »Wir bewachen leere Fässer, ihr beschissenen Idioten!«

Jemand rief: »Wir waren’s nicht, Seesoldatin. Das war die Bande der Faust.«

Buddl machte ein finsteres Gesicht. Blistig. Bei den Göttern hienieden.

»Lasst uns einfach in Ruhe«, sagte Lächeln und wandte sich ab.

Krake kam zurück, bemerkte Starrs Blick und strich mit einer Hand beiläufig über die Armbrust, die ihm über der linken Schulter hing.

Der Sergeant drehte sich zu den Schleppern um. »Nehmt die Seile, Soldaten – bringen wir das Ding wieder ins Rollen.«

Lächeln ging zu Buddl. »Unsere eigenen Leute umbringen. Das is’ nich’ in Ordnung.«

»Ich weiß.«

»Du hast mir den Arsch gerettet – Danke.«

Er nickte.

Die Menge, allesamt Reguläre, löste sich auf. Der Wagen rollte an, und der Trupp setzte sich neben ihm in Bewegung. Die Leichen ließen sie liegen.

»Es ist der Wahnsinn«, sagte Corabb kurze Zeit später. »In den Sieben Städten …«

»Das musst du uns nicht erzählen«, unterbrach ihn Krake. »Wir waren dort, falls du's vergessen hast.«

»Ja. Ich wollt’ ja nur sagen. Der Wahnsinn des Dursts …«

»Das war geplant.«

»Der Korporal, ja«, sagte Corabb, »aber nicht, was der Armleuchter gemacht hat, der es auf Koryk abgesehen hatte.«

»Und die, die von hinten gekommen sind? Das war geplant, Corabb. Das hat jemand befohlen. Das ist kein Wahnsinn. Das ist nichts dergleichen.«

»Ich habe ja vor allem die ganzen anderen Regulären gemeint – diejenigen, die in Horden gelaufen kommen, wenn sie Blut wittern.«

Darauf hatte niemand eine Antwort. Buddl merkte, dass er sein Kurzschwert noch in der Hand hatte. Seufzend steckte er es weg.

Kurznase nahm das blutige Hemd und stopfte es unter das lederne Joch, verteilte es über sein ganzes Schlüsselbein, das aufgescheuert war und wund aussah. Jemand hatte ihm das durchnässte, warme Hemd gegeben, doch das Blut störte ihn nicht sonderlich – schließlich floss nun auch sein eigenes hinein.

Der Wagen war schwer. Mit den Kindern, die jetzt auf den Proviantballen hockten, sogar noch schwerer. Doch lange nicht so schwer, wie er hätte sein müssen bei der Zahl der Kinder. Das lag daran, dass sie größtenteils nur noch Haut und Knochen waren. Darüber dachte er nicht gerne nach. Es erinnerte ihn an den Hunger seiner Kindheit. Doch immer, wenn es schlimm geworden war, hatte Vater etwas für die Knirpse nach Hause gebracht. Kurznase war der Knirpsigste von allen gewesen. Reste. Etwas zum Kauen. Und seine Mutter war mit anderen Müttern losgezogen, um ein paar Tage und Nächte zu arbeiten, und kam wieder zurück, manchmal mit blauen Flecken, manchmal weinend, aber jedes Mal hatte sie Geld dabei, und dieses Geld verwandelte sich in Essen. Immer wenn sie das getan hatte, hatte Vater heftig geschimpft.

Aber es war nur darum gegangen, den Knirpsen die Schnäbel zu stopfen. »Meine süßen Knirpse«, hatte Vater immer gesagt. Und Jahre später, als die Garnison aus der Stadt verschwunden war, konnte Mutter das Geld nicht mehr auf diese Weise beschaffen, aber Vater und sie waren darüber ganz froh. Kurznases ältere Brüder waren zu der Zeit schon alle aus dem Haus, zwei von ihnen im Krieg geblieben, und der andere hatte Witwe Karas geheiratet, die zehn Jahre älter war als er und die Kurznase im Geheimen mit aller Macht liebte. Deswegen war es wahrscheinlich gar nicht schlecht gewesen, dass er damals weggelaufen war, denn sein Bruder hätte es wohl nicht gut aufgenommen, wenn es mit der betrunkenen Karas hinterm Stall Ärger gegeben hätte oder auch nicht, auch wenn das alles nur Spaß gewesen war …

Ihm fiel auf, dass neben ihm ein Junge ging. Der einen Sack trug. Er hatte Blut an den Händen und leckte es ab.

Du hast mir das Hemd gegeben, oder? »Das ist nicht gut, Knirps«, sagte er. »Blut trinken.«

Der Junge sah ihn stirnrunzelnd an und leckte weiter, bis seine Hände sauber waren.

