Das Spiel der Götter (5) - Steven Erikson - E-Book

Das Spiel der Götter (5) E-Book

Steven Erikson

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Beschreibung

Der fünfte Roman aus dem furiosen High-Fantasy-Epos voller Kampf, Magie und Heldentum.
Ungewöhnlich vielschichtige Saga, die den Autor in die erste Garde der internationalen Fantasy-Autoren aufrücken ließ!
Begeistert aufgenommen: Die erste Folge des Zyklus wurde für den World Fantasy Award nominiert, die zweite von den Lesern zum besten Roman des Jahres gewählt.
Für die Fans von George R. R. Martin, Terry Goodkind und Tad Williams.

Während Hohefaust Dujek Einarm und seine instabile Allianz sich den Horden des Pannionischen Sehers entgegenwerfen, entsteht eine neue Bedrohung: Die untoten T'lan Imass erheben sich, und düstere Gerüchte über den verkrüppelten Gott beunruhigen die Menschen ...

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Seitenzahl: 1102

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Memories of Ice. A Tale of the Malazan Book of the Fallen“ (Book 3) bei Bantam Press London.
Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2003 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München Copyright © der Originalausgabe 2002 by Steven Erikson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft Umschlagillustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Redaktion: Marie-Luise Bezzenberger HK · Herstellung: Peter Papenbrok
ISBN 978-3-641-08986-3 V003
www.blanvalet.de
www.penguinrandomhouse.de

Buch

Die fanatischen Anhänger des Pannionischen Sehers überziehen den gesamten Kontinent Genabackis mit Angst und Schrecken. Tapfer führen Hohefaust Dujek Einarm und seine Verbündeten einen beinahe aussichtslosen Kampf gegen die heranstürmenden Horden. Doch die brüchige Allianz der Verteidiger droht auseinander zu brechen, denn böse Gerüchte von abscheulichem Verrat machen die Runde. Und auch von anderer Seite droht große Gefahr: Die untoten T’lan Imass haben sich erhoben, und der Verkrüppelte Gott schmiedet seine ganz eigenen grausamen Rachepläne …

Autor

Steven Erikson, in Kanada geboren, lebte viele Jahre in der Nähe von London, ehe er kürzlich in seine Heimat nach Winnipeg zurückkehrte. Der Anthropologe und Archäologe legte 1999 nach einer sechsjährigen akribischen Vorbereitungsphase seinen weltweit beachteten Debütroman »Die Gärten des Mondes« vor.

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorBuch Eins - Capustan
Kapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel VierKapitel FünfKapitel SechsKapitel Sieben
Buch Zwei - Erinnerungen an die eisige Zeit
Kapitel AchtKapitel NeunKapitel ZehnKapitel ElfKapitel Zwölf
EpilogDramatis Personae
Auf dem KarawanenpfadIn CapustanEinarms HeerBruths HeerDie BarghastGesandte aus DarujhistanDie T’lan ImassDie Pannionische DomäneAndere
Glossar - Terminologie der Pannionischen Domäne
In CapustanDie vierzehn Aufgestiegenen des Maskenrats von CapustanVölker und OrteDie Welt der MagieDie Älteren GewirreDie Drachenkarten (Das Fatid) und die mit ihnen in Beziehung stehenden AufgestiegenenHohes Haus TodHohes Haus LichtHohes Haus DunkelHohes Haus SchattenNeutrale KartenAufgestiegene
Copyright

GENABACKIS:

Der malazanische Feldzug etwa im Jahr 1160 von Brands Schlaf

CAPUSTAN ostgenabackis

Buch Eins

Capustan

Das letzte Todbringende Schwert von Feners Traum war Fanald von Caon Vor, der während des Ankettens getötet wurde. Der letzte Destriant, der den Eber-Umhang trug, war Ipshank von Korelri, der während der letzten Flucht aus Manask auf den Eisfeldern von Stratem verschwand. Ein anderer hat darauf gewartet, den Titel für sich zu beanspruchen, doch er wurde aus dem Tempel ausgestoßen, bevor es dazu kam, und der Name dieses Mannes wurde aus allen Aufzeichnungen getilgt. Man weiß allerdings, dass er aus Unta stammte, dass er sein Leben als Beutelschneider in den dreckigen Straßen jener Stadt begonnen hatte, und dass er nicht nur aus dem Tempel ausgestoßen, sondern auch auf einzigartige Weise bestraft worden war …

Tempelleben Birrin Thund

Kapitel Eins

Wenn es euch möglich ist, meine Freunde, dann lasst keine Belagerung über euch ergehen.

Ubilast (der Beinlose)

In der Schenke, die die südöstliche Ecke der alten Daru-Straße beherrschte, hielten sich nicht mehr als ein halbes Dutzend Stammgäste auf, die meisten von ihnen Besucher der Stadt, die jetzt ebenso wie Grantl in der Falle saßen. Die pannionischen Armeen vor den Mauern Capustans hatten jetzt fünf Tage lang überhaupt nichts getan. Der Karawanenführer hatte gehört, dass Staubwolken jenseits der Hügelkette im Norden aufgestiegen waren, ein Zeichen für … was auch immer. Doch das war schon vor einigen Tagen gewesen, und seither war nichts geschehen.

Niemand wusste, worauf Septarch Kulpath wartete, obwohl natürlich jede Menge Vermutungen angestellt wurden. Noch mehr Boote voller Tenescowri hatten den Fluss überquert, bis es den Anschein hatte, als habe sich die halbe Bevölkerung des pannionischen Reiches der Bauern- und Bettlerarmee angeschlossen. »Wenn es so viele sind«, hatte jemand vor vielleicht einem Glockenschlag gesagt, »bleibt für jeden gerade mal ein Bissen capanischer Bürger.« Grantl war praktisch der Einzige gewesen, der an dem Witz Gefallen gefunden hatte.

Er saß an einem Tisch in der Nähe des Eingangs mit dem Rücken zu dem grob verputzten, doppelbalkigen Türrahmen; die Tür selbst befand sich zu seiner Rechten, und er blickte in die niedrige Gaststube. Eine Maus trippelte auf dem Fußboden aus festgestampfter Erde zwischen den Tischen entlang, huschte von einem Schatten zum nächsten, flitzte zwischen den Schuhen und Stiefeln der Gäste hindurch, die auf ihrem Weg lagen. Grantl schaute ihr aus halb geschlossenen Augen zu. Es gab immer noch eine Menge zu essen in der Küche – oder zumindest sagte der Maus das ihre Nase. Das würde jedoch nicht mehr lange so bleiben, wenn die Belagerung andauerte, wie Grantl nur zu gut wusste.

Sein Blick glitt hinauf zu dem vom Rauch geschwärzten Hauptbalken, der sich quer durch den Raum zog. Dort oben schlief die Katze der Schenke; ihre Beine baumelten vom Kreuzbalken. Im Augenblick jagte sie nur in ihren Träumen.

Die Maus erreichte den Fußbalken der Theke und trippelte an ihm entlang auf den Eingang zur Küche zu.

Grantl trank noch einen Schluck verdünnten Wein – genauer gesagt war es mehr Wasser als Wein, nachdem die Stadt seit fast einer Woche im Würgegriff der Pannionier war. Die sechs anderen Gäste saßen alle allein an einem Tisch oder lehnten an der Theke. Sie sprachen nur selten miteinander, abgesehen von ein paar vereinzelten Kommentaren dann und wann, gefolgt von kaum mehr als einem zustimmenden Brummen.

Im Laufe eines Tages und einer Nacht besuchten zwei verschiedene Arten von Gästen die Schenke; so war es Grantl zumindest vorgekommen. Die, die er jetzt vor sich sah, wohnten mehr oder weniger im Gastraum, tranken ihren Wein oder ihr Bier. Sie waren Fremde in Capustan und hatten anscheinend keine Freunde, hatten aber dennoch eine Art von Gemeinschaft gefunden, die durch die überragende Fähigkeit gekennzeichnet war, gemeinsam lange Zeit nichts zu tun. Bei Einbruch der Nacht würden die anderen Gäste auftauchen. Die waren laut und ausgelassen und lockten mit ihren Münzen, die sie ohne einen Gedanken an morgen auf die Tische schütteten, die Huren von der Straße herein. Sie legten eine Art verzweifelte Energie an den Tag, jubelten dem Vermummten auf derbe Weise zu. Wir gehören dir, du sensenschwingender Bastard, schienen sie zu sagen. Aber erst, wenn der Morgen dämmert!

Sie würden wie die schäumende See zwischen den unbeweglichen, gleichgültigen Felsen – den schweigenden, einsamen Stammgästen – hin und her wogen.

Die See und die Felsen. Die See feiert ausgelassen im Angesicht des Vermummten, sobald er bedrohlich näher rückt. Die Felsen haben dem Bastard schon so lange ins Auge gesehen, dass sie sich seinetwegen nicht einmal mehr von der Stelle rühren, geschweige denn feiern. Die See lacht laut über ihre eigenen Witze. Die Felsen bringen gerade mal einen knappen Satz heraus, der einen ganzen Raum verstummen lassen kann. Ein Bissen capanischer Bürger …

Das nächste Mal halte ich meine Klappe.

Die Katze auf dem Kreuzbalken erwachte und streckte sich, schwarze Querstreifen tanzten über ihr graues Fell. Dann neigte sie den Kopf, spitzte die Ohren.

Die Maus war an der Ecke zum Kücheneingang, zur Bewegungslosigkeit erstarrt.

Grantl zischte leise.

Die Katze schaute in seine Richtung.

Die Maus schoss in die Küche und verschwand.

Mit einem lauten Quietschen schwang die Tür der Schenke nach innen. Buke trat ein, wechselte einen Blick mit Grantl und ließ sich dann auf den Stuhl neben ihm sinken.

»Bei dir weiß man wirklich immer, wo man dich finden kann«, murmelte der alte Mann und bedeutete dem Wirt hinter dem Tresen, noch zweimal das Gleiche zu bringen.

