Das Spiel der Götter (9) - Steven Erikson - E-Book

Das Spiel der Götter (9) E-Book

Steven Erikson

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Beschreibung

Das mächtige Königreich Lether erleidet im Krieg gegen die Stämme der Tiste Edur eine Niederlage nach der anderen. Und während sich die feindlichen Truppen unaufhaltsam der Hauptstadt Letheras nähern, erwachen dort uralte finstere Mächte zu neuem Leben ...

Ein furioses Fantasy-Epos von einer dunklen Anderswelt!

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Seitenzahl: 826

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Buch

Es herrscht Krieg zwischen dem Königreich Lether und den vereinigten Stämmen der Tiste Edur – ein Krieg, der völlig anders verläuft, als es sich der sieggewohnte König Diskanar und seine Berater vorgestellt hatten. Denn die Edur unter ihrem anscheinend unsterblichen, in Gold gekleideten Herrscher erweisen sich zunehmend als gefährliche Gegner, die noch dazu auf Dämonen, Schattengespenster und geheimnisvolle magische Kräfte sowie auf die Unterstützung eines abtrünnigen Letherii zurückgreifen können. Immer näher rückt der Krieg an Letheras heran, die Hauptstadt des Königreichs. Und dort erwachen zur gleichen Zeit uralte finstere Kräfte aus einem Jahrtausende währenden Schlaf. Die letzte Schlacht steht bevor, und wie immer sie auch ausgeht – sie wird die Zukunft der Letherii und der Tiste Edur gleichermaßen verändern …

Autor

Steven Erikson, in Kanada geboren, lebte viele Jahre in der Nähe von London, ehe er kürzlich in seine Heimat nach Winnipeg zurückkehrte. Der Anthropologe und Archäologe hat sich mit seiner Fantasy-Saga »Das Spiel der Götter« weltweit eine riesige Fangemeinde erobert.

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorWidmungDanksagungenBuch Drei - All das, was ungesehen ist …
Kapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel VierKapitel FünfKapitel SechsKapitel SiebenKapitel Acht
Buch Vier - Um Mitternacht – die Flut …
Kapitel NeunKapitel ZehnKapitel ElfKapitel ZwölfKapitel DreizehnKapitel Vierzehn
EpilogDramatis Personae
Die Tiste EdurLetherii-Sklaven bei den Tiste EdurDie LetheriiIm NordenIn der Stadt LetherasAndere
Glossar
Titel bei den LetheriiOrte & Gebiete im Königreich LetherStädte, Dörfer und Forts der LetheriiProtektorate der LetheriiBenachbarte KönigreicheBezeichnungen und Redewendungen der LetheriiOrte und Namen der Tiste EdurAndere Namen, Titel und BezeichnungenMythos (Letherii, Edur und andere)Die FestenDie Feste des TiersDie Feste des AzathDie Feste der DrachenDie Feste des EisesDie Leere FesteDie Angelpunkte (neutral)
Copyright

Für Christopher Porozny

Danksagungen

Herzlichen Dank der alten Mannschaft – Rick, Chris und Mark – für ihre frühzeitig geäußerten Kommentare zu diesem Roman. Und an Courtney, Cam und David Keck für ihre Freundschaft. Dank auch wie immer an Clare und Bowen, an Simon Taylor und seine Landsleute bei Transworld; an Steve Donaldson, Ross und Perry; an Peter und Nicky Crowther, Patrick Walsh und Howard Morhaim. Und an das Team von Tony’s Bar Italia, die nun schon den zweiten Roman mit ihrem Kaffee befeuert haben.

Buch Drei

All das, was ungesehen ist …

Der Mann der niemals lächelt zieht seine Netze durch die Tiefe und wir sind versammelt um in der schwindenden Luft den Mund aufzureißen unter dem rüttelnden Geräusch seiner gefürchteten Stimme die von Erlösung spricht in der Mahlzeit der gewährten Gerechtigkeit genährt an dem beladenen Tisch auf dem sich edle Wünsche stapeln Er sagt uns all dies, um die Schneide seiner ewigen Barmherzigkeit zu schärfen und schlitzt uns die Bäuche auf einen nach dem anderen.

Im Königreich der Guten AbsichtenFisher kel Tath

Kapitel Eins

Der Frosch auf dem Münzstapel traut sich nicht zu springen.

Die Sprichworte Umurs, des ArmenVerfasser unbekannt

Fünf Flügel werden dir einen Kriecher einbringen. Ich muss zugeben, dass die Bedeutung dieses Sprichworts sich meinem Verständnis entzieht, Herr.«

Tehol strich sich mit beiden Händen durch die Haare, zerrte an den ineinander verschlungenen Strähnen. »Autsch. Es ist das Ewige Domizil, Bagg. Flügel, fünf an der Zahl, ein Kriecher zu Füßen des Abtrünnigen, zu Füßen des Schicksals. Das Imperium hat sich erhoben. Lether erwacht zu einem neuen Tag des Ruhms.«

Sie standen Seite an Seite auf dem Dach.

»Aber der fünfte Flügel sackt ab. Was bedeuten dann vier Flügel?«

»Zwei Möwen, die zusammenstoßen, Bagg. Gute Güte, es wird heiß werden, der reinste Backofen. Welche Pflichten erwarten dich heute?«

»Mein erstes Treffen mit dem Königlichen Ingenieur Grum. Anscheinend hat ihn beeindruckt, wie wir die Lagerhäuser abgestützt haben.«

»Gut.« Tehol ließ seinen Blick noch einen Moment länger über die Stadt schweifen, dann sah er seinen Diener an. »Sollte es das?«

»Was – ihn beeindrucken? Nun, die Fußböden sacken nicht mehr ab, und sie sind knochentrocken. Der neue Verputz zeigt keinerlei Sprünge oder Risse. Die Eigentümer sind hocherfreut  –«

»Ich dachte, die Lagerhäuser gehören mir.«

»Seid Ihr denn nicht hocherfreut?«

»Nun gut, du hast Recht, ich bin es. Jeder einzelne Teil von mir.«

»Genau das habe ich dem Königlichen Ingenieur gesagt, als ich auf sein erstes Sendschreiben geantwortet habe.«

»Was ist mit den Leuten, die bei diesen Besitzungen als meine Strohmänner dienen?«

»Die sind ebenfalls hocherfreut.«

»Nun«, sagte Tehol seufzend, »heute ist anscheinend einfach so ein Tag, was?«

Bagg nickte. »Das muss wohl so sein, Herr.«

»Und das ist alles, was du dir vorgenommen hast? Für den ganzen Tag?«

»Nein. Ich muss irgendetwas zu essen besorgen. Dann muss ich Shand und ihre Partnerinnen besuchen, um ihnen noch einmal Eure Liste zu geben. Sie war zu lang.«

»Kannst du dich an die gesamte Liste erinnern?«

»Ja. Besonders gut hat mir Purist Fäule, der Bierbrauer, gefallen.«

»Danke.«

»Aber die Namen sind nicht alle erfunden, oder?«

»Nein, das würde die Sache zu schnell auffliegen lassen. Alle Hiesigen waren echt. Jedenfalls sollte es sie einige Zeit beschäftigen. Hoffe ich. Was steht sonst noch an?«

»Ein weiteres Treffen mit den Gilden. Es könnte sein, dass ich dafür Bestechungsgeld brauche.«

»Unsinn. Sei standhaft – sie werden in Kürze ganz andere Sorgen haben.«

»Ein Streik? Ich habe noch nichts –«

»Natürlich nicht. Der Vorfall, der dazu führen wird, hat sich noch nicht ereignet. Du weißt, dass der Königliche Ingenieur nur Mitglieder der Gilde anheuern darf. Wir müssen dafür sorgen, dass dieser Konflikt aus der Welt ist, ehe er uns Ärger macht.«

»In Ordnung. Außerdem muss ich den Zuf luchtsort überprüfen, in dem wir Shurq und ihren neuen Freund untergebracht haben.«

»Harlest Eberict. Das war wirklich eine Überraschung. Ich frage mich, wie viele Untote sich wohl insgesamt in dieser Stadt herumtreiben?«

»Offensichtlich mehr als wir ahnen, Herr.«

»Nach allem, was wir wissen, könnte die Hälfte der Einwohnerschaft aus Untoten bestehen – etwa die Leute da drüben auf der Brücke und die da, die sich mit all den Einkaufskörben abschleppen … vielleicht sind die alle untot.«

»Möglicherweise, Herr«, räumte Bagg ein. »Meint Ihr, untot im wörtlichen Sinn oder im übertragenen?«

»Oh, natürlich, da gibt es ja tatsächlich einen Unterschied. Tut mir Leid, ich bin abgeschweift. Aber da fällt mir ein – wie kommen Shurq und Ublala miteinander aus?«

»Reibungslos.«

»Wirklich spaßig, Bagg, doch, ja. Hm, du willst also ihre verborgene Behausung überprüfen. Ist das alles, was du dir für heute vorgenommen hast?«

»Das ist nur der Vormittag. Am Nachmittag –«

»Kannst du einen kurzen Besuch machen?«

»Bei wem?«

»Bei der Rattenfängergilde.«

»Im Schuppenhaus?«

Tehol nickte. »Ich habe einen Auftrag für sie. Ich möchte mich – heimlich – mit dem Gildenmeister treffen. Morgen Nacht, wenn möglich.«

Bagg machte ein besorgtes Gesicht. »Diese Gilde –«

»Ich weiß.«

»Ich kann auf dem Weg zur Kiesgrube bei ihnen vorbeigehen.«

»Hervorragend. Warum gehst du zur Kiesgrube?«

»Aus Neugier. Sie haben einen neuen Hügel angegraben, um meine letzte Bestellung auszuführen, und dabei etwas gefunden.«

»Was?«

»Ich weiß nichts Genaues. Nur, dass sie einen Nekromanten angeheuert haben, der sich darum kümmern sollte. Und der arme Narr ist spurlos verschwunden – das heißt, ein paar Haare und ein paar Zehennägel sind noch übrig geblieben.«

»Hmm, das ist interessant. Halte mich auf dem Laufenden.«

»Wie immer, Herr. Und was habt Ihr Euch für heute vorgenommen?«

»Ich dachte daran, wieder ins Bett zu gehen.«

Brys hob den Blick von der peinlich genau geführten Liste und musterte den Schreiber, der ihm gegenübersaß. »Da muss ein Fehler vorliegen«, sagte er.