Später erfuhr er dann, dass einer seiner Brüder vor den Mauern von Nathilog gefallen war, und der andere kam mit nur einem Bein zurück, worauf eine Pension gezahlt wurde, und Mutter und Vater brauchten sich nicht mehr so abzumühen, vor allem als Kurznase selbst zur Armee ging und zwei Drittel seines Solds nach Hause schickte. Die Hälfte davon ging an Mutter und Vater, der Rest an seinen Bruder und dessen Frau, denn er fühlte sich schuldig wegen des Kindes und alldessen.

Trotzdem war es nicht gut, so jung schon zu hungern, und zu verhungern war überhaupt das Schlimmste. Sein Vater hatte immer gesagt: »Wenn du keine Kinder durchfüttern kannst, dann solltest du auch keine bekommen. Beim stolzen Gestänge des Vermummten, um das zu begreifen, muss man kein Genie sein!« Das brauchte es sicher nicht, und deshalb hatte Kurznase für seinen Knirps gezahlt, und er würde immer noch zahlen, wenn sie nicht entlassen worden wären und jetzt Geächtete oder Deserteure hießen oder wie auch immer man beim Militär Leute bezeichnete, die nicht taten, was sie sollten. Inzwischen musste der Knirps aber schon groß genug sein, um selbst zu arbeiten. Vielleicht hatte sein Bruder die Belohnung, die er auf seinen Kopf ausgesetzt hatte, inzwischen wieder zurückgenommen. Vielleicht war inzwischen alles wieder in Ordnung, die Aufregung hatte sich gelegt und so weiter.

Das war ein schöner Gedanke. Aber jetzt war er hergegangen und hatte sich in Blitzgescheit und Maifliege verliebt, wie blöd war das denn, denn sie waren zu zweit, und er war nur einer. Nicht dass er darin ein Problem gesehen hätte. Aber Frauen waren in diesen Dingen manchmal komisch. Und in vielen anderen Dingen auch, deswegen machten sie so viel Ärger.

Die Schlepperin rechts von ihm stolperte. Kurznase griff mit einer Hand nach unten und half der Frau wieder hoch. Keuchend bedankte sie sich.

Frauen jetzt also. Über Frauen konnte er endlos nachdenken …

»Du bist Kurznase, oder?«

Er sah auf sie herab. Sie war klein und hatte lange, kräftige Beine – was für ein Pech, was? Dasjenige, was anständige Männer zum Sabbern brachte, stellte sich als das heraus, was sie unters Joch brachte wie ein … wie ein … »Ja, der bin ich.«

»Wollte es sehen, verstehst du?«

»Nein.«

»Hab gehört, dass man dir das eine Ohr gleich zweimal abgebissen hat.«

»Und?«

»Nun, äh, wie ist das möglich?«

»Frag mich nicht. Daran war Bredd schuld.«

»Bredd? Neffarias Bredd? Du hast gegen ihn gekämpft?«

»Kann schon sein. Spar dir deinen Atem, Soldatin. Schau dir diesen Knirps an, der macht keinen Mucks, der ist schlau.«

»Das liegt daran, dass er kein Malazanisch versteht.«

»Mir soll jeder Grund recht sein, sage ich immer. Egal, zieh weiter und denke an Sachen, an die du gerne denkst. Um dich von dem ganzen Scheiß abzulenken.«

»An was denkst du?«

»Ich? An Frauen.«

»Klar«, sagte sie in einem seltsam kalten Tonfall. »Dann denke ich jetzt wohl an hübsche, kluge Männer.«

Er lächelte auf sie herab. »Das musst du doch nicht, Mädel … es läuft doch einer neben dir her.«

Der Junge verschwand und kam bald darauf wieder mit einem weiteren Stück Stoff, das er Kurznase gab, damit er sich die blutende Nase abtrocknen konnte.

Wie sein Vater immer gesagt hatte: »Frauen sind undurchschaubar.« Zu dumm. Sie war ganz hübsch und besser noch: Sie konnte fluchen, dass es auf keine Bhederinhaut ging. Gab es eine aufreizendere Kombination? Wohl kaum.

»Man könnte meinen, ich wäre aussätzig. Es ist nicht meine Schuld, dass ich schon einmal tot war, und wenn man schon mal tot war, führt das vielleicht dazu, dass man nicht mehr so sehr Durst bekommt – ich weiß es nicht.«

»Ich habe alles kondensiert, was ich zu Gesicht bekommen habe«, sagte Bavedict. »So habe ich durchgehalten.«

Igel beäugte den Alchemisten skeptisch und zuckte dann mit den Schultern. »Besser als den ganzen Tag zu reden, vermute ich.«

Bavedict machte den Mund auf und schloss ihn wieder.

