Das Spiel der Götter (3) - Steven Erikson - E-Book

Das Spiel der Götter (3) E-Book

Steven Erikson

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Beschreibung

Das Jahr des Wirbelwinds, des lange prophezeiten großen Aufruhrs, ist angebrochen und erschüttert das Reich der Sieben Städte in seinen Grundfesten. Die Seherin Sha´ik sammelt ihre Armee um sich, das ganze Land rebelliert gegen das Joch der malazanischen Eroberer, und inmitten dieses chaotischen Hexenkessels versucht der unerfahrene Kommandant Coltaine mit seinen Leuten verzweifelt, eine vieltausendköpfige Flüchtlingstruppe in Sicherheit zu bringen. Doch während die erschöpften malazanischen Soldaten um das Leben ihrer Schützlinge kämpfen, erfüllt sich in der heiligen Wüste Raraku das Schicksal der jungen Felisin - und das jenes uralten Wanderers, der ein schreckliches Geheimnis hütet, dessen Enthüllung katastrophale Folgen haben könnte.

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Seitenzahl: 862

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Deadhouse Gates. A Tale of the Malazan Book of the Fallen« (Books 3+4) bei Bantam Press, London
Copyright © der Originalausgabe 2000 by Steven Erikson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München. Umschlaggestaltung: Melanie Miklitza, Inkcraft, München Umschlagillustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft, München Satz: deutsch-türkischer fotosatz, BerlinRedaktion: Marie-Luise Bezzenberger V. B. Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 978-3-641-08985-6V004
www.blanvalet-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Buch

Das Jahr des Wirbelwinds, des lange prophezeiten großen Aufruhrs, ist angebrochen und erschüttert das Reich der Sieben Städte in seinen Grundfesten. Die Seherin Sha’ik sammelt ihre Armee um sich, das ganze Land rebelliert gegen das Joch der malazanischen Eroberer, und inmitten dieses chaotischen Hexenkessels versucht der unerfahrene Kommandant Coltaine mit seinen Leuten verzweifelt, eine vieltausendköpfige Flüchtlingstruppe in Sicherheit zu bringen. Doch während die erschöpften malazanischen Soldaten um das Leben ihrer Schützlinge kämpfen, erfüllt sich in der heiligen Wüste Raraku das Schicksal der jungen Felisin – und das jenes uralten Wanderers, der ein schreckliches Geheimnis hütet …

 

Die Fortsetzung des neuen großen Fantasy-Zyklus – ein sinfonisches Epos ohnegleichen.

 

»Steven Erikson ist ein großartiger Autor. Ich habe DIE GÄRTEN DES MONDES mit allergrößtem Vergnügen gelesen. Meine Bitte an Steven Erikson: Schreib schneller!«

Stephen R. Donaldson

Autor

Steven Erikson wurde in Kanada geboren, lebt jedoch seit vielen Jahren mit seiner Familie in der Nähe von London. Der ausgebildete Anthropologe und Archäologe legte 1999 seinen weltweit beachteten Debütroman »Die Gärten des Mondes« vor.

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorBuch Eins - Die Kette der Hunde
Kapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel Vier
Buch Zwei - Die Tore des Totenhauses
Kapitel FünfKapitel SechsKapitel SiebenKapitel AchtKapitel NeunKapitel ZehnKapitel ElfKapitel ZwölfKapitel DreizehnKapitel Vierzehn
EpilogDramatis Personae
Auf dem Pfad der HändeDie MalazanerWickanerDie Roten KlingenAdlige in der Kette der Hunde (Malazaner)Gefolgsleute der ApokalypseAndere
Glossar
Stämme im Reich der Sieben StädteAusgewählte Begriffe aus der Sprache im Reich der Sieben Städte (Bisbrha und Debrahl)OrtsnamenDie Welt der MagieDie Älteren GewirreTitel und GruppenVölker (menschlich und nicht menschlich)Die Drachenkarten (Das Fatid) und die mit ihnen in Beziehung stehenden AufgestiegenenAufgestiegene
DanksagungenCopyright

Dieses Buch ist zwei ganz besonderen Männern gewidmet: David Thomas jr., der mich in England willkommen geheißen und mit einem gewissen Agenten bekannt gemacht hat; und Patrick Walsh, jenem Agenten, mit dem er mich bekannt gemacht hat. Ihr habt mehrere Jahre viel Vertrauen bewiesen, und dafür danke ich euch beiden.

Buch Eins

Die Kette der Hunde

Als der Sand blind tanzte, erhob sie sich aus dem Gesicht einer zornigen Göttin

Kapitel Eins

Sucht ihr die zerfallenen Knochen der T’lan Imass, so nehmt in eine Hand all den Sand der Raraku

 

Die Heilige WüsteAnonym

 

Kulp fühlte sich wie eine Ratte in einem großen Zimmer, in dem es von Ogern nur so wimmelte, von Schatten umgeben und andauernd in Gefahr, unter einem Fuß zertreten zu werden. Niemals zuvor hatte sich das Meanas-Gewirr so … beladen angefühlt, wenn er es betreten hatte.

Es waren Fremde hier, Eindringlinge … Mächte, die dieser Sphäre so feindselig gesinnt waren, dass eine alles umfassende, zornige Atmosphäre herrschte. Die Essenz seines Selbst, die durch das Gewebe geschlüpft war, war nur noch eine kauernde, geduckte Kreatur. Dabei war alles, was er fühlen konnte, die Gewissheit, dass hier mehrmals etwas Wildes, Mörderisches durchgezogen war; er spürte das wirbelnde Kielwasser, das die Pfade markierte, die das Unwillkommene genommen hatte. Seine Sinne schrien ihm zu, dass er – zumindest für den Augenblick – allein war, dass die dunstige, sich in alle Richtungen flach ausdehnende Landschaft bar allen Lebens war.

Trotzdem zitterte er vor Entsetzen.

Mit einer geisterhaften Hand griff er in seinem Geist zurück nach seinem Körper und fand die fühlbare Bestätigung des Ortes, an dem er existierte, spürte das Blut, das durch seine Adern strömte, das Gewicht von Fleisch und Knochen. Er saß mit übereinander geschlagenen Beinen in der Kapitäns-Kajüte der Silanda, und ein erschöpfter, unruhiger Heboric wachte über ihn, während die anderen an Deck warteten und dabei unaufhörlich den an allen Seiten von nichts unterbrochenen, unbarmherzig flachen Horizont beobachteten.

Sie mussten einen Weg nach draußen finden. Das gesamte ältere Gewirr, in dem sie sich wieder gefunden hatten, war überflutet, war ein einziges dickflüssiges, seichtes Meer. Die Ruderer würden die Silanda noch tausend Jahre vorantreiben, bis das Holz in ihren toten Händen verfaulte und die Schäfte brachen, bis das Schiff um sie herum auseinander fallen würde – so lange würde die Trommel dröhnen und die Rücken sich beugen. Zu diesem Zeitpunkt werden wir schon lange tot sein. Wir werden nur noch vermoderter Staub sein. Er musste eine Möglichkeit finden, das Gewirr zu wechseln, nur so konnten sie entkommen.

Kulp verfluchte seine begrenzten Möglichkeiten. Wäre er ein Praktiker von Serc oder Denul gewesen, oder von D’riss oder praktisch jedem anderen Gewirr, das den Menschen zugänglich war, dann hätte er gefunden, was sie brauchten. Aber nicht in Meanas. Hier gibt es keine Meere, keine Flüsse, noch nicht einmal eine klitzekleine Pfütze, beim Vermummten. Aus dem Innern seines Gewirrs versuchte Kulp eine Passage in die Welt der Sterblichen zu finden oder zu schaffen … und das erwies sich als problematisch.

Sie waren durch besondere Gesetze gebunden, durch natürliche Regeln, die mit dem Prinzip von Ursache und Wirkung zu spielen schienen. Wären sie mit einem Wagen unterwegs gewesen, hätte die Passage durch die Gewirre sie unfehlbar zu einem trockenen Weg geführt, denn die Ur-Elemente behaupteten eine störrische Übereinstimmung quer durch alle Gewirre. Erde zu Erde, Luft zu Luft, Wasser zu Wasser.

Kulp hatte Gerüchte gehört, wonach es manchen Hohemagiern gelungen sein sollte, diesen unbegrenzten Gesetzen ein Schnippchen zu schlagen, und vielleicht verfügten auch die Götter und andere Aufgestiegene über solche Mittel. Aber sie standen so hoch über einem einfachen Kader-Magier wie die Schmiedewerkzeuge eines Ogers über einer sich duckenden Ratte.

Seine andere Sorge galt der Größe der Aufgabe an sich. Eine Gruppe von Gefährten durch sein Gewirr zu ziehen, war zwar schwierig, aber durchaus machbar. Doch ein ganzes Schiff! Er hatte gehofft, eine Eingebung zu bekommen, sobald er sich erst einmal im Meanas-Gewirr befand, einen Geistesblitz, der ihm eine einfache, elegante Lösung zeigen würde. Mit der ganzen Anmut der Poesie. Hat nicht Fisher Kel’Tath selbst einst gesagt, dass Poesie und Zauberei die beiden Schneiden der Klinge im Herzen eines jeden Mannes sind? Aber wo sind dann meine magischen Phrasen?

Kulp musste verbittert zugeben, dass er sich innerhalb des Meanas-Gewirrs genauso dumm vorkam wie in der Kajüte des Kapitäns. Die Kunst der Illusion besitzt eine eigene Anmut. Es muss einfach eine Möglichkeit geben, uns hier … herauszumogeln. Der Widerspruch zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist, ist die Synergie im Geist eines Sterblichen. Und größere Kräfte? Kann die Wirklichkeit selbst genarrt und dazu gebracht werden, auf einer Unwirklichkeit zu bestehen?