»Nein, mein Herr. Unmöglich, mein Herr.«

»Nun, wenn dies hier nur die gemeldeten Vermissten sind, was ist dann mit denen, die nicht gemeldet wurden?«

»Zwischen dreißig und fünfzig Prozent, würde ich sagen, mein Herr. Die zu denen dazukommen, die wir haben. Aber das wären dann die Schriftrollen mit dem blauen Rand. Sie werden auf dem Vorspringenden Regal aufbewahrt.«

»Dem was?«

»Dem Vorspringenden Regal. Das da drüben, das von der Wand absteht.«

»Und welche Bedeutung haben diese blauen Ränder?«

»Postulierte Fakten, mein Herr, das, was jenseits der Statistiken existiert. Wir verwenden die Statistiken für formelle, öffentliche Feststellungen oder Bekanntmachungen, doch wir arbeiten mit den postulierten Fakten oder wenn möglich mit den messbaren Fakten.«

»Also mit unterschiedlichen Daten?«

»Ja, mein Herr. Das ist die einzige Möglichkeit, wie eine Verwaltung erfolgreich arbeiten kann. Jede Alternative würde zur Anarchie führen. Zu Aufständen und solchen Sachen. Wir haben natürlich postulierte Fakten für diese Hochrechnungen, und sie sind nicht schön.«

»Aber« – Brys blickte wieder auf die Schriftrolle hinunter – »siebentausend Vermisste in Letheras im letzten Jahr?«

»Sechstausendneunhunderteinundzwanzig, mein Herr.«

»Und dazu kommen möglicherweise noch dreieinhalbtausend?«

»Dreitausendvierhundertsechzigeinhalb, mein Herr.«

»Und ist irgendjemand damit beauftragt, Untersuchungen darüber anzustellen?«

»Dieser Auftrag ist außer Haus vergeben worden, mein Herr.«

»Das ist dann also eindeutig eine Verschwendung von Geld –«

»Oh nein, das Geld ist sinnvoll eingesetzt.«

»Wie das?«

»Es ist eine ansehnliche Summe, die wir in unseren offiziellen öffentlichen Verlautbarungen erwähnen können.«

»Nun, mit wem wurde der Kontrakt abgeschlossen?«

»Da seid Ihr hier im falschen Zimmer, mein Herr. Diese Information wird in der Kammer für Verträge und Königliche Urkunden aufbewahrt.«

»Davon habe ich noch nie gehört. Wo ist denn das?«

Der Schreiber erhob sich und ging zu einer kleinen Tür, die zwischen Schränken voller Schriftrollen eingeklemmt war. »Hier drin. Folgt mir, mein Herr.«

Der Raum dahinter war nicht viel größer als ein begehbarer Schrank. Regalfächer erstreckten sich auf allen Seiten vom Fußboden bis zur Decke, und diese Fächer waren voller Schriftrollen mit blauen Rändern. Nachdem der Schreiber kurz in einem Fach am hinteren Ende der Kammer herumgefuhrwerkt hatte, brachte er eine Schriftrolle zum Vorschein und entrollte sie. »Da haben wir’s. Es ist ein ziemlich neuer Kontrakt. Drei Jahre alt. Fortlaufende Untersuchungen, halbjährliche Berichte, die jeweils exakt zum fälligen Zeitpunkt geliefert wurden und zu keinerlei Nachfrage Anlass geboten haben; alle wurden ohne Beanstandung angenommen.«

»Mit wem wurde dieser Kontrakt abgeschlossen?«

»Mit der Rattenfängergilde.«

Brys runzelte die Stirn. »Jetzt bin ich erst recht verwirrt.«

Der Schreiber zuckte die Schultern und rollte die Schriftrolle zusammen, um sie wieder an ihrem Platz zu verstauen. Über die Schulter sagte er: »Das braucht Ihr nicht zu sein, mein Herr. Die Gilde ist in allen möglichen Bereichen überaus kompetent –«

»Kompetenz scheint mir in dieser Angelegenheit keine besonders wichtige Rolle zu spielen«, bemerkte Brys.

»Da kann ich Euch nicht zustimmen. Pünktliche Berichte. Keine Nachfragen. Zwei Verlängerungen ohne Widerspruch. Ich würde sagen, sie ist in höchstem Maße kompetent, mein Herr.«

»Und es gibt auch nicht weniger Ratten in der Stadt, wie man sofort sehen würde, wenn man auch nur einen kurzen Spaziergang durch eine der Straßen machen würde.«

»Populationsgestaltung, mein Herr. Ich versuche mir gerade mit Schrecken auszumalen, wie die Situation ohne die Gilde aussehen würde.«

Brys sagte nichts.

Der Schreiber musterte den Finadd längere Zeit, und schließlich erschien auf seinem Gesicht ein entschuldigender Ausdruck. »Wir hier sind voll des Lobes über die Rattenfängergilde, mein Herr.«

»Ich danke Euch für Eure Bemühungen«, sagte Brys. »Ich finde schon allein hinaus. Einen schönen Tag noch.«

»Euch auch, mein Herr. Ich bin erfreut, dass ich Euch zu Diensten sein konnte.«

Draußen im Korridor blieb Brys kurz stehen und rieb sich die Augen. In Archiven gab es immer viel zu viel Staub. Er musste nach draußen, dorthin, wo es das gab, was in Letheras als frische Luft galt.

Siebentausend Vermisste jedes Jahr. Er war entsetzt.

Worüber ist Tehol da schon wieder gestolpert? Sein Bruder würde für Brys immer ein Geheimnis bleiben. Offensichtlich hatte Tehol etwas vor, auch wenn der äußere Anschein dies nicht vermuten ließ. Und irgendwie war er hinter den Kulissen noch immer außergewöhnlich einflussreich. Jener allzu öffentliche Absturz, der so schockierend und traumatisch für die Burse gewesen war, kam Brys jetzt wie eine weitere Finte im größeren Plan seines Bruders vor – wobei er keine Ahnung hatte, wie besagter Plan aussehen mochte.

Allein schon der Gedanke, ein solcher Plan könnte existieren, bereitete Brys Sorgen. Sein Bruder hatte sich gelegentlich als erschreckend effektiv und ruchlos erwiesen. Tehol war fast niemandem gegenüber loyal. Ihm war alles zuzutrauen.

In Anbetracht dieser Umstände schien es Brys umso besser, je weniger er von Tehols Aktivitäten wusste. Er wollte seine eigene Loyalität nicht in Gefahr bringen, und sein Bruder konnte genau das sehr wohl heraufbeschwören. Es ist genau wie bei Hull. Oh Mutter, es ist ein Segen des Abtrünnigen, dass du nicht mehr am Leben bist, um deine Söhne jetzt sehen zu können. Aber andererseits – hast du uns nicht zu dem gemacht, was wir jetzt sind?

Fragen ohne Antworten. In diesen Tagen schien es viel zu viele davon zu geben.

Er begab sich in die vertrauteren Bereiche des Palasts. Als Nächstes standen die Waffenübungen auf dem Plan, und er stellte fest, dass er sich auf diese Zeit glückseliger Erschöpfung freute. Und wenn auch nur, weil sie seine viel zu lauten Gedanken zum Schweigen bringen würde.

Tot zu sein, hatte einige ganz eindeutige Vorteile, überlegte Bagg, als er den Pflasterstein vom Boden des Büros des Lagerhauses hob; ein schwarzes, gähnendes Loch kam zum Vorschein – und die oberste Sprosse einer zerfressenen Bronzeleiter. Schließlich brauchten tote Flüchtlinge weder etwas zu essen noch Wasser. Und auch keine Luft. Was es beinahe mühelos machte, sie zu verstecken.

Er stieg die Leiter hinunter, dreiundzwanzig Sprossen, und gelangte in einen Tunnel, der grob aus dem Lehm gehauen und dann gebrannt worden war, um die Wände hart zu machen. Zehn Schritte führten ihn zu einem krummen steinernen Torbogen, unter dem sich eine mit Hieroglyphen übersäte, von Rissen und Sprüngen durchzogene Steintür befand. Alte Gräber wie dieses waren selten. Die meisten von ihnen waren schon lange unter dem Gewicht der auf ihnen lastenden Stadt eingestürzt oder so tief im Schlamm versunken, dass sie unerreichbar waren. Gelehrte hatten versucht, die merkwüdigen Zeichen auf den Türen der Gräber zu entziffern, während das einfache Volk sich lange gefragt hatte, warum Gräber überhaupt so etwas wie Türen hatten. Die Sprache war nur zu einem kleinen Teil entschlüsselt worden, doch das wenige hatte bereits genug davon verraten, dass die Glyphen fluchbeladen und auf irgendeine geheimnisvolle Weise auf den Abtrünnigen bezogen waren. Alles in allem gab es genügend Gründe, einen Bogen um sie zu machen, vor allem, seit in ein paar der Gräber eingebrochen worden und dadurch bekannt geworden war, dass sie nichts Wertvolles enthielten und dass ihre einzige Besonderheit darin bestand, dass der schlichte Steinsarkophag, den jedes Grab beherbergte, leer war. Dazu kamen die nicht bestätigten Gerüchte über das schreckliche Schicksal, das alle Grabräuber wenig später ereilt haben sollte.

Die Tür zu diesem besonderen Grab hatte ihr Siegel eingebüßt, als das ganze Bauwerk ungleichmäßig abgesackt war. Schon mit einer leichten Anstrengung ließ sie sich zur Seite schieben.