»Wie geht es den Kätzchen?«

»Den Kätzchen geht es gut, Kommandant.«

»Haben wir genug?«

»Für mehr als eine Begegnung? Schwer zu sagen, Kommandant. Für eine Schlacht bequem, da haben wir, was wir brauchen, ohne uns zurückhalten zu müssen.« Er warf einen Blick zum Wagen zurück und sagte dann: »Ich habe über Strategie nachgedacht, Kommandant, bezüglich alchemistischer … äh … Kätzchen. Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, damit zu knausern. Stattdessen sollten wir das Gegenteil machen. Das Schlachtfeld damit überschwemmen, sie so hart damit treffen, dass der Schreck sie überwältigt …«

»Ich dachte, du wolltest die Nacht über nichts reden? Hör mal, wir haben das schon vor Jahren erarbeitet. Mauern und Wellen haben wir es genannt. Mauern, wenn man eine Linie oder Position hält. Wellen, wenn man vorrückt. Und es hat keinen Sinn, welche zurückzuhalten – außer natürlich diejenige mit deinem Namen drauf. Denn jeder Sappeur wird dir erklären, dass wenn du sie tötest, sie dich im selben Moment auch töten, garantiert. Das nennen wir Abschreckung.«

Bavedict warf einen zweiten Blick zurück und betrachtete stirnrunzelnd den Trupp, der neben dem Wagen herstapfte. Den Hauptleuten ging es nicht gut. Sie wurden dünner, aber auf ungesunde Weise. Seit Tagen hatten sie kaum etwas gesagt. Hinter ihnen gingen die Khundryl, die noch immer ihre Pferde führten – Ich habe Igel nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich habe nicht nur den Ochsen was gegeben, aber man sollte meinen, sie würden es merken …

»Immer noch nervös?«, fragte ihn Igel. »Ich an deiner Stelle wäre es. Khundryl lieben ihre Pferde. Sehr. Wenn ein Krieger wählen müsste, ob er sein Pferd oder seine Mutter rettet, stünden die Chancen gleichauf. Und du bist einfach hergegangen und hast sie getötet.«

»Die wären doch sowieso gestorben, Kommandant. An einem einzigen Tag braucht ein Pferd mehr Wasser als vier Soldaten, und den Khundryl ist es ausgegangen. Versucht einmal, ein vertrocknetes Tier zur Ader zu lassen, Kommandant – das ist nicht einfach.«

»Richtig, und jetzt haben sie untote Pferde und immer noch kein Wasser, wenn du es also eine Woche früher getan hättest, wäre das Opfer gar nicht nötig gewesen. Sie wollen dich umbringen, Alchemist – ich habe einen halben Tag gebraucht, um es ihnen auszureden.«

Bavedict sah Igel finster an. »Eben habt Ihr gesagt, dass wenn sie entscheiden müssten, ob sie ihr Pferd oder ihre Mutter …«

»Natürlich würden sie ihre Mutter retten. Bist du bekloppt, oder was?«

Der Alchemist seufzte.

»Egal«, sprach Igel nach einem Moment weiter. »Jetzt sind wir alle Brückenverbrenner. Und es stimmt, wir haben hin und wieder ein paar Offiziere umgelegt, wenn sie richtig übel waren. Wer würde das nicht tun? Gibst du einem Trottel das Kommando, dann bringt er wahrscheinlich alle um, deshalb schafft man am besten erst ihn aus dem Weg, stimmt’s? Aber du hast nichts getan, um das zu verdienen. Außerdem brauche ich dich, und sie brauchen dich auch. Es ist also ganz einfach – niemand wird dir die Kehle aufschlitzen.«

»Ich bin zutiefst erleichtert, Kommandant.«

Igel kam näher an ihn heran und sprach leiser weiter: »Aber hör zu. Das geht gerade alles in die Binsen – siehst du das? Die Knochenjäger – die Regulären –, die drehen durch.«

»Kommandant, uns geht es nicht viel besser.«

»Dann sollten wir uns aus dem Gemetzel raushalten, richtig? Ich habe meinen Hauptleuten bereits Bescheid gegeben. Wir ziehen uns energisch zurück, sobald es losgeht – ich will einen Abstand von hundert Schritten, wenn sie sich nach einem Mordopfer umschauen.«

»Kommandant, glaubt Ihr, dass es so schlimm kommen wird?«

Igel zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Bisher halten die Seesoldaten sie alle in Schach. Aber es kann jeden Augenblick eine Rangelei ausbrechen, bei der ein Seesoldat draufgeht. Und der Geruch von Blut wird den Rest erledigen, lass dir das gesagt sein.«

»Wie hätten die Brückenverbrenner das geregelt, Kommandant? Damals?«

»Ganz einfach. Die Wortführer ausfindig gemacht und sie kaltgestellt. Diejenigen, die immer nur rummaulen, ständig darüber reden und die Dummen zu Dummheiten anstacheln. In der Hoffnung, dass es einen großen Knall tut. Ich« – er nickte in Richtung der Kolonne, die neben ihnen ging –, »ich würde mir Blistig schnappen, ihn in die Wüste schleppen – dann könnte einen Tag lang niemand Schlaf finden wegen seines Geschreis.«

»Kein Wunder, dass ihr alle geächtet geworden seid«, murmelte Bavedict.