Seine schreienden Sinne änderten die Tonhöhe. Kulp war nicht mehr allein. Die dicke, geschwollene Luft des Meanas-Gewirrs – wo Schatten die Konsistenz von Mattglas hatten und es ein Gefühl ekstatischen Erschauerns erzeugte, durch sie hindurchzuschlüpfen – hatte begonnen, sich erst auszubeulen und dann zu beugen, als würde etwas Großes erscheinen und die Luft vor sich herschieben. Und was auch immer es sein mochte, es kam sehr schnell näher.

Plötzlich stieg ein Gedanke in dem Magier auf. Und zwar einer voller … Eleganz. Bei Toggs Zehen, kann ich das tun? Druck aufbauen, dann ein müßiges Kielwasser, eine bestimmte Strömung, ein bestimmtes Fließen. Beim Vermummten, es ist zwar kein Wasser, aber es ist ziemlich nahe dran. Das hoffe ich zumindest.

Er sah Heboric erschrocken aufspringen und sich den Kopf an einem niedrigen Kreuzbalken der Kajüte stoßen. Kulp schlüpfte zurück in seinen Körper und stieß einen rasselnden, keuchenden Atemzug aus. »Es geht gleich los, Heboric. Sorg dafür, dass alle bereit sind!«

Der alte Mann rieb sich mit einem seiner Armstümpfe den Hinterkopf. »Bereit? Bereit wofür, Magier?«

»Für alles Mögliche.«

Kulp schlüpfte wieder hinaus, kletterte mental erneut an seiner Ankerkette im Meanas-Gewirr zurück.

Der Unwillkommene kam näher, und er strahlte so viel Macht aus, dass die fiebrige Atmosphäre zu zittern begann. Der Magier sah, wie nahe gelegene Schatten vibrierten und sich auflösten. Er spürte, wie sich in der Luft eine Ungeheuerlichkeit aufbaute, genau wie in der lehmigen Erde unter seinen Füßen. Was auch immer durch sein Gewirr zog, hatte Aufmerksamkeit erregt. Die Aufmerksamkeit von … von wem auch immer – Schattenthron, den Hunden … aber vielleicht sind Gewirre ja auch tatsächlich lebendig. Wie auch immer, jetzt kam es, mit arroganter Gleichgültigkeit.

Kulp musste plötzlich an Sormo denken, an das Ritual in der Nähe von Hissar, bei dem der Waerloga sie in das T’lan-Imass-Gewirr gezogen hatte. Oh, beim Vermummten, ein Wechselgänger oder ein Vielwandler … aber welch eine Macht! Wer im Abgrund verfügt über so viel Macht? Es fielen ihm nur zwei Wesen ein: Anomander Rake, der Sohn der Dunkelheit, und Osric. Beide waren Wechselgänger, und beide waren überaus arrogant. Falls es noch andere geben sollte, hätte er von ihren Aktivitäten gehört, dessen war er sich sicher. Krieger reden über Helden. Magier reden über Aufgestiegene. Er hätte ganz bestimmt davon gehört.

Rake war in – oder besser über – Genabackis, und von Osric erzählte man sich, dass er vor ungefähr einem Jahrhundert zu einem Kontinent weit im Süden gereist wäre. Nun, vielleicht ist dieser kaltäugige Bastard ja zurückgekehrt. Egal wie, er würde es herausfinden.

Die Präsenz war da. Seinen geistigen Bauch flach auf den weichen Boden gepresst, legte Kulp den Kopf in den Nacken und starrte nach oben.

Der Drache flog tief über der Erde. Er sah anders aus als jede Darstellung eines Drachen, die Kulp bisher gesehen hatte – das ist weder Rake noch Osric –, mit kräftigen Knochen und Haut, die wie trockene Haifischhaut aussah; seine Spannweite war gewaltiger als die des Sohnes der Dunkelheit – in dessen Adern das Blut einer Drachengöttin fließt –, und die Schwingen hatten nichts von jener sanften, gewölbten Anmut. Die Knochen waren auf verrückte Weise vielgelenkig, wie ein zerschmetterter Fledermausflügel; unter der gespannten, rissigen Haut war jedes knorrige Gelenk gut zu erkennen. Der Kopf des Drachen war ebenso breit wie lang, wie der Kopf einer Viper, mit hoch angesetzten Augen. Es gab keine deutlich abgesetzte Stirn; stattdessen wich der Schädel nach hinten zurück und lief in einer Auszackung im Nacken aus, die fast in Hals- und Kiefermuskeln begraben war.

Ein Drache von rohem Schlag, ein Geschöpf, das die Aura von etwas Uraltem verströmte. Und außerdem war sie untot, wie Kulp nach Luft schnappend feststellte, als seine Sinne die Kreatur ganz und gar erfassten.

Der Magier spürte, dass das Wesen ihn bemerkte, während es mit einem flüsternden Geräusch zwanzig Armspannen über ihn hinwegsegelte. Ein Gefühl, das anfangs sehr stark war und dann schnell schwächer wurde.

Als im Gefolge des Drachen ein schneidender Wind heranwehte, rollte Kulp sich auf den Rücken und stieß zischend die paar Worte Hoher Meanas-Magie aus, die er kannte. Das Gewebe des Gewirrs teilte sich; ein Riss entstand, der kaum breit genug war, um ein Pferd durchzulassen. Doch hinter dem Riss lag ein Vakuum, und aus dem Kreischen des Windes wurde ein Brüllen.

Immer noch zwischen den Sphären hin und her pendelnd, schaute Kulp ehrfürchtig zu, wie sich der schlammüberkrustete, zerschrammte Bug der Silanda in den Spalt schob, ihn völlig ausfüllte. Das Gewebe riss weiter auf, dann noch weiter. Auf einmal wirkte das Schiff schrecklich breit. Die Ehrfurcht des Magiers verwandelte sich zunächst in Furcht, dann in Entsetzen. Oh nein, ich habe es tatsächlich getan.

Milchiges, schäumendes Wasser gischtete um den Rumpf des Schiffs. Das Portal riss nach allen Seiten hin unkontrolliert weiter auf, als das Gewicht eines Meeres dagegendrückte.

Eine Wasserwand türmte sich vor dem Magier auf und schlug einen Augenblick später über ihm zusammen, zerstörte seinen Anker, seine geistige Präsenz. Und dann war er wieder in der stampfenden, knarrenden Kapitänskajüte. Heboric stand im Türrahmen, als wollte er zugleich bleiben und hinausgehen, und suchte verzweifelt nach einem festen Halt, während die Silanda auf den Wogen tanzte.

Der Ex-Priester warf dem Magier einen finsteren Blick zu, als er bemerkte, dass dieser sich wieder aufrichtete. »Sagt mir, dass Ihr das geplant habt! Sagt mir, dass Ihr das hier alles unter Kontrolle habt, Magier!«

»Aber natürlich, Ihr verdammter Idiot! Könnt Ihr das denn nicht sehen?« Er kletterte über die umgestürzten Möbel zur Tür und stieg dann auch über Heboric hinweg. »Haltet die Stellung, alter Mann. Wir zählen auf Euch!«

Heboric zischte ein paar derbe Grobheiten hinter ihm her, als Kulp sich auf den Weg zum Hauptdeck machte.

Das Durchziehen des Unwillkommenen mochte noch voller Bitterkeit toleriert worden sein – zumindest hatten die Mächte in Meanas sich ihm nicht direkt entgegengestellt –, doch angesichts der Verletzung des Gewirrs war es mit der Zurückhaltung vorbei. Dies war ein Schaden in kosmischem Maßstab, eine Wunde, die sich möglicherweise nie mehr reparieren ließ.

Es ist gut möglich, dass ich gerade mein eigenes Gewirr zerstört habe. Wenn die Realität sich nicht narren lässt. Natürlich lässt sie sich narren – das tue ich doch andauernd!

Kulp mühte sich auf das Hauptdeck und eilte zum Achterdeck. Gesler und Stürmisch standen am Steuerruder; beide Männer grinsten, als wären sie komplett schwachsinnig, während sie sich bemühten, den Kurs zu halten. Gesler deutete nach vorn, und als Kulp sich umdrehte, sah er die vage, geisterhafte Erscheinung des Drachen; sein schmaler, knochiger Schwanz schwang hin und her wie eine Schlange, die sich über Sand windet. Noch während Kulp hinschaute, drehte die Kreatur den Kopf und starrte aus toten, dunklen Augenhöhlen in ihre Richtung.

Gesler winkte.

Kulp schüttelte sich, kämpfte sich dann durch den Wind, bis er die Heckreling erreichte, an der er sich mit beiden Händen festklammerte. Der Riss war mittlerweile schon ein ganzes Stück weit weg – aber er ist immer noch deutlich zu sehen, was bedeutet, dass er … oh, beim Vermummten! Wasser gischtete in einem wirbelnden Strom im Kielwasser des Wechselgänger-Drachens. Dass es nicht auf allen Seiten nach außen schwappte, lag nur an der Masse von Schatten, die sich, wie Kulp nun sah, auf die Ränder des Risses stürzten – und dabei vernichtet wurden. Doch es kamen immer mehr. Die Aufgabe, die Bresche zu heilen, war jedoch so groß, dass sie keine Möglichkeit fanden, sich dem Riss zu nähern und die Wunde zu versiegeln.

