Das Spiel der Götter (8) - Steven Erikson - E-Book

Das Spiel der Götter (8) E-Book

Steven Erikson

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Beschreibung

Das Königreich Lether, eine vergessene Kolonie am Rande des Imperiums, richtet seine begehrlichen Blicke auf die fruchtbaren Küsten der Tiste Edur. Und während die Spannungen zwischen den Ländern wachsen, erwachen dunkle Mächte zu neuem Leben …

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Seitenzahl: 712

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LÄNDER/GEBIETEderTISTE EDURundNORDGRENZEvonLETHER

Buch

Auf einem Kontinent weit entfernt vom Einflussbereich des malazanischen Imperiums liegt das Königreich Lether, eine vergessene Kolonie des lange vergangenen Ersten Imperiums. Doch in diesem Königreich herrscht kein Stillstand – ganz im Gegenteil: Das Königreich Lether breitet sich immer weiter aus und hat beinahe alle umliegenden Gebiete erobert, deren Bewohner getötet oder versklavt. Und nun, da ein lange prophezeites Ereignis naht, in dessen Verlauf das alte Imperium wiedergeboren und eine neue Epoche anbrechen wird, richten die Letherii ihre Blicke gen Norden, wo die einzigen Nachbarn leben, die sie noch nicht unterworfen haben: die Tiste Edur. Doch diese Stämme der Kinder von Vater Schatten sind inzwischen unter der Herrschaft eines neuen Königs vereint und längst nicht mehr so schwach wie einst – vor allem, da der König offensichtlich auf die Macht eines geheimnisvollen Verbündeten zurückgreifen kann. Der Konflikt scheint unausweichlich, doch weder die Letherii noch die Tiste Edur ahnen, dass nicht sie es sind, die den Gang der Ereignisse bestimmen, sondern dass hier weit größere Mächte am Werk sind – Mächte, die ihre Wurzeln in sehr weit entfernter Vergangenheit haben …

Autor

Steven Erikson, in Kanada geboren, lebte viele Jahre in der Nähe von London, ehe er kürzlich in seine Heimat nach Winnipeg zurückkehrte. Der Anthropologe und Archäologe hat sich mit seiner Fantasy-Saga »Das Spiel der Götter« weltweit eine riesige Fangemeinde erobert.

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorWidmungDanksagungenPrologBuch Eins - Gefrorenes Blut
Kapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel VierKapitel Fünf
Buch Zwei - Dem Tage entgegen
Kapitel SechsKapitel SiebenKapitel AchtKapitel NeunKapitel ZehnKapitel Elf
Dramatis Personae
Die Tiste EdurLetherii-Sklaven bei den Tiste EdurDie LetheriiIm NordenIn der Stadt LetherasAndere
Glossar
Titel bei den LetheriiOrte & Gebiete im Königreich Lether:Städte, Dörfer und Forts der LetheriiProtektorate der LetheriiBenachbarte KönigreicheBezeichnungen und Redewendungen der LetheriiOrte und Namen der Tiste EdurAndere Namen, Titel und BezeichnungenMythos (Letherii, Edur und andere)Die FestenDie Feste des AzathDie Feste der DrachenDie Feste des EisesDie Leere FesteDie Angelpunkte (neutral)
Copyright

Für Christopher Porozny

Danksagungen

Herzlichen Dank der alten Mannschaft – Rick, Chris und Mark – für ihre frühzeitig geäußerten Kommentare zu diesem Roman. Und an Courtney, Cam und David Keck für ihre Freundschaft. Dank auch wie immer an Clare und Bowen, an Simon Taylor und seine Landsleute bei Transworld; an Steve Donaldson, Ross und Perry; an Peter und Nicky Crowther, Patrick Walsh und Howard Morhaim. Und an das Team von Tony’s Bar Italia, die nun schon den zweiten Roman mit ihrem Kaffee befeuert haben.

Prolog

Die Ersten Tage des Zerbrechens von EmurlahnDie Edur-Invasion, das Zeitalter desScabandari BlutaugeDie Zeit der Älteren Götter

Aus den wirbelnden, rauchgeschwängerten Wolken regnete es Blut. Die letzten Himmelsfestungen hatten den Himmel preisgegeben, in Flammen gehüllt und schwarzen Rauch hinter sich herziehend. Sie hatten tiefe Furchen in den Boden gerissen, als sie mit donnerndem Widerhall zur Erde gestürzt waren und im Auseinanderbrechen blutbespritzte Felsbrocken über die zuhauf herumliegenden Leichen geworfen hatten, die das Land von Horizont zu Horizont bedeckten.

Die großen Schwarmstädte hatten sich in aschebedeckte Trümmerhaufen verwandelt, und die gewaltigen Wolken, die sich über ihnen auftürmten – Wolken voller Trümmer, Fleischfetzen und Blut, die bei der Zerstörung himmelwärts geschossen waren –, wirbelten jetzt in Hitzestürmen und schickten sich an, den ganzen Himmel auszufüllen.

Inmitten der ausgelöschten Armeen sammelten sich die Legionen der Eroberer auf der zentralen Ebene – die zumindest dort, wo keine herabgestürzten Himmelsfestungen tiefe Gräben gezogen hatten, sauber mit auserlesenen Steinen gepflastert war – auch wenn die zahllosen Kadaver der Besiegten die Wiederherstellung der Formationen behinderte. Und die Erschöpfung. Die Legionen gehörten zwei unterschiedlichen, in diesem Krieg verbündeten Armeen an, und es war nicht zu übersehen, dass es der einen weitaus besser ergangen war als der anderen.

Der blutige Nebel legte sich auf Scabandaris gewaltige, eisenfarbene Schwingen, als er durch die brodelnden Wolken herabglitt und dabei mit den Nickhäuten blinzelte, um durch seine eisblauen Drachenaugen etwas sehen zu können. Während der Drache sich zum Landeanflug in die Kurve legte, neigte er den Kopf und blickte auf seine siegreichen Kinder herab. Die grauen Banner der Tiste Edur wogten unstet über den sich sammelnden Kriegern hin und her, und Scabandari schätzte, dass noch mindestens achtzehntausend seiner Schattenverwandten übrig waren. Dennoch würde heute Nacht in den Zelten der Ersten Landung getrauert werden. Zu Tagesbeginn waren mehr als zweihunderttausend Edur auf diese Ebene hinausmarschiert. Doch … es waren immer noch genug.

Die Edur waren auf die östliche Flanke der Armee der K’Chain Che’Malle gestoßen, und ihrem Angriff waren Wogen aus vernichtender Zauberei vorausgegangen. Die Streitkräfte des Feindes hatten mit einem Frontalangriff gerechnet und hatten, entsprechend formiert, tödlich lange gebraucht, um sich der Bedrohung an ihrer Flanke zuzuwenden. Wie ein Dolch waren die Legionen der Edur bis ins Herz der feindlichen Armee vorgestoßen.

Als er tiefer ging, konnte Scabandari hier und da verstreut die mitternachtsschwarzen Banner der Tiste Andii sehen. Eintausend Krieger waren noch übrig, vielleicht sogar noch weniger. Bei diesen mitgenommenen Verbündeten von einem Sieg zu sprechen, war mehr als fragwürdig. Sie hatten die K’ell-Jäger angegriffen, die Eliteeinheiten aus Blutsverwandten der drei Matronen. Vierhunderttausend Tiste Andii gegen sechzigtausend Jäger. Zusätzliche Gruppen von Andii und Edur hatten die Himmelsfestungen angegriffen, doch diese Krieger hatten gewusst, dass sie in den Tod gingen; ihr Opfer war von zentraler Bedeutung für den Sieg des heutigen Tages gewesen, denn sie hatten die Himmelsfestungen daran gehindert, den Armeen auf der Ebene zu Hilfe zu kommen. Die Angriffe selbst hatten den vier Himmelsfestungen nur geringen Schaden zugefügt. Obwohl die Kurzschwänze nicht besonders zahlreich gewesen waren, hatte sich ihre Wildheit doch als verheerend erwiesen. Mit dem Blut der angreifenden Tiste war für Scabandari und seinen Verbündeten  – einen Wechselgänger, der sich wie er in einen Drachen verwandeln konnte –, genügend Zeit erkauft worden, damit sie sich auf die fliegenden Festungen stürzen und einen Sturm der Gewirre gegen sie entfesseln konnten: Starvald Demelain, Kurald Emurlahn und Kurald Galain.

Der Drache glitt zu jener Stelle hinunter, wo ein wahrer Berg aus kreuz und quer übereinander liegenden K’Chain Che’Malle-Kadavern den Platz kennzeichnete, an dem eine der Matronen sich zu ihrem letzten Gefecht gestellt hatte. Kurald Emurlahn hatte die Verteidiger niedergemetzelt, und noch immer huschten wilde Schatten wie Gespenster über den Leichenberg. Scabandari spreizte die Schwingen, stand einen Augenblick reglos in der dampfenden Luft und ließ sich dann auf den reptilienartigen Leichnamen nieder.

Einen Augenblick später nahm er wieder seine Tiste-Edur-Gestalt an. Haut in der Farbe gehämmerten Eisens, lange, offen herabfallende graue Haare, ein hageres Adlergesicht mit eng beieinander stehenden Augen. Ein breiter Mund mit herabgezogenen Mundwinkeln, der aussah, als hätte er noch nie gelacht. Eine hohe, faltenfreie Stirn, auf der diagonale Narben verliefen, die sich hell gegen seine dunkle Haut abzeichneten. Er trug einen ledernen Harnisch, an dem sein zweihändiges Schwert befestigt war, und einen Gurt mit Langmessern um die Hüfte. Von seinen Schultern hing ein schuppiger Umhang – die Haut einer Matrone, so frisch, dass die natürlichen Öle sie noch immer glänzen ließen.