Im Tunnel machte Bagg eine Laterne an – wozu er eine kleine Schachtel mit glühenden Kohlestückchen benutzte – und setzte sie auf der Schwelle zum Grab ab. Dann drückte er seine Schulter gegen die Tür.

»Seid Ihr das?«, erklang Shurqs Stimme aus der Dunkelheit des Grabes.

»Warum?«, fragte Bagg. »Ja, ich bin es.«

»Lügner. Ihr seid nicht Ihr, du bist Bagg. Wo ist Tehol? Ich muss mit Tehol sprechen.«

»Er ist unpässlich«, sagte Bagg. Nachdem er die Tür beiseite geschoben hatte, um sich so Zutritt zu verschaffen, nahm er seine Laterne und quetschte sich ins Innere.

»Wo ist Harlest?«

»Im Sarkophag.«

Der große Steinsarg besaß keinen Deckel. Bagg trat an ihn heran und spähte hinein. »Was tut Ihr da, Harlest?« Er stellte seine Laterne auf dem Rand ab.

»Der vorige Bewohner war groß. Sehr groß. Hallo, Bagg. Was ich hier tue? Ich liege hier.«

»Ja, das sehe ich. Aber warum?«

»Es gibt keine Stühle.«

Bagg wandte sich an Shurq Elalle. »Wo sind die Diamanten?«

»Hier. Hast du gefunden, wonach ich gesucht habe?«

»Das habe ich. Zu einem annehmbaren Preis, der Euch den größten Teil Eures Wohlstands lässt.«

»Tehol kann haben, was da noch in der Schachtel ist. Das, was ich im Bordell verdient habe, werde ich behalten.«

»Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht doch einen Anteil an all dem wollt, Shurq? Tehol wäre mit fünfzig Prozent glücklich. Schließlich musstet Ihr das ganze Risiko tragen.«

»Nein. Ich bin eine Diebin. Ich kann mir jederzeit mehr besorgen, wenn ich will.«

Bagg blickte sich um. »Ist das hier für die nächste Zeit in Ordnung?«

»Ich wüsste nicht, warum es das nicht sein sollte. Zumindest ist es trocken. Und die meiste Zeit auch ruhig. Aber ich brauche Ublala Pung.«

Aus dem Sarkophag ertönte Harlests Stimme. »Und ich will scharfe Zähne und Krallen. Shurq hat gesagt, ihr könntet das für mich tun.«

»Die Vorbereitungen dafür haben bereits begonnen, Harlest.«

»Ich will unheimlich wirken. Es ist wichtig, dass ich unheimlich wirke. Ich habe geübt, zu zischen und zu fauchen.«

»Kein Grund zur Beunruhigung«, sagte Bagg. »Ihr werdet wahrhaft entsetzlich sein. Wie auch immer, ich sollte jetzt gehen  –«

»Nicht so schnell«, unterbrach ihn Shurq. »Hast du irgendetwas über den Raub in Gerun Ebericts Anwesen gehört?«

»Nein. Aber das ist auch nicht sonderlich überraschend, wenn Ihr es Euch genau überlegt. Geruns untoter Bruder verschwindet in der gleichen Nacht, in der irgendein halber Riese die meisten Wachen verprügelt. Davon einmal abgesehen, was sonst ist denn gewiss? Wird es tatsächlich irgendjemand wagen, in Geruns mit Schutzzaubern gesichertes Arbeitszimmer einzudringen?«

»Wenn ich Menschenfleisch esse«, sagte Harlest, »wird es in meinem Bauch verfaulen, oder? Das bedeutet, dass ich stinken werde. Das gefällt mir. Es gefällt mir, über solche Dinge nachzudenken. Der Gestank des Verderbens.«

»Der was? Shurq, wahrscheinlich wissen sie gar nicht, dass sie ausgeraubt worden sind. Und selbst wenn sie es wüssten, würden sie sich nicht rühren – solange ihr Herr nicht zurück ist.«

»Wahrscheinlich hast du Recht. Wie auch immer, vergiss nicht, Ublala Pung zu mir zu schicken. Sag ihm, dass ich ihn vermisse. Ihn und seinen –«

»Ich werde es nicht vergessen, Shurq. Versprochen. Noch etwas?«

»Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Lass mich nachdenken.«

Bagg wartete.

»Oh ja«, sagte sie nach einiger Zeit, »was weißt du von diesen Gräbern? In dem Sarkophag da drüben hat einst ein Leichnam gelegen.«

»Wie könnt Ihr Euch da sicher sein?«

Ihre leblosen Augen starrten ihn an. »Wir wissen es.«

»Oh. Na schön.«

»Also, was weißt du?«

»Nicht viel. Die Inschriften auf den Türen sind in einer Sprache verfasst, die einem ausgestorbenen Volk gehört, das als Forkrul Assail bekannt ist; dieses Volk ist in unseren Angelpunkten in dem Wesen personifiziert, das wir den Abtrünnigen nennen. Die Gräber wurden für ein anderes ausgestorbenes Volk gebaut, das Jaghut genannt wurde und das wir der Feste zuordnen, die wir die Feste des Eises nennen. Die Schutzzauber hatten die Aufgabe, den Anstrengungen eines weiteren Volks einen Riegel vorzuschieben – dabei handelt es sich um die T’lan Imass, die die Todfeinde der Jaghut waren. Die T’lan Imass haben die Jaghut auf höchst unbarmherzige Weise verfolgt – auch jene, die beschlossen hatten, ihren Platz in der Welt aufzugeben. Besagte Individuen haben sich für etwas entschieden, was dem Tod sehr nahe kommt. Ihre Seelen reisten zu ihrer Feste, während der Körper zurückblieb und in Gräbern wie diesen hier aufbewahrt wurde. Das hat den T’lan Imass nicht gereicht. Wie auch immer, die Forkrul Assail hielten sich in diesem Konflikt für unparteiische Schiedsrichter, und die meiste Zeit haben sie sich auch dementsprechend verhalten. Darüber hinaus«, meinte Bagg schulterzuckend, »habe ich wirklich keine Ahnung.«

Harlest Eberict hatte sich während Baggs Monolog langsam aufgesetzt und starrte den Diener jetzt an. Shurq Elalle war vollkommen reglos, wie es die Toten oft waren. Dann sagte sie: »Ich habe noch eine Frage.«

»Nur zu.«

»Ist diese Art von Wissen unter Bediensteten allgemein verbreitet?«

»Nicht, dass ich wüsste, Shurq. Ich habe einfach im Lauf der Zeit hier und da ein paar Sachen aufgeschnappt.«

»Sachen, die kein Gelehrter in Letheras jemals aufgeschnappt hat? Oder erfindest du diese Dinge einfach, während du sie erzählst?«

»Ich versuche, reine Märchen zu vermeiden.«

»Und – hast du Erfolg?«

»Nicht immer.«

»Du solltest jetzt besser gehen, Bagg.«

»Ja, das sollte ich wohl. Ich werde mich darum kümmern, dass Ublala Euch heute Nacht besucht.«

»Muss das sein?«, fragte Harlest. »Ich gehöre nicht zu denen, die gerne zuschauen –«

»Lügner«, sagte Shurq. »Natürlich tust du das.«

»Gut, dann ist das eben eine Lüge. Aber es ist eine nützliche Lüge, und ich möchte sie gern beibehalten.«

»Diese Einstellung ist unhaltbar –«

»Das ist wirklich eine großartige Aussage, die du da machst – ich meine, in Anbetracht dessen, was du heute Nacht vorhast –«

Bagg nahm seine Laterne und zog sich langsam zurück, während das Streitgespräch weiterging. Er schob die Tür wieder zu, klopfte sich den Staub von den Händen und begab sich zur Leiter.

Im Büro des Lagerhauses angekommen, setzte er den Pflasterstein wieder an Ort und Stelle. Anschließend suchte er seine Pläne zusammen und machte sich zur neuesten Baustelle auf. Die jüngste Errungenschaft von Baggs Bauunternehmen war einst eine Schule gewesen – eine vornehme Schule ausschließlich für die Kinder der reichsten Bürger von Letheras. Wohnräume waren bereitgestellt und die Schule somit im typischen und bei Erziehungseinrichtungen äußerst beliebten Gefängnisstil eingerichtet worden. Was auch immer an Traumata den Kindern in den Räumen der Schule zugefügt worden waren, sie waren zu einem Ende gekommen, als in einem besonders feuchten Frühjahr die Kellerwände unter einer Lawine aus Schlamm und kleinen menschlichen Knochen zusammengebrochen waren. Dann war der Fußboden der Hauptversammlungshalle just zu dem Zeitpunkt abgesackt, als sich die Schüler das nächste Mal versammelt hatten, und Kinder und Lehrer wurden gleichermaßen in einer riesigen Grube aus schwarzem, faulendem Schlamm begraben, in der ein Drittel der Anwesenden ertrank; die Hälfte der Leichen wurde nie gefunden. Baumängel waren für das Unglück verantwortlich gemacht worden, und es hatte einen Skandal gegeben.

Seit jenem, mittlerweile fünfzehn Jahre zurückliegenden Ereignis stand das baufällige Gebäude leer, dem Vernehmen nach heimgesucht von den Geistern empörter Anwälte und bestürzter Klassensprecher.

Der Kaufpreis war entsprechend niedrig gewesen. Die oberen Etagen direkt über der Hauptversammlungshalle waren in ihrer Statik beeinträchtigt, und Baggs erste Aufgabe war gewesen, das Anbringen von Stützen zu überwachen, bevor die Bauarbeiter darangehen konnten, die Grube zum Kellerboden wieder auszuheben. Nachdem der Fußboden freigelegt und das Durcheinander aus Knochen zum Friedhof gebracht worden war, waren Schächte senkrecht in den Boden getrieben worden, quer durch Linsen aus Sand und Lehm bis hin zu einer dicken Kiesschicht. In diese Schächte hatte man Zement geschüttet und darin einen Ring aus senkrecht stehenden Eisenstäben angebracht, gefolgt von abwechselnd verdichtetem Kies und Zement, bis sie zur Hälfte gefüllt waren. Dann wurden Kalksteinsäulen, deren Basis ausgehöhlt war, um die vorspringenden Eisenstäbe aufzunehmen, in die Schächte abgelassen. Von da an ging es in normaler Bauweise weiter. Säulen, Strebepfeiler, doppelte Bögen – all die üblichen Techniken, an denen Bagg kein sonderliches Interesse hatte.