»Stimmt«, erwiderte Grantl. »Ich bin ein Felsen.«

»Ach, ein Felsen? Ich würde eher sagen, du bist ein fetter Leguan, der an einem Felsen klebt. Und wenn die große Welle kommt –«

»Was auch immer. Du hast mich gefunden, Buke – also, was gibt’s?«

»Ich wollte dir nur für all deine Hilfe danken, Grantl.«

»Sollte das so etwas wie feinsinnige Ironie sein, alter Mann? Ein bisschen geschliffene –«

»Eigentlich habe ich es beinahe ernst gemeint. Diese dreckige Brühe, die du mich hast trinken lassen – das Gebräu von Keruli –, die hat wahre Wunder gewirkt.« Auf Bukes schmalem Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab, das etwas Verschwörerisches hatte. »Wahre Wunder …«

»Freut mich zu hören, dass es dir wieder besser geht. Und – gibt es noch mehr welterschütternde Neuigkeiten? Falls nicht …«

Buke lehnte sich zurück, als der Wirt zwei Krüge vor ihnen auf den Tisch stellte, und wartete mit seiner Antwort, bis der Mann wieder davongeschlurft war. »Ich habe mich mit den Ältesten aus den Trutzen getroffen. Anfangs wollten sie schnurstracks zum Fürsten gehen –«

»Aber dann sind sie wieder zur Vernunft gekommen.«

»Mit einem kleinen Ansporn.«

»Das heißt, du hast jetzt die Unterstützung, die du brauchst, um diesen verrückten Eunuchen davon abzuhalten, Pförtner am Tor des Vermummten zu spielen. Sehr schön. Ich mag es nicht, wenn Panik auf den Straßen herrscht – nicht, wenn gleichzeitig eine Viertelmillion Pannionier die Stadt belagern.«

Buke starrte Grantl aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich dachte, du würdest die Ruhe genießen.«

»Ja, ist besser so.«

»Ich brauche immer noch deine Hilfe.«

»Ich wüsste nicht, wozu, Buke. Es sei denn, du willst, dass ich eine ganz bestimmte Tür eintrete und Korbal Broach den Kopf von den Schultern trenne. In diesem Fall müsstest du allerdings dafür sorgen, dass Bauchelain abgelenkt ist. Zünde ihn an oder so was Ähnliches. Ich brauche nur einen Augenblick. Natürlich ist der genaue Zeitpunkt sehr, sehr wichtig. Wenn die ersten Breschen in die Mauern geschlagen sind, sagen wir mal, und die Tenescowri durch die Straßen ziehen. Auf diese Weise können wir alle Hand in Hand zum Vermummten gehen und dabei ein fröhliches Liedchen trällern.«

Buke lächelte hinter seinem Krug. »Ja, das würde gehen«, sagte er und trank einen Schluck.

Grantl leerte seinen Krug und griff nach dem neuen. »Du weißt, wo du mich findest«, sagte er nach kurzem Zögern.

»Bis die Welle kommt.«

Die Katze machte einen Satz vom Querbalken herunter, sprang vorwärts und hatte eine Küchenschabe zwischen den Pfoten. Sie begann mit ihrer Beute zu spielen.

»Na gut«, sagte der Karawanenführer nach einer kurzen Pause brummig. »Was willst du noch?«

Buke zuckte kurz die Schultern. »Ich habe gehört, Stonny hat sich freiwillig gemeldet. Die neuesten Gerüchte besagen, dass die Pannionier endlich zum ersten Angriff bereit sind – praktisch jederzeit.«

»Zum ersten Angriff? Sie brauchen höchstwahrscheinlich nur einen. Und von wegen bereit, Buke – die sind schon seit Tagen bereit. Wenn Stonny ihr Leben wegwerfen will, indem sie versucht, etwas zu verteidigen, was nicht zu verteidigen ist, dann ist das ihre Sache.«

»Und wie sieht die Alternative aus? Die Pannionier werden keine Gefangenen machen, Grantl. Wir werden alle kämpfen müssen – früher oder später.«

Das denkst du.

»Es sei denn«, fuhr Buke einen Augenblick später fort und hob erneut seinen Krug, »du hast vor, die Seiten zu wechseln. Hältst Glauben plötzlich für etwas Zweckdienliches –«

»Gibt es denn eine andere Möglichkeit?«

Die Augen des alten Mannes musterten Grantl scharf. »Du würdest dir den Bauch wirklich mit Menschenfleisch voll schlagen, Grantl? Nur um zu überleben? Das würdest du tatsächlich tun?«

»Fleisch ist Fleisch«, erwiderte Grantl, den Blick auf die Katze gerichtet. Ein leises Knirschen verkündete, dass sie genug gespielt hatte.

»Nun«, sagte Buke und stand auf. »Ich hätte nicht gedacht, dass du mich noch schockieren könntest. Ich habe wohl geglaubt, ich würde dich kennen –«

»Das hast du wohl.«

»Das ist dann also der Mann, für den Harllo sein Leben geopfert hat?«

Langsam hob Grantl den Kopf. Was auch immer Buke in seinen Augen sah, es ließ ihn einen Schritt zurücktreten. »Mit welcher Trutz arbeitest du gerade?«, fragte der Karawanenführer ruhig.

»Uldan«, flüsterte der alte Mann.

»Dann werde ich dort vorbeikommen, Buke. Und in der Zwischenzeit geh mir aus den Augen.«

Die Schatten hatten sich größtenteils aus dem Innenhof zurückgezogen, so dass sich Hetan und ihr Bruder Cafal im hellen Sonnenlicht befanden. Die beiden Barghast kauerten mit gesenkten Köpfen auf einem fadenscheinigen, verblichenen Teppich. Von Asche geschwärzte Schweißtropfen rannen an ihnen hinunter. Zwischen ihnen stand auf drei handhohen, eisernen Füßen eine niedrige, mit glühenden Kohlen gefüllte Kohlenpfanne.

Soldaten und Boten schwirrten um sie herum.

Schild-Amboss Itkovian stand ein paar Schritte neben dem Eingang zum Hauptquartier und musterte die Geschwister. Er hatte nicht gewusst, dass die Barghast von Meditation besonders angetan waren, doch es schien, als hätten Hetan und Cafal kaum etwas anderes gemacht, seit sie aus dem Knecht zurückgekehrt waren. Sie hatten gefastet, so gut wie kein Wort gesprochen und ihr Lager auf höchst störende Weise mitten auf dem Innenhof vor den Truppenunterkünften aufgeschlagen – mit anderen Worten: Sie hatten sich zu einer unnahbaren Insel gemacht.

Das ist nicht die Ruhe gewöhnlicher Sterblicher. Sie reisen mit den Geistern. Brukhalian verlangt von mir, dass ich einen Weg finde, zu ihnen durchzudringen – um jeden Preis. Hütet Hetan noch ein weiteres Geheimnis? Hat sie einen Fluchtweg für sich selbst, ihren Bruder und die Knochen der Gründergeister entdeckt? Eine unbekannte Schwäche in unserer Verteidigung? Einen Fehler in der Aufstellung der Pannionier?

Itkovian seufzte. Er hatte es bereits versucht, jedoch ohne Erfolg. Jetzt würde er es noch einmal versuchen. Als er gerade vortreten wollte, spürte er, dass jemand neben ihm stand; er drehte sich um und sah sich Fürst Jelarkan gegenüber.

Das Gesicht des jungen Mannes war von tiefen Linien gezeichnet, die seine Erschöpfung verrieten. Seine langfingrigen, eleganten Hände zitterten, obwohl er sie knapp über dem Gürtel seiner Robe gefaltet hatte. Während sein Blick auf die schwirrende Aktivität im Innenhof gerichtet blieb, sagte er: »Schild-Amboss, ich muss wissen, was Brukhalian vorhat. Er verfügt über etwas, das ihr Soldaten einen rasierten Knöchel im Loch nennt, so viel ist klar. Und daher bin ich wieder einmal gekommen, um bei dem Mann, den ich angeheuert habe, um eine Audienz zu ersuchen.« Er versuchte gar nicht erst, den bitteren Sarkasmus seiner Bemerkung zu verbergen. »Vergeblich. Das Todbringende Schwert hat keine Zeit für mich. Keine Zeit für den Fürsten von Capustan.«

»Herr«, sagte Itkovian, »Ihr könnt mir Eure Fragen stellen, und ich werde tun, was ich kann, Euch Antworten zu geben.«

Der junge Capan drehte sich zu dem Schild-Amboss um. »Brukhalian hat Euch die Erlaubnis gegeben zu sprechen?«

»Das hat er.«

»Sehr gut. Die Kron T’lan Imass und ihre untoten Wölfe. Sie haben die K’Chain-Che’Malle-Dämonen des Septarchen vernichtet.«

»So ist es.«

»Doch die Pannionische Domäne hat mehr. Hunderte mehr.«

»Ja.«

»Warum marschieren die T’lan Imass dann nicht ins Gebiet der Domäne ein? Ein Angriff auf das Territorium des Sehers könnte sehr wohl dazu führen, dass Kulpaths Belagerungsarmeen abgezogen werden. Der Seher hätte gar keine andere Wahl, als sie wieder auf die andere Seite des Flusses zurückzuziehen.«

»Wären die T’lan Imass eine Armee von Sterblichen, wäre ein solches Vorgehen in der Tat nahe liegend, und es käme logischerweise auch unseren Bedürfnissen entgegen«, erwiderte Itkovian. »Doch leider sind Kron und seine untoten Verwandten an übernatürliche Bedürfnisse gebunden, über die wir so gut wie nichts wissen. Man hat uns etwas von einer Zusammenkunft erzählt, von einer stummen Beschwörung, deren Zweck uns unbekannt ist. Dies hat im Moment den Vorrang vor allem anderen. Kron und die T’lan Ay haben die K’Chain Che’Malle von Septarch Kulpath vernichtet, weil sie deren Anwesenheit als direkte Bedrohung für die Zusammenkunft betrachteten.«

»Warum? Diese Erklärung reicht nicht aus, Schild-Amboss.«

»Ich teile Eure Einschätzung, Herr. Es scheint wirklich einen anderen Grund dafür zu geben, dass Kron sich weigert, nach Süden zu marschieren. Ein Geheimnis, das mit dem Seher selbst zu tun hat. Es hat den Anschein, als ob ›Pannion‹ ein Jaghut-Wort ist. Die Jaghut waren die Todfeinde der T’lan Imass, wie Ihr vielleicht wisst. Meine persönliche Überzeugung ist, dass Kron auf die Ankunft von … Verbündeten wartet. Auf andere T’lan Imass, die zu dieser bevorstehenden Zusammenkunft kommen.«

»Wollt Ihr damit andeuten, dass Kron den Pannionischen Seher fürchtet …?«

»Ja. Aufgrund seiner Überzeugung, dass der Seher ein Jaghut ist.«

Der Fürst schwieg längere Zeit, dann schüttelte er den Kopf.