Da stand er nun – eine große, von zahllosen Blutspritzern gesprenkelte Gestalt, und schaute zu, wie sich die Legionen neu formierten. Offiziere der Edur sahen in seine Richtung und machten sich daran, ihren Truppen Anweisungen zu erteilen.

Jetzt blickte Scabandari gen Nordwesten, starrte aus zusammengekniffenen Augen in die aufgeblähten Wolken. Einen Augenblick später brach ein riesiger, knochenweißer Drache aus ihnen hervor, der fast noch größer wirkte als Scabandari in seiner Drachengestalt. Auch er war blutverschmiert – und viel von diesem Blut stammte von ihm selbst, denn Silchas Ruin hatte an der Seite seiner Andii-Verwandten gegen die K’ell-Jäger gekämpft.

Scabandari beobachtete, wie sein Verbündeter näher kam, trat nur einen Schritt zurück, als der gewaltige Drache sich auf der Hügelkuppe niederließ und sich dann schnell verwandelte – in ein Wesen, das mehr als einen Kopf größer war als der Wechselgänger aus dem Volk der Tiste Edur. Doch er war entsetzlich hager, die Muskelstränge zeichneten sich wie Seile unter seiner glatten, beinah durchsichtigen Haut ab. In den dichten, langen weißen Haaren des Kriegers schimmerten die Krallen eines Raubtiers. Seine roten Augen leuchteten so hell, dass sie fiebrig wirkten. Silchas Ruin war verwundet: Spuren mehrerer Schwerthiebe zogen sich über seinen Körper. Der größte Teil der Rüstung, die seinen Oberkörper bedeckt hatte, war abgefallen, so dass das sich verzweigende Geflecht aus Adern und Arterien unter der dünnen Haut seiner haarlosen Brust deutlich zu erkennen war. Auch seine Beine waren blutverschmiert, ebenso wie seine Arme. Die beiden Schwertscheiden an seinen Hüften waren leer; beide Waffen waren abgebrochen – trotz der eingewobenen Schutzzauber, mit denen sie ausgestattet gewesen waren. Er hatte einen verzweifelten Kampf gefochten.

Scabandari neigte grüßend den Kopf. »Silchas Ruin, mein Bruder im Geiste. Treuester aller Verbündeten. Seht Euch die Ebene an – wir haben gesiegt!«

Das farblose Gesicht des Albino-Tiste-Andii verzog sich zu einem stummen Grinsen.

»Meine Legionen sind Euch spät zu Hilfe gekommen«, sagte Scabandari. »Deswegen brechen mir Eure Verluste das Herz. Dennoch  – jetzt halten wir das Tor, oder? Der Weg, der auf diese Welt führt, gehört uns, und die Welt selbst liegt vor uns – wartet darauf, dass wir sie plündern und Reiche errichten, die unserer Völker würdig sind.«

Ruins langfingrige, blutbefleckte Hände zuckten, und er wandte sich der Ebene unter ihm zu. Die Legionen der Edur hatten sich zu einem groben Ring formiert, der die wenigen überlebenden Andii umschloss. »Tod verseucht die Luft«, knurrte Silchas Ruin. »Ich kann kaum Luft zum Sprechen holen.«

»Später wird noch genügend Zeit sein, um neue Pläne zu schmieden«, sagte Scabandari.

»Mein Volk ist hingeschlachtet worden. Jetzt umringt Ihr uns, doch Euer Schutz kommt viel zu spät.«

»Jetzt ist er eben eher symbolisch gemeint, mein Bruder. Es gibt noch andere Tiste Andii auf dieser Welt – das habt Ihr selbst gesagt. Ihr müsst nur jene erste Welle finden, und Ihr werdet wieder stark sein. Außerdem werden andere kommen. Meine wie Eure Art, wir sind auf der Flucht vor unserer Niederlage.«

Silchas Ruins Stirnrunzeln vertiefte sich. »Der Sieg dieses Tages ist eine bittere Alternative.«

»Die K’Chain Che’Malle sind fast dahin – so viel wissen wir. Wir haben die vielen anderen verlassenen Städte gesehen. Jetzt ist nur noch Morn übrig, und das liegt auf einem weit entfernten Kontinent  – und in ebendiesem Augenblick zerbrechen dort die Kurzschwänze ihre Ketten in blutiger Rebellion. Ein Feind, der uneins ist, ist ein Feind, der bald fallen wird, mein Freund. Wer auf dieser Welt hat sonst noch die Macht, sich uns entgegenzustellen? Die Jaghut? Sie leben weit verstreut und sind nur wenige. Die Imass? Was können Waffen aus Stein gegen unseren Stahl ausrichten?« Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Die Forkrul Assail scheinen nicht willens, über uns ein Urteil zu fällen. Und sie scheinen sowieso von Jahr zu Jahr weniger zu werden. Nein, mein Freund, durch den Sieg, den wir an diesem Tag errungen haben, liegt uns diese Welt zu Füßen. Hier werdet Ihr nicht unter den Bürgerkriegen leiden, die Kurald Galain heimsuchen. Und ich und meine Gefolgsleute, wir werden der Spaltung entfliehen, die nun Kurald Emurlahn bedrängt …«

Silchas Ruin stieß ein Schnauben aus. »Eine Spaltung, die Ihr mit eigenen Händen herbeigeführt habt, Scabandari.«

Er betrachtete noch immer die Streitkräfte der Tiste unten auf der Ebene und konnte daher das Aufflackern von Wut nicht sehen, das auf seine lässig dahingeworfene Bemerkung folgte, um einen Augenblick später wieder zu verschwinden. Erneut breitete sich Gelassenheit auf Scabandaris Gesichtszügen aus. »Eine neue Welt für uns, Bruder.«

»Da drüben im Norden steht ein Jaghut auf einem Gebirgsgrat«, sagte Silchas Ruin. »Ein Zeuge des Krieges. Ich habe mich ihm nicht genähert, denn ich habe den Beginn eines Rituals gespürt. Omtose Phellack.«

»Fürchtet Ihr diesen Jaghut, Silchas Ruin?«

»Ich fürchte, was ich nicht kenne, Scabandari … Blutauge. Und es gibt über diese Sphäre und ihre Eigenarten noch viel zu lernen.«

»Blutauge.«

»Ihr könnt Euch selbst nicht sehen«, sagte Ruin, »aber ich gebe Euch diesen Namen angesichts des Blutes, das nun Eure … Sicht befleckt.«

»Köstlich, dass ausgerechnet Ihr das sagt, Silchas Ruin.« Dann zuckte Scabandari die Schultern und trat vorsichtig über die leicht verrutschenden Körper hinweg an den nördlichen Rand des Leichenbergs. »Ein Jaghut, habt Ihr gesagt …« Er drehte sich um, doch Silchas Ruin, der noch immer auf die Ebene mit seinen wenigen überlebenden Gefolgsleuten hinabstarrte, kehrte ihm den Rücken zu.

»Omtose Phellack, das Gewirr des Eises«, sagte Ruin, ohne sich umzudrehen. »Was beschwört er, Scabandari Blutauge? Ich frage mich …«

Der Wechselgänger aus dem Volk der Edur kehrte zu Silchas Ruin zurück.

Er griff zur Außenseite seines linken Stiefels hinunter und zog einen Dolch heraus, um dessen Schneide Schatten wallten. Magische Energien spielten über die Klinge.

Ein letzter Schritt – und er rammte Silchas Ruin den Dolch in den Rücken.

Der Tiste Andii zuckte krampfartig zusammen, schrie laut auf – während sich die Legionen der Edur schlagartig auf die Andii stürzten und von allen Seiten ins Zentrum des weiten Rings stürmten, um das letzte Gemetzel dieses Tages zu Ende zu bringen.

Magie wob sich windende Ketten um Silchas Ruin, und der Albino aus dem Volk der Tiste Andii brach zusammen.

Scabandari Blutauge kauerte sich über ihn. »So ist es eben unter Brüdern, leider«, murmelte er. »Einer muss herrschen. Zwei können es nicht. Du weißt, dass das wahr ist. So groß diese Welt auch sein mag, Silchas Ruin, früher oder später hätte es Krieg zwischen den Edur und den Andii gegeben. Unser Blut hätte es gefordert. Und so wird nur einer über das Tor herrschen. Nur die Edur werden hindurchgehen. Wir werden die Andii zur Strecke bringen, die bereits hier sind – was für einen Kämpen könnten sie denn aufbieten, der in der Lage wäre, mich herauszufordern? Sie sind schon so gut wie tot. Und so muss es sein. Ein Volk. Ein Herrscher.« Er richtete sich wieder auf, während die letzten Schreie der sterbenden Andii-Krieger von der Ebene zu ihnen heraufdrangen. »Ich kann dich nicht auf der Stelle töten – dafür bist du zu mächtig. Daher werde ich dich an einen geeigneten Ort bringen und dich dort zurücklassen – auf dem durchwühlten Boden inmitten von Wurzeln, Erde und Steinen …«

Er verwandelte sich in seine Drachengestalt. Ein gewaltiger, mit riesigen Krallen versehener Fuß schloss sich um den reglosen Silchas Ruin, und mit mächtigen Flügelschlägen schraubte sich Scabandari Blutauge in den Himmel.

Der Turm lag keine dreihundert Meilen im Süden; nur die übel zugerichtete niedrige Mauer, die den Hof umschloss, offenbarte, dass das Gebäude nicht von den Jaghut stammte, sondern sich aus eigenem Antrieb neben den drei Türmen der Jaghut erhoben hatte, einem Gesetz folgend, das für Götter wie Sterbliche gleichermaßen unergründlich war. Dass es sich erhoben hatte, um die Ankunft jener Wesen zu erwarten, die es für alle Ewigkeit in seinem Innern gefangen halten würde. Geschöpfe von tödlicher Macht.