Die alte Schule wurde jetzt in eine palastartige Villa verwandelt, um anschließend an einen reichen Kaufmann oder Adligen verkauft zu werden, dem es an jeglichem Geschmack mangelte. Da es davon mehr als genug gab, würde die Investition sich auf alle Fälle lohnen.

Bagg verbrachte kurze Zeit auf der Baustelle, umgeben von Vorarbeitern, die ihm Schriftrollen unter die Nase hielten, in denen zahllose Änderungen und Besonderheiten beschrieben waren, die seiner Zustimmung bedurften. Ein Glockenschlag verstrich, bis es ihm endlich gelang, seine Pläne niederzulegen und zu entkommen.

Die Stadtstraße, die irgendwann in die Straße überging, die zur Kiesgrube führte, war eine der Hauptverkehrsstraßen, und sie verlief parallel zum Kanal. Es war außerdem auch eine der ältesten Straßen der Stadt. Entlang einer überschwemmten Strandlinie aus in Lehm versiegelten Kieseln und Steinen gebaut, waren die Gebäude, die an ihrem Rand standen, nicht in sich zusammengesunken und verfallen, wie so häufig in vielen anderen Bereichen der Stadt. Viele von ihnen waren über zweihundert Jahre alt und in einem Stil errichtet, der schon so lange vergessen war, dass er beinah fremdartig wirkte.

Das Schuppenhaus war hoch und schmal und stand eingequetscht zwischen zwei wuchtigen steinernen Gebäuden – dem Archiv eines Tempels und dem monolithischen Herz der Gilde der Straßenmeister. Einige Generationen zuvor hatte ein besonders fähiger Steinmetz die Kalksteinfassade und den offiziellen, von Säulen flankierten Eingang mit liebevoll ausgeführten Ratten verziert. Ratten in so gewaltiger Zahl, dass sie kaum zu zählen waren. Herumtollende Ratten, tanzende Ratten, unzüchtige Ratten. Ratten, die Krieg führten, sich ausruhten, sich an Leichen gütlich taten oder inmitten schlafender Promenadenmischungen und betrunkener Diener über festlich gedeckte Tische schwärmten. Schuppige Schwänze bildeten komplizierte Begrenzungen zwischen den einzelnen Szenen, und als Bagg die Stufen hinaufstieg, war ihm auf eigenartige Weise, als würden die Ratten sich bewegen – als bewegten sie sich am Rande seines Blickfelds, als wanden sie sich und grinsten ihn an.

Er schüttelte sein Unbehagen ab, hielt einen kurzen Moment auf dem Treppenabsatz inne, öffnete dann die Tür und schritt hindurch.

»Wie viele, wie schlimm, wie lange?«

Ein Tisch aus massivem grauem Marmor aus Blaurose blockierte beinahe den Eingang zur Empfangshalle; er zog sich quer durch den ganzen Raum und ließ nur am äußersten rechten Rand einen schmalen Durchgang. Der Sekretär, der dahinter saß, hatte bislang noch nicht von seinem Hauptbuch aufgeblickt. Nach einem kurzen Moment fuhr er fort: »Beantwortet die Fragen, dann sagt uns noch, wo und was Ihr zahlen wollt und ob dies eine einmalige Angelegenheit ist oder ob Ihr an regelmäßigen monatlichen Besuchen interessiert seid. Und merkt Euch, dass wir im Augenblick keine Kontrakte annehmen.«

»Nein.«

Der Sekretär legte seine Feder beiseite und blickte auf. Kleine, dunkle Augen glitzerten misstrauisch unter einer einzigen borstigen Augenbraue hervor. Tintenfleckige Finger zerrten an seiner Nase, die zu zucken begonnen hatte, als müsste der Mann gleich niesen. »Wir sind nicht verantwortlich.«

»Wofür?«

»Für was auch immer.« Der Mann zerrte erneut an seiner Nase. »Und wir nehmen auch keine zusätzlichen Petitionen mehr an; wenn Ihr also hier seid, um eine zu übergeben, könnt Ihr genauso gut auf der Stelle kehrtmachen und wieder gehen.«

»Welche Art von Petition könnte ich Euch denn vielleicht aushändigen wollen?«, fragte Bagg.

»Alle möglichen. Streitlustige Mietshausgemeinschaften müssen sich genauso hinten anstellen wie alle anderen.«

»Ich habe keine Petition.«

»Dann haben wir es nicht getan, wir waren niemals dort, Ihr habt etwas Falsches gehört, es war jemand anders.«

»Ich bin im Auftrag meines Herrn hier, der sich mit Eurer Gilde zu treffen wünscht, um über einen Kontrakt zu sprechen.«

»Wir sind voll ausgelastet. Wir nehmen keine neuen Kontrakte mehr an –«

»Der Preis spielt keine Rolle«, unterbrach ihn Bagg lächelnd, »… innerhalb eines vernünftigen Rahmens.«

»Oh, aber dann spielt er doch eine Rolle. Wir könnten sehr wohl einen unvernünftigen Rahmen im Kopf haben. Das haben wir oft, versteht Ihr?«

»Ich glaube nicht, dass mein Herr an Ratten interessiert ist.«

»Dann ist er verrückt …, aber interessant. Der Ausschuss wird heute Abend wegen einer anderen Angelegenheit zusammentreten. Eurem Herrn wird eine kurze Zeitspanne am Ende des Treffens gewährt, was ich auch in der Tagesordnung notieren werde. Sonst noch etwas?«

»Nein. Wann heute Abend?«

»Zum neunten Glockenschlag, nicht später. Wenn er zu spät kommt, wird er vor verschlossenen Türen stehen. Sorgt dafür, dass ihm das klar ist.«

»Mein Herr ist immer pünktlich.«

Der Sekretär verzog das Gesicht. »Ach, so einer ist er, ja? Ihr Armer. Und jetzt fort mit Euch. Ich habe zu tun.«

Bagg beugte sich plötzlich und unerwartet vor und stieß dem Sekretär zwei Finger in die Augen. Er traf auf keinerlei Widerstand. Der Sekretär legte den Kopf in den Nacken und machte ein finsteres Gesicht.

»Schlau«, sagte Bagg lächelnd und trat zurück. »Mein Kompliment an den Zauberer der Gilde.«

»Was hat mich verraten?«, fragte der Sekretär, als Bagg die Tür aufmachte.

Der Diener warf einen Blick zurück. »Ihr seid viel zu rattenartig und verratet dadurch die Besessenheit Eures Gebieters. Aber wenn schon, die Täuschung ist hervorragend.«

»Man hat mich seit Jahrzehnten nicht mehr durchschaut. Wer seid Ihr, im Namen des Abtrünnigen?«

»Um darauf eine Antwort zu bekommen«, sagte Bagg, während er sich wieder abwandte, »werdet Ihr eine Petition einreichen müssen.«

»Wartet! Wer ist Euer Herr?«

Bagg winkte noch einmal zum Abschied und zog dann die Tür hinter sich zu. Er stieg die Stufen hinunter und wandte sich nach rechts. Ein langer Marsch zu den Steinbrüchen lag jetzt vor ihm, und genau wie Tehol es vorhergesagt hatte, war der Tag heiß – und es wurde immer noch heißer.

Brys, der herbeigerufen worden war, um sich zum Ceda ins Cedarium  – in das Zimmer der Fliesen – zu gesellen, stieg die letzten Stufen bis zum Absatz hinab und begab sich dann auf den erhöhten Laufgang. Kuru Qan ging anscheinend völlig in Gedanken versunken auf der Plattform am hinteren Ende im Kreis herum, wobei er leise vor sich hin murmelte.

»Ceda«, rief Brys, als er zu ihm trat, »Ihr wolltet mich sehen?«

»Unerfreulich, Finadd, alles höchst unerfreulich. Es übersteigt das Begriffsvermögen. Ich brauche einen klugen Kopf. Nicht meinen, mit anderen Worten. Vielleicht Euren. Kommt her. Hört zu.«

Brys hatte den Ceda noch nie so sorgenvoll sprechen gehört. »Was ist geschehen?«

»Alle Festen, Finadd. Chaos. Ich bin Zeuge einer Transformation geworden. Hier, seht es Euch selbst an. Die Fliese des Angelpunkts, des Dolmen. Könnt Ihr es sehen? Eine Gestalt, die zusammengekauert am Fuß des Dolmen hockt. Sie ist mit Ketten an den Menhir gebunden. Und es ist kaum etwas zu erkennen; alles ist voller Rauch, ein Rauch, der meinen Verstand betäubt. Der Dolmen ist widerrechtlich in Besitz genommen worden.«

Brys starrte auf die Fliese hinunter. Die Gestalt hatte etwas Geisterhaftes, und sie verschwamm mehr und mehr vor seinen Augen, je länger er hinschaute. »Von wem?«

»Von einem Fremden, einem Außenseiter.«

»Einem Gott?«

Kuru Qan massierte sich die faltige Stirn mit den Fingerspitzen, während er weiter auf und ab ging. »Ja. Nein. Wir halten nicht viel von der Vorstellung von Göttern. Alles Emporkömmlinge, die nichts sind, verglichen mit den Festen. Die meisten von ihnen sind nicht einmal echt, sie sind einfach nur Projektionen der Wünsche und Hoffnungen der Menschen. Ihrer Ängste. Natürlich«, fügte er hinzu, »ist das manchmal schon alles, was es braucht.«