»Selbst wenn die T’lan Imass beschließen sollten, in die Pannionische Domäne einzumarschieren, wird diese Entscheidung für uns zu spät kommen.«

»Das erscheint mir wahrscheinlich.«

»Nun gut. Dann noch eine andere Frage. Warum findet diese Zusammenkunft hier statt?«

Itkovian zögerte, nickte dann langsam vor sich hin. »Fürst Jelarkan, diejenige, die die T’lan Imass beschworen hat, nähert sich Capustan … und sie bringt eine Armee mit.«

»Eine Armee?«

»Eine Armee, die auf dem Marsch ist, um Krieg gegen die Pannionische Domäne zu führen; in der Tat, und auch mit dem Ziel, die Belagerung von Capustan zu beenden.«

»Was?«

»Herr, sie sind noch fünf Wochen entfernt.«

»Wir können der Belagerung nicht fünf –«

»Diese Tatsache ist uns bekannt, Fürst.«

»Und wer befehligt diese Armee? Ist es diese … Beschwörerin?«

»Nein. Den Oberbefehl über die Armee teilen sich zwei Männer. Caladan Bruth und Dujek Einarm.«

»Dujek – Hohefaust Dujek Einarm? Der Malazaner? Bei den Göttern hienieden, Itkovian! Wie lange wisst Ihr schon davon?«

Der Schild-Amboss räusperte sich. »Ein vorbereitender Kontakt wurde bereits vor einiger Zeit aufgenommen, Fürst. Auf magischen Wegen. Doch diese sind seither unpassierbar geworden –«

»Ja, ja, das weiß ich nur zu gut. Fahrt fort, verdammt.«

»Dass sich die Beschwörerin bei dieser Armee befindet, haben wir auch erst vor kurzem erfahren – von einem Knochenwerfer der Kron T’lan Imass –«

»Die Armee, Itkovian! Berichtet mir mehr von dieser Armee!«

»Dujek und seine Legionen sind von Imperatrix Laseen zu Ausgestoßenen erklärt worden. Sie agieren jetzt unabhängig. Seine Truppen sind ungefähr zehntausend Mann stark. Caladan Bruth hat ein paar kleinere Söldner-Kompanien unter seinem Kommando, dazu drei Barghast-Clans, die Rhivi und die Tiste Andii – insgesamt rund dreißigtausend Kämpfer.«

Fürst Jelarkans Augen waren weit aufgerissen. Itkovian sah zu, wie diese Informationen die Barrieren zerbrachen, die der Mann in seinem Innern errichtet hatte, wie ein ganzes Bündel Hoffnungen erblühte und dann rasch wieder verwelkte.

»Oberflächlich betrachtet«, sagte der Schild-Amboss ruhig, »scheint all das, was ich Euch erzählt habe, von lebenswichtiger Bedeutung zu sein. Doch es ist – und ich sehe, dass Ihr das jetzt ebenfalls begreift – in Wahrheit völlig bedeutungslos. Fünf Wochen, Fürst. Überlasst es ihnen, Rache zu nehmen, wenn Ihr wollt, denn das ist alles, was sie vielleicht schaffen werden. Doch selbst das –«

»Sind das Brukhalians Schlussfolgerungen oder Eure?«

»Sowohl als auch, wie ich bedauerlicherweise sagen muss.«

»Ihr Narren«, stieß der junge Mann mit krächzender Stimme hervor. »Ihr verfluchten Narren, beim Vermummten!«

»Herr, wir können den Pannioniern nicht fünf Wochen lang standhalten.«

»Das weiß ich, verdammt! Aber die Frage ist doch: Warum versuchen wir es überhaupt?«

Itkovian runzelte die Stirn. »Herr, aber so lautet unser Kontrakt – die Stadt zu verteidigen –«

»Idiot – was kümmert mich Euer verdammter Kontrakt? Ihr seid bereits zu dem Schluss gekommen, dass Ihr so oder so scheitern werdet. Meine Sorge gilt dem Überleben meines Volkes. Diese Armee nähert sich von Westen her? Ja, so muss es sein. Sie marschiert am Fluss entlang –«

»Wir können keinen Ausbruchsversuch wagen, Fürst. Wir würden ausgelöscht werden.«

»Wir konzentrieren alle Kräfte im Westen. Ein rascher Ausfall, der sich in eine Massenflucht verwandelt. Schild-Amboss –«

»Wir würden niedergemetzelt werden«, unterbrach ihn Itkovian. »Herr, wir haben uns das auch schon überlegt. Es wird nicht funktionieren. Die Reiterei des Septarchen wird uns umzingeln und zum Anhalten zwingen. Dann werden die Bekliten und Tenescowri kommen. Wir werden eine gut zu verteidigende Position für eine aufgegeben haben, die nicht zu halten ist. Binnen eines einzigen Glockenschlags wäre alles vorbei.«

Fürst Jelarkan starrte den Schild-Amboss mit unverhohlener Verachtung, ja, mehr noch, voller Hass an. »Setzt Brukhalian über Folgendes in Kenntnis«, krächzte er. »In Zukunft ist es nicht Aufgabe der Grauen Schwerter, dem Fürsten das Denken abzunehmen. Es ist auch nicht ihre Aufgabe, zu entscheiden, was er wissen muss und was nicht. Der Fürst muss über alles informiert werden, unabhängig davon, für wie wichtig Ihr die jeweiligen Dinge erachtet. Habt Ihr das verstanden, Schild-Amboss?«

»Ich werde Eure Worte präzise übermitteln, Fürst Jelarkan.« »Ich darf wohl davon ausgehen«, fuhr der Fürst fort, »dass der Maskenrat eher noch weniger weiß, als ich es vor knapp einem Glockenschlag getan habe.«

»Diese Vermutung trifft zu, Herr. Die Interessen der Priester und –«

»Verschont mich mit Euren auswendig gelernten Meinungen, Itkovian. Guten Tag.«

Itkovian blickte dem Fürsten nach, als er auf den Ausgang des Innenhofs zuging, der Gang etwas zu steif, um königlich zu sein. Und dennoch ist er auf seine Weise edel. Ihr habt mein Mitgefühl, werter Fürst, obwohl ich nicht wagen würde, es laut zu äußern. Ich bin der Wille des Todbringenden Schwerts. Meine eigenen Wünsche sind bedeutungslos. Er schob die Woge bitteren Zorns beiseite, die bei diesen Gedanken in ihm aufstieg, und wandte sich wieder den beiden Barghast zu, die noch immer auf dem Teppich hockten.

Die Trance war gebrochen. Hetan und Cafal beugten sich jetzt über die Kohlenpfanne, von der weißer Rauch in spiraligen Wolken zum sonnigen Himmel aufstieg.

Itkovian war so überrascht, dass er noch einen Augenblick reglos stehen blieb, ehe er losstiefelte.

Als er näher kam, sah er, dass etwas auf die Kohlen in der Kohlenpfanne gelegt worden war. Rot gesprenkelt an den Rändern, flach und milchweiß im Innern. Ein frisches Schulterblatt, zu leicht, um von einem Bhederin zu stammen, doch dünner und länger als das eines Menschen. Vielleicht das Schulterblatt eines Hirschs oder einer Antilope. Die Barghast hatten mit einer Weissagung begonnen, wobei sie den Knochen benutzten, dem ihre Schamanen den Namen verdankten, unter dem sie bei ihren Stämmen bekannt waren.

Dann sind sie also tatsächlich mehr als nur Krieger. Ich hätte es mir denken können. Cafals Gesang im Knecht. Er ist ein Schultermann; und Hetan ist sein weibliches Gegenstück.

Er blieb am Rande des Teppichs stehen, etwas links von Cafal. In dem Schulterblatt zeigten sich die ersten Risse. Fett brodelte entlang der dicken Kante des Knochens, zischte und flammte auf wie ein Feuerring.

Die einfachste Weissagung war die Interpretation der Risse als Landkarte, ein Hilfsmittel, um leichter wilde Herden für die Jäger des Stammes zu finden. In diesem Fall hingegen, das wusste Itkovian genau, war die Zauberei weit komplizierter, waren die Risse mehr als nur eine Landkarte der irdischen Welt. Der Schild-Amboss blieb stumm, er versuchte, etwas von dem gemurmelten Gespräch zwischen Hetan und ihrem Bruder mitzubekommen.

Sie sprachen Barghast, eine Sprache, mit der Itkovian nur oberflächlich vertraut war. Und was noch merkwürdiger war: Das Gespräch schien unter drei Beteiligten abzulaufen, denn die Geschwister neigten die Köpfe oder nickten zu Antworten, die nur sie hören konnten.

Das Schulterblatt war mittlerweile ein Labyrinth aus Rissen und hatte sich stellenweise blau, beige und kalkweiß verfärbt. Nicht mehr lange, und es würde in sich zusammenfallen, wenn der Geist der Kreatur der überwältigenden Macht nachgeben würde, die durch seine schwindende Lebenskraft strömte.