Schattenthron! Und jeder andere uralte Bastard von einem Aufgestiegenen, der mich hören kann! Mag sein, dass ich in keinen von euch besonders viel Vertrauen habe, aber ihr solltet lieber anfangen, Vertrauen in mich zu haben. Und zwar schnell! Illusionen sind meine Gabe, hier und jetzt! Also glaubt! Die Augen auf den Riss gerichtet, stellte Kulp sich breitbeinig hin, ließ die Heckreling los und hob beide Arme.

Er soll sich schließen … es soll heilen! Die Szene vor ihm waberte, der Riss schloss sich, die Ränder verbanden sich miteinander. Das Wasser floss langsamer. Er setzte mehr Macht ein, wollte, dass die Illusion zur Wirklichkeit wurde. Seine Glieder zuckten. Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus, durchtränkte seine Kleider.

Die Wirklichkeit schlug zurück. Die Illusion verschwamm. Kulps Knie knickten ein. Er packte die Reling, um sich aufrecht zu halten. Er schaffte es nicht. Ich habe keine Kraft mehr. Ich schaffe es nicht … Ich sterbe …

Die Kraft, die ihn von hinten traf, war wie ein echter Schlag auf seinen Hinterkopf. Der Schmerz ließ ihn Sterne sehen. Eine fremde Macht fuhr durch ihn hindurch, riss seinen Körper in die Höhe. Er spürte, wie seine Füße sich vom Achterdeck lösten und er mit gespreizten Beinen in die Luft stieg. Die Macht hielt ihn, ließ ihn schweben, und ein Wille, der so kalt wie Eis war, durchdrang ihn, erfüllte seinen ganzen Körper.

Die Macht war untot. Der Wille, der ihn gepackt hatte, gehörte dem Drachen. Ein Hauch von Unmut schwang darin mit. Der Drache schien nur widerwillig zu handeln, doch er griff dennoch nach Kulps magischer, unlogischer Anstrengung … und gab ihr all die Kraft, die sie brauchte. Und noch mehr.

Kulp schrie. Schmerzen durchzuckten ihn wie gletscherkalte Feuerlanzen.

Die Untoten kümmerten sich wenig um die Einschränkungen, die sterblichem Fleisch auferlegt waren – diese Lektion wurde ihm jetzt bis ins Mark eingebrannt.

Der schon weit entfernte Riss schloss sich. Auf einmal benutzten auch andere Mächte den Magier als eine Art Medium. Aufgestiegene, die Kulps ungeheuerliche Absicht begriffen hatten, kamen herbei, um sich voll dunkler Freude an dem Spiel zu beteiligen. Es ist immer nur ein Spiel, was? Ich verfluche euch verdammten Bastarde, alle miteinander! Ich nehme alle meine Gebete zurück! Hört ihr mich? Der Vermummte soll euch alle holen!

Er stellte fest, dass die Schmerzen verschwunden waren; der Wechselgänger-Drache hatte seine Aufmerksamkeit in dem Augenblick von Kulp abgewandt, da andere Kräfte aufgetaucht waren und seinen Platz eingenommen hatten. Noch immer schwebte der Magier ein paar Fuß über dem Deck, und seine Glieder zuckten, als die Mächte, die ihn benutzten, spielerisch an seiner Sterblichkeit zupften. Diesmal stand nicht die Gleichgültigkeit eines Untoten dahinter, sondern Bosheit. Kulp begann sich nach dem Ersteren zu sehnen.

Schlagartig fiel er, schlug mit beiden Knien auf das dreckverschmierte Deck. Das Werkzeug hat seinen Zweck erfüllt, das Werkzeug wird beiseite geworfen.

Stürmisch war an seiner Seite, wedelte mit einem Weinschlauch vor seinem Gesicht herum. Kulp packte den Schlauch und nahm einen großen Schluck, füllte seinen Mund mit der herben Flüssigkeit.

»Wir fahren im Kielwasser des Drachen«, sagte der Soldat. »Aber wir befinden uns nicht mehr im Wasser. Die Bresche hat sich so fest geschlossen wie der Arsch eines Sappeurs. Was auch immer Ihr getan habt, Magier – es hat geklappt!«

»Es ist noch nicht vorbei«, murmelte Kulp und versuchte, das Zittern seiner Arme und Beine zu unterdrücken. Er nahm noch einen kräftigen Schluck Wein.

»Dann seid lieber ein bisschen vorsichtig mit dem Zeug«, sagte Stürmisch grinsend. »Es kann einem einen ordentlichen Schlag auf den Hinterkopf versetzen …«

»Ich würde den Unterschied wahrscheinlich gar nicht bemerken – mein Kopf fühlt sich jetzt schon an, als ob er aus Brei wäre.«

»Ihr habt in einem blauen Feuer geleuchtet, Magier. Hab so was noch nie gesehen. Das wird ’ne verdammt gute Kneipengeschichte geben.«

»Ah, dann habe ich zu guter Letzt doch noch Unsterblichkeit erlangt. Merk dir das, Vermummter!«

»Könnt Ihr aufstehen?«

Kulp war nicht zu stolz, sich auf den Arm des Soldaten zu stützen, als er sich schwankend auf die Beine mühte. »Lass mir ein bisschen Zeit«, sagte er. »Dann werde ich versuchen, uns aus dem Gewirr … zurück in unsere Sphäre zu bringen.«

»Wird das auch wieder so ein harter Ritt werden, Magier?«

»Das will ich nicht hoffen.«

Felisin stand auf dem Vorderdeck und sah zu, wie der Magier und Stürmisch sich gegenseitig den Weinschlauch zuschoben. Sie hatte die Präsenz der Aufgestiegenen gespürt, die kalte, blutleere Aufmerksamkeit, die an dem Schiff und allen, die sich an Bord befanden, gezupft und gezerrt hatte. Der Drache war der Schlimmste von allen gewesen, eisig und unnahbar. Für den waren wir nicht mehr als Flöhe auf seiner Haut.

Sie drehte sich um. Baudin beobachtete aufmerksam die gewaltige geflügelte Erscheinung, die sich ein Stück voraus ihren Weg bahnte; seine bandagierte Hand ruhte auf der geschnitzten Reling. Was auch immer sich unter dem Kiel des Schiffes befand, es rollte in flüsternden Wogen dahin. Die Ruder bewegten sich noch immer mit unbarmherziger Ausdauer, obwohl ganz klar war, dass die Silanda schneller vorankam, als Muskeln und Knochen es je hätten bewirken können – selbst wenn diese Muskeln und Knochen untot waren.

Schau uns an. Eine Hand voll Schicksale. Wir haben nichts unter Kontrolle, noch nicht einmal unseren nächsten Schritt auf dieser verrückten, schrecklichen Reise. Der Magier hat seine Zauberei, der alte Soldat sein Steinschwert, und die anderen beiden haben ihren Glauben an den Gott mit den Hauern. Heboric … Heboric hat gar nichts. Und das Gleiche gilt für mich. Ich habe Pockennarben und andere Male. So viel zu unseren Besitztümern.

»Das Biest hat etwas vor …« Sie sah zu Baudin hinüber. Ach ja, ich habe den Schläger vergessen. Er hat seine Geheimnisse, was auch immer die wert sein mögen. Wahrscheinlich bitter wenig. »Das Biest hat etwas vor? Was denn? Bist du jetzt auf einmal auch noch ein Fachmann für Drachen?«

»Da vorne öffnet sich irgendwas – da, der Himmel verändert sich, siehst du?«

Sie konnte. Ein Stück voraus hatte die eintönige graue Dunstglocke eine leichte Färbung angenommen; ein bronzefarbener Fleck hatte sich gebildet, der deutlicher und größer wurde. Ich glaube, wir sollten dem Magier Bescheid sagen …

Doch im gleichen Augenblick, als sie sich umdrehte, erblühte der Farbklecks, füllte den halben Himmel aus. Von irgendwo weit hinter ihnen ertönte ein empörter Schrei, der einem das Blut in den Adern gerinnen ließ. Schatten kreuzten ihren Kurs, taumelten zur Seite, als der Bug der Silanda sich durch sie hindurchschob. Der Drache krümmte die Schwingen, verschwand in einem lodernden Inferno bronzefarbenen Feuers.

In einer blitzschnellen Bewegung wirbelte Baudin herum, riss Felisin in seine gewaltigen Arme und duckte sich über sie – und dann wogte das Feuer auch schon über das Schiff hinweg. Sie hörte den Hünen zischend einatmen, als die Flammen sie einhüllten.

Der Drache hat ein Gewirr gefunden … um die Flöhe auf seiner Haut los zu werden!

Sie zuckte zusammen, als die Flammen um Baudins schützenden Körper herumleckten. Sie konnte riechen, wie er brannte – sein Lederhemd, die Haut seines Rückens, seine Haare. Ihre Lungen schmerzten bei jedem Atemzug.

Und dann rannte Baudin los, trug sie dabei mühelos auf den Armen, sprang den Niedergang zum Hauptdeck hinunter. Stimmen riefen. Felisin erhaschte einen raschen Blick auf Heboric – um seine Tätowierungen kräuselte sich schwarzer Rauch –, sah, wie er stolperte, gegen die Backbordreling fiel und über Bord ging.

Die Silanda brannte.

Baudin rannte noch immer, stürzte am Hauptmast vorbei. Kulp geriet in ihr Blickfeld; er packte die Arme des Schlägers und versuchte ihm etwas zuzubrüllen, doch die röhrenden Flammen verschluckten jedes Wort. Doch Baudin musste vor Schmerzen den Verstand verloren haben. Er schlug mit einem Arm um sich, und der Magier wurde rückwärts durch die Flammen geschleudert.

Brüllend torkelte Baudin weiter, setzte seine blinde, hoffnungslose Flucht zum Achterdeck fort. Die Seesoldaten waren verschwunden  – entweder waren sie verbrannt, oder sie starben irgendwo unter Deck. Felisin wehrte sich nicht. Als sie sah, dass jede Flucht unmöglich war, hieß sie die immer häufigeren Bisse der Flammen mehr oder weniger willkommen.