»Was meint Ihr damit?«

Kuru Qan schüttelte den Kopf. »Und die Feste des Azath … Das beunruhigt mich sehr. Die mittlere Fliese, der Herzstein – könnt Ihr es spüren? Der Herzstein des Azath ist gestorben, mein Freund. Die anderen Fliesen haben sich am Ende um ihn versammelt, haben sich eng zusammengezogen wie Blut in einem verwundeten Körper. Ins Grab ist eine Bresche geschlagen. Das Portal steht unbewacht. Ihr müsst für mich zum viereckigen Turm gehen, Finadd. Und nehmt Eure Waffen mit.«

»Wonach soll ich Ausschau halten?«

»Nach allem, was Euch irgendwie seltsam erscheint. Aufgewühlte Erde. Aber seid vorsichtig – diejenigen, die in jenen Gräbern hausen, sind nicht tot.«

»Also gut.« Brys ließ den Blick über die nächsten Fliesen schweifen. »Gibt es noch mehr?«

Kuru Qan blieb stehen, zog die Augenbrauen hoch. »Mehr? Die Feste der Drachen ist erwacht. Wyrm. Bluttrinker. Tor. Galan. Was die Angelpunkte betrifft, ist der Abtrünnige nun im Zentrum aller Dinge positioniert. Die Meute rückt näher, und Gestaltfinder ist zu einer Schimäre geworden. Die Jägerin der Feste des Eises wandelt auf gefrorenen Pfaden. Kind und Samen erwachen zum Leben. Die Leere Feste hat sich verfinstert, wie Ihr sehen könnt. Alle ihre Fliesen. Ein Schatten steht hinter dem Leeren Thron. Und seht, Erlöser und Verräter – sie sind miteinander verschmolzen. Sie sind nun ein und derselbe. Wie ist das möglich? Wanderer, Gebieterin, Beobachter und Schreiter, alle verborgen, verschwommen durch eine geheimnisvolle Bewegung. Ich habe Angst, Finadd.«

»Ceda, habt Ihr irgendetwas von der Delegation gehört?«

»Von der Delegation? Nein. Von dem Augenblick an, da sie im Dorf des Hexenkönigs angekommen sind, ist jeglicher Kontakt zu ihnen abgebrochen. Er wird durch Edur-Zauberei blockiert, von einer Art, mit der wir es bisher noch nie zu tun gehabt haben. Es gibt viele beunruhigende Entwicklungen. Sehr viele.«

»Ich sollte jetzt aufbrechen, Ceda, solange es noch hell ist.«

»Einverstanden. Und danach kommt wieder hierher zurück und berichtet, was Ihr entdeckt habt.«

»In Ordnung.«

Der Weg, der zu den Steinbrüchen führte, stieg im Zickzack zu einer Kerbe im Hügelland an. Die kleinen Baumgruppen an seinem Rand waren mit weißem Staub bepudert. Ziegen husteten im Schatten.

Bagg machte kurz Halt, um sich Schweiß und Dreck von der Stirn zu wischen, und ging dann weiter.

Kurze Zeit zuvor waren ihm zwei Wagen voller Steinmetze begegnet, und der gleichermaßen wütende wie enttäuschte Vorarbeiter hatte die unwillkommene Nachricht überbracht, dass die Männer sich geweigert hatten, weiter im Steinbruch zu arbeiten  – zumindest solange die Lage nicht geklärt war.

Unabsichtlich war man zu einem Hohlraum durchgebrochen, in dem schon seit sehr, sehr langer Zeit irgendeine Kreatur gefangen gewesen sein musste. Drei Steinmetze waren hineingezogen worden, ihre Schreie schnell verstummt. Dem angeheuerten Nekromanten war es keinen Deut besser ergangen.

Bagg erreichte den Pass und blieb kurz stehen, um in den eigentlichen Steinbruch hinunterzuschauen, dessen gerade Kalksteinwände sich tief ins umliegende Land eingegraben hatten. Die Mündung des Hohlraums befand sich in einem Bereich, in dem bis vor kurzem noch gearbeitet worden war, und war kaum zu erkennen. Er machte sich auf den Weg nach unten und näherte sich der Höhle bis auf zwanzig Schritt. Dann blieb er stehen.

Plötzlich war die Luft bitterkalt. Stirnrunzelnd trat Bagg einen Schritt zur Seite und setzte sich auf einen Kalksteinblock. Er schaute zu, wie sich auf dem Boden links der Höhle Frost bildete, der sich wie ein dünner Finger auf die schwarze Öffnung zubewegte, während sich auf der gegenüberliegenden Seite wirbelnde Nebelschwaden formten und immer weiter auffächerten. Unter Baggs Füßen knirschte Eis, und dann tauchte am aufgefächerten Ende eine Gestalt aus dem Nebel auf, als käme sie aus dem Nichts herangeschritten. Groß, von den Hüften aufwärts nackt, mit grau-grüner Haut. Lange, strähnige blonde Haare hingen ihr offen über die Schultern und fielen lang den Rücken hinunter. Hellgraue Augen mit Pupillen, die senkrechte Schlitze waren. Mit silbernen Kappen besetzte Hauer. Eine Frau mit großen Brüsten. Sie trug einen kurzen Rock – ihr einziges Kleidungsstück, wenn man von den mit Lederriemen geschnürten Mokassins absah – und einen breiten Gürtel mit einem halben Dutzend Scheiden, in denen Dolche steckten.

Ihre Aufmerksamkeit war auf die Höhle gerichtet. Sie stemmte die Hände in die Hüften und seufzte sichtlich schwer.

»Er kommt nicht heraus«, sagte Bagg.

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Natürlich nicht – jetzt, wo ich hier bin.«

»Was für eine Art Dämon ist es?«

»Ein hungriger und verrückter, aber auch ein Feigling.«

»Hast du ihn da hineingesteckt?«

Sie nickte. »Verdammte Menschen. Nie können sie etwas einfach mal in Ruhe lassen.«

»Ich bezweifle, dass sie etwas davon wussten, Jaghut.«

»Das ist keine Entschuldigung. Sie graben ständig. Graben hier, graben da. Sie hören nie auf.«

Bagg nickte und fragte dann: »Und was jetzt?«

Sie seufzte erneut.

Der Frost zu ihren Füßen wurde zu eckigem Eis, das in die Mündung der Höhle kroch. Das Eis wuchs rasch und füllte das Loch. Der umgebende Stein ächzte, knirschte, barst und enthüllte eine darunterliegende dicke Eisschicht. Brocken aus sandiger Erde und Kalkstein kullerten davon.

Bagg kniff die Augen zusammen, als er die seltsame Gestalt musterte, die inmitten des dampfenden Eises gefangen war. »Ein Khalibaral? Hol uns der Abtrünnige, Jägerin, ich bin froh, dass du dich entschlossen hast zurückzukehren.«

»Jetzt muss ich einen anderen Platz für ihn finden. Hast du irgendeinen Vorschlag?«

Bagg dachte einige Zeit nach. Und dann begann er zu lächeln.

Brys schritt zwischen zwei verfallenen runden Türmen hindurch, wobei er vorsichtig über die verstreut herumliegenden Steinbrocken hinwegstieg, die halb verborgen im drahtigen gelben Gras lagen. Die Luft war heiß und stand förmlich, das Sonnenlicht lag wie geschmolzenes Gold auf den Mauern des Turms. Grashüpfer sprangen panisch vor seinen Füßen auf, und als Brys ein schwaches Knirschen unter seinen Sohlen hörte, blickte er nach unten und sah, dass der Boden vor Leben wimmelte. Insekten  – viele davon übergroß, unbeholfen, in matten Farbtönen und ihm vollkommen unbekannt – machten sich nach links und rechts davon.

Da sie alle flohen, war er nicht übermäßig beunruhigt.

Jetzt kam der viereckige Turm in Sicht. Der Azath. Abgesehen von seinem primitiven Baustil war kaum etwas Besonderes an ihm. Brys war verwirrt. Die Behauptung des Ceda, dass ein Gebilde aus Stein und Holz empfindungsfähig sein sollte, dass es ein eigenes Leben besitzen sollte, hatte ihn erschüttert. Ein Bauwerk setzte einen Erbauer voraus, doch Kuru Qan behauptete, dass der Azath einfach so entstanden sei, sich aus eigenem Antrieb gebildet habe. Was all die Gesetze der Kausalität, die Generationen von Gelehrten als unwiderlegbare Tatsache postuliert hatten, plötzlich als fragwürdig erscheinen ließ.

Die unmittelbare Umgebung des Turms war weniger geheimnisvoll, wenn auch deutlich gefährlicher. Die buckligen Grabhügel in dem zugewucherten Hof waren unverkennbar. Hier und da wuchsen knorrige, verkrüppelte Bäume, manchmal vom höchsten Punkt der Erdhügel, häufiger allerdings aus den Seiten. Ein gewundener, gepflasterter Weg begann gegenüber dem vorderen Tor, das aus groben Säulen bestand, deren Steine nicht mit Mörtel verbunden, aber von Weinreben und Kletterpflanzen überwuchert waren. Die Überreste einer niedrigen Mauer umschlossen das Gelände.

Brys gelangte von der Seite her zum Hof; das Tor befand sich zu seiner Rechten, der Turm zu seiner Linken. Und er sah sofort, dass viele Grabhügel in seinem Blickfeld auf mindestens einer Seite in sich zusammengefallen waren, als wären sie von innen ausgehöhlt worden. Das Unkraut, das die Erdhügel bedeckte, war tot und geschwärzt, als wäre es der Verwesung anheim gefallen.

Nachdem er die Szenerie noch einen Moment betrachtet hatte, begab er sich an der Mauer entlang zum Tor. Er schritt zwischen den Säulen hindurch, trat auf den ersten Pflasterstein – der mit einem knirschenden Geräusch zu einer Seite wegkippte. Brys schwankte, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, und schaffte es, sich wieder zu fangen, ohne hinzufallen.

Ein helles Lachen erklang von irgendwo in der Nähe des Eingangs zum Turm.

Er blickte auf.