Geschöpfe wie Silchas Ruin, den Wechselgänger aus dem Volk der Tiste Andii, den dritten und letzten der drei Söhne von Mutter Dunkel.

Und auf diese Weise würde auch der letzte würdige Gegner Scabandari Blutauges unter den Tiste aus dem Weg von geräumt werden.

Die drei Kinder von Mutter Dunkel.

Drei Namen …

Andarist, der als Reaktion auf einen unstillbaren Kummer seine Macht schon vor langer Zeit aufgegeben hat. Ohne zu wissen, dass die Hand, die ihm diesen Kummer zugefügt hatte, die meine war …

Anomandaris Irake, der mit seiner Mutter und seiner Art gebrochen hat. Der dann verschwunden ist, bevor ich mich um ihn kümmern konnte. Der verschwunden ist und vermutlich nie wieder auftauchen wird.

Und nun Silchas Ruin, der schon bald das ewige Gefängnis des Azath kennen lernen wird.

Scabandari Blutauge war erfreut. Für sein Volk. Für sich. Er würde diese Welt erobern. Nur die ersten Andii-Siedler konnten sich seinem Herrschaftsanspruch entgegenstellen.

Ein Kämpe der Tiste Andii in dieser Sphäre? Mir fällt keiner ein, keiner, der die Macht hätte, sich mir entgegenzustellen …

Es kam Scabandari Blutauge nicht in den Sinn, sich zu fragen, wo denn derjenige der drei Söhne von Mutter Dunkel, der verschwunden war, hingegangen sein mochte.

Doch das war nicht einmal sein größter Fehler …

Auf einer Gletscherberme im Norden begann der einsame Jaghut die Zauberei von Omtose Phellack zu weben. Er war Zeuge der Verwüstung gewesen, die die beiden Wechselgänger-Eleint und ihre Armeen angerichtet hatten. Er hatte nur wenig für die K’Chain Che’Malle übrig. Sie waren ohnehin im Aussterben begriffen, aus Myriaden von Gründen, von denen keiner den Jaghut allzu sehr beunruhigte. Genauso wenig wie ihm die Eindringlinge Sorgen machten. Er hatte schon vor langer Zeit die Fähigkeit verloren, sich Sorgen zu machen. Zusammen mit seiner Furcht. Und – wie er zugeben musste – dem Staunen.

Er hatte den Verrat gespürt und auch gefühlt, wie sich magische Energien in der Ferne entfaltet hatten und das Blut eines Aufgestiegenen vergossen worden war. Und jetzt waren die beiden Drachen zu einem geworden.

Typisch.

Und dann, kurze Zeit später, während einer Ruhepause zwischen den einzelnen Schritten seines Rituals, spürte er, wie sich ihm jemand von hinten näherte. Ein Älterer Gott, den der gewaltsam erschaffene Riss zwischen den Sphären auf den Plan gerufen hatte. Wie er es erwartet hatte. Aber … welcher Gott war es? K’rul? Draconus? Die Schwester der Kalten Nächte? Osserc? Kilmandaros? Sechul Lath? Trotz all seiner einstudierten Gleichgültigkeit zwang ihn die Neugier schließlich doch, sich nach dem Neuankömmling umzudrehen.

Oh, unerwartet … aber interessant.

Mael, der Ältere Gott der Meere, war breit und untersetzt gebaut, mit tiefblauer Haut, die an der Kehle und seinem nackten Bauch zu einem hellen Goldton verblasste. Glattes, blondes Haar hing offen von seinem breiten, beinah schon flachen Schädel herab. Und Maels bernsteinfarbene Augen loderten voller Wut.

»Gothos«, sagte Mael krächzend, »was für ein Ritual vollziehst du da?«

Der Jaghut warf ihm einen finsteren Blick zu. »Sie haben eine Sauerei angerichtet. Ich habe vor, diesen Ort wieder zu säubern.«

»Mit Eis«, schnaubte der Ältere Gott. »Die Antwort der Jaghut auf alles.«

»Und wie würde deine Antwort aussehen, Mael? Eine Flut, oder … eine Flut?«

Der Ältere Gott schaute gen Süden. Seine Kiefermuskeln traten hervor. »Ich werde eine Verbündete haben. Kilmandaros. Sie kommt von der anderen Seite des Spalts.«

»Es ist nur noch ein Wechselgänger der Tiste übrig«, sagte Gothos. »Anscheinend hat er seinen Kameraden niedergestreckt und übergibt ihn wohl genau in diesem Augenblick dem Gewahrsam des Azath inmitten seines überfüllten Hofs.«

»Er ist voreilig. Glaubt er, die K’Chain Che’Malle sind die Einzigen in dieser Sphäre, die ihm Widerstand leisten können?«

Der Jaghut zuckte die Schultern. »Vermutlich.«

Mael schwieg einige Zeit. Schließlich seufzte er und sagte: »Zerstöre nicht all das hier mit deinem Eis, Gothos. Stattdessen bitte ich dich, es zu … erhalten.«

»Warum?«

»Ich habe meine Gründe.«

»Das freut mich für dich. Wie sehen sie aus?«

Der Ältere Gott warf ihm einen düsteren Blick zu. »Unverschämter Kerl.«

»Warum etwas ändern?«

»In den Meeren wird die Zeit sichtbar, Jaghut. In den Tiefen gibt es Strömungen, die unermesslich alt sind. In den Untiefen flüstert die Zukunft. Und zwischen ihnen fließen die Gezeiten hin und her, in nie endendem Austausch. So ist meine Sphäre. So ist mein Wissen. Versiegle diese Verwüstung mit deinem verdammten Eis, Gothos. Friere an diesem Ort die Zeit selbst ein. Wenn du das tust, werde ich akzeptieren, dass ich dir etwas schuldig bin – und das könntest du eines Tages vielleicht nützlich finden.«

Gothos dachte einen Augenblick über die Worte des Älteren Gottes nach und nickte dann. »Schon möglich. Also gut, Mael. Geh zu Kilmandaros. Schlage diesen Tiste-Eleint nieder und zerstreue sein Volk. Aber tu es schnell.«

Mael kniff die Augen zusammen. »Warum?«

»Weil ich spüre, wie in der Ferne jemand erwacht – aber leider nicht in so großer Ferne wie es dir lieb wäre.«

»Anomander Rake.«

Gothos nickte.

Mael zuckte die Schultern. »Das war vorauszusehen. Osserc wird sich ihm in den Weg stellen.«

Der Jaghut lächelte und entblößte dabei seine kräftigen Hauer. »Wieder?«

Der Ältere Gott konnte ein Grinsen nicht verbergen.

Doch obwohl beide lächelten, herrschte keine fröhliche Stimmung auf der Gletscherberme.

Das Jahr 1159 von Brands SchlafDas Jahr der Weißen Adern im EbenholzDrei Jahre vor der Siebten Schließung der Letherii

Er erwachte nackt, die Nase voller Salz und halb im Sand vergraben inmitten der Trümmer, die der Sturm zurückgelassen hatte. Möwen kreischten über seinem Kopf, ihre Schatten huschten über den geriffelten Strand. Seine Eingeweide zogen sich in Krämpfen zusammen; er stöhnte und rollte sich langsam herum.

Es lagen noch mehr Leichen am Strand, wie er sah. Und Wrackteile. Unterschiedlich große Brocken von schnell schmelzendem Eis knisterten im Flachwasser. Tausende von Krabben flitzten hin und her.

Der große Mann richtete sich auf Hände und Knie auf. Und erbrach bittere Flüssigkeit. Hämmernde Schmerzen zuckten durch seinen Schädel, so stark, dass sie ihn beinah blind machten, und es dauerte einige Zeit, bis er sich schließlich wieder hinsetzte und einmal mehr mit düsterem Blick umschaute.

Ein Ufer, wo kein Ufer sein sollte.

Und in der Nacht zuvor waren Berge aus Eis aus den Tiefen aufgestiegen, und einer davon – der größte all dieser Eisberge – hatte die Oberfläche direkt unter der riesigen, treibenden Stadt der Meckros erreicht. Hatte sie zerbrochen, als wäre sie ein aus wenigen Zweigen zusammengebundenes Floß. Die Geschichtsschreibung der Meckros wusste von keinem einzigen Ereignis, das auch nur annähernd der Verwüstung nahe gekommen wäre, die er erlebt hatte. Die plötzliche und praktisch vollständige Auslöschung einer Stadt, die zwanzigtausend Bewohnern eine Heimat gewesen war. Und ihm wurde schmerzhaft klar, dass er es so richtig immer noch nicht glauben konnte – als ob seine eigenen Erinnerungen aus unmöglichen Bildern bestünden, Phantastereien eines fiebernden Gehirns.

Doch er wusste, dass er sich nichts eingebildet hatte. Er hatte nur zugesehen.

Und irgendwie überlebt.

Die Sonne war warm, aber nicht heiß. Der Himmel über ihm war eher milchig weiß als blau. Und die Möwen, das sah er jetzt, waren etwas völlig anderes: Reptilien mit blassen Schwingen.

Er richtete sich taumelnd auf. Die Kopfschmerzen ließen allmählich nach, doch stattdessen durchfuhren ihn Schauer, und sein Durst war wie ein rasender Dämon, der versuchte, ihm die Kehle aufzureißen.

Die Schreie der fliegenden Echsen veränderten sich und wurden schriller. Er drehte sich zum Landesinnern um.

Drei Kreaturen waren aufgetaucht, kletterten durch die farblosen Grasbüschel oberhalb der Flutlinie. Sie reichten ihm kaum bis zur Hüfte, waren schwarzhäutig, haarlos, mit vollkommen runden Köpfen und spitzen Ohren. Bhoka’ral. Er erinnerte sich an sie – damals, in seiner Jugendzeit, war ein Handelsschiff von Nemil zurückgekehrt  –, aber die hier schienen wesentlich muskulöser zu sein und waren mindestens doppelt so schwer wie die Schoßtierchen, die die Händler mit in die schwimmende Stadt gebracht hatten. Sie kamen genau auf ihn zu.