Im Osten hellte sich der Himmel auf, die Sonne stieg empor, um Krieg gegen die Jadegrünen Fremden zu führen, bevor diese sich hinter den nördlichen Horizont stürzten. Die Kolonne zerfiel in Einzelteile, Klumpen von Soldaten, die links und rechts aus dem Zug ausbrachen. Dort sanken sie nieder, mit hängenden Köpfen, ihre Waffen und Rüstungen klapperten, als ihre Bündel zu Boden fielen. Die Schlepper blieben stehen, befreiten sich von den schweren Jochen. Von den Khundryl drang Wehklagen herüber, als erneut ein Pferd stolperte und auf die Seite fiel – und schon blitzten die Messer auf. An diesem Tag würde es genug Blut zu trinken geben, und dennoch brach bei den Verbrannten Tränen kein Jubel aus.

Wo die Wagen stehen geblieben waren, hockten die Seesoldaten sich mit roten Augen und vor Erschöpfung eingefallenen Gesichtern hin. Wo man hinsah, bewegten sich Soldaten wie alte Frauen und Männer, spannten mühevoll Planen und Sonnensegel auf, rollten Schlafmatten aus und hielten dabei immer wieder inne, um zu verschnaufen. Langsam wurden Waffen hervorgezogen und die Schäden mit Öl und Schleifstein ausgewetzt, doch das geschah beinahe völlig geistesabwesend. Der Instinkt führte die Bewegungen aus, und stumpfe, mürrische Augen sahen dabei zu.

Und dann stiegen die Kinder von den Wagen, einzeln oder zu zweit, und mischten sich unter die Soldaten. Aber nicht um zu betteln oder zu jammern, sondern sie setzten sich einfach nur dazu und wachten über den Schlaf der Soldaten. Oder litten mit stierem Blick. Und hin und wieder starben sie auch.

Sergeant Sinter, die sich im Sitzen an das Rad des Wagens lehnte, den sie bewachten, beobachtete das alles. Wenn ein Kind sich zaghaft zu einem der Grüppchen gesellte, hatte das eine eigenartige Wirkung auf die Soldaten. Streit verstummte, giftige Blicke verschwanden, Wut kühlte ab. Die Schlaflosen rollten sich auf die Seite und ergaben sich der Müdigkeit. Schmerz wurde hinuntergeschluckt, und diejenigen, die weinten, ohne dabei Tränen zu vergießen, verfielen schließlich in Schweigen.

Was war das für eine Gabe? Sie begriff es nicht. Und wenn die Soldaten gegen Abend erwachten und neben sich einen kleinen, reglosen Körper entdeckten, kalt und bleich im abnehmenden Licht, dann konnte sie beobachten, wie die Trupps sich um ihn versammelten und Kristallsplitter auf das leblose Kind legten und einen glitzernden Grabhügel errichteten. Danach schnitten sie sich von ihren Gürteln und Riemen Fetische ab – die Knochen, die sie seit Aren bei sich trugen – und legten sie ebenfalls auf die kümmerlichen Steinhaufen.

»Sie bringen uns um.«

Sie sah zu ihrer Schwester hinüber, die auf der anderen Seite des Rads saß und das gesplitterte Bein ausstreckte. »Wer denn diesmal, Kusswo?«

»Sie kommen und teilen die letzten Augenblicke mit uns. Unsere. Ihre. Es ist nicht fair, was sie uns bringen.«

Sinter kniff die Augen zusammen und musterte Kusswo. Du bist fortgegangen, Schwester. Wirst du jemals zurückkehren? »Ich weiß nicht, was sie bringen«, sagte sie.

»Woher auch.«

Ein dumpfer Ärger stieg in ihr auf, der sich gleich wieder verflüchtigte. »Warum sagst du das?«

Kusswo bleckte die Zähne, legte den Kopf zwischen zwei Speichen und schloss die Augen. »Was du immer schon hattest. Was ich nie hatte. Deshalb siehst du es nicht. Kannst es nicht erkennen. Es wäre, als würdest du in deine eigene Seele schauen, und das kann niemand. Oh, sie behaupten, sie könnten es, labern etwas von Offenbarungen oder Wahrheit. Dieser ganze Scheiß. Aber in uns drin, da bleibt immer etwas verborgen. Für immer.«

»In mir ist nichts verborgen, Kusswo.«

»Aber diese Kinder – wie die da sitzen, beobachten, neben uns liegen –, das tut dir weh, nicht wahr?«

Sinter sah weg.