Das Mädchen tauchte aus dem Schatten des Turms auf. »Ich kenne dich. Ich bin denen gefolgt, die dir gefolgt sind. Und habe sie getötet.«

»Was ist hier geschehen?«

»Schlimme Dinge.« Sie kam näher, von Schimmelflecken übersät und ungepflegt. »Bist du mein Freund? Ich sollte ihm helfen, am Leben zu bleiben. Aber er ist trotzdem gestorben, und jetzt sind sie damit beschäftigt, sich gegenseitig zu töten. Außer dem einen, den der Turm ausgesucht hat. Er will mit dir sprechen.«

»Mit mir?«

»Mit einem meiner erwachsenen Freunde.«

»Wer sind deine anderen erwachsenen Freunde?«, fragte Brys.

»Mutter Shurq, Vater Tehol, Onkel Ublala, Onkel Bagg.«

Brys schwieg. »Wie heißt du?«, fragte er schließlich.

»Kessel.«

»Kessel, wie viele Menschen hast du im vergangenen Jahr getötet?«

Sie legte den Kopf schief. »Ich kann nicht weiter als bis acht und zwei zählen.«

»Oh.«

»Viele Achten und Zweien.«

»Und was ist mit den Leichen?«

»Ich nehme sie mit hierher und stopfe sie in den Boden.«

»Alle?«

Sie nickte.

»Wo ist dieser … Freund von dir? Derjenige, der mit mir sprechen will?«

»Ich weiß nicht, ob er ein Freund ist. Folge mir. Tritt dahin, wo ich hintrete.«

Sie nahm ihn an der Hand, und Brys musste sich anstrengen, ein Schaudern zu unterdrücken, als er ihre kalten, feuchten Finger spürte. Sie verließen den gepflasterten Weg und gingen zwischen Grabhügeln hindurch; bei jedem vorsichtigen Schritt bewegte sich der Boden unstet. Hier gab es noch mehr Insekten, aber nicht mehr so viele verschiedene, als ob auf dem Gelände des Azath irgendeine Art von Auslese stattgefunden hätte. »Solche Insekten habe ich noch nie zuvor gesehen«, sagte Brys. »Sie sind … sehr groß.«

»Sie sind alt, sie stammen aus der Zeit, in der der Turm geboren wurde«, sagte Kessel. »Ihre Eier waren in der aufgewühlten Erde. Die braunen da, die wie Stöcke aussehen und an beiden Enden Köpfe haben, das sind die gemeinsten. Sie nagen an meinen Zehen, wenn ich zu lange still sitzen bleibe. Und sie sind schwer zu zertreten.«

»Und was ist mit den gelben, stachligen?«

»Die stören mich nicht. Die fressen nur Vögel und Mäuse. Hier.«

Sie war vor einem eingestürzten Erdhügel stehen geblieben, aus dem einer der größeren Bäume des Hofs wuchs; sein Holz war merkwürdig grau und schwarz gestreift, und die Zweige und Äste gingen in geschwungenen Kurven ab statt in scharfen Winkeln. Wurzeln zogen sich über den gesamten Grabhügel, die noch vorhandene Rinde war merkwürdig schuppig, wie Schlangenhaut.

Brys runzelte die Stirn. »Und wie sollen wir uns unterhalten, wenn er da drin ist und ich hier draußen bin?«

»Er ist gefangen. Er sagt, du musst die Augen zumachen und an nichts denken. Genau wie du es machst, wenn du kämpfst, sagt er.«

Brys war verblüfft. »Er spricht jetzt zu dir?«

»Ja, aber er sagt, das reicht nicht, weil ich nicht genug … Worte kenne. Worte und Dinge. Er muss sie dir zeigen. Er sagt, dass du so etwas schon einmal getan hast.«

»Es scheint, als sollte ich keinerlei Geheimnisse mehr bewahren«, sagte Brys.

»Nicht mehr viele, nein, darum sagt er, dass er das Gleiche tun möchte. Als Gegenleistung. Damit ihr einander vertrauen könnt. Ein bisschen.«

»Ein bisschen. Hat er das gesagt?«

Sie nickte.

Brys lächelte. »Nun, ich weiß seine Ehrlichkeit zu schätzen. In Ordnung, ich werde es versuchen.« Er schloss die Augen. Kessels kalte Hand blieb in seiner; sie fühlte sich klein an, und das Fleisch schien merkwürdig lose an den Knochen zu sitzen. Er wandte seine Gedanken bewusst von diesem Detail ab. Der Geist eines Kämpfers war während eines Kampfes nicht wirklich leer. Stattdessen war er kühl-distanziert und achtsam. Konzentration, die von einer Struktur definiert wurde, welche den strengen Gesetzen praktischer Notwendigkeit unterlag. Und so beobachtete der Geist und schätzte ab, und alles ohne jedes Gefühl, auch wenn alle Sinne hellwach waren.

Er spürte, wie er in die vertraute, hilfreiche Struktur hineinglitt.

Und war wie betäubt angesichts der Willensstärke, die ihn mitriss. Er kämpfte gegen die Panik an, die in ihm aufstieg, da er wusste, dass er solch einer Macht gegenüber hilflos war. Und gab nach.

Über ihm erstreckte sich ein verwandelter Himmel. Krankhaftes, wirbelndes grünes Licht umgab eine ausgefranste schwarze Wunde, die so groß war, dass sie den Mond hätte verschlingen können. Wolken wanden sich, gequält und zerfetzt von unzähligen Gegenständen, die allesamt gegen die Luft zu kämpfen schienen, während sie herabstürzten, als ob diese Welt sich ihrem Eindringen aktiv widersetzte. Objekte quollen aus der Wunde, tunnelten durch Schichten am Himmel.

Eine riesige Stadt lag vor ihm, erhob sich mit terassenförmig angelegten Gärten und erhöhten Straßen aus einer flachen Ebene. Auf der gegenüberliegenden Seite ragte eine Gruppe von Türmen in den Himmel, erreichte dabei eine außergewöhnliche Höhe. Jenseits der Außenbezirke der Stadt erstreckte sich Ackerland in alle Richtungen, so weit das Auge reichte; merkwürdige Schatten wogten darüber hinweg.

Brys wandte den Blick ab und schaute nach unten, stellte fest, dass er auf einer Plattform aus rotfleckigem Kalkstein stand. Vor ihm führten steile Stufen nach unten, Reihe um Reihe, Hunderte, zu einem gepflasterten Platz, der von blau bemalten Säulen flankiert war. Ein kurzer Seitenblick nach rechts ließ ihn eine steile Schräge erkennen. Er befand sich auf der abgeflachten Spitze eines pyramidenförmigen Bauwerks, und zu seiner Linken stand jemand, wie er plötzlich überrascht feststellte. Eine geisterhafte, verschwommene Gestalt, die kaum zu erkennen war. Sie war groß und schien zum Himmel hinaufzustarren, den Blick auf die schreckliche, dunkle Wunde gerichtet.

Gegenstände trafen jetzt auf die Erde. Sie landeten hart, aber nicht annähernd mit der Geschwindigkeit, die sie hätten besitzen sollen. Ein lautes Krachen hallte von dem Platz zwischen den Säulenreihen wider, und Brys sah, dass dort eine große Steinskulptur zur Ruhe gekommen war. Ein bizarres, tierhaftes menschliches Wesen, das breitbeinig dahockte. Die muskulösen Arme reckten sich nach unten, beide Hände waren um den Penis gelegt. Schultern und Kopf waren nach dem Vorbild eines Stiers geformt. Ein zweites Paar Beine – weibliche Beine – war um die Hüften des Tiermannes geschlungen; die Plattform, auf der das Wesen kauerte, war wie eine Frau geformt, die unter ihm auf dem Rücken lag. Ganz in der Nähe war das Klappern von knapp zwei Dutzend Tontafeln zu hören – sie waren zu weit weg, als dass Brys hätte erkennen können, ob sie beschriftet waren, obwohl er es vermutete –, die wie auf einem Luftkissen dahinschlitterten, ehe sie als Scherbenhaufen liegen blieben.

Bruchstücke von Gebäuden folgten – behauene Kalksteinblöcke, Ecksteine, Mauern aus Lehmziegeln und mit Lehm beworfenem Flechtwerk. Dann abgetrennte Gliedmaßen, blutige Teile von Vieh und Pferden, eine Herde von Tieren, die vielleicht Ziegen gewesen sein mochten; ihr Inneres war nach außen gekehrt, ihre Eingeweide wippten hinter ihnen her. Und schließlich dunkelhäutige Menschen – oder zumindest ihre Arme, Beine, Rümpfe.

Der Himmel über Brys füllte sich mit großen farblosen Bruchstücken, die wie Schnee herabschwebten.

Und dann kam etwas Großes durch die Wunde. Von Blitzen umzuckt schien es vor Schmerzen zu schreien; das Kreischen nahm kein Ende, war ohrenbetäubend.

Sanfte Worte erklangen im Innern von Brys’ Kopf. »Mein Geist, der freigelassen wurde, um zu wandern, vielleicht auch, um Zeuge zu werden. Sie haben gegen Kallor Krieg geführt; es war eine gute Sache. Aber … was sie hier getan haben …«

Brys konnte die Augen nicht von der heulenden Kugel aus Blitzen abwenden. Er konnte Gliedmaßen in ihrem Innern erkennen, um die brennende Lichtbögen geschlungen waren, als wenn es Ketten wären. »Was – was ist das?«

»Ein Gott, Brys Beddict. In seiner eigenen Sphäre war er in einen Krieg verstrickt. Denn dort gab es noch andere Götter … Rivalen. Die Versuchung …«

»Ist dies eine Vision der Vergangenheit?«, fragte Brys.