Sie schaute sich einfach nur um, als Baudin mit ihr über die Heckreling stieg.

Sie fielen.

Der Aufprall trieb ihr die Luft aus den Lungen, denn sie landeten nicht im Wasser, sondern in fest zusammengebackenem Sand. Noch immer war sie in Baudins Armen, und so umschlungen rollten sie einen steilen Abhang hinab und kamen erst auf einem Haufen vom Wasser glatt geschliffener Steine zur Ruhe. Das bronzefarbene Feuer war fort.

Während sich um sie herum der Staub langsam wieder senkte, starrte Felisin in helles Sonnenlicht. Fliegen summten um ihren Kopf herum, und das Geräusch war so normal, dass sie zu zittern begann – als ob die Verteidigungsmauern, die sie so verzweifelt in ihrem Innern errichtet hatte, nun zusammenbrachen. Wir sind zurückgekehrt. Nach Hause. Sie wusste es mit instinktiver Sicherheit.

Baudin stöhnte. Langsam schob er sich von ihr weg; die Kiesel unter ihm rutschten knirschend beiseite.

Sie schaute ihn an. Seine Haare waren von seinem Kopf verschwunden, hatten einen kahlen, verbrannten Schädel von der Farbe fleckiger Bronze zurückgelassen. Sein Lederhemd bestand nur noch aus zusammengenähten Streifen, die wie die Reste eines verkohlten Spinnennetzes von seinem breiten Rücken hingen. Wenn überhaupt, war die Haut auf seinem Rücken noch dunkler und fleckiger als die auf seinem Kopf. Die Bandage an seiner Hand war ebenfalls verschwunden, enthüllte geschwollene Finger und blutunterlaufene Gelenke. Unglaublicherweise war seine Haut nicht aufgeplatzt; stattdessen hatte es eher den Anschein, als wäre er vergoldet worden. Gehärtet.

Baudin erhob sich langsam. Jede Bewegung war von fast schmerzhafter Präzision. Sie sah, wie er blinzelte, wie er tief Luft holte. Seine Augen weiteten sich, als er an sich hinunterschaute.

Das ist wohl nicht das, was du erwartet hattest. Der Schmerz lässt nach – ich kann es an deinem Gesicht ablesen –, er ist jetzt nur noch eine Erinnerung. Du hast überlebt, aber irgendwie … fühlt sich alles anders an. Ja, es fühlt sich an. Du fühlst.

Kann dich denn gar nichts umbringen, Baudin?

Er warf ihr einen Blick zu, runzelte dann die Stirn.

»Wir sind noch am Leben«, sagte sie.

Sie folgte ihm dichtauf, als er den Hang wieder emporkletterte. Sie standen in einem Trockental, einer schmalen Schlucht, durch die bei plötzlichen Überschwemmungen die Wassermassen mit einer solchen Wucht hindurchgeschossen waren, dass sie in den Biegungen des Kanals schädelgroße Felsstücke zurückgelassen hatten. Der Einschnitt war noch nicht einmal fünf Schritt breit, und auf den doppelt mannshohen Seiten zeigten sich streifenförmige Schichten verschiedenartiger Sandablagerungen.

Die Hitze war schrecklich. Schweiß rann ihr in Strömen den Rücken hinunter. »Kannst du irgendwo eine Stelle entdecken, an der wir hier herausklettern könnten?«, fragte sie.

»Kannst du Otataral riechen?«, murmelte Baudin.

Eine eisige Hand griff nach ihr. Wir sind wieder auf der Insel – »Nein. Du?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann überhaupt nichts riechen. War nur so ’ne Idee.«

»Keine besonders schöne«, schnappte sie. »Und jetzt sollten wir sehen, dass wir hier herauskommen.« Du erwartest wohl, dass ich mich bei dir bedanke, weil du mir das Leben gerettet hast, stimmt’s? Du wartest auf ein Wort, wenigstens ein einziges Wort, oder vielleicht auch nur auf einen Blick. Aber da kannst du ewig warten. Schläger.

Sie suchten sich einen Weg durch den mit Felsbrocken übersäten Kanal, umgeben von einer summenden Wolke aus Fliegen und dem Echo ihrer Schritte.

»Ich bin … schwerer …«, sagte Baudin nach einigen Minuten.

Sie blieb stehen, drehte sich zu ihm um. »Was?«

Er zuckte die Schultern. »Ich bin schwerer.« Er knetete mit der unverletzten Hand seinen Arm. »Irgendwie … fester … Ich weiß es nicht. Irgendwas hat sich verändert.«

Irgendetwas hat sich verändert. Sie starrte ihn an; die Gefühle in ihrem Innern krümmten sich um unausgesprochene Befürchtungen.

»Ich hätte schwören können, dass ich bis auf die Knochen verbrannt wäre«, sagte er. Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer. »Ich habe mich nicht verändert«, sagte sie, drehte sich um und ging weiter. Sie hörte, dass er ihr einen Augenblick später folgte.

Sie entdeckten einen Seitenkanal, eine Kluft, durch die Wassermassen heruntergerauscht waren und sich dabei durch die Sandsteinschichten gegraben hatten, um sich mit dem Hauptstrom zu vereinigen. Dieser Riss stieg relativ steil an und öffnete sich bereits nach ungefähr zwanzig Schritten. Sie tauchten am Rande einer stumpfen Hügelkette auf, die auf ein weites Tal hinausschaute, dessen Boden von der Hitze aufgesprungen war. Weitere Hügel, schroffer und zerklüfteter, erhoben sich auf der anderen Seite des Tals. Sie waren durch die aufsteigenden Hitzeschleier nur verschwommen zu erkennen.

Etwa fünfhundert Schritt von ihnen entfernt stand eine Gestalt in der Trockenpfanne. Zu ihren Füßen lag ein weiterer Körper.

»Es ist Heboric«, sagte Baudin blinzelnd. »Der, der steht.«

Und was ist mit dem anderen? Ist er tot oder am Leben? Und wer ist es?

Seite an Seite gingen sie auf den ehemaligen Priester zu, der sie mittlerweile entdeckt hatte und ihnen entgegenblickte. Auch von seinen Kleidern hatte das Feuer nur verkohlte Fetzen übrig gelassen. Doch unter dem Netz aus Tätowierungen war seine Haut völlig unversehrt.

Als sie näher kamen, strich Heboric sich über den eigenen kahlen Schädel. »Steht dir gut, Baudin«, sagte er mit einem schiefen Grinsen.

»Was?«, sagte Felisin in beißendem Tonfall. »Wollt ihr beide jetzt eine Bruderschaft gründen?«

Die Gestalt zu Füßen des alten Mannes war Kulp, der Magier. Felisin warf ihm einen Blick zu. »Er ist tot.«

»Noch nicht ganz«, erwiderte Heboric. »Er wird es überleben, aber er hat einiges abbekommen, als er über Bord gegangen ist.«

»Dann weck ihn auf«, sagte Felisin. »Ich habe nicht vor, in dieser Hitze rumzustehen und zu warten, bis er aus seinem Schönheitsschlaf aufwacht. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, alter Mann: Wir sind wieder in einer Wüste. Und das bedeutet, dass wir Durst bekommen werden, mal ganz davon abgesehen, dass wir nichts zu essen und auch sonst nichts haben. Und zu guter Letzt wissen wir noch nicht einmal, wo wir uns eigentlich befinden –«

»Im Kernland«, unterbrach Heboric sie. »Im Reich der Sieben Städte.«

»Woher willst du das wissen?«

Der ehemalige Priester zuckte die Schultern. »Ich weiß es einfach.«

Kulp stöhnte und setzte sich auf. Während er mit einer Hand behutsam eine Beule über seinem linken Auge betastete, blickte der Magier sich um. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich.

»Die Siebte Armee hat gleich da drüben ihr Lager aufgeschlagen«, sagte Felisin.

Für einen Augenblick schien er ihr wirklich zu glauben, dann lächelte er sarkastisch. »Wirklich sehr witzig, Mädchen.« Er mühte sich auf die Beine und schaute sich noch einmal um, ließ seine Blicke ringsum den Horizont entlangwandern. Dann legte er den Kopf in den Nacken und schnüffelte. »Wir sind auf dem Festland«, erklärte er.

»Warum sind eigentlich all diese weißen Haare nicht verbrannt?«, fragte Felisin. »Ihr seid noch nicht einmal angesengt.«

»Das Gewirr dieses Drachen – was war das?«, fragte Heboric.

»Das würde ich verdammt noch mal selbst gerne wissen«, gab Kulp zu und strich sich mit einer Hand durch seinen weißen Haarschopf, als müsste er sich vergewissern, dass er noch da war. »Vielleicht Chaos  – oder auch ein Sturm aus Chaos zwischen den Gewirren –, ich weiß es nicht. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Nicht, dass das viel zu sagen hätte, schließlich bin ich kein Aufgestiegener …«

»Das würde ich auch sagen«, murmelte Felisin.

Der Magier sah sie blinzelnd an. »Die Pockennarben in deinem Gesicht verschwinden allmählich.«

Dieses Mal war es an ihr, verblüfft zu sein.

Baudin gab einen grunzenden Laut von sich.

Sie wirbelte zu ihm herum. »Was ist daran so witzig?«

»Nun, ich hab’s gesehen – aber es macht dich kein bisschen hübscher.«

»Das reicht jetzt«, sagte Heboric. »Es ist Mittag, das bedeutet, dass es noch heißer werden wird, bevor es endlich kühler wird. Wir müssen irgendwo Schutz suchen.«

»Habt ihr irgendein Lebenszeichen von den Soldaten gesehen?«, fragte Kulp.