Er blickte sich nach etwas um, das er als Waffe benutzen könnte, und fand ein Stück Treibholz, das eine Art Keule abgab. Diese Keule wog er in der Hand, während er wartete, dass die Bhoka’ral näher kamen.

Sie blieben stehen und starrten ihn aus gelb gesprenkelten Augen an.

Dann machte der Mittlere eine Bewegung.

Komm. Es gab keinen Zweifel an der Bedeutung dieses allzu menschlich wirkenden Zeichens.

Der Mann ließ erneut seine Blicke den Strand entlangschweifen – keiner der Körper, die er sehen konnte, bewegte sich, und die Krabben hielten ungestört ihr Festmahl. Er starrte noch einmal zu dem merkwürdigen Himmel hinauf und ging schließlich den drei Kreaturen entgegen.

Sie wichen zurück und führten ihn die grasbewachsene Böschung hoch.

Die Gräser waren vollkommen anders als alles, was er jemals zuvor gesehen hatte – lange dreieckige Röhren, deren Kanten rasiermesserscharf waren. Das fand er allerdings erst heraus, nachdem er sich durch sie hindurchgezwängt hatte und feststellen musste, dass seine Beine kreuz und quer von Schnittwunden überzogen waren. Hinter der Böschung erstreckte sich eine flache Ebene ins Landesinnere, nur hier und da mit Grasbüscheln derselben Art bestanden. Der Boden zwischen ihnen war salzverkrustet und unfruchtbar. Ein paar Felsbrocken sprenkelten die Ebene; keine zwei glichen einander, und alle waren sie merkwürdig eckig, kein bisschen verwittert.

In der Ferne stand ein einzelnes Zelt.

Als sie näher kamen, sah er Rauchfäden von der Spitze und der geschlitzten Zeltklappe aufsteigen, die den Eingang kennzeichnete.

Seine Eskorte machte Halt, und ein zweites Winken bedeutete ihm, sich zum Eingang zu begeben. Schulterzuckend kauerte er sich hin und kroch ins Innere.

Im Zwielicht saß eine verhüllte Gestalt, deren Gesichtszüge durch eine Kapuze verborgen waren. Vor ihr stand eine Kohlenpfanne, von der berauschende Dämpfe aufstiegen. Neben dem Eingang stand eine Kristallflasche, und daneben lagen ein paar getrocknete Früchte und ein Laib dunkles Brot.

»In der Flasche befindet sich Quellwasser«, krächzte die Gestalt in der Sprache der Meckros. »Bitte, lass dir Zeit und erhole dich von deinen Strapazen.«

Er brummte ein Dankeschön und griff rasch nach der Flasche. »Ich danke dir, Fremder«, murmelte er, dann schüttelte er den Kopf. »Dieser Rauch lässt dich vor meinen Augen verschwimmen.«

Ein abgehacktes Keuchen, das auch ein Lachen gewesen sein könnte, dann etwas, das entfernt an ein Schulterzucken erinnerte. »Immer noch besser als zu ertrinken. Leider brauche ich es, denn es macht mir meine Schmerzen erträglicher. Ich werde dich nicht lange hier behalten. Du bist Withal, der Schwertfeger.«

Der Mann zuckte zusammen und legte die Stirn in Falten. »Ja, ich bin Withal, aus der Dritten Stadt der Meckros – die es nun nicht mehr gibt.«

»Ein tragisches Ereignis. Du bist der einzige Überlebende … dank meiner Anstrengungen, auch wenn es meine Kräfte sehr beansprucht hat, mich da einzumischen.«

»Was ist das hier für ein Ort?«

»Das Nirgendwo, im Herzen des Nirgendwo. Ein Bruchstück, das dazu neigt zu wandern. Ich gebe ihm das Leben, das ich mir vorstellen kann, heraufbeschworen aus Erinnerungen an meine Heimat. Meine Stärke kehrt zurück, wenn auch die Agonie in meinem zerschmetterten Körper nicht nachlässt. Aber hör doch nur, ich habe gesprochen und nicht gehustet. Das ist schon etwas.« Eine verstümmelte Hand schob sich aus einem zerfetzten Ärmel und verteilte Samen auf den glühenden Kohlen. Sie sprotzelten und platzten auf, und der Rauch wurde dichter.

»Wer bist du?«, wollte Withal wissen.

»Ein gefallener Gott … der deine Fähigkeiten braucht. Ich habe mich auf deine Ankunft vorbereitet, Withal. Eine Wohnung, eine Schmiede, all die Rohmaterialien, die du brauchen wirst. Kleidung, Nahrungsmittel, Wasser. Und drei eifrige Diener, die du bereits kennen gelernt hast …«

»Die Bhoka’ral?« Withal schnaubte. »Was können…«

»Das sind keine Bhoka’ral, Sterblicher. Auch wenn sie vielleicht mal welche waren. Das sind Naechts. Ich habe sie Rind, Mape und Pule genannt. Sie sind wie Jaghuts und können alles lernen, was du von ihnen verlangst.«

Withal erhob sich. »Ich danke Euch für die Rettung, Gefallener, aber ich werde Euch jetzt verlassen. Ich möchte in meine eigene Welt zurückkehren …«

»Du hast mich nicht richtig verstanden, Withal«, zischte die Gestalt. »Du wirst tun, was ich dir sage, oder du wirst schon bald um deinen Tod betteln. Du gehörst jetzt mir, Schwertfeger. Du bist mein Sklave, und ich bin dein Herr. Die Meckros besitzen Sklaven, ja? Arme Seelen, die ihr auf euren Raubzügen aus irgendwelchen Inseldörfern raubt. Also dürfte das Konzept dir vertraut sein. Doch du solltest nicht verzweifeln, denn wenn du das, worum ich dich bitte, fertig gestellt hast, wirst du gehen können, wohin du willst.«

Withal umklammerte noch immer die Keule, die in seinem Schoß lag. Er dachte nach.

Ein Husten, dann ein Lachen, dann noch mehr Husten; während des Hustenanfalls hob der Gott eine Hand. Als der Anfall schließlich vorüber war, sagte er: »Ich rate dir, dich nicht widerspenstig zu zeigen, Withal. Ich habe dich für genau diese Aufgabe aus dem Meer gefischt. Hast du all deine Ehre verloren? Gehorche mir in dieser Sache, denn du würdest es zutiefst bedauern, wenn du meinen Zorn zu spüren bekämest.«

»Was soll ich für Euch tun?«

»Schon besser. Was du für mich tun sollst, Withal? Nun, nur das, was du am besten kannst. Mach mir ein Schwert.«

Withal grunzte. »Das ist alles?«

Die Gestalt beugte sich nach vorn. »Oh, nun, mir schwebt da ein ganz besonderes Schwert vor …«

Buch Eins

Gefrorenes Blut

Da ist ein Speer aus Eis, der erst vor kurzem ins Herz des Landes gestoßen wurde. Die Seele in seinem Inneren sehnt sich danach zu töten. Wer den Speer ergreift, wird den Tod erleiden. Wieder und wieder wird er den Tod erleiden.

Hannan Mosags Vision

Kapitel Eins

Hört! Die Meere flüstern und träumen davon Durch das Zerkrümeln von Steinen Wahrheiten zu zerbrechen

Hantallit von Bergmannsschleuse

Das Jahr des Späten FrostsEin Jahr vor der Siebten Schließung der LetheriiDas Aufsteigen der Leeren Feste

Hier ist nun also die Geschichte. Zwischen dem Rauschen der Gezeiten, als Riesen niederknieten und zu Bergen wurden. Als sie überall auf das Land fielen wie die Ballaststeine des Himmels, sich jedoch nicht gegen die aufgehende Dämmerung behaupten konnten. Zwischen dem Rauschen der Gezeiten werden wir über einen solchen Riesen sprechen. Denn die Geschichte verbirgt sich in seiner eigenen Geschichte.

Und sie ist unterhaltsam.

Also.

In der Dunkelheit schloss er die Augen. Er hatte sich entschieden, sie nur bei Tag zu öffnen, denn er war zu folgendem Urteil gelangt: die Nacht trotzt dem Sehen – welcher Sinn liegt also darin zu versuchen, die Dunkelheit zu durchdringen, wenn kaum etwas zu erkennen ist?

Betrachtet außerdem dies. Er kam an den Rand des Landes und entdeckte das Meer, und er war von der geheimnisvollen Flüssigkeit fasziniert. Eine Faszination, die im Verlauf jenes einen schicksalsträchtigen Tages zur Besessenheit wurde. Er konnte sehen, wie die Wellen sich bewegten, auf und ab entlang der Küste, eine unaufhörliche Bewegung, die immer wieder drohte, das ganze Land zu umschließen, und der es doch nicht gelang. Er betrachtete das Meer während der hohen Winde des Nachmittags, wurde Zeuge, wie es sich weit oben an den sanft geneigten Strand warf; manchmal kam es in der Tat sehr weit, doch immer zog es sich träge wieder zurück.

Als die Nacht kam, schloss er die Augen und legte sich zum Schlafen hin. Morgen, beschloss er, würde er noch einmal auf dieses Meer hinausblicken.

In der Dunkelheit schloss er die Augen.

Die Flut kam des Nachts und wirbelte um den Riesen herum. Die Flut kam und ertränkte ihn, während er schlief. Und das Wasser ließ Mineralien in sein Fleisch einsickern, bis es wie Felsgestein wurde, ein knorriger Grat am Strand. Und dann kam die Flut Nacht für Nacht – Tausende von Jahren lang – um ihm seine Gestalt zu nehmen. Seine Form.