»Die Vergangenheit lebt weiter«, erwiderte die Gestalt. »Wir können es nicht wissen … solange wir hier stehen. Wie schätzen wir den Anfang ab oder das Ende? Für uns alle war gestern wie heute, und es wird auch morgen so sein. Wir sind uns dessen nicht bewusst. Oder vielleicht sind wir es doch, und haben uns – aus Gründen der Bequemlichkeit oder der Seelenruhe – nur entschlossen, nicht zu sehen. Nicht zu denken.« Eine vage Geste mit einer Hand. »Manche sagen, es waren zwölf Magier, manche sagen, sieben. Es spielt keine Rolle, denn sie werden gleich zu Staub werden.«

Die gewaltige Kugel brüllte jetzt, wuchs mit erschreckender Geschwindigkeit, als sie der Erde entgegenfiel. Sie würde, wie Brys bewusst wurde, die Stadt zerschmettern.

»Und so haben sie sich durch ihre verzweifelten Bemühungen, den Plan gewaltsam zu verändern, selbst ausgelöscht – sich und ihre ganze Zivilisation.«

»Dann sind sie also gescheitert.«

Die Gestalt sagte einige Zeit lang nichts.

Und der herabfallende Gott schlug auf, ein blendender Blitz, eine Detonation, die die Pyramide unter ihren Füßen erzittern und unten auf dem Platz Risse entstehen ließ. Eine Rauchsäule erhob sich, blähte sich auf und dehnte sich aus, und ihr Schatten verschlang die Welt. Eine gewaltige Böe raste in alle Richtungen davon, warf die Säulen entlang des Platzes um, entwurzelte Bäume im Ackerland. Die Bäume brachen in Flammen aus.

»Als Reaktion auf die Verzweiflung, die sie verspürten, und von brodelnder Wut getrieben, riefen sie einen Gott herab. Und starben dabei. Bedeutet dies, dass ihr Plan gescheitert ist? Nein, ich spreche jetzt nicht von Kallor. Ich spreche von ihrer Hilflosigkeit, die ihren Wunsch nach Veränderung immer größer werden ließ. Brys Beddict, wenn ihre Geister jetzt hier bei uns stehen könnten – hier in dieser zukünftigen Welt, in der unsere Körper sich befinden – und damit die Möglichkeit hätten zu sehen, was ihre Tat bewirkt hat, würden sie erkennen, dass alles, was sie zu erreichen suchten, tatsächlich eingetroffen ist.

Derjenige, der an die Erde gekettet wurde, hat die Mauern seines Gefängnisses verzerrt. So sehr, dass sie nicht mehr wiederzuerkennen sind. Sein Gift hat sich verbreitet und die Welt infiziert  – und alle, die auf ihr leben.«

»Ihr nehmt mir jede Hoffnung«, sagte Brys.

»Das tut mir Leid. Versucht nicht, Hoffnung bei Euren Anführern zu finden. Sie sind Lagerstätten von Gift. Und sie haben nur so lange Interesse an Euch, wie sie Euch kontrollieren können. Pflichterfüllung und Gehorsam, das erwarten sie von Euch, und sie werden Euch gegenüber eine Sprache benutzen, die Eure Treue entfachen soll. Sie suchen Anhänger – und wehe denen, die sie in Frage stellen oder sie herausfordern.

Zivilisation um Zivilisation, es ist immer dasselbe. Die Welt fällt flüsternd der Tyrannei anheim. Die Furchtsamen sind stets darauf erpicht, sich jeder Notwendigkeit zu beugen, die sie spüren, denn sie glauben, dass Notwendigkeit Anpassung erzwingt, und Anpassung eine gewisse Stabilität mit sich bringt. In einer Welt, die zur Anpassung geformt ist, stehen Abweichler abseits, werden mühelos gebrandmarkt und erledigt. Es gibt keine unterschiedlichen Perspektiven, keine Gespräche. Das Opfer nimmt das Gesicht des Tyrannen an, selbstgerecht und unnachgiebig, und Kriege gedeihen wie Ungeziefer. Und die Menschen sterben.«

Brys musterte den Feuersturm, der das einhüllte, was einmal eine wunderbare Stadt gewesen war. Er kannte weder ihren Namen noch die Zivilisation, die sie hervorgebracht hatte, und es spielte – wie er schlagartig erschüttert feststellte – auch überhaupt keine Rolle.

»In Eurer Welt«, sagte die Gestalt, »nähert sich die Prophezeiung ihrem Scheitelpunkt. Ein Imperator wird sich erheben. Ihr stammt aus einer Zivilisation, die Krieg als eine Erweiterung der Volkswirtschaft betrachtet. Aufgeschichtete Knochen werden zum Fundament Eurer Handelsstraßen, und Ihr seht nichts Widriges darin –«

»Einige von uns schon.«

»Das hat keinerlei Bedeutung. Die zermalmten Kulturen, die Ihr auf Eurem Weg zurückgelassen habt, sprechen eine deutliche Sprache. Ihr habt vor, die Tiste Edur zu unterwerfen. Ihr behauptet, jeder Fall sei anders, sei einzigartig, doch er ist weder anders noch einzigartig. Es ist immer das Gleiche. Eure militärische Macht beweist die Tugendhaftigkeit Eurer Sache. Aber ich sage Euch dies, Brys Beddict – so etwas wie Bestimmung gibt es nicht. Der Sieg ist nicht zwangsläufig. Der Feind lauert in Eurer Mitte. Und wartet. Euer Feind versteckt sich, ohne dass er sich tarnen muss, wenn Kampfeslust und die darin enthaltene Bedrohung dafür sorgen, dass Ihr den Blick abwendet. Er spricht Eure Sprache, benutzt Eure Worte und setzt sie gegen Euch ein. Er macht sich über Euren Glauben an Wahrheiten lustig, denn er hat sich selbst zum Herrn über jene Wahrheiten erhoben.«

»In Lether herrscht keine Tyrannei –«

»Ihr glaubt, dass der Geist Eurer Zivilisation von Eurem gütigen König verkörpert wird. Das wird er nicht. Euer König existiert, weil seine Existenz für zulässig erachtet wird. Ihr werdet von Gier regiert, einem monströsen Tyrannen, der vor Ruhm golden leuchtet. Er kann nicht besiegt werden – nur ausgelöscht.« Eine weitere Geste auf das brennende Chaos unter ihnen. »Das ist Eure einzige Hoffnung auf Erlösung, Brys Beddict. Denn Gier tötet sich selbst, wenn nichts mehr übrig ist, was gehortet werden könnte, wenn die Legionen von Arbeitern nur noch Knochen sind, wenn das schreckliche Gesicht des Hungers sich im Spiegel enthüllt.

Der Gott ist gefallen. Und nun hockt er da und sät Verwüstung. Aufstieg und Fall, Aufstieg und Fall, und mit jeder Erneuerung verliert der lenkende Geist an Substanz, wird schwächer, ist enger an eine Vision gekettet, die bar jeder Hoffnung ist.«

»Warum tut dieser Gott uns das an?«

»Weil er nichts als Schmerz kennt und sich danach sehnt, ihn mit anderen zu teilen, ihn über alles zu bringen, was lebt, über alles, was existiert.«

»Warum habt Ihr mir das hier gezeigt?«

»Ich lasse Euch das Symbol Eures Todes betrachten, Brys Beddict.«

»Warum?«

Die Gestalt schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Ich habe Euch den Rat gegeben, keine Hoffnung von Euren Anführern zu erwarten, denn sie werden Euch mit nichts als Lügen füttern. Doch Hoffnung gibt es. Sucht nach ihr, Brys Beddict, in dem Menschen an Eurer Seite, in dem Fremden auf der anderen Straßenseite. Blickt weder zum Himmel noch zu Boden. Hoffnung überdauert, und ihre Stimme ist die Leidenschaft und der ehrliche Zweifel.«

Die Szene begann zu verblassen.

Die Gestalt an seiner Seite sprach ein letztes Mal: »Das ist alles, was ich Euch sagen werde. Alles, was ich Euch sagen kann.«

Er öffnete die Augen und stellte fest, dass er wieder vor dem Hügelgrab stand und dass um ihn herum heller Tag war. Kessel umklammerte noch immer mit ihren kalten Fingern seine Hand.

»Wirst du mir jetzt helfen?«, fragte sie.

»Davon hat der Bewohner des Grabs nichts gesagt.«

»Das tut er nie.«

»Er hat mir praktisch nichts von sich gezeigt. Ich weiß noch nicht einmal, wer – oder was – er ist.«

»Ja.«

»Er hat sich keine Mühe gegeben, mich von … etwas zu überzeugen. Aber ich habe gesehen …« Brys schüttelte den Kopf.

»Er braucht Hilfe, um dem Grab zu entfliehen. Andere Dinge versuchen herauszukommen. Und das werden sie. Es wird nicht mehr lange dauern, glaube ich. Sie wollen mir wehtun – mir und allen anderen.«

»Und derjenige, dem wir helfen sollen, wird sie aufhalten?«

»Ja.«

»Was kann ich tun?«

»Er braucht zwei Schwerter. Aus dem besten Stahl, den es gibt. Gerade Klingen, beidseitig geschliffen, mit Spitze. Schmal, aber stark. Schmale Griffstücke, schwere Knäufe.«

Brys dachte nach. »In der Rüstkammer müsste eigentlich etwas Passendes zu finden sein. Will er, dass ich sie hierher bringe?«

Kessel nickte.

Er braucht Hilfe. Aber er hat nicht darum gebeten. »Also gut. Ich werde es tun. Aber ich werde zuerst mit dem Ceda darüber sprechen.«

»Traust du ihm? Er will wissen, ob du diesem Ceda vertraust?«

Brys machte schon den Mund auf, um zu antworten, um ja zu sagen – und hielt inne. Der Bewohner des Grabhügels war ein mächtiges Wesen, vermutlich so mächtig, dass er nicht kontrollierbar war. Nichts von alledem, was hier geschah, würde Kuru Qan gefallen. Aber habe ich denn überhaupt eine Wahl? Der Ceda hatte ihn hergeschickt, um herauszufinden, was mit dem Azath geschehen war … Brys blickte zum Turm hinüber. »Der Azath – ist er tot?«

»Ja. Er war zu alt, zu schwach. Er hat so lange gekämpft.«

»Kessel, tötest du noch immer Menschen in der Stadt?«

»Nicht viele. Nur böse Menschen. Einen oder zwei jede Nacht. Manche von den Bäumen leben noch, aber sie können sich nicht mehr vom Blut des Turms ernähren. Also gebe ich ihnen anderes Blut, damit sie kämpfen können, um die bösen Monster unten zu halten. Aber auch die Bäume sterben.«

Brys seufzte. »In Ordnung. Ich werde wiederkommen, Kessel. Mit den Schwertern.«

»Ich habe gewusst, dass ich dich mögen würde. Ich habe gewusst, dass du nett sein würdest. Wegen deinem Bruder.«

Dieser Kommentar ließ ihn die Stirn runzeln und entlockte ihm einen zweiten Seufzer. Sanft löste er seine Hand aus dem Griff des Kindes. »Sei vorsichtig, Kessel.«

»Ich habe wirklich hervorragend geschlafen«, sagte Tehol, während er neben Bagg die Straße entlangging.