»Sie sind tot«, sagte Felisin. »Sie sind unter Deck gegangen, nur hat das Schiff lichterloh gebrannt. Was soll’s, drei Mäuler weniger zu stopfen.«

Niemand antwortete ihr.

Kulp übernahm die Führung. Offensichtlich wählte er die weiter entfernt gelegene Hügelkette als Ziel. Die anderen folgten ihm wortlos.

Zwanzig Minuten später hielt Kulp inne. »Wir sollten lieber ein bisschen schneller gehen. Ich kann riechen, dass sich ein Sturm zusammenbraut.«

Felisin schnaubte. »Alles, was ich riechen kann, ist Schweiß. Du bist mir zu nahe, Baudin – geh weg.«

»Ich bin mir sicher, dass er das tun würde, wenn er könnte«, murmelte Heboric. In seinem Tonfall schwang so etwas wie Mitgefühl mit. Einen Augenblick später schaute er überrascht auf, als hätte er gar nicht vorgehabt, diesen Gedanken laut auszusprechen. Sein Krötengesicht verzog sich bestürzt.

Felisin wartete, bis ihr Atem wieder etwas ruhiger ging, dann drehte sie sich um und starrte den Schläger an.

Baudins kleine Augen waren wie stumpfe Münzen; sie verrieten nichts.

»Ein Leibwächter«, sagte Kulp und nickte dabei langsam. Seine Stimme klang kalt, als er Heboric aufforderte: »Raus damit! Ich will wissen, wer unser Gefährte hier ist und wem seine Loyalität gehört. Ich hab’s bisher einfach laufen lassen, weil Gesler und seine Soldaten bei der Hand waren. Aber jetzt ist das anders. Das Mädchen hat also einen Leibwächter – warum? Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand sich auch nur einen Deut um das Schicksal einer derart kaltherzigen Kreatur schert, was bedeutet, dass seine Loyalität gekauft ist. Wer ist sie, Heboric?«

Der ehemalige Priester schnitt eine Grimasse. »Die Schwester von Tavore, Magier.«

Kulp blinzelte. »Die Schwester von Tavore? Der Mandata? Und was, im Namen des Vermummten, hatte sie dann in einem Bergwerk zu suchen?«

»Sie hat mich dort hingeschickt«, meldete sich Felisin zu Wort. »Ihr habt Recht – das Ganze hat wenig mit Loyalität zu tun. Ich war nur eine mehr, die in Unta den Säuberungen zum Opfer gefallen ist.«

Der Magier war eindeutig erschüttert. Er fuhr herum und starrte Baudin an. »Du bist eine Klaue, stimmt’s?« Die Luft um Kulp herum schien zu glitzern – Felisin begriff, dass der Magier sein Gewirr geöffnet hatte. Er bleckte die Zähne. »Die Fleisch gewordenen Gewissensbisse der Mandata.«

»Er ist keine Klaue«, mischte Heboric sich ein.

»Was dann?«

»Nun, um das zu erklären, ist ein bisschen Geschichtsunterricht vonnöten …«

»Dann fangt mal an.«

»Es gab da eine alte Rivalität zwischen Tanzer und Hadra«, begann der frühere Priester. »Tanzer hatte eine Geheimorganisation geschaffen, die militärische Unternehmungen wie etwa Feldzüge unterstützen sollte. Und getreu dem imperialen Symbol – die Hand eines Dämonen, die eine Kugel umfasst – hatte er die Mitglieder dieser Organisation seine Krallen genannt. Hadra hat dieses Modell übernommen, als sie die Klaue geschaffen hat. Die Krallen haben sich um äußere Angelegenheiten – außerhalb des Imperiums – gekümmert, wohingegen die Klaue eine Organisation war, die im Inneren gewirkt hat; eine Art Geheimpolizei, ein Netzwerk aus Spionen und Assassinen.«

»Aber die Klaue wird doch auch bei geheimen militärischen Unternehmungen eingesetzt«, sagte Kulp.

»Heutzutage, ja. Als Hadra in Abwesenheit von Kellanved und Tanzer Regentin wurde, hat sie ihre Klauen auf die Krallen angesetzt. Der Verrat hat überaus subtil begonnen – mit einer Reihe fürchterlich verpfuschter Missionen –, aber dann ist irgendjemand zu sorglos geworden, und die ganze Sache ist rausgekommen. Die beiden Organisationen sind aufeinander losgegangen und haben es ausgefochten, bis zum bitteren Ende.«

»Und die Klaue hat gewonnen.«

Heboric nickte. »Aus Hadra wird Laseen, Laseen wird Imperatrix. Die Klauen hocken auf einem Haufen Schädel wie ein Schwarm gut genährter Krähen. Die Krallen sind den gleichen Weg gegangen wie Tanzer. Sie sind tot und dahin … oder, wie immer mal wieder vermutet wird, sie sind so tief untergetaucht, dass es so aussieht, als wären sie ausgelöscht.« Der ehemalige Priester grinste. »Was vielleicht auch für Tanzer höchstpersönlich gilt.«

Felisin musterte Baudin. Eine Kralle. Was hat meine Schwester mit einer geheimen Sekte von Wiedererweckern zu schaffen, die sich immer noch an die Erinnerung an den Imperator und Tanzer klammern? Warum hat sie keine Klaue benutzt? Das kann nur bedeuten, dass sie nicht wollte, dass irgendjemand etwas davon erfährt.

»Es war von Anfang an eine üble Angelegenheit«, sagte Heboric. »Sie musste ihre jüngere Schwester in Ketten legen lassen, als wäre sie ein ganz gewöhnliches Opfer. Sie musste ein Exempel statuieren, um der Imperatrix ihre Loyalität zu beweisen –«

»Nicht nur ihre Loyalität«, unterbrach ihn Felisin. »Die Loyalität des Hauses Paran. Unser Bruder ist ein Renegat, er ist in Genabackis, bei Einarm. Das hat uns … verwundbar gemacht.«

»Es ist alles schief gegangen«, sagte Heboric und starrte dabei Baudin an. »Sie hätte eigentlich gar nicht lange in Schädelmulde bleiben sollen, stimmt’s?«

Baudin schüttelte den Kopf. »Ich kann niemand rausholen, der nicht rausgeholt werden will.« Er zuckte die Schultern, als ob das reichen würde und er nicht vorhätte, sich weiter über das Thema auszulassen.

»Dann gibt es also noch immer Krallen«, sagte Heboric. »Wer ist euer Anführer?«

»Niemand«, antwortete Baudin. »Ich wurde da hineingeboren. Es sind noch ein paar übrig, die sich hier und da rumtreiben; sie sind entweder alt oder verblödet, oder beides. Ein paar erstgeborene Söhne haben … das Geheimnis geerbt. Tanzer ist nicht tot. Er ist aufgestiegen, zusammen mit Kellanved – mein Vater hat es gesehen; er war in der Nacht des Schattenmondes in Malaz.«

Kulp schnaubte, doch Heboric nickte langsam.

»Ich bin mit meinen Vermutungen der Wahrheit sehr nahe gekommen«, meinte der ehemalige Priester langsam. »Anscheinend zu nahe für Laseens Geschmack, wenn man sich so anschaut, was passiert ist. Sie vermutet es oder weiß es sogar, stimmt’s?«

Baudin zuckte die Schultern. »Ich werde sie fragen, wenn ich das nächste Mal mit ihr plaudere.«

»Ich habe keinen Bedarf mehr an einem Leibwächter«, sagte Felisin. »Geh mir aus den Augen, Baudin. Und nimm die Sorgen meiner Schwester mit, wenn du durchs Tor des Vermummten gehst.«

»Mädchen –«

»Sei still, Heboric. Ich werde versuchen, dich zu töten, Baudin. Bei jeder Gelegenheit, die sich mir bietet. Du wirst mich umbringen müssen, um deine Haut zu retten. Verschwinde. Auf der Stelle.«

Der hünenhafte Mann überraschte sie erneut. Er wandte sich nicht an die anderen, sondern drehte sich einfach um und stapfte im rechten Winkel zu der Richtung, in die sie unterwegs waren, davon.

Das war’s. Er verschwindet. Ohne ein einziges Wort verschwindet er aus meinem Leben. Sie starrte hinter ihm her und wunderte sich, warum sie in ihrem Herzen plötzlich einen Stich verspürte.

»Verdammt sollst du sein, Felisin«, stieß der ehemalige Priester wütend hervor. »Wir brauchen ihn mehr, als er uns braucht.«

Kulp meldete sich zu Wort. »Mir wäre wirklich danach, mich ihm anzuschließen und Euch mitzuzerren, Heboric. Wir sollten diese abscheuliche Hexe sich selbst überlassen – und wenn der Vermummte sie holen will, so hat er meinen Segen.«

»Nur zu«, sagte Felisin herausfordernd.

Der Magier beachtete sie überhaupt nicht. »Ich habe die Verantwortung dafür übernommen, Eure Haut zu retten, und dazu stehe ich, denn das bin ich Duiker schuldig. Also liegt es jetzt an Euch.«

Der alte Mann schlang die Arme um seinen Oberkörper. »Sie hat mir das Leben gerettet …«

»Ich habe schon gedacht, du hättest es vergessen«, sagte Felisin höhnisch.

Er schüttelte den Kopf.