Aber nicht vollständig. Um ihn noch richtig zu sehen – sogar bis zum heutigen Tag –, muss man während der Dunkelheit schauen. Oder im hellsten Sonnenlicht die Augen zu Schlitzen zusammenkneifen. Man muss von der Seite her schauen oder sich auf alles andere konzentrieren, nur nicht auf den Stein selbst.

Von all den Geschenken, die Vater Schatten seinen Kindern gegeben hat, ist dieses Talent das größte. Schau weg, um zu sehen. Vertraue darauf, und du wirst in den Schatten geführt. Wo sich alle Wahrheiten verbergen.

Schau weg, um zu sehen.

Schau also jetzt weg.

Als der dunklere Schatten über den Schnee glitt, den die Abenddämmerung bereits bläulich eingefärbt hatte, spritzten die Mäuse auseinander. Voller Panik rasten sie davon, doch das Schicksal einer unter ihnen war bereits besiegelt. Ein einziger, mit Federbüschelchen besetzter Fuß zuckte nach unten, lange Krallen bohrten sich in den bepelzten Körper und zermalmte winzige Knochen.

Vollkommen lautlos hatte die Eule sich am Rande der Lichtung von ihrem Zweig fallen lassen, war im Segelflug über den hart gefrorenen Schnee und die darauf verstreuten Samen hinweggeglitten. Nachdem ihre Flugbahn, als sie die Maus vom Boden pflückte, kurz den tiefsten Punkt erreicht hatte, stieg sie jetzt wieder nach oben und strebte mit heftigen Flügelschlägen auf einen nahe stehenden Baum zu. Dort landete sie auf einem Bein und begann einen Augenblick später zu fressen.

Die Gestalt, die ein Dutzend Herzschläge später über die Lichtung trabte, erblickte nichts Widriges. Die Mäuse waren alle verschwunden, der Schnee so hart, dass sie darauf keine Spuren hinterlassen hatten, und die Eule erstarrte in ihrer Höhlung zwischen den Zweigen der Fichte zur Bewegungslosigkeit und beobachtete die Gestalt auf ihrem Weg über die Lichtung aus weit geöffneten Augen. Als sie vorüber war, fraß die Eule weiter.

Die Dämmerung gehörte den Jägern, und der Raubvogel war für heute Abend noch nicht fertig.

Während Trull Sengar den Windungen des Pfads auf dem gefrorenen Boden folgte, waren seine Gedanken weit weg, so dass er dem Wald, der ihn umgab, keinerlei Beachtung schenkte und, völlig untypisch für ihn, von allen Zeichen und Einzelheiten, die sich ihm boten, abgelenkt war. Er hatte noch nicht einmal Halt gemacht, um Sheltatha Lore, Tochter Duster, der höchstgeschätzten der Drei Töchter von Vater Schatten, ein Opfer zu bringen – obwohl er das morgen bei Sonnenuntergang wiedergutmachen würde. Ganz im Gegenteil hatte er sich zuvor schon gedankenlos durch Sprengsel aus noch vorhandenem Licht bewegt, die den Pfad getüpfelt hatten, und dadurch riskiert, die Aufmerksamkeit der launischen Sukul Ankhadu zu erregen, der Tochter der Tücke, die auch als Dippel bekannt war.

Die Calach-Bänke wimmelten von Robben. Sie waren früh gekommen, hatten Trull überrascht, der oberhalb der Wasserlinie unbearbeitete Jade gesammelt hatte. Die Ankunft der Robben hätte normalerweise nichts als freudige Erregung in dem jungen Tiste Edur geweckt, doch mit den Robben waren noch andere gekommen, in Schiffen, die sich ringsum in der Bucht verteilten, und sie hatten bereits begonnen, die Ernte einzubringen.

Letherii, das weißhäutige Volk aus dem Süden.

Er konnte sich vorstellen, wie wütend die Bewohner des Dorfes, dem er sich jetzt näherte, sein würden, sobald er seine Entdeckung mitgeteilt hätte – und er teilte diese Wut. Dieser Übergriff auf das Territorium der Edur war unverschämt, der Raub der Robben, die rechtmäßig seinem Volk zustanden, eine arrogante Herausforderung der alten Übereinkünfte.

Es gab Dummköpfe bei den Letherii, genau wie es bei den Edur Dummköpfe gab. Trull konnte sich nicht vorstellen, dass diese Tat von höherer Stelle gebilligt sein konnte. Das Große Treffen war nur noch zwei Mondzyklen entfernt. Keiner der beiden Seiten nutzte es etwas, jetzt Blut zu vergießen. Wobei es keine Rolle spielte, dass die Edur das Recht auf ihrer Seite hätten, wenn sie die Schiffe der Eindringlinge angriffen und zerstörten; die Delegation der Letherii würde aufgebracht sein, wenn ihre Mitbürger einem Blutbad zum Opfer fielen, selbst wenn es Bürger waren, die gegen die Gesetze verstoßen hatten. Die Chancen, einen neuen Vertrag zu schließen, waren gerade winzig klein geworden.

Und das beunruhigte Trull Sengar. Die Edur hatten gerade erst einen langen, grausamen Krieg beendet; der Gedanke, dass schon bald ein anderer beginnen würde, war kaum zu ertragen.

Er hatte seine Brüder während der Unterwerfungskriege nicht in Verlegenheit gebracht; an seinem breiten Gürtel befand sich eine Reihe aus einundzwanzig rotfleckigen Nieten, die jeweils eine bravouröse Tat symbolisierten, und von diesen waren wiederum sieben mit weißer Farbe umgeben – ein Hinweis auf echte Tötungen. Von den männlichen Nachkommen Tomad Sengars wies nur der Gürtel seines älteren Bruders mehr Trophäen auf, und das war angesichts der herausragenden Position, die Forcht Sengar unter den Kriegern der Hiroth innehatte, auch richtig so.

Natürlich waren Kämpfe gegen die fünf anderen Stämme der Edur an strenge Regeln und Verbote gebunden, und selbst in großen, langwierigen Schlachten hatte es nie mehr als eine Hand voll Tote gegeben. Dennoch waren die Eroberungszüge anstrengend gewesen. Wenn es aber gegen die Letherii ging, gab es keine Regeln, an die die Krieger der Edur sich halten mussten. Dann ging es nicht mehr um Bravourstückchen, sondern nur noch ums Töten. Dieser Feind musste auch keine Waffe in der Hand halten – selbst die Hilflosen und Unschuldigen würden Bekanntschaft mit der Klinge machen. Ein solches Gemetzel zeichnete Krieger und Opfer gleichermaßen.

Doch Trull wusste nur zu gut, dass er dem bevorstehenden Töten zwar mit Abscheu entgegensah, dies aber nur sich selbst gegenüber zugeben und an der Seite seiner Brüder dahinschreiten würde, das Schwert in der Hand, um das Strafgericht der Edur auf die Eindringlinge herabzubringen. Es bestand keine andere Möglichkeit. Wenn man dieses Verbrechen nicht ahndete, würden noch mehr folgen, in niemals endenden Wellen.

Sein gleichmäßiger Laufschritt führte ihn an den Gerbereien mit ihren Trögen und steingefassten Gruben vorbei zum Waldrand. Ein paar Letherii-Sklaven schauten in seine Richtung und neigten voller Ehrerbietung schnell den Kopf, bis er vorbei war. Die hoch aufragende Palisade aus Zedernstämmen erhob sich auf der Lichtung vor ihm, und darüber hingen lang gezogene Schwaden aus Holzrauch. Felder mit fruchtbarer, schwarzer Erde erstreckten sich zu beiden Seiten des schmalen, erhöhten Wegs, der zum entfernten Tor führte. Der Winter hatte gerade erst begonnen, seinen eisigen Griff um die Erde zu lockern, und bis zur ersten Aussaat würden noch Wochen vergehen. Im Hochsommer würde es beinahe dreißig verschiedene Arten von Pflanzen auf diesen Feldern geben, die als Nahrung, Heilmittel, Fasern und Viehfutter dienten, und viele dieser dreißig verschiedenen Pflanzen würden Blüten tragen und die Bienen anlocken, die wiederum für Honig und Wachs sorgten. Die Frauen des Stammes würden die Sklaven bei der Ernte beaufsichtigen. Die Männer würden sich in kleinen Gruppen in den Wald begeben, um Holz zu schlagen oder zu jagen, während andere sich in die Knarriboote setzen würden, um Robben und Fische zu fangen.

So würde es zumindest sein, wenn Frieden unter den Stämmen herrschte. In den letzten zwölf Jahren waren mehr Kriegstrupps als andere Gruppen aufgebrochen, und so hatten die Angehörigen seines Volkes gelegentlich gelitten. Vor dem Krieg hatte es bei den Edur niemals Hungersnöte gegeben. Trull wünschte sich ein Ende dieser Raubzüge. Hannan Mosag, der Hexenkönig der Hiroth, war jetzt oberster Herrscher über alle Stämme der Edur. Aus einem Haufen sich bekriegender Stämme war ein Bund geschaffen worden  – obwohl Trull Sengar sehr wohl wusste, dass dieser Bund nur dem Namen nach bestand. Hannan Mosag hielt die erstgeborenen Söhne der unterworfenen Häuptlinge als Geiseln – sie bildeten seinen K’risnan-Kader – und herrschte als Diktator. Ein mit Waffengewalt erzwungener Friede also, aber dennoch ein Friede.

Vom Palisadentor kam ihm ein Mann entgegen, den er kannte, er näherte sich der Gabelung, an der Trull nun Halt machte. »Ich grüße dich, Binadas«, sagte er.