»Dessen bin ich mir sicher, Herr. Aber Ihr hattet um dieses Treffen ersucht.«

»Ich hatte keine so schnelle Antwort erwartet. Hast du irgendetwas getan oder gesagt, was ihr Interesse übermäßig erregt haben könnte?«

»Natürlich habe ich das, sonst hätten wir diese Audienz überhaupt nicht bekommen.«

»Oh, das ist übel, Bagg. Hast du ihnen meinen Namen genannt?«

»Nein.«

»Hast du irgendetwas von meinem großen Plan preisgegeben?«

»Nein.«

»Tja, also – was hast du dann gesagt?«

»Ich habe gesagt, dass Geld keine Rolle spielt.«

»Dass es keine Rolle spielt?« Tehol wurde langsamer, zog Bagg zu sich heran. »Was glaubst du denn, was ich ihnen zahlen will?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Diener. »Ich habe keine Ahnung, was für einen Kontrakt Ihr mit der Rattenfängergilde schließen wollt.«

»Das liegt daran, dass ich mich selbst noch nicht entschieden hatte!«

»Nun, habt Ihr Euch denn jetzt entschieden, Herr?«

»Ich denke darüber nach. Ich hoffe, dass mir etwas eingefallen sein wird, wenn wir bei ihnen ankommen.«

»Dann könnte es also teuer werden …«

Tehols Gesicht hellte sich auf. »Du hast Recht, das könnte es tatsächlich. Und deshalb spielt Geld auch keine Rolle.«

»Genau.«

»Ich bin froh, dass wir in dieser Hinsicht einer Meinung sind. Du bist ein wunderbarer Diener, Bagg.«

»Ich danke Euch, Herr.«

Sie gingen weiter.

Nach kurzer Zeit machten sie vor dem Schuppenhaus Halt. Tehol starrte mehrere Herzschläge lang auf die mit ausgelassen herumtollenden Nagetieren verzierte Fassade. »Sie sehen mich alle an«, sagte er.

»Ja, stimmt, diesen Eindruck könnte man bekommen.«

»Ich mag es nicht, im Mittelpunkt des Interesses von Tausenden von Ratten zu stehen. Was wissen sie, was ich nicht weiß?«

»In Anbetracht der Größe ihrer Gehirne nicht viel.«

Tehol starrte die Fassade noch einen Moment länger an, dann blinzelte er und wandte sich Bagg zu. Fünf Herzschläge lang. Zehn.

Das Gesicht des Dieners blieb ausdruckslos. Schließlich hustete er, räusperte sich und sagte: »Nun, wir sollten vielleicht hineingehen, oder?«

Der Sekretär saß noch genauso da wie früher an diesem Tag und arbeitete an dem gleichen Hauptbuch – zumindest kam es Bagg so vor. Auch dieses Mal machte der Mann sich nicht die Mühe aufzublicken. »Ihr seid zu früh dran. Ich hatte erwartet, dass Ihr pünktlich seid.«

»Wir sind nicht zu früh dran«, sagte Tehol.

»Ach, seid Ihr das nicht?«

»Nein, aber da die Glocke bereits ertönt, werden wir zu spät kommen, wenn Ihr uns noch lange aufhaltet.«

»Mir kann man nicht die Schuld geben. Das konnte man auch während dieser ganzen lächerlichen Unterhaltung nicht. Die Treppe hoch bis ganz oben. Dort gibt es nur eine Tür. Klopft einmal und tretet dann ein – und dann möge der Abtrünnige Euch helfen. Ach, der Diener kann hier bleiben – vorausgesetzt, dass er mich nicht wieder in die Augen sticht.«

»Er bleibt nicht hier.«

»Tut er das nicht?«

»Nein.«

»Also schön. Geht mir aus den Augen, alle beide.«

Tehol ging vorneweg am Schreibtisch vorbei, und dann begannen sie, die Treppe hochzusteigen.

»Du hast ihm in die Augen gestochen?«, fragte Tehol.

»Es schien mir dienlich, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Ich bin erfreut, allerdings auch ein wenig beunruhigt.«

»Die Umstände erforderten außergewöhnliche Maßnahmen.«

»Geschieht das häufig?«

»Ich fürchte ja.«

Sie erreichten den oberen Absatz. Tehol trat vor und klopfte an die Tür. Ein letzter Blick zurück zu Bagg, misstrauisch und abwägend, dann öffnete er die Tür. Sie traten in das Zimmmer dahinter.

In dem es von Ratten wimmelte. Sie bedeckten den Fußboden. Die Tischplatte. Sie turnten auf den Regalen und dem Kristalllüster herum. Sie hockten auf den Schultern und spähten aus den Falten der Kleidung der sechs Mitglieder des Ausschusses, die auf der anderen Seite des Tisches saßen.

Tausende von Knopfaugen waren starr auf Tehol und Bagg gerichtet, auch die der drei Männer und drei Frauen, die das Herz der Rattenfängergilde darstellten.

Tehol zog seine Hose hoch. »Ich danke Euch allen –«

»Ihr seid Tehol Beddict«, unterbrach ihn eine Frau, die ganz außen links saß. Sie war größtenteils eine Ansammlung kugeliger Formen – Gesicht, Kopf, Oberkörper, Brüste –, und ihre Augen waren winzig und dunkel und glitzerten wie hart gewordener Teer. In ihrem hoch aufgetürmten, ausufernden schwarzen Haarschopf tummelten sich mindestens drei Ratten.

»Und ich bin neugierig«, sagte Tehol lächelnd. »Was tun alle diese Ratten hier?«

»Eine verrückte Frage«, bellte der Mann neben der rundlichen Frau. »Wir sind die Rattenfängergilde. Wo sollen wir die Ratten, die wir fangen, denn hintun?«

»Ich dachte, Ihr würdet sie töten.«

»Nur wenn sie sich weigern, ein Bekenntnis abzulegen«, sagte der Mann und unterstrich seine Worte aus unerfindlichen Gründen mit einem höhnischen Lächeln.

»Ein Bekenntnis? Wie legen Ratten ein Bekenntnis ab?«

»Das geht Euch nichts an«, sagte die Frau. »Ich bin Onyx. Neben mir sitzt Scint. Um angemessen vorzugehen – vor Euch sitzt Meisterfänger Ormly, dann kommen Glisten, Bubyrd und Ruby. Tehol Beddict, dank Euch haben wir Verluste bei unseren Investitionen erlitten.«

»Von denen Ihr Euch zweifellos erholt habt.«

»Darum geht es nicht«, sagte die Frau namens Glisten. Sie war blond und schmächtig und so klein, dass nur ihr Kopf und ihre Schultern über die Tischplatte ragten. Immer wieder trippelten unzählige Ratten vor ihr hin und her, so dass sie ständig den Kopf bewegen musste, um Blickkontakt zu halten.

»Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt«, sagte Tehol ruhig, »habt Ihr etwas weniger als eine halbe Spitze verloren.«

»Woher wisst Ihr das?«, rief Scint. »Das weiß niemand außer uns!«

»Ich kann Euch beruhigen – es war nur eine Vermutung. Jedenfalls wird es bei dem Kontrakt, den ich Euch anbiete, um die gleiche Summe gehen.«

»Eine halbe Spitze?«

Tehols Lächeln wurde breiter. »Oh, jetzt habe ich Eure uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Hervorragend.«

»Das ist eine absurd große Summe«, meldete sich zum ersten Mal Ormly zu Wort. »Was sollen wir dafür tun – Kolanse erobern?«

»Könntet Ihr das denn?«

Ormly machte ein finsteres Gesicht. »Warum würdet Ihr das von uns wollen, Tehol Beddict?«

»Es würde schwierig werden«, sagte Glisten besorgt. »Eine Belastung unserer menschlichen Ressourcen –«

»Schwierig«, unterbrach sie Scint, »aber nicht unmöglich. Wir müssten Leute von unseren Zellen auf den Inseln rekrutieren –«

»Wartet!«, sagte Tehol. »Ich bin nicht daran interessiert, Kolanse zu erobern.«

»Ihr gehört wohl zu diesen Leuten, die ständig ihre Meinung ändern«, sagte Onyx. Sie lehnte sich zurück, und mit einem Quieken fiel eine Ratte aus ihrem Haarschopf und plumpste hinter ihr zu Boden. »Mit solchen Leuten kann ich nicht arbeiten.«

»Ich habe meine Meinung nicht geändert. Und ich habe auch gar nicht angefangen mit dieser Kolanse-Geschichte. Tatsächlich hat Meisterfänger Ormly –«

»Nun, er kann sich auch nie entscheiden. Ihr beide seid wie füreinander geschaffen.«

Tehol drehte sich zu Bagg um. »Ich bin nicht unentschlossen, oder? Sag es ihnen, Bagg. Wann hast du mich je unentschlossen erlebt?«

Bagg runzelte die Stirn.

»Bagg!«

»Ich denke nach!«

Glistens Stimme kam hinter einem besonders großen Haufen Ratten hervor. »Ich sehe nicht, wo das alles hinführen soll.«

»Das kann ich gut verstehen«, sagte Tehol ruhig.