»Du Gans«, seufzte Kusswo. »Sie bringen Würde. So wie du. So wie auch die Mandata – was glaubst du denn, warum so viele von uns sie hassen? Ihren Anblick nicht ausstehen können? Sie zeigt uns, woran wir nicht erinnert werden wollen, denn für die meisten von uns ist nichts schwerer zu erreichen als Würde. Nichts. Also zeigen sie uns, wie man würdevoll sterben kann – sie zeigen es uns, indem sie selber sterben und indem sie uns sterben lassen, während sie uns bewachen.

Die Mandata meinte etwas von unbezeugt. Dem stimmen diese Kinder nicht zu.«

Aber es spielt sowieso keine Rolle.

Kusswo sprach weiter: »Hast du geglaubt, das würde einfach werden? Hast du geglaubt, wir würden uns nicht irgendwann dahinschleppen? Wir sind durch die halbe Welt marschiert, um hierherzugelangen. Schon vor einer Ewigkeit haben wir aufgehört, eine Armee zu sein – und nein, ich weiß nicht, was wir jetzt sind. Ich glaube nicht, dass jemand existiert, der uns einen Namen geben könnte.«

»Wir schaffen das nicht«, sagte Sinter.

»Na und?«

Sinter sah zu ihrer Schwester hinüber. Kurz begegneten sich ihre Blicke. Gleich hinter Kusswo saß Korporal Rim zusammengekauert und rieb Öl in den Stumpf seines rechten Arms. Er ließ sich nicht anmerken, dass er zuhörte, aber sie wusste, dass er es tat. Dasselbe galt für Herzchen, die unter schmutzigen Tüchern lag, damit ihr die Sonne nicht in die Augen schien. »So, dann kümmert es dich also nicht, Kusswo. Hat dich ja noch nie gekümmert.«

»Zu überleben spielt hier keine Rolle, Sinter. Das tut es schon seit einer ganzen Weile nicht mehr.«

»Ach so«, blaffte sie. »Dann klär mich doch mal auf.«

»Du weißt es doch. Du hast es selbst gesagt – wir werden es nicht schaffen. Und diese Kinder, die mischen sich unter uns wie Homunkuli. Geschaffen aus allem, was wir in unserem Leben aufgegeben haben – die ganze Würde und Integrität und Wahrheit –, alles, und schau sie dir an – bis auf die Knochen abgemagert. Wir haben das Beste in uns nicht sonderlich gut behandelt, Schwester, oder?«

Wenn Tränen möglich gewesen wären, dann hätte Sinter nun geweint. Stattdessen ließ sie sich auf den harten Boden sinken. »Du hättest weglaufen sollen«, sagte sie.

»Ich wette, das sagt sich die Mandata tausendmal am Tag.«

Die Mandata? Sinter schüttelte den Kopf. »Es ist nicht ihre Art wegzulaufen.«

»Nein, deine auch nicht. Und wie sich jetzt herausstellt, ist es wohl auch nicht meine.«

Das ist nicht meine Schwester.

»Ich glaube«, sprach Kusswo weiter, »dass wir morgen zum letzten Mal marschieren werden. Und weißt du, es ist in Ordnung. Es war den Versuch wert. Das sollte ihr jemand sagen. Es war den Versuch wert.«

»Keine Spinnen«, sagte Hellian und legte ihren Kopf wieder auf die Schlafmatte. »Das ist das Beste. Diese Wüste ist das Paradies. Sollen die Fliegen und Kappmotten meine Leiche fressen. Selbst diese fleischfressenden Heuschrecken. Aber keine Spinne wird sich in meinen Augenhöhlen ein Nest bauen – gibt’s was Besseres?«

»Wieso hast du solche Angst vor ihnen, Sergeant?«

Sie dachte darüber nach. Doch dann schweiften ihre Gedanken ab, und sie sah Berge aus Schädeln, die alle grinsten. Und warum auch nicht? Oh ja, keine Spinnen. »Mein Vater erzählt immer eine Geschichte, vor allem, wenn er besoffen ist. Er findet sie zum Totlachen, diese Geschichte. Ach, warte, ist das mein Vater? Könnte mein Onkel sein. Oder sogar mein Stiefvater. Oder vielleicht sogar der Vater meines Bruders, der ein Stück die Straße runter wohnt. Egal, es war ’ne Geschichte, und wie er immer gelacht hat! Du hast Kartool gesehen. Vielleicht. Spinnen so groß, dass sie Möwen fressen können, stimmt’s?«

»War mal dort, ja, Sergeant. Gruselige Insel.«

»Die Rotrücken sind die schlimmsten. Nicht groß und für sich allein nicht mal besonders giftig. Aber zusammengenommen. Wenn die nämlich schlüpfen, dann gibt es Tausende, und die klumpen tagelang zusammen, damit sie große Beutetiere erlegen und fressen können, stimmt’s? Und die Eiersäcke, puh, die können überall verborgen sein.

