Das Spiel der Götter 14 - Steven Erikson - E-Book

Das Spiel der Götter 14 E-Book

Steven Erikson

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Beschreibung

Tiefe Charaktere, hohe Komplexität und immer neue unerwartete Wendungen

Crokus Junghand kehrt zurück in seine Heimat. Doch nicht nur er hat sich verändert. Auch Darujistan, die Stadt des blauen Feuers, ist nicht mehr das, was sie einst war, wandeln doch verdammte Götter auf ihren Straßen. Crokus will nur seine eigenen Angelegenheiten erledigen und wieder verschwinden. Doch kann er seine alten Gefährten aus besseren Tagen zurücklassen, wenn die finsterste aller Nächte anbricht? Aber noch bevor Crokus sich entschieden hat, richtet sich der Blick von Anomander Rake, dem Sohn der Dunkelheit, auf die Stadt des blauen Feuers.

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Seitenzahl: 1073

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Buch

Schlitzer kehrt in seine Heimat zurück, die er vor einigen Jahren – damals noch als Crokus Junghand – verlassen hat. Doch nicht nur er hat sich verändert. Auch Darujhistan, die Stadt des blauen Feuers, ist nicht mehr das, was sie einst war. Assassinen und Schlimmeres streifen durch die nächtlichen Schatten, und selbst die Brückenverbrenner, die sich hierher zurückgezogen haben, müssen um ihr Leben fürchten. Kruppe ist nicht der Einzige, der spürt, dass schon bald etwas Ungewöhnliches geschehen wird – und jene, die es ebenfalls spüren, werden davon angezogen wie die Motten vom Licht. Als ein neuer religiöser Kult sich in der Stadt ausbreitet, scheint die Lösung des Rätsels nahe – doch warum richtet Anomander Rake, der Sohn der Dunkelheit, in seiner düsteren Heimstatt in Schwarz-Korall immer häufiger den Blick auf die Stadt des blauen Feuers …?

Autor

Steven Erikson, in Kanada geboren, lebte viele Jahre in der Nähe von London, ehe er vor einiger Zeit in seine Heimat nach Winnipeg zurückkehrte. Der Anthropologe und Archäologe feierte 1999 mit dem ersten Band seines Zyklus »Das Spiel der Götter« nach einer sechsjährigen akribischen Vorbereitungsphase seinen weltweit beachteten Einstieg in die Liga der großen Fantasy-Autoren.

Als Blanvalet Taschenbuch von Steven Erikson lieferbar:

Das Spiel der Götter: 1. Die Gärten des Mondes. Roman (24932), 2. Das Reich der Sieben Städte. Roman (24941), 3. Im Bann der Wüste. Roman (24940), 4. Die eisige Zeit. Roman (24997), 5. Der Tag des Sehers. Roman (24998), 6. Der Krieg der Schwestern. Roman (24271), 7. Das Haus der Ketten. Roman (24292), 8. Kinder des Schattens. Roman (24298), 9. Gezeiten der Nacht. Roman (24403), 10. Die Feuer der Rebellion (24469), 11. Die Knochenjäger (24499), 12. Der goldene Herrscher (26556), 13. Im Sturm des Verderbens (26557), 14. Die Stadt des blauen Feuers (26558)

Steven Erikson

Die Stadt

des blauen Feuers

Das Spiel der Götter 14

Roman

Aus dem Englischen

von Tim Straetmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

»Malazan Book of Fallen 8. Toll the Hounds Part 1«

bei Bantam/Transworld, London

Deutsche Erstausgabe September 2012 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe

Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Copyright © der Originalausgabe 2008 by Steven Erikson

This edition is published by arrangement with Transworld Publishers,

a division of The Random House Group Ltd. All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by

Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung und -illustration: Inkcraft

Redaktion: Sigrun Zühlke

HK · Herstellung: sam

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-08861-3V004

www.blanvalet.de

Dieser Roman ist der Erinnerung an meinen Vater,

R. S. Lundin (1931–2007) gewidmet.

Wir vermissen dich.