Auf dem Rücken seines jüngeren Bruders war ein Speer befestigt, und an einer Hüfte ruhte ein Lederbündel, das über eine Schulter geschlungen war; auf der anderen Seite befand sich ein einschneidiges Langschwert in einer lederumwickelten, hölzernen Scheide. Binadas war einen halben Kopf größer als Trull, sein Gesicht so wettergegerbt wie seine Wildlederkleidung. Von Trulls drei Brüdern war Binadas der unnahbarste, am wenigsten fassbare, weshalb seine Handlungen schwer vorauszusagen und noch weniger zu verstehen waren. Er hielt sich nur unregelmäßig im Dorf auf, schien die Wildnis der westlichen Wälder und die Berge im Süden vorzuziehen. Er hatte sich den anderen auf ihren Raubzügen nur selten angeschlossen, doch wenn er zurückkehrte, brachte er häufig die Trophäen von Bravourstückchen mit, und niemand zweifelte an seiner Tapferkeit.

»Du bist außer Atem, Trull«, bemerkte Binadas, »und ich sehe wieder einmal Sorge in deinem Gesicht.«

»Auf der Höhe der Calach-Bänke liegen Letherii-Schiffe vor Anker.«

Binadas runzelte die Stirn. »Dann sollte ich dich nicht aufhalten.«

»Wirst du lange wegbleiben, Bruder?«

Der Angesprochene zuckte die Schultern, schritt dann an Trull vorbei und folgte der westlichen Gabelung des Pfads.

Trull Sengar setzte seinen Weg fort, durch das Tor und in das Dorf.

Vier Schmieden beherrschten dieses zum Landesinneren hin gelegene Ende des geräumigen, von einer Mauer umgebenen Innenbereichs. Jede einzelne war von einem tiefen, steil abfallenden Graben umgeben, die ihrerseits in einen abgedeckten Kanal mündeten, der vom Dorf und den umliegenden Feldern wegführte. Jahrelang hatten die Ambosse fast unablässig gedröhnt, während Waffen auf ihnen gehämmert wurden, und dichter, beißender Rauch hatte die Luft mit seinem Gestank erfüllt und die nahe stehenden Bäume mit einer weißen Rußkruste überzogen. Als Trull jetzt an den Schmieden vorbeiging, sah er, dass nur zwei besetzt waren, und das knappe Dutzend Sklaven, das zu sehen war, arbeitete gemächlich vor sich hin.

Hinter den Schmieden verliefen die länglichen, mit Backsteinen verkleideten Lagerräume, eine Reihe in Segmente unterteilter Gebäude in der Form von Bienenstöcken, in denen sich überschüssiges Korn, geräucherter Fisch, Robbenfleisch, Walöl und geerntete Faserpflanzen befanden. Ähnliche Bauwerke gab es auch noch mitten im Wald, der jedes Dorf umgab; die meisten von ihnen waren allerdings im Augenblick leer, eine Folge der Kriege.

Nachdem Trull die Lagerräume hinter sich gelassen hatte, kam er zu den Steinhäusern der Weber, Töpfer, Holzschnitzer, geringeren Schreiber, Waffenschmiede und anderer verschiedenartiger Handwerker des Dorfs. Rufe wurden laut, um ihn zu begrüßen, denen er so kurz und knapp antwortete, wie es der Anstand erlaubte; dies machte seinen Bekannten deutlich, dass er nicht stehen bleiben und sich mit ihnen unterhalten konnte.

Der Edur-Krieger eilte jetzt durch die Straßen mit den vornehmeren Wohnhäusern. Die Letherii-Sklaven bezeichneten Dörfer wie dieses als Städte, doch die Edur, die hier lebten, sahen keine Notwendigkeit, ihre Wortwahl zu ändern – dies war bei ihrer Geburt ein Dorf gewesen, und daher würde es auch immer ein Dorf bleiben; es spielte keine Rolle, dass mittlerweile fast zwanzigtausend Edur und dreimal so viele Letherii in diesem Dorf lebten.

Das vornehmere Wohnviertel wurde von Schreinen beherrscht, die dem Vater und seiner Auserwählten Tochter geweiht waren – erhöhte Plattformen, die von lebenden, heiligen Schwarzholzbäumen umgeben waren. Die Oberfläche der Steinscheiben war mit Bildern und Schriftzeichen bedeckt. Unablässig spielte Kurald Emurlahn innerhalb der von Bäumen umgebenen Kreise, sich kräuselnde Halbschatten tanzten über die Piktogramme, zauberische Emanationen, die durch die Opfer erweckt worden waren, die den Anbruch der Abenddämmerung begleiteten.

Trull Sengar erreichte die Allee des Hexers, den geheiligten Weg, der zu der gewaltigen Zitadelle führte, die gleichermaßen Tempel wie Palast und Sitz des Hexenkönigs Hannan Mosag war. Zedern mit schwarzer Rinde säumten den Weg. Die Bäume waren tausend Jahre alt und überragten das ganze Dorf, und sie hatten nur noch hoch oben Zweige. Eingelagerte Zauberei durchflutete jeden Ring ihres mitternachtsschwarzen Holzes, und sie strömte nun heraus und hüllte die ganze Straße in einen Schleier aus Düsternis.

Am hinteren Ende der Straße umschloss eine etwas niedrigere Palisade die Zitadelle; sie bestand aus dem gleichen schwarzen Holz, und in die Stämme waren unzählige Schutzzauber eingeritzt. Das Haupttor war ein Tunnel aus lebenden Bäumen, ein Durchgang aus ungelindertem Schatten, und er führte zu einer Brücke, die einen Kanal überspannte, in dem ein Dutzend K’orthan-Langboote vertäut lagen. Die Brücke öffnete sich auf einen großen, gepflasterten Hof, der von Truppenunterkünften und Lagerhäusern gesäumt wurde. Dahinter standen die aus Stein und Holz gebauten Langhäuser der adligen Familien – derjenigen, die durch Blutsbande mit Hannan Mosags Familie verbunden waren – mit ihren Dächern aus Holzschindeln und den Firstbalken aus Schwarzholz. Eine Verlängerung der Prachtstraße, die zu einer weiteren Brücke und damit zur eigentlichen Zitadelle führte, teilte den Wohnbezirk säuberlich in zwei Hälften.

Krieger übten auf dem Innenhof, und Trull sah die große, breitschultrige Gestalt seines älteren Bruders Forcht, der mit einem halben Dutzend Helfern dabeistand und die Waffenübungen beobachtete. Trull verspürte einen Stich der Sympathie für die jungen Krieger. Er hatte während der Jahre seiner Ausbildung selbst unter dem kritischen, unerbittlichen Blick seines Bruders gelitten.

Er hörte einen Willkommensgruß und richtete seine Aufmerksamkeit zur anderen Seite des Hofs, wo er Rhulad, seinen jüngsten Bruder, und Midik Buhn entdeckte. Wie es schien, hatten sie gerade einen Übungskampf hinter sich und einen Augenblick später sah Trull den Grund für ihren untypischen Eifer – Mayen, Forchts Verlobte, war mit vier jüngeren Frauen im Schlepptau aufgetaucht; angesichts des knappen Dutzends Sklaven, die sie begleiteten, waren sie vermutlich auf dem Weg zum Marktplatz. In Anbetracht der komplizierten Regeln des Werbens war es natürlich unumgänglich, dass sie stehen geblieben waren, um der plötzlichen, zweifellos aus dem Stegreif inszenierten Zurschaustellung kriegerischer Künste zuzuschauen. Schließlich wurde von Mayen erwartet, dass sie alle Brüder Forchts mit angemessenem Respekt behandelte.

Auch wenn an der Szene, die Trull beobachtete, nichts Unziemliches war, verspürte er dennoch ein leichtes Unbehagen. Rhulads Eifer, sich vor der zukünftigen Ehefrau seines ältesten Bruders zu brüsten, ging an die Grenzen dessen, was als schickliches Verhalten galt. Trull war der Ansicht, dass Forcht Rhulad gegenüber viel zu viel Nachsicht zeigte.

Wie wir alle. Natürlich gab es Gründe dafür.

Rhulad hatte seinen Freund aus Kindertagen in dem Scheinkampf ganz eindeutig besiegt, wie an seinem vor Stolz geröteten, hübschen Gesicht unschwer zu erkennen war. »Trull!« Er schwenkte sein Schwert. »Ich habe heute Blut vergossen, und jetzt dürstet es mich nach mehr! Komm, kratz den Rost von dem Schwert, das du an deiner Seite trägst!«

»Ein andermal, Bruder«, rief Trull zurück. »Ich muss unverzüglich mit unserem Vater sprechen.«

Rhulads Grinsen war durchaus freundlich, keine Frage, aber selbst aus zehn Schritt Entfernung konnte Trull erkennen, wie seine klaren grauen Augen triumphierend aufblitzten. »Dann ein andermal«, sagte er und winkte ein letztes Mal zum Abschied mit dem Schwert, während er sich wieder zu den Frauen umdrehte.

Doch Mayen hatte ihren Begleiterinnen einen Wink gegeben, und die Gruppe hatte sich bereits wieder in Bewegung gesetzt.

Rhulad machte den Mund auf, um etwas zu ihr zu sagen, doch Trull sprach als Erster: »Bruder, ich lade dich ein, mich zu begleiten. Die Neuigkeiten, die ich unserem Vater überbringen muss, sind von großer Bedeutung, und ich hätte gerne, dass du dabei bist, so dass auch deine Worte zu der Diskussion beitragen, die sich anschließen wird.« Solch eine Einladung erging normalerweise nur an Krieger, die Jahre des Kampfes hinter sich hatten, und Trull sah, wie die Augen seines Bruders voller Stolz aufleuchteten.

»Ich bin geehrt, Trull«, sagte er und schob sein Schwert in die Scheide.

Rhulad ließ Midik stehen, der sich um eine Schwertwunde an seinem Handgelenk kümmerte, und trat an Trulls Seite; gemeinsam machten sie sich zum Langhaus ihrer Familie auf.