Kulp seufzte. »In Ordnung. Ich nehme an, Baudin ist ohne uns sowieso viel besser dran. Wir sollten machen, dass wir weiterkommen, bevor ich noch anfange zu zerfließen. Vielleicht könnt Ihr mir nebenbei ja erklären, was Ihr mit der Bemerkung gemeint habt, Tanzer wäre noch am Leben, Heboric. Das ist eine überaus faszinierende Idee …«

Felisin achtete nicht auf die Worte der beiden Männer, während sie dahinschritt. Das ändert überhaupt nichts, liebe Schwester. Dein geschätzter Agent hat meinen Geliebten ermordet, den einzigen Menschen in Schädelmulde, dem ich zumindest ein bisschen bedeutet habe. Für Baudin war ich nur ein Auftrag, weiter nichts; und was noch schlimmer ist, er war unfähig, ein brummiger, dickschädeliger Narr. Er trägt das geheime Abzeichen seines Vaters mit sich herum – wie erbärmlich! Ich werde dich finden, Tavore. Dort, in meinem Fluss aus Blut. Das verspreche ich –

»… Zauberei!«

Das Wort riss sie aus ihren Gedanken. Sie schaute zu Kulp hinüber. Der Magier hatte seinen Schritt beschleunigt, sein Gesicht war blass.

»Was habt Ihr gesagt?«, fragte sie.

»Ich habe gesagt, dass der Sturm, der sich da hinter uns zusammenbraut, nicht natürlich ist.«

Sie schaute über die Schulter nach hinten. Eine fleckige Mauer aus Sand zerschnitt der Länge nach das Tal. Die Hügel, die sie und Baudin vorhin verlassen hatten, waren verschwunden. Die Mauer rollte einem Leviathan gleich auf sie zu.

»Es ist an der Zeit, zu rennen, würde ich sagen«, keuchte Heboric neben ihr. »Wenn wir es bis zu den Hügeln schaffen –«

»Jetzt weiß ich, wo wir sind!«, brüllte Kulp. »Wir sind in der Raraku! Das da ist der Wirbelwind!«

Gut zweihundert Schritt voraus erhoben sich die zerklüfteten, von Felsbrocken übersäten Hänge der Hügel. Zwischen den einzelnen Kuppen gab es immer wieder tiefe Einschnitte, wie die Abdrücke gigantischer Rippen.

Die drei rannten, obwohl sie wussten, dass sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen würden. Der Wind, der ihnen in den Rücken peitschte, heulte wie ein wahnsinnig gewordenes Wesen. Einen Augenblick später hüllte der Sand sie ein.

 

»Um die Wahrheit zu sagen – wir waren da draußen, weil wir nach Sha’iks Leichnam gesucht haben.«

Fiedler blickte den Trell, der ihm gegenüber saß, stirnrunzelnd an. »Ihren Leichnam? Dann ist sie also tot? Wie ist das geschehen? Und wann?« Warst du das, Kalam? Ich kann es nicht glauben –

»Iskaral Pustl behauptet, dass sie von einem Trupp Roter Klingen aus Ehrlitan ermordet wurde. Zumindest hätten ihm die Drachenkarten das zugeflüstert.«

»Ich hab gar nicht gewusst, dass die Drachenkarten so genau Auskunft über derlei Dinge geben.«

»Soweit ich weiß, können sie das auch nicht.«

Sie saßen auf Steinbänken in einer Grabkammer, die sich mindestens zwei Ebenen unter den Räumen befand, in denen sich der Priester des Schattens mit Vorliebe aufhielt. Die Bänke waren mit ihrer Längsseite an einer roh behauenen Wand befestigt, die einst mit bemalten Fliesen gekachelt gewesen war, und die Vertiefungen in dem Kalkstein darunter zeigten ganz eindeutig, dass die Bänke in Wirklichkeit Sockel waren, die dazu gedacht waren, die Toten darauf abzustellen.

Fiedler zog sein Bein an, streckte die Arme aus und massierte den Knöchel; das Bein war an der Stelle, wo der Knochen wieder zusammenwuchs, immer noch geschwollen. Elixiere und Salben … erzwungene Heilung schmerzt trotzdem. Seine Stimmung war düster; das war sie schon seit Tagen, seit der Hohepriester des Schattens eine Entschuldigung nach der anderen fand, ihren Aufbruch immer weiter hinauszuschieben. Der letzte Vorwand war jetzt gewesen, dass sie noch mehr Vorräte brauchen würden. Auf merkwürdige Weise erinnerte Iskaral Pustl den Sappeur an den Schnellen Ben, den Magier seines Trupps. Wie Ben hantierte auch Pustl mit einer schier endlosen Abfolge von Plänen, unter denen sich immer neue Pläne verbargen. Fiedler stellte sich vor, wie er einen Plan nach dem anderen abschälte, bis er schließlich auf daumenabdruckgroße Schemen stieß, die in verschlungenen Mustern herumwirbelten. Es ist sehr gut möglich, dass seine gesamte Existenz nicht mehr ist als eine Ansammlung von »wenn-dies-dann-das«-Vermutungen. Beim Abgrund des Vermummten, vielleicht sind wir alle nicht mehr als das!

Der Hohepriester brachte es fertig, dass sich in Fiedlers Kopf alles drehte. Er ist genauso schlimm wie der Schnelle Ben und dieser von Togg gesandte Dorn namens Tremorlor. Ein Azath-Haus, genau wie das Totenhaus in Malaz. Aber was sind diese Häuser wirklich? Weiß das vielleicht jemand? Weiß das überhaupt irgendjemand? Es gab nichts weiter als Gerüchte, ein paar düstere Warnungen, und davon nicht allzu viele. Die meisten Menschen taten ihr Bestes, solche Häuser zu ignorieren – die Bewohner von Malaz schienen eine wohlerwogene Ignoranz zu pflegen. »Das ist nur ein verlassenes Haus«, sagen sie. »Da gibt es nichts Besonderes, abgesehen von ein paar Gespenstern im Hof.«Doch einige schauen sich bei diesen Worten ziemlich nervös um.

Tremorlor – ein Azath-Haus. Normale Menschen fangen nicht an, nach solchen Orten zu suchen.

»Was denkst du, Soldat?«, fragte Mappo Runt leise. »Ich habe so viele verschiedene Ausdrücke über dein Gesicht huschen sehen, dass man eine ganze Wand in Dessembraes Tempel damit bepflastern könnte.

Dessembrae. Der Kult von Dassem.

»Mir scheint, ich habe gerade etwas gesagt, das du nicht gerne hörst«, fuhr Mappo fort.

»Irgenwann erreicht ein Mann den Punkt, an dem keine Erinnerung besonders willkommen ist«, sagte Fiedler. Er biss die Zähne zusammen. »Ich glaube, diesen Punkt habe ich mittlerweile erreicht, Trell. Ich fühle mich alt und verbraucht. Pustl führt irgendwas im Schilde – wir sind Teil einer gewaltigen Intrige, der wir wahrscheinlich schon bald zum Opfer fallen werden. Früher konnte ich solche Dinge riechen. Man könnte sagen, ich hatte eine Nase dafür, dass es Ärger geben würde. Aber ich komme nicht dahinter – diesmal nicht. Er bleibt schlicht und ergreifend ein Rätsel für mich.«

»Ich glaube, es hat etwas mit Apsalar zu tun«, sagte Mappo nach einiger Zeit.

»Stimmt. Und das macht mir Sorgen. Ziemlich große Sorgen sogar. Noch mehr Kummer hat sie nicht verdient.«

»Icarium geht der Sache nach«, sagte der Trell, während er auf die gesprungenen, ausgetretenen Bodenfliesen hinunterstarrte. Das Öl in der Laterne ging zur Neige, sodass das Dämmerlicht im Zimmer allmählich zu Dunkelheit wurde. »Ich muss zugeben, ich habe mich gefragt, ob der Hohepriester Apsalar in eine Rolle drängen will, für die sie wie geschaffen scheint …«

»Eine Rolle? Was für eine Rolle?«

»Die Prophezeiung über Sha’ik spricht von einer Wiedergeburt …«

Der Sappeur erbleichte, dann schüttelte er vehement den Kopf. »Nein. Das würde sie nicht tun. Dies ist nicht ihr Land, und die Göttin des Wirbelwinds bedeutet ihr nichts. Pustl kann es sooft versuchen und sie drängen wie er will, das Mädchen wird ihm den Rücken kehren. Merkt Euch meine Worte.« Plötzlich von einer inneren Unruhe befallen, stand Fiedler auf und begann, auf und ab zu gehen. Seine Schritte erzeugten leise, flüsternde Echos. »Wenn Sha’ik tot ist, dann ist sie wirklich tot. Zum Vermummten mit all diesen obskuren Prophezeiungen! Die Apokalypse wird im Sande verlaufen, der Wirbelwind wird wieder zu Boden sinken und noch einmal tausend Jahre schlafen, oder wie lange es eben dauert, bis das nächste Jahr von Dryjhna heraufdämmert …«

»Aber Pustl scheint diesem Aufstand viel Bedeutung beizumessen«, sagte Mappo. »Er ist noch lange nicht vorbei – zumindest scheint er das zu glauben.«

»Wie viele Götter und Aufgestiegene haben ihre Finger in diesem Spiel, Trell?« Fiedler war stehen geblieben; er schaute den alten Krieger nachdenklich an. »Ähnelt sie Sha’ik denn äußerlich?«

Mappo zuckte die gewaltigen Schultern. »Ich habe die Seherin des Wirbelwinds nur ein einziges Mal gesehen, und das aus einiger Entfernung. Sie war hellhäutig für eine, die im Reich der Sieben Städte geboren wurde. Dunkle Augen. Nicht besonders groß oder sonst wie beeindruckend. Man erzählt sich, dass ihre Macht in ihren Augen liegt – oder besser lag. Dunkle, grausame Augen.« Er zuckte erneut die Schultern. »Sie war älter als Apsalar, vielleicht doppelt so alt. Das gleiche schwarze Haar. Einzelheiten sind unbedeutend, wenn es um den Glauben und die dazugehörigen Prophezeiungen geht, Fiedler. Vielleicht muss nur die Rolle wiedergeboren werden.«

»Das Mädchen hat kein Interesse daran, sich am malazanischen Imperium zu rächen«, knurrte der Sappeur und begann wieder auf und ab zu schreiten.