Das unheimliche Gespräch verstummte. Während Cafal wieder in Trance fiel, lehnte Hetan sich zurück; sie blickte auf, und ihr Blick begegnete dem Itkovians. »Oh, Wolf, dein Anblick stimmt mich froh. Es hat Veränderungen auf der Welt gegeben. Überraschende Veränderungen.«

»Und, bereiten dir diese Veränderungen Freude, Hetan?«

Sie lächelte. »Würde es dir gefallen, wenn es so wäre?«

Überschreite ich diesen Abgrund? »Diese Möglichkeit existiert.«

Die Frau lachte und stand langsam auf. Sie ächzte leise, als sie ihre Arme und Beine streckte. »Die Geister sollen mich holen, was tun mir die Knochen weh. Meine Muskeln schreien nach sanften Händen.«

»Es gibt Lockerungsübungen –«

»Als ob ich das nicht wüsste, Wolf. Machst du ein paar mit mir zusammen?«

»Was hast du für Neuigkeiten, Hetan?«

Sie lächelte, die Hände in die Hüften gestemmt. »Beim Abgrund«, sagte sie gedehnt, »was bist du ungeschickt. Sei nett zu mir und erfahre alle meine Geheimnisse – ist das die Aufgabe, die man dir gegeben hat? Eigentlich solltest du dieses Spiels allmählich müde sein. Vor allem, wenn es um mich geht.«

»Vielleicht hast du Recht«, sagte er, richtete sich seinerseits auf und wandte sich ab.

»Halt, Mann!«, lachte Hetan. »Willst du davonrennen wie ein Hase? Und ich habe dich Wolf genannt! Ich sollte mir einen anderen Namen ausdenken.«

»Das steht dir frei«, erwiderte er über die Schulter, während er davonging.

Noch einmal ertönte hinter ihm ihr Lachen. »Ah, das ist ein Spiel, das mir gefällt! Dann geh, mein lieber Hase! Meine schwer zu erwischende Beute, hah!«

Itkovian betrat wieder das Hauptquartier und ging den Korridor hinunter, der sich an der äußeren Mauer entlangzog, bis er zum Aufgang in den Turm kam. Seine Rüstung schepperte, als er die steilen Steinstufen hinaufstieg. Er versuchte, Bilder von Hetan aus seinen Gedanken zu vertreiben, ihr lachendes Gesicht, ihre hellen, tanzenden Augen, die Rinnsale aus Schweiß, die über ihre mit Asche bedeckte Stirn rannen, die Art, wie sie dagestanden hatte, den Rücken durchgebogen, die Brüste auf provozierende, einladende Weise vorgestreckt. Er verabscheute das Wiederaufflackern lang begrabener Wünsche, die ihm jetzt zusetzten. Seine Schwüre zerbröckelten, all seine Gebete zu Fener wurden mit Schweigen beantwortet, als wären dem Gott die Opfer gleichgültig, die Itkovian seinetwillen gebracht hatte.

Und vielleicht ist das die endgültige, vernichtende Wahrheit. Die Götter kümmert es nicht, ob sich die Sterblichen irgendeine Askese auferlegen. Und sie kümmern sich genauso wenig um Benimmregeln oder die doppelte Moral von Tempelpriestern und Mönchen. Stattdessen lachen sie vielleicht über die Ketten, mit denen wir uns selbst fesseln – über unser niemals endendes, unersättliches Bedürfnis, Fehler in den Ansprüchen zu finden, die das Leben an uns stellt. Vielleicht lachen sie uns aber auch gar nicht aus, sondern sind wütend auf uns. Vielleicht ist unsere Weigerung, das Leben zu genießen, für jene, die wir anbeten und denen wir dienen, die größte Beleidigung.

Er erreichte die Waffenkammer am oberen Ende der Wendeltreppe, nickte den beiden Soldaten, die hier auf Posten standen, abwesend zu und stieg dann weiter die Leiter hinauf, die zur Plattform auf dem Dach führte.

Der Destriant war bereits dort. Karnadas musterte Itkovian, als der Schild-Amboss zu ihm trat. »Ihr wirkt besorgt, mein Herr.«

»Das stimmt, ich will es nicht leugnen. Ich hatte gerade eine Unterredung mit Fürst Jelarkan, die mit seinem Missfallen geendet hat. Anschließend habe ich mit Hetan gesprochen. Destriant, mein Glaube ist bedroht.«

»Ihr stellt Eure Eide in Frage?«

»Ja, das tue ich, mein Herr. Ich muss zugeben, dass ich ihre Richtigkeit in Zweifel ziehe.«

»Habt Ihr denn geglaubt, Schild-Amboss, Eure Benimmregeln wären dazu da, Fener zu beschwichtigen?«

Itkovian runzelte die Stirn, während er gegen die Schartenbacke gelehnt das in Rauch gehüllte feindliche Lager betrachtete. »Nun, ja –«

»Dann habt Ihr mit einem Missverständnis gelebt, mein Herr.«

»Erklärt Euch bitte.«

»Natürlich. Ihr habt das Bedürfnis verspürt, Euch selbst Fesseln anzulegen, ein Bedürfnis, Eurer Seele die Verengung aufzuerlegen, die von Euren Eiden definiert wird. Mit anderen Worten, Itkovian, Eure Eide beruhen auf dem Gespräch mit Euch selbst – nicht auf dem mit Fener. Die Fesseln liegen nur in Euch selbst, genau wie Ihr im Besitz des Schlüssels seid, mit dem Ihr sie öffnen könnt, wenn Ihr sie nicht mehr benötigt.«

»Wenn ich sie nicht mehr benötige?«

»Ja. Wenn Euer Glaube nicht mehr durch all das bedroht wird, was zum Leben gehört.«

»Ihr wollt also sagen, dass ich gar keine Glaubenskrise habe, sondern nur eine Krise mit meinen Eiden. Dass ich den Unterschied verwischt habe.«

»Genau das, Schild-Amboss.«

»Destriant«, sagte Itkovian, den Blick noch immer auf das Lager der Pannionier gerichtet, »Eure Worte laden zu einer Flut fleischlicher Gelüste ein.«

Der Hohepriester brach in schallendes Gelächter aus. »Und hoffentlich auch zu einem drastischen Zusammenbruch Eurer missmutigen Stimmung!«

Itkovians Mundwinkel zuckten. »Jetzt sprecht Ihr von Wundern, mein Herr.«

»Ich hoffe –«

»Still.« Der Schild-Amboss hob eine behandschuhte Hand. »Unter den Bekliten kommt Bewegung auf.«

Karnadas trat zu ihm, plötzlich wieder vollkommen ernst.

»Und da«, sagte Itkovian und deutete in die Richtung, die er meinte, »Urdomen. Und an ihren Flanken Scalandi. Domänenser bewegen sich zu den Befehlspositionen.«

»Sie werden zuerst die Schanzen angreifen«, prophezeite der Destriant. »Die hoch gerühmten Gidrath des Maskenrates in ihren Festungen. Das könnte uns ein wenig Zeit verschaffen –«

»Holt mir ein paar Boten, mein Herr. Alarmiert die Offiziere. Und gebt dem Fürsten Bescheid.«

»Jawohl, Schild-Amboss. Werdet Ihr hier bleiben?«

Itkovian nickte. »Dies ist ein geeigneter Aussichtspunkt. Und jetzt geht, mein Herr.«

Auf dem Todesstreifen zogen sich Beklitentruppen rings um die Festung der Gidrath zusammen. Speerspitzen glänzten im Sonnenlicht.

Nun, da er allein war, kniff Itkovian die Augen ein wenig zusammen, während er sich die Vorbereitungen anschaute. »Ah, ja, es hat angefangen.«

Die Straßen von Capustan waren still; sie lagen praktisch menschenleer unter einem wolkenlosen Himmel, während Grantl die Calmanark-Gasse entlangging. Er kam zu der geschwungenen Mauer der abgeschlossenen Trutz, die als Uldan bekannt war, stapfte durch den Abfall, der eine Treppe bedeckte, die unter das Niveau der Straße führte, und hämmerte mit der Faust gegen die dicke Tür, die in die Grundmauern eingelassen war.

Nach einem Augenblick öffnete sie sich knarrend.

Grantl trat durch die Öffnung und gelangte in einen engen Korridor, dessen Fußboden schräg nach oben führte und in zwanzig Schritt Entfernung – wieder auf Oberflächenniveau – in einen kreisrunden, großen Innenhof mündete, in den helles Sonnenlicht fiel.

Buke schloss die schwere Tür hinter sich und ließ den wuchtigen Querbalken mühsam zurück in die Nut sinken. Dann drehte sich der dürre, grauhaarige Mann zu Grantl um. »Das ging ja schnell. Und?«

»Was glaubst du denn?«, erwiderte der Karawanenführer grollend. »Es hat Bewegung gegeben. Die Pannionier formieren sich. Boten reiten hierhin und dorthin –«

»Auf welcher Mauer warst du?«

»Auf der Nordmauer, auf dieser Seite vom Lestar-Haus … als ob das eine Rolle spielen würde. Und was ist mit dir? Ich habe vorhin vergessen zu fragen. Ist der Bastard letzte Nacht wieder auf den Straßen auf Jagd gegangen?«

»Nein. Ich habe dir doch gesagt, dass die Bewohner der Trutzen helfen. Ich nehme an, er versucht noch immer rauszukriegen, warum er vorletzte Nacht mit leeren Händen nach Hause gekommen ist – das hat ihn verunsichert, und zwar so sehr, dass es Bauchelain aufgefallen ist.«

»Das sind keine guten Neuigkeiten. Er wird Nachforschungen anstellen, Buke.«

»Klar. Aber ich habe doch gesagt, dass das Ganze nicht ungefährlich sein würde, oder?«

Na klar, zu versuchen, einen wahnsinnigen Mörder daran zu hindern, weitere Opfer zu finden – ohne dass er es bemerkt – und das Ganze am Vorabend einer Belagerung … Der Abgrund soll dich holen, Buke, in was ziehst du mich da rein? Grantl blickte die Rampe hinauf. »Sie helfen dir, hast du gesagt. Wie kommen deine neuen Freunde denn damit klar?«

Der alte Mann zuckte die Schultern. »Korbal Broach bevorzugt gesunde Organe, wenn er für seine Experimente sammelt. Es sind ihre Kinder, die in Gefahr sind.«

»Aber sie wären weniger gefährdet, wenn sie von dem Problem nichts erfahren hätten.«

»Das wissen sie.«

»Hast du Kinder gesagt?«

»Ja, es streunen die ganze Zeit mindestens vier von den kleinen Beobachtern um das Haus herum. Es gibt hier so viele obdachlose Bälger, dass sie sich leicht unter sie mischen können. Sie schauen auch immer mal wieder nach oben –« Er unterbrach sich abrupt, und in seinem Blick lag plötzlich etwas merkwürdig Verstohlenes.