Die äußeren Mauern waren mit Trophäen bestückt – erbeutete Schilde, von denen viele jahrhundertealt und von der Sonne gebleicht waren. Walknochen hingen unter dem vorspringenden Dach. Totems, die rivalisierenden Stämmen gestohlen worden waren, bildeten einen chaotischen Bogen über dem Eingang; die Fellstreifen, mit Perlen verzierten Lederteile, Muschelschalen, Krallen und Zähne sahen aus wie ein in die Länge gezogenes Vogelnest.

Sie gingen hinein.

Die Luft war kühl, roch leicht beißend nach Holzrauch. Zwischen Wandteppichen und aufgespannten Fellen standen Öllampen in Wandnischen. Der traditionelle Herdstein in der Mitte des Raums, an dem einst jede Familie ihre Mahlzeiten zubereitet hatte, war immer noch mit Asche gefüllt, obwohl die Sklaven mittlerweile in Küchen arbeiteten, die hinter dem eigentlichen Langhaus lagen, um das Risiko eines Brandes zu verringern. Schwarzholzmöbel kennzeichneten die verschiedenen Räume, obwohl keine Trennwände vorhanden waren. Dutzende von Waffen hingen an Haken von den Kreuzbalken; einige davon stammten noch aus den frühesten Tagen, aus jener dunklen Zeit unmittelbar nach dem Verschwinden von Vater Schatten, als die Kunst, Eisen zu schmieden, verloren gewesen war, und die grobe Bronze dieser Waffen war zerfressen und verbogen.

Direkt hinter dem Herdstein erhob sich der Stamm eines lebenden Schwarzholzbaumes, aus dem knapp über Mannshöhe das obere Drittel eines Langschwerts nach draußen und in die Höhe ragte: eine echte Emurlahn-Klinge, deren Stahl auf eine Weise bearbeitet war, die die Schmiede erst wiederentdecken mussten. Das Schwert der Familie Sengar, Symbol ihrer adligen Abstammung; normalerweise waren diese usprünglichen Waffen der adligen Familien, die am Stamm befestigt wurden, wenn der Baum noch ein Schössling war, nach Jahrhunderten nicht mehr zu erkennen, da sie sich im Innern des Stamms, dicht beim Kernholz befanden. Doch auf irgendeine Weise hatte sich dieser besondere Baum verdreht, so dass die Waffe aus dem Innern herausgetrieben worden und die schwarz-silberne Klinge wieder zum Vorschein gekommen war. Ungewöhnlich, aber nicht einzigartig.

Beide Brüder streckten die Hand aus und berührten die Klinge, als sie vorübergingen.

Sie sahen Uruth, ihre Mutter, die flankiert von Sklaven an den Wandteppichen arbeitete, auf denen die Geschichte ihres Geschlechts aufgezeichnet war; sie beendete gerade die letzten Szenen von der Teilnahme der Sengars am Vereinigungskrieg. Sie war voll und ganz mit ihrer Arbeit beschäftigt und blickte nicht auf, als ihre Söhne an ihr vorbeischritten.

Tomad Sengar saß mit drei anderen adligen Patriarchen um ein Spielbrett herum, das aus einem großen schaufelförmigen Geweih gefertigt war; die geschnitzten Spielfiguren bestanden aus Elfenbein und Jade.

Trull blieb am Rand des Kreises stehen. Er legte seine rechte Hand auf den Schwertknauf, womit er andeutete, dass die Worte, die er überbrachte, sowohl dringend als auch möglicherweise gefährlich waren. Er hörte, wie Rhulad hinter ihm scharf die Luft einsog.

Obwohl keiner der älteren Männer aufblickte, erhoben sich Tomads Gäste alle gleichzeitig, als wären sie ein einziges Wesen, während Tomad sich daranmachte, die Spielfiguren wegzupacken. Die drei Älteren gingen schweigend, und einen Moment später stellte Tomad das Spielbrett beiseite und ließ sich wieder auf seinen Platz sinken.

Trull setzte sich ihm gegenüber. »Sei gegrüßt, Vater. Eine Flotte der Letherii jagt auf den Calach-Bänken. Die Robbenherden sind früh gekommen, und jetzt werden sie abgeschlachtet. Ich habe das alles mit eigenen Augen gesehen und bin ohne Halt zu machen zurückgekehrt.«

Tomad nickte. »Dann bist du also drei Tage und zwei Nächte lang gerannt.«

»Das bin ich.«

»Und die Letherii hatten bereits mit dem Töten angefangen?«

»Vater, heute Morgen zur Zeit der Dämmerung wird Tochter Menandore gesehen haben, dass die Laderäume der Schiffe bis zum Bersten gefüllt waren und ihre Segel sich im Wind bauschten und ein jedes Schiff einen Strom aus Blut im Kielwasser hinter sich ließ.«

»Und neue Schiffe werden angekommen sein, um die Plätze der vorigen einzunehmen!«, zischte Rhulad.

Tomad runzelte angesichts des ungehörigen Verhaltens seines jüngsten Sohnes die Stirn, und seine folgenden Worte zeigten seine Missbilligung nur allzu deutlich: »Rhulad, überbringe diese Neuigkeiten Hannan Mosag.«

Trull spürte, wie sein Bruder zusammenzuckte, doch Rhulad nickte. »Wie du befiehlst, Vater.« Er drehte sich um und stapfte davon.

Tomads Stirnrunzeln vertiefte sich. »Du hast einen ungebluteten Krieger zu diesem Gespräch eingeladen?«

»Das habe ich, Vater.«

»Warum?«

Trull antwortete nicht. Er wollte nicht antworten, denn er hatte nicht vor, seine Besorgnis über Rhulads unschickliches Gebaren gegenüber Forchts Verlobter in Worte zu fassen.

Nach einem kurzen Augenblick seufzte Tomad tief. Er schien seine großen, narbigen Hände zu betrachten, die auf seinen Oberschenkeln ruhten. »Wir sind selbstgefällig geworden«, brummte er.

»Vater, ist es selbstgefällig, diejenigen, mit denen man Umgang hat, für ehrenwert zu erachten?«

»In Anbetracht der vorangegangenen Ereignisse – ja.«

»Und warum hat der Hexenkönig dann einem Großen Treffen mit den Letherii zugestimmt?«

Der Blick aus Tomads dunklen Augen flackerte auf und heftete sich auf Trulls Gesicht. Von sämtlichen Söhnen Tomads konnte nur Forchts Blick sich perfekt und unerschütterlich mit dem seines Vaters messen – seine Augen hatten die gleiche Farbe und manchmal lag in ihnen auch die gleiche Härte. Wider Willen spürte Trull, wie er unter dem verächtlichen Blick seines Vaters etwas zusammenschrumpfte.

»Ich ziehe meine dumme Frage zurück«, sagte er und brach den Blickkontakt ab, um seine Bestürzung zu verbergen. Ein Kräftemessen von Feinden. In Anbetracht der unausweichlichen Reaktion der Edur wird dieser Verstoß – ganz egal, was sein ursprüngliches Ziel gewesen sein mag – zu einer zweischneidigen Klinge werden. Und zwar zu einer, die beide Völker ergreifen werden. »Die ungebluteten Krieger werden zufrieden sein.«

»Die ungebluteten Krieger werden eines Tages in der Ratsversammlung sitzen, Trull.«

»Ist das nicht die Belohnung, die der Frieden bringt, Vater?«

Darauf antwortete Tomad nicht. »Hannan Mosag wird die Ratsversammlung einberufen. Du musst dabei sein, um zu berichten, was du gesehen hast. Darüber hinaus hat der Hexenkönig mich ersucht, ihm meine Söhne für eine besondere Aufgabe zur Verfügung zu stellen. Ich glaube nicht, dass diese Entscheidung durch die Neuigkeiten, die du überbringst, in irgendeiner Weise beeinflusst werden wird.«

Trull musste erst einmal seine Überraschung über diese Worte verarbeiten, ehe er sagte: »Als ich auf dem Weg ins Dorf war, ist mir Binadas begegnet …«

»Er weiß Bescheid und wird binnen eines Mondwechsels zurück sein.«

»Weiß Rhulad von diesen Dingen?«

»Nein, auch wenn er euch begleiten wird. Ein Ungebluteter ist ein Ungebluteter.«

»Wie du meinst, Vater.«

»Und jetzt ruhe dich aus. Du wirst rechtzeitig zur Ratsversammlung geweckt werden.«

Eine weiße Krähe hüpfte von einer vom Salzwasser gebleichten Wurzel herunter und fing an, im Abfall herumzupicken. Zuerst hatte Trull sie für eine Möwe gehalten, die sich im dämmrigen Abendlicht am Strand herumtrieb, doch dann hatte sie gekrächzt und war mit einer Muschelschale im hellen Schnabel vom Abfallhaufen zur Wasserlinie hinuntergeglitten.

Zu schlafen hatte sich als unmöglich erwiesen. Die Ratsversammlung war für Mitternacht einberufen worden. Ruhelos, während die Nerven in seinen erschöpften Beinen kribbelten, war Trull zum nördlich des Dorfs und der Flussmündung gelegenen Kiesstrand gegangen.

Und jetzt, während die Dunkelheit mit den trägen Wogen heranrollte, hatte er bemerkt, dass er den Strand mit einer weißen Krähe teilte. Sie hatte ihre Beute bis zu jener Stelle getragen, wo die Wellen ausliefen, und jedes Mal, wenn das Meer flüsternd heranglitt, tauchte der Vogel die Muschelschale ins Wasser. Sechsmal.

Eine wählerische Kreatur, bemerkte Trull, während er zusah, wie die Krähe auf einen nahe gelegenen Felsblock hüpfte und an der Schale herumzupicken begann.