Also, ich war vielleicht zwei. Habe den ganzen Tag in der Krippe gelegen, jeden Tag, denn bei meiner Mutter war noch ein Balg unterwegs, und sie hat immer Fieber bekommen und es schließlich verloren, was so bescheuert war, weil ein Stück die Straße runter eine gute Heilerin war, aber Vater hat das ganze Geld versoffen, das er verdiente. Egal. Ich hatte diese Puppe …«

»Götter, Sergeant …«

»Ja, die sind aus ihrem Kopf rausgekommen. Haben sich durch die Füllung gefressen und kamen dann zu Augen und Mund und sonst überall raus. Und ich vor ihrer Nase: Fressen. Mein Halbbruder kam dann rein und hat mich entdeckt. Mein Kopf war auf die doppelte Größe angeschwollen – er konnte nicht mal meine Augen sehen –, und ich bekam keine Luft. Zweihundert Bisse habe ich gezählt, vielleicht noch mehr, denn die hockten fast alle in meinen Haaren. Tja, als Beute war ich dann wohl doch zu groß, selbst für tausend Rotrückenbabys. Aber sie haben sich alle Mühe gegeben.«

»Und diese Geschichte hat ihn zum Lachen gebracht? Was für ein Scheiß …«

»Vorsicht, du sprichst immerhin von meinem Vater. Oder Onkel oder Stiefvater oder dem Kerl ein Stück die Straße runter.«

»Jetzt versteh ich’s, Sergeant«, sagte Heikel. »Ist gut. Ich versteh’s. Davon wäre jeder fürs Leben gezeichnet.«

»Die Geschichte ist noch nicht zu Ende, Korporal. Bin noch nicht an den Punkt gekommen, um den es geht. Schau, ich habe diese verdammten Spinnen gefressen. Hab sie gegessen wie Süßigkeiten. Anscheinend war mein Bauch noch mehr angeschwollen als mein Kopf, und deshalb habe ich auch kaum noch Luft bekommen – die haben mich noch gebissen, während ich sie schluckte.

Dann haben sie also die Heilerin geholt, und die hat große Eisklötze heraufbeschworen. In meinem Mund. Hinten im Rachen. Und um meinen Hals herum. Man erzählt, ich hätte wegen des ganzen Eises einen Schlag bekommen. Dabei wäre der Teil meines Gehirns kaputtgegangen, der einem sagt, wann man aufhören sollte.« Sie sah zum heller werdenden Himmel hinauf. »Sie sagten, ich hätte mit sechs zum ersten Mal einen Krug aus Vaters Vorrat gestohlen. War nachher so besoffen, dass sie die Heilerin ein zweites Mal holen mussten. Und da hat sie mich auch innerlich untersucht und mir gesagt, dass ich noch viel Ärger bekommen würde im Leben.«

Eine Hand strich über ihren Oberarm. »Das ist eine herzzerreißende Geschichte, Sergeant.«

»Echt?« Vermutlich schon. Klar, habe ich mir gerade aus den Fingern gesaugt. Bisschen Mitleid rauskitzeln, dieses herrliche Mitgefühl in ihren süßen kleinen Gesichtern sehen. Ab jetzt verzeihen die mir alles.

Warum hasse ich Spinnen? Götter, wer hasst die nicht? Was für eine dumme Frage.

»Gesichter im Fels«, sagte Urugal der Gewobene, der auf dem Boden kauerte und Muster in den harten Boden ritzte. »Sieben von den Toten Feuern. Die Ungebundenen. Das sind unsere Titel – wir, die T’lan Imass, die aus ihren Clans verstoßen wurden. Wir, die wir in den Kriegen versagt haben. Wir, die wir dazu verflucht sind, Zeugen zu sein.«

Nom Kala drehte sich um und blickte zum Lager der Menschen zurück – die aufgelöste Kolonne bildete eine krakelige Linie auf dem harten, steinigen Boden. Die Bewegungen erstarben, die zunehmende Hitze raubte noch die letzte Regung. Die Klumpen aus hingestreckten Körpern warfen lang gezogene Schatten.

»Wir haben einen Ritter der Ketten gewählt«, fuhr Urugal fort, »und durch seinen Willen wurden wir aus unserem Gefängnis befreit, und durch seinen Willen werden die Ketten eines Tages zerbrechen. Dann haben wir auf die Heiligung des Hauses der Ketten gewartet.«

»Dieser Ritter«, knurrte Kallt Urmanal, »ist er jetzt bei uns?«

»Nein, aber er erwartet uns«, gab Urugal zurück. »Seine Reise war lang, und bald wird unser Schicksal ihm vor die Füße fallen. Doch, ach, der Gefallene befiehlt ihm nicht, und der König in Ketten hat sich von unserer Sache abgewendet – denn der König des Hauses ist verflucht, und seine Ketten werden niemals zerbrechen. Wir glauben, dass er nicht lange auf dem Thron sitzen wird. Deshalb verwerfen wir ihn.«