Der Mann hatte ein Geheimnis, das war Grantl mittlerweile klar. »Nach oben? Warum?«

»Oh, äh, nur für den Fall, dass Korbal Broach es über die Dächer versucht.«

In einer Stadt mit weit auseinander liegenden Kuppeldächern?

»Was ich sagen wollte«, fuhr Buke fort, »ist, dass das Haus die ganze Zeit beobachtet wird. Zum Glück hockt Bauchelain noch im Keller, den er in eine Art Laboratorium verwandelt hat. Er verlässt das Haus niemals. Und Korbal schläft tagsüber. Grantl, was ich vorhin gesagt habe –«

Grantl unterbrach ihn mit einer raschen Handbewegung. »Hör doch!«, sagte er.

Die beiden Männer standen einen Augenblick völlig reglos da.

Entferntes Donnergrollen unter ihren Füßen, ein langsam anschwellendes Gebrüll von jenseits der Stadtmauern.

Buke, der plötzlich kreidebleich war, fluchte und fragte: »Wo ist Stonny? Und versuch mir bloß nicht weiszumachen, du wüsstest es nicht.«

»Am Hafenstraßentor. Fünf Trupps Graue Schwerter, eine Kompanie Gidrath, vielleicht ein Dutzend Lestari-Wachen –«

»Dort ist es am lautesten –«

Grantl runzelte die Stirn. »Sie ist davon ausgegangen, dass es an dem Tor losgehen würde. Das dumme Weib«, brummte er.

Buke trat ganz dicht an ihn heran und packte ihn am Arm. »Warum, im Namen des Vermummten«, zischte er, »stehst du dann noch hier herum? Der Angriff hat begonnen, und Stonny hat dafür gesorgt, dass sie mitten im dicksten Schlamassel steckt.«

Grantl schüttelte den Arm ab. »Sing mir was vom Abgrund, alter Mann. Die Frau ist erwachsen, weißt du – ich habe es ihr gesagt – ich habe es euch beiden gesagt! Dieser Krieg geht mich nichts an!«

»Das wird die Tenescowri nicht daran hindern, dir den Kopf abzuhacken und dich in den Kochtopf zu stecken!«

Schnaubend stieß Grantl Buke zur Seite, so dass der Weg zur Tür frei war. Er packte den beschwerten Riegel mit der Rechten, riss ihn mit einer schwungvollen Bewegung aus der Nut und ließ ihn zu Boden fallen. Ein schepperndes Geräusch dröhnte durch den Korridor. Grantl zog die Tür auf und duckte sich, um auf die Treppe hinauszutreten.

Sobald er das Niveau der Straße erreichte und auf die Gasse hinaustrat, verwandelte sich der Lärm des Angriffs in ein donnerndes Getöse. Außer dem gedämpften Klirren von Waffen waren Schreie, gebrüllte Befehle und jenes unbestimmbare, stotternde Rascheln zu hören, das von Tausenden von gerüsteten Leibern verursacht wurde, die in Bewegung waren – vor den Wällen, auf den Brustwehren, beiderseits des Tores … das, wie er wusste, schon bald unter den Stößen der Rammböcke ächzen würde.

Endlich hatten die Belagerer ihre Klingen gezogen. Das Warten hatte ein Ende.

Und sie werden nicht halten, diese Mauern. Genauso wenig wie die Tore. Wenn der Abend hereinbricht, wird alles vorbei sein. Er überlegte kurz, ob er sich betrinken sollte, und die vertraute Vorstellung tröstete ihn einen Augenblick.

Eine Bewegung über ihm ließ ihn aufblicken. Von Westen her sah er ein halbes Hundert Feuerbälle in großem Bogen heranfliegen, die feurige Spuren am Himmel hinterließen. Überall loderten Flammen auf, als die Geschosse sowohl in Sichtweite als auch weiter entfernt unter donnernden Einschlägen auf Straßen und Gebäude herabregneten.

Er drehte sich um und sah eine zweite Salve, die von Norden herangeflogen kam; eines der Geschosse wurde größer als die anderen. Es wurde immer noch größer – eine lodernde Sonne, die genau auf ihn zukam.

Mit einem Fluch warf sich Grantl den Treppenschacht hinunter.

Die teerige Masse schlug auf die Straße, prallte in einem Feuersturm wieder hoch und krachte keine zehn Schritt seitlich des Treppenschachts gegen die geschwungene Mauer der Trutz.

Der steinerne Kern durchbrach die Mauer, zog die Flammen hinter sich her.

Trümmerstücke hagelten auf die brennende Straße herab.

Zerschlagen und halb taub krabbelte Grantl aus dem Treppenschacht. Schreie drangen aus dem Innern der Uldan-Trutz. Aus dem Loch in der Mauer quollen dicke Rauchwolken. Die verdammten Dinger sind die reinsten Mausefallen, wenn’s zu brennen anfängt. Er drehte sich um, als die Tür am Fuß des Treppenschachts knirschend aufschwang. Buke tauchte im Türrahmen auf, zog eine bewusstlose Frau ins Freie.

»Wie schlimm ist es?«, brüllte Grantl.

Buke blickte auf. »Bist du immer noch hier? Wir sind in Ordnung. Das Feuer ist fast aus. Verschwinde von hier – lauf und versteck dich irgendwo.«

»Gute Idee«, knurrte er.

Rauch verhüllte den Himmel, stieg in schwarzen Säulen aus der ganzen östlichen Hälfte Capustans auf und verwandelte sich in eine Dunstglocke, als der Wind ihn nach Westen trieb. Im Daru-Viertel waren Flammen zu sehen, dort brannten Tempel und Mietskasernen. Da Grantl zu dem Schluss gekommen war, dass er in der Nähe der Mauern vor den brennenden Geschossen am sichersten wäre, marschierte er die Straße in östlicher Richtung entlang. Es ist nur Zufall, dass Stonny auch irgendwo da vorne ist, am Hafenstraßentor. Sie hat ihre Entscheidung getroffen.

Es ist nicht unser Kampf, verdammt noch mal. Wenn ich unbedingt Soldat hätte werden wollen, wäre ich in irgendeine verdammte Armee eingetreten, beim Vermummten. Der Abgrund soll sie alle verschlingen –

Eine weitere Salve von den weit entfernten Katapulten schlug Schneisen durch den Rauch. Er ging etwas schneller, doch die Feuerbälle waren schon über ihn hinweggezischt; sie senkten sich auf das Zentrum der Stadt nieder und landeten in einem trommelnden Stakkato. Wenn die so weitermachen, werde ich höchstwahrscheinlich wahnsinnig. Vor ihm rannten Gestalten durch den Rauch. Das Geräusch aufeinander prallender Waffen wurde lauter, wie Wellen, die an einen Kiesstrand brandeten. Na schön. Ich suche jetzt einfach das Tor und hole das Schätzchen da raus. Wird nicht lange dauern. Beim Vermummten, wenn sie sich weigert, schlage ich sie bewusstlos. Wir werden irgendeine Möglichkeit finden, hier rauszukommen, und das war’s dann.

Er näherte sich der Rückseite der Marktbuden, die auf die Innere Hafenstraße hinausgingen. Die Gässchen zwischen den klapprigen Buden waren eng und knietief mit Unrat übersät. Die Straße dahinter war hinter einer Rauchwand verborgen. Nachdem er sich einen Weg durch den Müll freigetreten hatte, erreichte Grantl die Straße. Das Tor befand sich zu seiner Linken, war kaum zu erkennen. Die gewaltigen Torflügel waren zerschmettert, der Durchgang mit Leichen übersät. Aus den Schießscharten der gedrungenen Türme, die die Öffnung flankierten und deren geschwärzte Seiten mit hellen Kratzern übersät waren – Spuren von unzähligen Pfeilen, Armbrust- und Ballistenbolzen –, drang Qualm, begleitet von Schreien und Schwertgeklirr. Auf den Plattformen der Mauer zu beiden Seiten erkämpften sich Soldaten in der Uniform der Grauen Schwerter Zugang zu den oberen Stockwerken der Türme.

Von rechts näherten sich trampelnde Schritte. Ein halbes Dutzend Trupps Grauer Schwerter tauchte aus dem Qualm auf, die beiden vordersten Reihen mit Schwert und Schild, die beiden hinteren mit gespannten Armbrüsten. Sie überquerten genau vor dem Karawanenführer die Straße und bezogen hinter dem Leichenberg im Tordurchgang Stellung.

Ein launischer Wind verjagte rechts von Grantl den Rauch aus der Straße, ließ noch mehr Leichen sichtbar werden – Capanthall, Lestari und pannionische Betakliten, die ganze Straße entlang, bis zu einer verbarrikadierten Kreuzung in sechzig Schritt Entfernung, wo sich die toten Soldaten zu einem weiteren Haufen auftürmten.