»Und was ist mit dem Gott des Schattens, der früher von ihr Besitz ergriffen hatte?«

»Der ist weg«, schnappte Fiedler. »Und er hat nur ein paar Erinnerungen zurückgelassen; glücklicherweise sehr wenige.«

»Aber jeden Tag entdeckt sie ein paar neue. Stimmt’s?«

Fiedler sagte nichts. Wenn Crokus da gewesen wäre, hätte sein Zorn die Wände erzittern lassen – der Bursche hatte ein aufbrausendes Temperament, wenn es um Apsalar ging. Crokus war jung und von Natur aus alles andere als grausam, doch der Sappeur war sich sicher, dass der Bursche Iskaral Pustl ohne Zögern töten würde, wenn auch nur die Möglichkeit bestand, dass der Hohepriester Apsalar benutzen wollte. Und der Versuch, Pustl zu töten, könnte sich sehr wohl als selbstmörderisch erweisen. Einem Priester in seinem Heim die Stirn zu bieten, war niemals ein besonders kluger Schachzug.

Das Mädchen entdeckte von Tag zu Tag mehr Erinnerungen, das stimmte. Und sie entsetzten sie längst nicht so sehr, wie Fiedler es erwartet  – oder gehofft – hatte. Noch ein beunruhigendes Zeichen. Der Sappeur hatte zwar zu Mappo gesagt, dass Apsalar sich weigern würde, eine solche Rolle zu übernehmen, doch zumindest sich selbst musste er eingestehen, dass er sich dessen eigentlich gar nicht so sicher sein konnte.

Denn mit den anderen Erinnerungen kam auch die Erinnerung an Macht. Und seien wir ehrlich; es gibt auf dieser Welt – wie wahrscheinlich auch auf allen anderen Welten – nur wenige, die dem Versprechen von Macht einfach den Rücken kehren würden. Iskaral Pustl wusste das bestimmt, und dieses Wissen würde jedes Angebot beeinflussen, das er machte. Nimm diese Rolle an, Mädchen, und du kannst ein Imperium ins Wanken bringen …

»Natürlich …«, begann Mappo langsam, lehnte sich gegen die Wand und seufzte, »… können wir auch auf einer ganz falschen …«, er setzte sich wieder aufrecht hin und zog stirnrunzelnd die Brauen zusammen, »…Fährte sein.«

Fiedler starrte den Trell aus zusammengekniffenen Augen an. »Was meint Ihr damit?«

»Der Pfad der Hände. Die Konvergenz der Wechselgänger und Gestaltwandler. Pustl hat irgendwas damit zu tun.«

»Das müsst Ihr mir ein bisschen genauer erklären.«

Mappo deutete mit einem derben Finger auf die Fliesen unter ihren Füßen. »Auf der untersten Ebene dieses Tempels gibt es einen Raum. Sein Fußboden – Steinplatten – weist eine Reihe von eingemeißelten Zeichnungen auf. Das Ganze sieht beinahe so aus wie Drachenkarten. Weder Icarium noch ich haben so etwas je zuvor schon einmal gesehen. Wenn es wirklich ein Spiel sein sollte, dann ist es eine ältere Version. Nicht mit Häusern, sondern mit Festungen; die Kräfte sind elementarer, roher und primitiver.«

»Und was hat das mit Gestaltwandeln zu tun?«

»Man kann die Vergangenheit als eine Art vermodertes altes Buch betrachten. Je näher man dem Anfang kommt, desto brüchiger werden die Seiten. Sie zerfallen einem buchstäblich unter den Händen, und es bleibt einem nichts als eine Hand voll Worte – die meisten davon in einer Sprache, die man noch nicht einmal verstehen kann.« Mappo schloss einen Moment lang die Augen, dann schaute er auf und fuhr fort: »Irgendwo in diesen einzelnen Worten liegt die Geschichte von der Erschaffung der Gestaltwandler – so alt sind die Wechselgänger und Vielwandler schon, Fiedler. Sie waren selbst zurzeit der Älteren schon alt. Keine bestimmte Spezies kann für sich in Anspruch nehmen, sie erschaffen zu haben, und das gilt auch für die vier Gründerrassen: die Jaghut, die Forkrul Assail, die Imass und die K’Chain Che’Malle.

Gestaltwandler können einander nicht ertragen – das heißt, unter normalen Umständen nicht. Es gibt Ausnahmen, aber das muss ich jetzt und hier nicht im Einzelnen ausführen. Doch sie haben alle den gleichen Hunger, und der steckt ihnen so tief in den Knochen wie das bestialische Fieber selbst. Der Wunsch zu herrschen. Der Wunsch, allen anderen Gestaltwandlern zu befehlen, eine ganze Armee aus solchen Kreaturen zu erschaffen – Sklaven der eigenen Begierde. Von der Armee zum Imperium. Einem Imperium der Grausamkeit, wie es noch nie zuvor existiert hat …«

Fiedler grunzte. »Wollt Ihr damit etwa andeuten, ein Imperium aus Wechselgängern und Vielwandlern wäre von Natur aus schlimmer – böser – als irgendein anderes? Ich bin überrascht, Trell. Die Bosheit wächst wie ein Krebsgeschwür in jeder Gesellschaft, sei sie nun menschlich oder nicht menschlich, wie Ihr sehr wohl wisst. Und Bosheit wird immer böser. Welches Böse man auch immer zulässt, es wird schließlich zum Allgemeingut. Das Problem ist, dass es leichter fällt, sich daran zu gewöhnen als es auszumerzen.«

Mappo lächelte zur Antwort, doch es war ein trauriges Lächeln. »Gut gesagt, Fiedler. Als ich von Grausamkeit gesprochen habe, habe ich ein Miasma aus Chaos gemeint. Aber ich gestehe dir zu, dass der Schrecken auch in der Ordnung ganz hervorragend gedeiht.« Er rollte seine Schultern ein drittes Mal, setzte sich aufrechter hin, um die Krämpfe in seinem Rücken zu lösen. »Die Gestaltwandler sammeln sich angesichts der Aussicht auf ein Tor, das ihnen zum Aufsteigen verhelfen kann. Ein Gott der Wechselgänger und Vielwandler zu werden  – das, und nur das strebt jeder Gestaltwandler an, und er wird sich durch nichts davon abhalten lassen. Fiedler, wir glauben, dass dieses Tor hier unten liegt, und wir glauben, dass Iskaral Pustl alles tun wird, um die Gestaltwandler daran zu hindern, es zu finden. Das geht so weit, dass er falsche Fährten in der Wüste legt, indem er die Spur der Handabdrücke nachahmt, die zu jenem Ort führen, an dem sich das Tor befindet.«

»Und Euch und Icarium hat Pustl in diesem Spiel eine besondere Rolle zugedacht?«

»Wahrscheinlich«, gab Mappo zu. Sein Gesicht war plötzlich aschfahl. »Ich glaube, er weiß von uns – das heißt, von Icarium. Er weiß …«

Weiß was? Fiedler war versucht zu fragen, obwohl ihm klar war, dass der Trell es nicht bereitwillig erklären würde. Der Name Icarium war bekannt – nicht unbedingt in weiten Kreisen, aber doch bekannt; ein Wanderer, in dessen Adern Jaghut-Blut floss und um den Gerüchte herumwirbelten wie pechschwarzes Kielwasser – Gerüchte von Verwüstungen, entsetzlichen Morden, der Auslöschung ganzer Völker. Der Sappeur schüttelte innerlich den Kopf. Der Icarium, den er kennen gelernt hatte, ließ diese Gerüchte lächerlich erscheinen. Der Jhag war großzügig und mitfühlend. Wenn er wirklich eine Spur des Entsetzens zurückgelassen hatte, so musste das schon vor langer Zeit geschehen sein – schließlich war die Jugend die Zeit der Ausschweifungen. Dieser Icarium hier war zu weise, trug zu viele Narben, um in den Fluss aus Blut zu stolpern, der mit der Macht untrennbar verbunden war. Was hoffte Pustl, könnte durch diese beiden entfesselt werden?

»Vielleicht seid Ihr und Icarium Pustls allerletzte Verteidigungslinie«, sagte Fiedler. »Falls der Pfad wirklich hier konvergieren sollte. Na klar, die Gestaltwandler daran zu hindern, das Tor zu erreichen, ist eine gute Tat, aber diese Angelegenheit mag sich sehr wohl als tödlich erweisen … oder, wie es scheint, womöglich sogar als noch schlimmer.

»Vielleicht«, gab Mappo bedrückt zu.

»Nun, ihr könntet einfach gehen.«

Der Trell blickte auf; ein gequältes Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Ich fürchte, Icarium befindet sich auf seiner eigenen Suche. Aus diesem Grunde werden wir hier bleiben.«

Fiedler kniff die Augen zusammen. »Ihr beide würdet versuchen zu verhindern, dass das Tor benutzt wird, stimmt’s? Das weiß Iskaral Pustl, und darauf verlässt er sich, nicht wahr? Er hat euren eigenen Sinn für Pflicht und Ehre gegen euch beide eingesetzt.«

»Ein guter Trick. Und in Anbetracht seiner Effektivität ist es gut möglich, dass er ihn noch einmal anwendet – mit euch dreien.«

Fiedler machte ein finsteres Gesicht. »Es wird ihm verdammt schwer fallen, irgendetwas zu finden, dem gegenüber ich so loyal wäre. Ein Soldat zu sein stützt sich zwar auch auf Dinge wie Pflicht und Ehre, aber, beim Vermummten, es treibt einem beides auch ganz schnell wieder aus. Was Crokus angeht – seine Loyalität gehört Apsalar. Und was sie betrifft …« Er verstummte.