Beroke Sanfte Stimme sagte: »Der Ritter ist ein Verächter der Ketten, doch er versteht immer noch nicht. Es gibt viele Ketten, die brutal einschneiden, die auf boshafte Weise versklaven. Doch gibt es auch andere Ketten, und das sind diejenigen, die wir zu tragen uns entscheiden – nicht aus Furcht oder Unwissen. Es sind die edelsten Ketten. Ehre. Tugend. Treue. Viele werden sich dem Haus der Ketten nähern, nur um an seiner Schwelle zu zaudern, denn es verlangt eine innere Kraft von uns, die wir nur selten nutzen. Wenn uns Leid erwartet, braucht es großen Mut, um weiterzugehen, um einzutreten in dieses unnachgiebige, unversöhnliche Reich.«

Urugal hatte sieben Zeichen in den Boden geritzt. Jetzt zeigte er nacheinander auf sie und sagte: »Die Gefährtin. Die, die uns vertraut ist. Der Plünderer – da sind zwei Gesichter. Ein Mann. Eine Frau. Ritter, von dem haben wir schon gesprochen. Die Sieben von den Toten Feuern, die Ungebundenen – zunächst noch wir T’lan Imass, aber das wird sich ändern. Der Krüppel, er, dessen Geist kriechen muss, um dem heiligen Leben in ihm zu dienen. Der Aussätzige, dasjenige, das zugleich lebt und tot ist. Der Narr, die Bedrohung aus dem Inneren. Also alle außer dem Ritter wandeln unter den Sterblichen unter unserer Obhut. Hier. Jetzt.«

Nom Kala betrachtete die Zeichen. »Aber Urugal, sie sterben doch alle.«

»Und es geht kein Wind, der uns tragen könnte«, sagte Beroke. »Wir können nicht zu dem gelangen, was vor uns liegt.«

»Und deshalb können wir ihnen keine Hoffnung bringen.«

Kallt Urmanal reagierte auf Urugals Schlussfolgerung mit einem Knurren. »Wir sind T’lan Imass, was wissen wir schon von Hoffnung?«

»Sind wir dann verloren?«, fragte Nom Kala.

Die anderen schwiegen.

»Ich habe einen Gedanken«, sagte sie. »Es ist so, wie Kallt sagt – wir sind keine Geschöpfe der Hoffnung. Wir können ihnen nicht geben, was wir vor so langer Zeit aufgegeben haben. Diese sterblichen Menschen werden umkommen, wenn wir sie nicht retten können. Bestreitet das einer von euch?«

»Das tun wir nicht«, sagte Urugal.

»Und deshalb« – Nom Kala trat nach vorn und verwischte das Muster im Staub mit einem Skelettfuß – »wird das Haus der Ketten sterben.«

»In einem anderen Zeitalter wird es wieder zum Leben erwachen.«

»Wenn wir es sein müssen – und wir möchten es sein, oder? Wenn wir es sein müssen, Ungebundene, dann haben wir keine Wahl. Wir müssen zur Mandata gehen.«

»Um ihr was zu sagen?«, verlangte Urugal zu wissen.

»Nun, wir müssen sie anlügen.«

Eine Zeit lang sagte niemand etwas.

Nom Kala betrachtete das Lager, die lang gezogenen Schatten. »Lasst uns versuchen, noch einen weiteren Tag herauszuschinden.«

»Was bringt uns ein weiterer Tag?«

»Das weiß ich nicht, Urugal der Gewobene. Manchmal entspringt die Hoffnung einer Lüge. So sei es. Wir werden sie anlügen.«

Ruthan Gudds Blick folgte Lostara Yil, als diese sich der Mandata näherte. Die beiden Frauen standen da und beobachteten den Osten, als wollten sie sich dem grausamen Morgengrauen widersetzen. Er fragte sich, was Tavore auf den Beinen hielt. Jede Nacht zog sie los, marschierte ohne Pause, und allein mit der Kraft ihres Willens schleppte sie eine ganze Armee hinter sich her. Solange sie nicht ins Taumeln geriet, taten es auch die Soldaten hinter ihr nicht. Es war zu einer Schlacht geworden, einem lautlosen Krieg. Und sie gewinnt ihn. Jede Leiche, die liegen bleibt, bezeugt dies aufs Neue.

Aber wie lange noch kann sie das durchhalten? Schau dir die aufgehende Sonne an, Mandata, und die Leere darunter. Wenn Leute von Orten sprechen und sie unbarmherzig und tödlich nennen, dann sind das nicht nur Geschichten. Manchmal ist es die Wahrheit, und die Warnungen sind ehrlich gemeint. Es gibt Orte, die einen umbringen. Und wir haben einen davon gefunden.