Grantl rannte zu den Grauen Schwertern hinüber. Da er keinen Offizier ausmachen konnte, wandte er sich an die Armbrust-Schützin, die ihm am nächsten war. »Wie sieht’s aus, Soldatin?«

Sie blickte ihn kurz an; ihr Gesicht war eine ausdruckslose, rußbedeckte Maske, und überrascht stellte er fest, dass sie eine Capan war. »Wir säubern die Türme. Die Truppen, die den Ausfall gemacht haben, müssten bald zurück sein – wir lassen sie durch und halten dann den Durchgang.«

Er starrte sie an. Einen Ausfall? Bei den Göttern, sie sind vollkommen verrückt geworden! »Ihr haltet ihn, sagst du?« Er starrte den bogenförmigen Durchgang an. »Und wie lange?«

Sie zuckte die Schultern. »Die Sappeure mit ihren Arbeitsgruppen sind schon unterwegs. In ein oder zwei Glockenschlägen haben wir ein neues Tor.«

»Wie viele Durchbrüche? Was ist verloren?«

»Ich weiß es nicht, Bürger.«

»He, ihr da drüben, lasst das Geschwätz«, rief eine männliche Stimme. »Und schafft den Zivilisten hier weg –«

»Bewegung voraus!«, rief ein anderer Soldat.

Armbrüste wurden bereit gemacht und auf den Schultern der knieenden Schwertträger abgestützt.

Irgendjemand rief von außerhalb des Durchgangs: »Lestari-Truppen  – nicht schießen! Wir kommen rein!«

Die Grauen Schwerter schienen sich dennoch nicht zu entspannen. Einen Augenblick später kamen die ersten der Männer, die den Ausfall gewagt hatten, in Sicht. Die schwer gerüsteten Fußsoldaten waren verletzt und zerschlagen; sie trugen ihre schwerer verwundeten Kameraden und forderten die Grauen Schwerter auf, ihnen eine Gasse frei zu machen.

Die wartenden Trupps teilten sich und bildeten einen Korridor.

Jeder der ersten dreißig Lestari, der vorbeikam, schleppte einen verwundeten Kameraden. Grantl hörte Kampfgeräusche von jenseits des Durchgangs. Sie kamen näher. Es gab anscheinend eine Nachhut, die diejenigen schützte, die die Verwundeten trugen, und der Druck auf sie nahm zu.

»Gegenangriff!«, brüllte jemand, »Scalandi-Plänkler –«

Ein Horn ertönte hoch oben auf der Mauer rechts des südlichen Turms.

Das Getöse auf dem Todesstreifen jenseits des Durchgangs wurde lauter. Die Pflastersteine unter Grantls Füßen zitterten. Scalandi. Sie greifen in Legionen von mindestens fünftausend Mann an …

Reihen Grauer Schwerter nahmen ein Stück weiter die Innere Hafenstraße hinunter Aufstellung – Schwertkämpfer, Armbrust- und Bogenschützen der Capanthall, die alle zusammen eine Rückzugslinie bildeten. Hinter ihnen sammelte sich eine noch größere Kompanie, die über Ballisten, Tribocke und Schleuderer verfügte – letztere mit dampfenden Eimern voll kochend heißem Kies.

Die Nachhut kam in den Durchgang gestolpert. Speere zischten zwischen ihnen hindurch, prallten von Rüstungen und Schilden ab, und nur einer fand sein Ziel, ließ einen Soldaten mit dem Schaft im Nacken zu Boden sinken. Die ersten pannionischen Scalandi tauchten auf, geschmeidig, mit Lederhemden und Lederhelmen; sie schwenkten Speere und irgendwo aufgelesene Schwerter, und ein paar wenige hatten auch aus Weidenruten geflochtene Schilde. Sie drängten gegen die zurückweichende Linie der schweren Lestari-Infanterie, starben einer nach dem anderen, doch es kamen immer mehr, und alle stießen ein schrilles Kriegsgeschrei aus.

»Rückzug! Rückzug!«

Der gebrüllte Befehl zeigte unverzüglich Wirkung – die Lestari-Nachhut löste sich schlagartig aus dem Kampf, drehte sich um und rannte den Korridor entlang; sie ließen ihre Gefallenen zurück, die von den Scalandi gepackt und zurück in den Durchgang davongeschleift wurden. Dann quollen die Plänkler durch das Tor.

Die erste Reihe der Grauen Schwerter formierte sich neu, kaum dass die Lestari an ihnen vorbei waren. Armbrüste schnalzten. Dutzende von Scalandi fielen, und ihre zuckenden Leiber behinderten die nachfolgenden Angreifer. Grantl schaute zu, wie die Grauen Schwerter ruhig nachluden.

Ein paar aus der vordersten Reihe der Plänkler erreichten die Schwertkämpfer der Söldnertruppe und wurden allesamt niedergehauen.

Eine zweite Welle drängte sich an ihren gefallenen Kameraden vorbei, brandete auf die Verteidiger zu.

Sie starben unter einer weiteren Salve Armbrustbolzen. Der Durchgang begann sich allmählich mit Leichen zu füllen. Die nächste Gruppe Scalandi, die auftauchte, war unbewaffnet. Während die Grauen Schwerter erneut ihre Armbrüste nachluden, begannen die Plänkler damit, ihre Toten und Sterbenden durch den Durchgang nach draußen zu ziehen.

Die Tür zum Turm auf der linken Seite sprang auf, was Grantl überrascht zusammenzucken ließ. Er wirbelte herum – die Hände an den Griffen seiner Gadrobi-Macheten – und sah ein halbes Dutzend Capanthall aus dem Eingang taumeln; sie keuchten und husteten und waren blutverschmiert. Unter ihnen war auch Stonny Menackis.

Ihr Rapier war zwei Handbreit unterhalb der Spitze abgebrochen; der noch verbliebene Rest der Klinge war – einschließlich der Parierstange  – dick mit Blut und anderen Dingen verschmiert, genau wie ihre behandschuhte Hand und ihr gepanzerter Unterarm. Etwas Schmieriges, das lange Fäden zog, klebte an der schmalen Klinge des Dolchs in ihrer Linken, von dem braune Soße troff. Ihre teure Lederrüstung hing in Fetzen, wobei ein diagonal geführter Hieb auch durch das wattierte Hemd gedrungen war, das sie darunter trug. Die Lederrüstung und das Hemd hingen in Streifen herunter, so dass ihre bloße rechte Brust zu sehen war, deren weiche, weiße Haut Druckstellen wie von einer Hand aufwies.

Zunächst sah sie ihn nicht. Ihr Blick war auf den Durchgang gerichtet, wo gerade der letzte Leichnam beiseite geschafft worden war und durch den nun die nächste Woge Scalandi quoll. Die vordersten Reihen fielen den Armbrustbolzen zum Opfer, genau wie zuvor, doch die überlebenden Angreifer kamen nun auf die Verteidiger zugerannt  – ein entfesselter, kreischender Mob.

Die vier Reihen tief gestaffelt stehender Grauer Schwerter teilten sich einmal mehr, wirbelten herum und rannten davon, auf das jeweils nächste Seitengässchen rechts und links der Hafenstraße zu, wo die Bogenschützen der Capanthall standen und darauf warteten, freie Schussbahn auf die Scalandi zu bekommen.

Stonny bellte ihren Kameraden einen Befehl zu, und der kleine Trupp wich parallel zur Mauer wieder zurück. Dann erblickte sie Grantl.

Ihre Blicke bohrten sich ineinander.

»Komm hier rüber, du Ochse!«, zischte sie.

Grantl rannte zu ihnen hinüber. »Bei den Eiern des Vermummten, Mädchen, was –«

»Na was wohl! Sie sind über uns hinweggefegt, durch das Tor, die Türme hoch, über die verdammten Mauern.« Ihr Kopf zuckte zurück, als hätte sie gerade einen unsichtbaren Hieb abbekommen. Eine merkwürdige Ruhe lag plötzlich in ihrem Blick. »Wir haben um jeden Raum gekämpft. Mann gegen Mann. Ein Domänenser hat mich zu fassen gekriegt –« Ein erneutes Zucken durchlief ihren Körper. »Aber der Schweinehund hat mich am Leben gelassen. Also hab ich ihn gesucht und zur Strecke gebracht. Komm, gehen wir!« Sie fuchtelte mit ihrem linkshändig geführten Dolch vor Grantl in der Luft herum, als sie weitereilten, besprühte seine Brust und sein Gesicht mit Gallenflüssigkeit und wässriger Scheiße. »Ich habe ihm das Innerste nach außen gekehrt, und verdammt will ich sein, wenn er nicht gebettelt hat.« Sie spuckte aus. »Aber mir hatte das auch nichts genützt – wieso sollte es ihm dann was nützen? Was für ein Idiot! Was für ein erbärmlicher, winselnder …«

Grantl, der hinter ihr herrannte, brauchte ein paar Herzschläge, bis er begriff, was sie da sagte. Oh, Stonny …

Ihre Schritte wurden plötzlich langsamer, ihr Gesicht blass. Sie drehte sich um und sah ihn voller Entsetzen an. »Das hier sollte doch ein Kampf sein. Ein Krieg. Dieser Schweinehund –« Sie lehnte sich gegen die Mauer. »Oh, ihr Götter!«

Die anderen rannten weiter, zu benommen, um zu bemerken, dass einer von ihnen stehen geblieben war – oder vielleicht auch schon zu abgestumpft, um sich darum zu kümmern.

Grantl trat zu ihr. »Du hast ihm das Innerste nach außen gekehrt, wie?«, fragte er sanft, wagte jedoch nicht, die Hand auszustrecken und sie zu berühren.

Stonny nickte, die Augen fest zugekniffen; sie atmete in rasselnden, keuchenden Zügen.