»Hm.« Mappo streckte den Arm aus und legte dem Sappeur die Hand auf die Schulter. »Und so kann ich auch den Grund für deine Sorge erkennen, Fiedler. Und ich kann mit dir fühlen.«

»Ihr habt gesagt, ihr würdet uns zu Tremorlor begleiten.«

»Das werden wir auch tun. Es wird eine fürchterliche Reise werden. Icarium hat beschlossen, euch zu führen.«

»Dann existiert es also tatsächlich.«

»Ich hoffe es jedenfalls.«

»Ich denke, es ist an der Zeit, wieder zu den anderen zurückzukehren.«

»Und ihnen von unseren Überlegungen zu erzählen?«

»Beim Atem des Vermummten, bloß nicht!«

Der Trell nickte und stand auf.

Fiedler stieß ein zischendes Geräusch aus.

»Was ist?«, fragte Mappo.

»Die Laterne ist aus. Schon eine ganze Weile. Wir sitzen im Dunkeln, Trell.«

 

Fiedler empfand die Atmosphäre im Tempel als überaus bedrückend. Das mächtige, zyklopenhafte Mauerwerk war in den unteren Ebenen zur Seite geneigt oder hing durch, als krümme es sich unter der Last des darüber liegenden Felsens. Staub rann an einigen Stellen wie Wasser aus den Deckenfugen, hinterließ kleine Pyramiden auf den Fliesen. Fiedler hinkte hinter Mappo her, als sie sich auf den Weg zu der Wendeltreppe machten, die sie wieder hinauf zu den anderen führen würde.

Auf ihrem Weg wurden sie von einem halben Dutzend Bhok’arala beschattet; jede der kleinen Kreaturen hatte einen belaubten Zweig, den sie dazu benutzten, auf dem ganzen Weg die Steine zu kehren und auf sie einzuschlagen. Der Sappeur hätte sich zweifellos viel mehr amüsiert, wenn sie nicht eine solche Perfektion darin erreicht hätten, Iskaral Pustls Verhalten und seine Besessenheit, was Spinnen anging, nachzuahmen – bis hin zu dem Ausdruck grimmiger Konzentration in ihren runden, runzligen schwarzen Gesichtern.

Mappo hatte ihm erklärt, dass die Kreaturen den Hohepriester verehrten. Nicht wie Hunde ihren Herrn, sondern eher wie Akolythen ihren Gott. In ihren linkischen Ritualen wimmelte es von Opfergaben, geheimnisvollen Symbolen und launenhaften Ikonen. Viele Rituale hatten auch mit körperlichen Ausscheidungen zu tun. Wenn du keine heiligen Bücher herstellen kannst, dann stelle einfach das her, was du kannst, würde ich sagen. Die Kreaturen trieben Iskaral Pustl in den Wahnsinn. Er verfluchte sie, und er hatte sich angewöhnt, einen Beutel voller Steine mit sich herumzutragen. Wann immer sich eine Gelegenheit bot, warf er seine Geschosse nach den Bhok’arala.

Die geflügelten Kreaturen sammelten diese gottgesandten Objekte und verehrten sie ganz eindeutig – der Hohepriester hatte den Sack sorgfältig wieder aufgefüllt vorgefunden, als er an diesem Morgen aufgewacht war. Pustl hatte angesichts dieser Entdeckung vor Wut geschäumt.

Mappo wäre unterwegs beinahe über ein Fackeldepot gestolpert. Dunkelheit war für Schatten ein Gräuel. Pustl wollte die Anhänger seines Gottes ermutigen, sie zu begleiten. Mappo und Fiedler zündeten jeder eine Fackel an, obwohl sie sich der tieferen Beweggründe dieser Geste sehr wohl bewusst waren. Während Mappo auch ohne Fackel genug sehen konnte, war Fiedler bisher im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln getappt und hatte sich mit einer Hand am Harnisch des Trell festgehalten.

Sie kamen zu der Wendeltreppe und hielten inne. Die Bhok’arala machten etwa ein Dutzend Schritte im Gang hinter ihnen ebenfalls Halt; sie zwitscherten wild miteinander, fochten offenbar einen obskuren, aber heftigen Streit aus.

»Icarium ist vor kurzem hier entlanggegangen«, sagte Mappo.

»Sind Eure Sinne durch Zauberei geschärft?«, fragte Fiedler.

»Das ist es eigentlich nicht. Eher schon durch Jahrhunderte der Kameradschaft …«

»Das, was Euch mit ihm verbindet, meint Ihr.«

Der Trell grunzte. »Es ist nicht nur eine Kette, es sind tausende, Soldat.«

»Ist eure Freundschaft denn solch eine Bürde?«

»Es gibt Bürden, die man gerne auf sich nimmt.«

Fiedler schwieg einige Atemzüge lang. »Man erzählt sich, dass Icarium regelrecht besessen von der Zeit ist; stimmt das?«

»Ja«

»Er baut bizarre Konstruktionen, um die Zeit zu messen, und verteilt diese Konstruktionen überall auf der Welt.«

»Seine zeitlichen Landkarten, ja.«

»Und er hat das Gefühl, dass er sich seinem Ziel nähert, oder? Er ist kurz davor, seine Antwort zu finden – die Antwort, die Ihr mit allen Mitteln von ihm fern zu halten sucht. Ist das Euer Eid, Mappo? Den Jhag unwissend zu halten?«

»Unwissend, was die Vergangenheit angeht, ja. Seine Vergangenheit.«

»Diese Bemerkung macht mir Angst, Mappo. Ohne Geschichte gibt es kein Wachstum …«

»Stimmt.«

Der Sappeur verstummte erneut. Es gab nichts mehr, was er noch zu sagen gewagt hätte. In diesem riesigen Krieger ist so viel Schmerz. So viel Traurigkeit. Hat sich Icarium niemals gewundert? Niemals diese jahrhundertelange Partnerschaft in Frage gestellt? Was bedeutet dem Jhag überhaupt Freundschaft? Ohne Erinnerungen ist sie nur eine Illusion, eine Abmachung, die auf Vertrauen, und nur auf Vertrauen fußt. Wie um alles in der Welt kann daraus Icariums Großzügigkeit erwachsen?

Sie nahmen ihre Wanderung wieder auf, stiegen die ausgetretenen Steinstufen hinauf. Nach einer kurzen Pause, die – wie Fiedler überzeugt war – von hitzigem Geflüster unterbrochen wurde, verstummten die Bhok’arala und huschten wieder hinter ihnen her.

Als sie auf der Hauptebene ankamen, hörten Mappo und Fiedler das raue Echo einer schreienden Stimme, das vom Altarzimmer her den Gang entlangschallte. Der Sappeur zog eine Grimasse. »Das kann nur Crokus sein.«

»Und ich nehme an, es ist kein Gebet.«

Sie fanden den jungen Dieb aus Darujhistan am Ende seiner Geduld vor. Er hatte Iskaral Pustl vorne an seiner Robe gepackt und drückte ihn gegen die staubige Wand hinter dem Altarstein. Pustls Füße baumelten zehn Zoll über den Bodenfliesen; er trat wild um sich. Ein Stück seitlich von den beiden stand Apsalar mit verschränkten Armen und beobachtete die Szene mit ausdruckslosem Gesicht.

Fiedler trat vor und legte dem jungen Burschen die Hand auf die Schulter. »Du erwürgst ihn, Crokus …«

»Er bekommt nur das, was er verdient, Fiedler!«

»Ich will mich darüber nicht mit dir streiten, aber – nur für den Fall, dass du es noch nicht bemerkt haben solltest – es versammeln sich Schatten.«

»Er hat Recht«, mischte sich Apsalar ein. »Genau, wie ich es dir schon gesagt habe, Crokus. Du bist selbst dem Tor des Vermummten sehr nah.«

Der Daru zögerte; dann schleuderte er Pustl schnaubend von sich. Der Hohepriester schlitterte an der Wand entlang; er keuchte, dann richtete er sich auf und begann, seine Robe zurechtzuzupfen. Er sprach mit krächzender Stimme. »Die unbesonnene Jugend. Ich erinnere mich an mein eigenes melodramatisches Gehabe – damals, als ich noch im Hof von Tante Tulla herumgezottelt bin. Und die Hühnchen gepiesackt habe, wenn sie etwas an den Strohhüten auszusetzen hatten, die ich stundenlang geflochten hatte. Sie waren unfähig, das komplizierte Geflecht zu würdigen, das ich mir ausgedacht hatte. Ich war zutiefst gekränkt.« Er reckte den Kopf, grinste Crokus an. »Sie wird mit meinem neuen, verbesserten Strohhut sehr gut aussehen …«

Fiedler packte Crokus im Sprung und rang mit dem Burschen. Mit Mappos Hilfe hielt er ihn schließlich zurück, während der Hohepriester kichernd davonschlenderte.

Das Kichern verwandelte sich in einen Hustenanfall, der Pustl herumstolpern ließ, als wäre er plötzlich blind. Seine tastende Hand fand eine Mauer, und er sackte wie ein Betrunkener an ihr hinunter. Der Anfall endete mit einem letzten stoßweisen Husten, dann wischte er sich die Augen und blickte auf.