»Was meint Ihr, was sie miteinander reden?«, fragte Skanaroa.

Er sah auf sie herab und kniff dabei die Augen zusammen. »Schlaf, meine Liebe.« Er betrachtete sie weiter, wie sie den Kopf wieder auf dem harten Boden ablegte und die Augen schloss.

Nicht mehr lange. Und jetzt ist es zu spät – ich kann dich nicht retten. Ich kann dich nicht einfach entführen, denn du würdest es nicht schaffen. Er fragte sich, ob er diese Wüste ganz alleine verlassen würde. Als einziger Überlebender, der sechstausend Leichen zurückließ. Mit einem verdammten Otataral-Schwert in der Hand für den Tag, an dem er es dereinst brauchen würde. Ja, Ruthan Gudd, schließlich war der schon früher mal eine Ein-Mann-Armee. Jetzt ist er es halt wieder. Er hob den Blick und beobachtete die beiden Frauen, die zwanzig Schritte von ihm entfernt standen, und runzelte die Stirn. Lostara – sie war von einem Gott besessen. Ist sie deshalb jetzt zäher als davor? Wer weiß? Aber sie wirkt, als wäre sie in einer besseren Verfassung als Skanaroa. Auch als die Mandata.

»Bitte, legt Euch neben mich.«

Ruthan zuckte zusammen. Er fuhr sich durch den Bart. »Ja. Gleich.«

»Geliebter?«

»Gleich.« Er ging zu Tavore und Lostara hinüber.

Sollten sie sich unterhalten haben, dann nicht mit Worten. Die Mandata hörte ihn kommen und drehte sich zu ihm um. »Hauptmann. Die Eisrüstung, die Ihr heraufbeschworen habt …«

»Hier nicht, Mandata. Hier geht gar nichts.«

Ihr Blick wurde ausdruckslos. »Aber Ihr werdet … es weiter probieren.«

Lostara Yil hustete und sagte dann: »Ruthan, die T’lan Imass verneigen sich vor Euch. Sie geben Euch den Titel eines Älteren.«

»Ich bin kein Gott, weder ein Älterer noch sonst einer, Lostara. Es tut mir leid. Aber wäre es nicht schön, einer zu sein? Für uns alle. Einfach nur … dem allen hier enthoben zu sein. Die T’lan Imass werden zurechtkommen, wenn …«

»Ihr auch«, unterbrach ihn die Mandata. »Und doch seid Ihr kein Gott.«

»Wir suchen uns nicht aus, vom wem wir geboren werden.«

»In der Tat. Aber wer sind Eure Eltern?«

Er kratzte sich energisch den Bart. »Mandata, spielt das eine Rolle? Es kann durchaus sein, dass diese Wüste mich nicht umbringt. Aber es ist genauso wahrscheinlich, dass sie es tut.«

»Ihr werdet die Stadt mit den Brunnen erreichen.«

»Werde ich das?« Ruthan schüttelte den Kopf. »Lasst mich ehrlich zu Euch sein. Ich verstehe nicht, wie es diese Kinder so weit geschafft haben. Was hat Badalle gesagt? Zehn Tagesreisen entfernt? Aber Icarias befindet sich zwei, wenn nicht sogar drei Wochen von hier entfernt.«

»Woher wisst Ihr das?«

Er verzog das Gesicht. »Ich war einst Gast der Jaghut, die zusammen mit einer Flüchtlingsenklave der K’Chain Che’Malle in Icarias wohnten. Es bleibt die schlichte Schlussfolgerung, Mandata, dass die Kinder die Strecke, die sie zurückgelegt haben, nur mithilfe eines Gewirres bewältigen konnten.«

Tavore wandte sich an Lostara. »Bringt mir das Mädchen. Bringt sie zu mir.«

»Jawohl, Mandata.«

Als sie gegangen war, fixierte Tavore Ruthan mit durchdringendem Blick. »Ein Gewirr.«

»Was unmöglich ist, ich weiß.« Er sah einen Funken Hoffnung in ihren Augen und schüttelte den Kopf. »Nein, Mandata. Die Wüste ist leer gesaugt, und wenn Ihr nicht aufpasst, könnte alles noch viel schlimmer werden.«

»Schlimmer? Erklärt mir, wie es noch schlimmer werden soll, Hauptmann.«

Er sah weg, sah zu der Stelle, wo Skanaroa schlief, und seufzte. »Zieht Euer Schwert, Mandata.«

»Was?«

»Nehmt Euer Otataral-Schwert aus der Scheide.«

Sie hatte die Klinge aus dem Futteral gezogen, ehe Ruthan ihr Handgelenk packen konnte. Und er sank würgend auf die Knie und drehte den Kopf weg.

Tavore stieß das Schwert wieder zurück in die Scheide und taumelte einen Schritt zurück. »Götter!«, keuchte sie.