»Hast du mir ein bisschen was von ihm übrig gelassen, Schätzchen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Schade. Aber egal, ein Domänenser ist so gut wie der andere.«

Stonny trat einen Schritt vor, drückte ihr Gesicht an seine Schulter. Er schlang die Arme um sie. »Komm, machen wir, dass wir hier wegkommen, Schätzchen«, murmelte er. »Ich habe ein sauberes Zimmer, mit einer Waschschüssel und einem Ofen und einem Krug voller Wasser. Es ist nicht allzu weit von der Nordmauer entfernt und daher sicher; es liegt am Ende eines Korridors, und es gibt nur einen Weg hinein. Ich stelle mich vor die Tür, Stonny, so lange du willst. Niemand wird an mir vorbeikommen. Das verspreche ich dir.« Er spürte, wie sie nickte, und umfasste sie etwas tiefer, um sie hochzuheben.

»Ich kann laufen.«

»Na klar, aber die Frage ist, ob du das auch willst, Schätzchen?«

Nach einem langen Augenblick schüttelte sie den Kopf.

Grantl hob sie mühelos hoch. »Mach ein Nickerchen, wenn du willst«, sagte er. »Bei mir bist du sicher.«

Er stieß sich von der Mauer ab und setzte sich in Bewegung. Stonny kauerte sich in seinen Armen zusammen, presste ihr Gesicht gegen seine Tunika, und der grobe Stoff wurde an dieser Stelle immer feuchter.

Hinter ihnen starben die Scalandi zu Hunderten; die Grauen Schwerter und die Capanthall richteten ein wahres Gemetzel unter ihnen an.

Er wollte dort hinten sein. In der ersten Reihe. Ein Leben nach dem anderen auslöschen.

Ein Domänenser war nicht genug. Tausend würden nicht genug sein.

Später.

Er fühlte, wie er innerlich kälter wurde, als hätte sein Blut sich verändert, wäre nun etwas anderes, das in einem unerbittlichen Kreislauf durch seine Adern floss und seine Muskeln mit einer merkwürdigen, nicht nachlassenden Kraft versorgte. So etwas hatte er noch nie gespürt, doch er war über den Punkt hinaus, an dem er darüber nachgedacht hätte. Es gab keine Worte dafür.

Ebenso wenig – das sollte er bald entdecken –, wie es Worte für das gab, was aus ihm werden und was er tun würde.

Die Vernichtung der K’Chain Che’Malle durch die Kron T’lan Imass und die untoten Ay hatte den Septarchen und seine Streitkräfte in Unordnung gebracht, genau wie Brukhalian es vorausgesagt hatte. Die daraus resultierende Verwirrung und Unbeweglichkeit hatten Schild-Amboss Itkovian ein paar weitere Tage für seine Vorbereitungen auf die bevorstehende Belagerung beschert. Jetzt jedoch war die Zeit der Vorbereitungen vorbei, und es oblag Itkovian, sich als Befehlshaber um die Verteidigung der Stadt zu kümmern.

Es würden keine T’lan Imass und keine T’lan Ay zu ihrer Rettung kommen. Und es wird auch keine Armee auftauchen und uns retten, wenn gerade das letzte Sandkörnchen durch das Stundenglas rinnt. Capustan war ganz auf sich allein gestellt.

Und so soll es denn sein. Angst, Qual und Verzweiflung.

Nachdem Destriant Karnadas gegangen war und die Boten hektisch hin und her zu schwirren begannen, hatte Itkovian von seiner Position auf dem höchsten Turm der Mauer hinter den Truppenunterkünften aus die erste gleichzeitige Bewegung feindlicher Truppen im Osten und Südosten und das rumpelnde Auftauchen von Belagerungsmaschinen beobachtet. Bekliten und die schwerer gerüsteten Betakliten stellten sich gegenüber dem Hafentor auf, hinter ihnen und zu ihren Seiten wimmelten Massen von Scalandi. Stoßtrupps aus Domänensern sammelten sich, hin und her huschende Desandi – Sappeure – brachten noch mehr Belagerungsmaschinen in Stellung. Und in riesigen, entlang des Flussufers und der Meeresküste weit auseinander gezogenen Lagern warteten die brodelnden Massen der Tenescowri.

Er hatte den Angriff auf die vorgezogene Ostschanze der Gidrath beobachtet, die bereits isoliert und vollkommen von den Feinden eingeschlossen war; hatte zugesehen, wie die schmale Tür eingeschlagen worden war und die Bekliten sich in den Eingang gedrängt hatten, drei Schritte, zwei Schritte, einer – und dann Stillstand, und Augenblicke später ein Schritt zurück, dann noch einer. Leichen wurden beiseite gezogen. Immer mehr Leichen. Die Gidrath – die Elitetruppen des Maskenrats – hatten gezeigt, wie diszipliniert und entschlossen sie waren. Sie hatten die Eindringlinge hinausgedrängt und an Stelle der Tür eine neue Barrikade errichtet.

Die Bekliten draußen waren einige Zeit unschlüssig gewesen, dann hatten sie es erneut versucht.

Der Kampf ging den ganzen Nachmittag weiter, doch jedes Mal, wenn Itkovian seine Aufmerksamkeit von anderen Geschehnissen abwandte, sah er, dass die Gidrath die Schanze immer noch hielten. Und die Feinde dutzendweise töteten. Sie drehen den Stachel in der Flanke des Septarchen.

Schließlich, als sich schon die Abenddämmerung herabsenkte, wurden Belagerungsmaschinen herangerollt. Große Felsbrocken wurden gegen die Mauern der kleinen Festung geschleudert. Das hämmernde Dröhnen dauerte auch dann noch an, als das letzte Tageslicht verblasste.

Über dieses unbedeutende Drama hinaus hatte der Angriff auf die Stadtmauern an allen Seiten begonnen. Die Attacke im Norden erwies sich als Finte, schlecht ausgeführt und daher schnell als bedeutungslos erkannt. Boten berichteten dem Schild-Amboss, dass eine ähnlich halbherzige Attacke an der Westmauer stattfand.

Die eigentlichen Angriffe galten der Süd- und der Ostmauer, konzentrierten sich dort auf die jeweiligen Tore. Itkovian, der sich genau zwischen diesen beiden Punkten befand, konnte die Verteidigungsmaßnahmen an beiden Stellen beobachten. Er war auch für die Feinde klar und deutlich zu erkennen, und mehr als ein Geschoss war in seine Richtung geschickt worden, doch nur die wenigsten waren ihm auch nur nahe gekommen. Heute war der erste Tag. In den kommenden Tagen würden die Feinde ihre Reichweite und ihre Zielgenauigkeit verbessern. In nicht allzu ferner Zukunft würde er seinen Aussichtspunkt vielleicht aufgeben müssen. Doch bis es so weit war, würde er durch seine Gegenwart die Angreifer verspotten.

Als die Bekliten und Betakliten auf die Mauern zustürmten – und mit ihnen auch die mit Leitern bewaffneten Desandi –, befahl Itkovian Abwehrfeuer von den Mauern und Tortürmen. Das nachfolgende Gemetzel war entsetzlich. Die Angreifer hatten sich nicht die Mühe gemacht, eine Schildkrötenformation einzunehmen oder sich andere Formen der Deckung zu überlegen, und daher starben sie in erschreckenden Scharen.

Doch ihre Anzahl war so groß, dass sie die Tore trotzdem erreichten, Sturmböcke einsetzten und Breschen schlugen. Sobald die Pannionier sich allerdings durch den Torgang geschoben hatten, fanden sie sich auf freien Plätzen wieder, die zu Todesstreifen wurden, als die Bogenschützen der Grauen Schwerter und der Capanthall, die sich hinter Barrikaden an den Mündungen von Seitenstraßen und Gässchen verschanzt hatten, mit einem vernichtenden Kreuzfeuer begannen.

Die Strategie der abgestuften Verteidigung, die der Schild-Amboss ersonnen hatte, erwies sich als mörderisch wirksam. Die nachfolgenden Gegenangriffe waren so erfolgreich gewesen, dass sie sogar Ausfälle aus den Toren gestattet hatten und eine wilde Verfolgung der fliehenden Pannionier ermöglichten. Und zumindest heute war keine der Kompanien, die er ausgeschickt hatte, zu weit vorgerückt. Die aus Capanthall, Lestari und Korallessianern bestehenden Truppen hatten Disziplin gewahrt.

Der erste Tag war vorüber, und er gehörte den Verteidigern von Capustan.

Itkovian stand auf zitternden Beinen, während die Brise, die von der Küste heranwehte, den Schweiß auf seinem Gesicht trocknete, kühle Fühler durch die Gitter seines Halbvisiers schickte und leicht über seine vom Rauch geröteten Augen strich. Als die Dunkelheit ihn vollständig umgab, lauschte er auf die Felsbrocken, die gegen die Ostschanze dröhnten, und drehte sich zum ersten Mal seit Stunden um, um auf die Stadt zu blicken.

Ganze Häuserblocks brannten; die Flammen loderten zum nächtlichen Himmel hinauf und beleuchteten den Unterbauch eines geschwollenen Baldachins aus dichtem Rauch. Ich habe gewusst, was ich zu sehen bekommen würde. Warum entsetzt es mich dann? Lässt mir das Blut in den Adern erstarren? Plötzlich fühlte er sich schwach und lehnte sich gegen die Zinne in seinem Rücken, eine Hand gegen den rauen Stein gestützt.