Weiß war natürlich böse. Das war allgemein bekannt. Das Erröten der Knochen, Menandores abscheuliches Licht im Morgengrauen. Auch die Segel der Letherii waren weiß, was nicht sonderlich überraschend war. Und das klare Wasser der Calach-Bucht würde den Blick auf ein weißes Schimmern am Meeresgrund freigeben – die Knochen abertausender abgeschlachteter Robben.

Diese Jahreszeit hätte für die sechs Stämme eine Rückkehr zum Überschuss bedeutet, man hätte beginnen können, die erschöpften Vorräte zum Schutz vor Hungersnöten wieder aufzufüllen. Gedanken, die ihn dazu brachten, diese unrechtmäßige Jagd auf andere Weise zu betrachten. Die Tat war im passenden Augenblick erfolgt, genau rechtzeitig, um den Stammesbund zu schwächen. Ein Trick, um die Position der Edur beim bevorstehenden Großen Treffen zu untergraben. Das Argument der Unvermeidlichkeit. Das gleiche Argument, das uns zum ersten Mal entgegengeschleudert wurde, als es um die Siedlungen am Ufer des Fingers ging. »Das Königreich Lether breitet sich aus, es muss wachsen. Eure Lager am Ufer haben schließlich nur zu bestimmten Jahreszeiten bestanden, und während des Krieges habt ihr sie alle aufgegeben.«

Es war unvermeidlich, dass immer mehr unabhängige Schiffe kommen würden, um die reichen Gewässer vor der Nordküste zu befahren. Man konnte sie nicht alle überwachen. Die Edur brauchten sich nur die anderen Stämme anzusehen, die einst außerhalb der Grenzen von Lether gelebt hatten – wie sie dafür belohnt worden waren, dass sie König Ezgara Diskanar von Lether Lehenstreue geschworen hatten. Aber wir sind nicht wie die anderen Stämme.

Die Krähe oben auf ihrem steinernen Thron krächzte und schleuderte die Muschelschale mit einer ruckartigen Kopfbewegung davon, breitete dann die geisterhaften Flügel aus und schwang sich in die Nachtluft. Ein letztes, lang gezogenes Krächzen aus der Dunkelheit. Trull machte eine abwehrende Geste.

Hinter sich hörte er Steine unter einer Sohle knirschen, und als er herumfuhr, sah er seinen älteren Bruder auf sich zukommen.

»Ich grüße dich, Trull«, sagte Forcht leise. »Die Worte, die du gesprochen hast, haben die Krieger aufgebracht.«

»Und was ist mit dem Hexenkönig?«

»Der hat noch nichts gesagt.«

Trull wandte sich wieder den dunklen Wellen zu, die zischelnd am Strand ausliefen. »Ihre Augen sind auf die Schiffe gerichtet«, sagte er.

»Hannan Mosag weiß, wie man wegschaut, Bruder.«

»Er hat nach den Söhnen von Tomad Sengar verlangt. Was weißt du davon?«

Forcht stand jetzt neben ihm, und Trull spürte sein Schulterzucken. »Seit seiner Kindheit wurde der Hexenkönig von Visionen geleitet«, sagte Forcht nach einem kurzen Augenblick. »Sein Blut bewahrt Erinnerungen, die bis zu den Dunklen Zeiten zurückreichen. Bei jedem Schritt, den er macht, breitet sich Vater Schatten vor ihm aus.«

Der Hinweis auf die Visionen ließ ein unbehagliches Gefühl in Trull aufsteigen. Er zweifelte nicht an ihrer Macht – oh nein, ganz im Gegenteil. Die Dunklen Zeiten waren mit der Spaltung der Tiste Edur gekommen, mit dem Angriff von Zauberei und fremden Armeen und dem Verschwinden von Vater Schatten. Und auch wenn die Magie von Kurald Emurlahn den Stämmen noch zugänglich war, so war das Gewirr selbst verloren: Es war zerschmettert, und seine Bruchstücke wurden von falschen Königen und Göttern beherrscht. Trull vermutete, dass Hannan Mosags Ehrgeiz weit darüber hinausging, einfach nur die sechs Stämme zu vereinigen.

»Du bist voller Widerwillen, Trull. Du verbirgst es gut, aber ich kann sehen, was andere nicht sehen können. Du bist ein Krieger, der lieber nicht kämpfen würde.«

»Das ist kein Verbrechen«, murmelte Trull – und fügte einen Herzschlag später hinzu: »Von allen Sengars tragen nur Vater und du mehr Trophäen als ich.«

»Deine Tapferkeit habe ich nicht in Frage gestellt, Bruder. Aber Mut ist das geringste unter den Dingen, die uns verbinden. Wir sind Edur. Wir waren einst die Herren der Hunde. Wir besaßen den Thron von Kurald Emurlahn. Und wir besäßen ihn immer noch, wenn wir nicht verraten worden wären – zuerst von den Verwandten Scabandari Blutauges, dann von den Tiste Andii, die mit uns auf diese Welt gekommen sind. Wir sind ein bedrängtes Volk, Trull. Die Letherii sind nur ein Feind unter vielen. Der Hexenkönig weiß das.«

Trull betrachtete das Sternenlicht, das sich in den ruhigen Wassern der Bucht spiegelte. »Ich werde nicht zögern, gegen die zu kämpfen, die unsere Feinde sein wollen, Forcht.«

»Das ist gut, Bruder. Es reicht, um Rhulad zum Schweigen zu bringen.«

Trull versteifte sich. »Er spricht gegen mich? Dieses ungeblutete … Hündchen?«

»Wenn er Schwäche sieht …«

»Was er sieht und was wahr ist, sind verschiedene Dinge«, sagte Trull.

»Dann zeige ihm, dass es anders ist«, sagte Forcht. Seine Stimme war wie immer tief und ruhig.

Trull schwieg. Er hatte sich offen ablehnend über Rhulad und seine unaufhörlichen Herausforderungen und Posen geäußert; das war in Anbetracht der Tatsache, dass Rhulad ungeblutet war, sein gutes Recht. Viel schwerer wog jedoch, dass seine Gründe wie ein Schutzwall um das Mädchen herum errichtet waren, das Forcht heiraten würde. Natürlich wäre es unziemlich, diese Dinge jetzt auszusprechen, denn in seinen Worten würden Gehässigkeit und Bosheit mitschwingen. Schließlich war Mayen mit Forcht verlobt, nicht mit Trull, und es war Forchts Aufgabe, sie zu schützen.

Die Dinge wären einfacher, dachte er mit leisem Bedauern, wenn er Mayen besser einschätzen könnte. Sie ermutigte Rhulad nicht zu seinen Aufmerksamkeiten, doch sie zeigte ihm auch nicht die kalte Schulter. Sie schritt am äußersten Rand der Schicklichkeit entlang, so selbstbewusst, wie jedes Mädchen es tun würde – und auch tun sollte –, die das Privileg hatte, bald den Waffenmeister der Hiroth zu heiraten. Und es ging ihn, wie er sich erneut ermahnte, überhaupt nichts an. »Ich werde Rhulad nicht zeigen, was er längst sehen sollte«, brummte Trull. »Er hat nichts getan, was rechtfertigen würde, dass ich ihm meine Beachtung schenke.«

»Rhulad fehlt das feine Empfinden, in deinem Widerstreben etwas anderes als Schwäche zu sehen …«

»Das ist sein Fehler, nicht meiner!«

»Erwartest du, dass ein blinder alter Mann einen Strom ohne Hilfe überquert und die Trittsteine von allein findet? Nein, du führst ihn, bis er mit seinem geistigen Auge schließlich das sehen kann, was alle anderen sehen können.«

»Wenn alle anderen es sehen können«, erwiderte Trull, »vermögen Rhulads Worte nichts auszurichten, und dann tue ich recht daran, nicht auf sie zu achten.«

»Rhulad ist nicht der Einzige, dem es an Feinsinn mangelt, Bruder.«

»Möchtest du, Forcht, dass unter Tomad Sengars Söhnen Feindschaft herrscht?«

»Rhulad ist weder dein Feind noch der Feind irgendeines anderen Edur. Er ist jung, und er dürstet nach Blut. Du warst einst genauso, darum bitte ich dich, dich daran zu erinnern, wie du damals warst. Dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt, um anderen Wunden zuzufügen, von denen ganz sicher Narben zurückbleiben werden. Und einem ungebluteten Krieger fügt Verachtung die tiefste aller Wunden zu.«

Trull verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich erkenne die Wahrheit in deinen Worten, Forcht. Ich werde mich bemühen, meine Gleichgültigkeit zu zügeln.«

Sein Bruder reagierte nicht auf den Sarkasmus. »Der Rat versammelt sich in der Zitadelle, Bruder. Möchtest du die Halle des Königs an meiner Seite betreten?«

Trull gab sich geschlagen. »Ich fühle mich geehrt, Forcht.«

Sie wandten sich vom schwarzen Wasser ab, und so konnten sie den Schemen mit den bleichen Flügeln nicht sehen, der ein kurzes Stück vom Ufer entfernt über die trägen Wogen glitt.

Dreizehn Jahre zuvor war Udinaas ein junger Seemann im dritten Jahr des Lehrvertrags gewesen, den seine Familie mit dem Kaufmann Intaros aus Trate geschlossen hatte, der nördlichsten Stadt des Königreichs Lether. Er hatte sich an Bord des Walfängers Dicker Brummer auf dem Heimweg von den Gewässern der Beneda befunden. Sie waren im Schutz der Dunkelheit hineingeglitten, hatten drei Walkühe getötet und die Kadaver in die neutralen Kanäle westlich der Calach-Bucht geschleppt, als fünf K’orthan-Boote der Hiroth gesichtet worden waren, die sie verfolgten.

Die Gier des Kapitäns hatten ihnen den Untergang gebracht, denn er wollte die getöteten Wale nicht aufgeben.