Eine Stimme ertönte aus den Schatten der Bodenluke. »Ihr braucht Ruhe, mein Herr.«

Itkovian schloss die Augen. »Destriant, Ihr sprecht die Wahrheit.«

»Aber es wird keine Ruhe geben«, stellte Karnadas fest. »Die andere Hälfte der Angriffsstreitmacht sammelt sich. Wir können davon ausgehen, dass die Angriffe die ganze Nacht weitergehen werden.«

»Ich weiß, mein Herr.«

»Brukhalian –«

»Ja, es muss getan werden. Kommt also zu mir.«

»Solche Bemühungen werden immer schwieriger«, murmelte Karnadas, während er an den Schild-Amboss herantrat. Er legte Itkovian eine Hand auf die Brust. »Die Vergiftung der Gewirre bedroht mich«, fuhr er fort. »Schon bald werde ich nichts anderes mehr tun können, als mich selbst dagegen zu schützen.«

Die Müdigkeit floss aus dem Schild-Amboss heraus, und neue Kraft kehrte in seine Glieder zurück. Er seufzte. »Ich danke Euch, mein Herr.«

»Das Todbringende Schwert ist gerade zum Knecht gerufen worden, um über den Verlauf der Kämpfe an diesem ersten Tag Bericht zu erstatten. Und, nein, uns ist nicht das Glück beschieden zu erfahren, dass der Knecht durch das Bombardement von ein paar Hundert Feuerbällen zerstört worden ist. Er ist unversehrt. Andererseits  – in Anbetracht derer, die jetzt dort hausen, wünschen wir ihm nicht länger ein so schlimmes Ende.«

Itkovian wandte den Blick von den Straßen ab, musterte das vom roten Flammenschein beleuchtete Gesicht des Destriant. »Was meint Ihr damit, mein Herr?«

»Die Barghast, Hetan und Cafal, haben im Großen Saal ihr Lager aufgeschlagen.«

»Ah, ich verstehe.«

»Bevor er gegangen ist, hat Brukhalian mich gebeten, mich bei Euch zu erkundigen, was Eure Nachforschungen bezüglich der Mittel ergeben haben, mit denen die Knochen der Gründergeister der kommenden Vernichtung entzogen werden sollen.«

»Ich habe versagt, Destriant. Und es scheint mir nicht sehr wahrscheinlich, dass ich noch einmal Gelegenheit haben werde, weitere Anstrengungen in dieser Richtung zu unternehmen.«

»Das ist verständlich, mein Herr. Ich werde dem Todbringenden Schwert Eure Worte übermitteln, wenn auch ohne Eure offensichtliche Erleichterung.«

»Ich danke Euch.«

Der Destriant trat an die Brustwehr, um einen Blick auf den östlichen Todesstreifen zu werfen. »Bei den Göttern hienieden – halten die Gidrath die Schanze etwa noch immer?«

»Das ist ungewiss«, murmelte Itkovian und trat neben seinen Kameraden. »Zumindest hat das Bombardement nicht aufgehört. Es kann sein, dass die ganze Schanze inzwischen in Trümmern liegt – es ist zu dunkel, um etwas zu erkennen, aber ich glaube, ich habe vor einem halben Glockenschlag gehört, wie eine Mauer zusammengebrochen ist.«

»Die Legionen versammeln sich einmal mehr, Schild-Amboss.«

»Ich brauche mehr Boten. Meine letzten –«

»… sind erschöpft«, ergänzte Karnadas. »Ich werde mich jetzt verabschieden und tun, worum Ihr mich gebeten habt, mein Herr.«

Itkovian lauschte, als der Destriant die Leiter hinunterstieg, ließ dabei jedoch die Stellungen der Feinde im Osten und im Süden nicht aus den Augen. Abgeblendete Laternen blitzten da und dort auf, inmitten von Truppen, die anscheinend in Rechteckformationen angetreten waren. Kleinere Kompanien von Scalandi-Plänklern gesellten sich zu ihnen, bewegten sich vorsichtig vorwärts.

Schritte hinter dem Schild-Amboss kündeten von der Ankunft der Boten. Ohne sich umzudrehen sagte Itkovian: »Informiert die Hauptleute der Bogenschützen und der Männer an den Tribocken, dass die Pannionier bald einen erneuten Angriff versuchen werden. Soldaten auf die Mauern und Brustwehren. Die Kompanien an den Toren sollen sich in voller Kampfstärke sammeln, einschließlich der Sappeure.«

Mehr als ein Dutzend feuriger Bälle stiegen hinter den dicht gedrängt stehenden Pannioniern himmelwärts. Die Geschosse flogen in hohem Bogen über Itkovians Kopf hinweg, wobei ihr Zischen und Fauchen selbst auf dem Turm zu hören war. Explosionen erleuchteten die Stadt, erschütterten die bronzebeschlagenen dicken Holzbohlen unter seinen Füßen. Der Schild-Amboss blickte seine Melder an. »Geht!«

Karnadas trieb sein Pferd in leichtem Galopp auf den Tura’l-Platz zu. Der hohe Torbogen fünfzig Schritt zu seiner Linken hatte gerade an einer Ecke des Sockels einen Treffer abbekommen, und Steinsplitter und brennendes Pech verteilten sich in einem Sprühregen über die Pflastersteine und die Dächer der Mietskasernen daneben. Flammen flackerten auf, und der Destriant sah Gestalten aus dem Gebäude strömen. Irgendwo im Norden, ganz am Rand des Tempelbezirks, brannte eine andere Mietskaserne lichterloh.

Er erreichte die gegenüberliegende Seite des Platzes und ritt ohne langsamer zu werden die Schattenstraße entlang. Er ließ den Tempel des Schattens zu seiner Linken und den Tempel der Königin der Träume zu seiner Rechten liegen, lenkte sein Pferd dann erneut nach links, als sie den Speer der Daru erreichten, die Hauptstraße dieses Viertels. Ein Stück voraus ragten die dunklen Mauern des Knechts in die Höhe, der uralten Festung, die die niedrigeren Mietskasernen des Daru-Viertels sichtbar überragte.

Drei Trupps Gidrath bewachten das Tor, voll gerüstet und mit blankgezogenen Waffen. Als sie den Destriant erkannten, winkten sie ihn durch.

Im Hof stieg er von seinem Pferd, das er einem Stallburschen überließ, und begab sich dann zum Großen Saal, wo er, wie er wusste, Brukhalian finden würde.

Während er den Hauptgang entlang auf die Doppeltüren zuschritt, sah er, dass sich vor ihm ein anderer Mann befand. In einen langen Umhang mit Kapuze gehüllt, war er ohne die übliche Eskorte unterwegs, die normalerweise Fremde in den Knecht geleitete; dennoch näherte er sich dem Eingang mit würdevoller Selbstsicherheit. Karnadas fragte sich, wie er wohl an den Gidrath vorbeikommen wollte, und dann wurden seine Augen groß, als der Fremde mit einer Hand gestikulierte und die breiten Türflügel sich vor ihm öffneten.

In ärgerlichem Disput erhobene Stimmen schallten durch die geöffnete Tür und verstummten schnell, als der Fremde den Saal betrat.

Karnadas beschleunigte seine Schritte und kam gerade noch rechtzeitig, um die letzten Worte des Protests eines Rath-Priesters zu hören.

» – diesem Augenblick!«

Der Destriant schlüpfte im Gefolge des Fremden durch die Tür. Er sah das Todbringende Schwert in der Nähe des zentralen Mühlsteins stehen; Brukhalian hatte sich umgedreht, um den Neuankömmling anzusehen. Die beiden Barghast, Hetan und Cafal, saßen ein paar Schritt entfernt rechts von Brukhalian auf ihrem Teppich. Die Priester und Priesterinnen des Maskenrates beugten sich samt und sonders auf ihren Sitzen nach vorn; ihre Masken zeigten einen Ausdruck, der einer Karikatur größten Missfallens gleichkam. Nur Rath’Vermummter bildete eine Ausnahme. Er stand an seinem Platz, die hölzerne Totenschädelmaske wutverzerrt.

Den Fremden, der die Hände in den Ärmeln seiner graubraunen Robe gefaltet hatte, schien die unfreundliche Begrüßung nicht zu beunruhigen.

Von da, wo er stand, konnte der Destriant das Gesicht des Mannes nicht sehen, doch er sah, wie die Kapuze sich bewegte, als der Fremde die maskierte Versammlung musterte.

»Wollt Ihr meinen Befehl missachten?«, fragte Rath’Vermummter, sichtlich bemüht, seinen Ton zu mäßigen. Der Priester blickte sich finster um. »Wo sind unsere Gidrath? Warum, im Namen der Götter, haben sie unsere Rufe nicht gehört?«

»Bedauerlicherweise«, murmelte der Fremde auf Daru, »lauschen sie im Augenblick dem Ruf ihrer Träume. Aber dadurch vermeiden wir jede unnötige Unterbrechung.« Der Mann drehte sich jetzt zu Brukhalian um, so dass Karnadas – der mittlerweile an der Seite des Todbringenden Schwerts stand – zum ersten Mal sein Gesicht sehen konnte: rund, merkwürdig faltenlos, mit einem Ausdruck ruhiger Gelassenheit. Ach, das ist doch der Kaufmann, den Itkovian gerettet hat. Sein Name war … Keruli. Die hellen Augen des Mannes richteten sich auf Brukhalian. »Ich möchte den Kommandanten der Grauen Schwerter um Entschuldigung bitten, aber ich fürchte, ich habe eine Nachricht für den Maskenrat. Wenn Ihr vielleicht die Güte hättet, diesen Raum für kurze Zeit zu verlassen?«

Das Todbringende Schwert neigte den Kopf. »Natürlich, mein Herr.«

»Aber wir stimmen dem nicht zu!«, zischte Rath’Schattenthron.

Der Blick des Fremden wurde härter, als er sich dem Priester zuwandte. »Unglücklicherweise bleibt Euch gar nichts anderes übrig. Wenn ich Euch alle so ansehe, finde ich die Repräsentation erbärmlich unangemessen.«

Karnadas verbiss sich das Lachen, und es gelang ihm irgendwie, sich zumindest so weit wieder zu beruhigen, dass er Brukhalian, der ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue anschaute, lediglich einen Anblick unschuldiger Aufmerksamkeit bot.

»Beim Abgrund«, stieß Rath’Brand hervor. »Wer seid Ihr, dass Ihr Euch ein solches Urteil anmaßt?«

»Ich muss Euch meinen wahren Namen nicht nennen, Priesterin, nur den Titel, den ich jetzt beanspruche.«

»Und welcher Titel ist das?«

»Rath’K’rul. Ich bin gekommen, um meinen Platz im Maskenrat einzunehmen und Euch dies zu sagen: Es ist einer unter Euch, der uns alle verraten wird.«