Prolog

Sprich die Wahrheit, werde still, bis das Wasser zwischen uns klar ist.

Meditationen der Tiste Andii

Ich habe keinen Namen für diese Stadt«, sagte der zerlumpte Mann, während er an den ausgefransten Säumen dessen zerrte, was einst ein prächtiger Umhang gewesen war. In seinem geflochtenen Gürtel steckte eine aufgerollte, halb verrottete und zerschlissene lederne Hundeleine. »Ich glaube, sie braucht einen Namen«, fuhr er fort und hob dabei die Stimme, um trotz der wild kämpfenden Hunde gehört zu werden, »doch ich stelle fest, dass es mir an Vorstellungskraft mangelt, und niemanden sonderlich zu interessieren scheint.«

Die Frau, die jetzt an seiner Seite stand und die er auf diese Weise ins Gespräch ziehen wollte, war erst vor kurzem angekommen. Von ihrem Leben in der Zeit davor war nur sehr wenig geblieben. Sie hatte keinen Hund gehabt, und doch hatte sie sich plötzlich hier wiedergefunden, war eine Hauptstraße dieser heruntergekommenen, merkwürdigen Stadt entlanggestolpert und hatte dabei eine Leine umklammert, an deren anderem Ende ein übellauniges Vieh zerrte, das versuchte, jeden Passanten anzuspringen. Das verfaulte Leder war schließlich gerissen, so dass das Tier freigekommen und prompt losgestürmt war, um den Hund dieses Mannes anzugreifen.

Die beiden Tiere versuchten jetzt mitten auf der Straße, sich gegenseitig zu töten, und ihr einziges Publikum bestand aus ihren mutmaßlichen Besitzern. Staub hatte Blut und Fellbüscheln Platz gemacht.

»Früher hat es hier mal eine Garnison gegeben«, sagte der Mann, »drei Soldaten, die einander nicht gekannt haben. Aber einer nach dem anderen sind sie weggegangen.«

»Ich hatte noch nie einen Hund«, antwortete sie – und zuckte überrascht zusammen, als ihr klar wurde, dass dies die ersten Worte waren, die sie sagte, seit … nun, seit der Zeit davor.

»Ich auch nicht«, gab der Mann zu. »Und bis gerade eben war mein Hund der einzige in der Stadt. Merkwürdigerweise habe ich das elende Biest niemals liebgewonnen.«

»Wie lange … äh … wie lange bist du schon hier?«

»Ich habe keine Ahnung, aber es kommt mir vor wie eine Ewigkeit.«

Sie schaute sich um und nickte. »Mir auch.«

»Ach, ich glaube, dein lieber Hund ist gestorben.«

»Oh! Ja, das ist er wohl.« Sie sah stirnrunzelnd auf die abgerissene Leine in ihrer Hand. »Dann brauche ich zumindest keine neue Leine, nehme ich an.«

»Sei dir dessen nicht so sicher«, sagte der Mann. »Die Dinge scheinen sich hier zu wiederholen. Tag für Tag. Aber pass auf, du kannst meine haben – wie du siehst, benutze ich sie nie.«

Sie nahm die zusammengerollte Leine entgegen. »Danke.« Mit der Leine in der Hand ging sie dorthin, wo ihr toter Hund lag, der mehr oder weniger in Stücke gerissen war. Der Sieger kroch zu seinem Herrn zurück und zog dabei eine Blutspur hinter sich her.

Alles wirkte irgendwie schief, einschließlich – wie ihr bewusst wurde – ihrer eigenen Impulse. Sie kauerte sich hin, hob sanft den zerbissenen Kopf ihres toten Hundes an und schob die Schlinge darüber, bis sie um den zerfetzten Hals lag. Dann ließ sie den blutigen, mit schaumigem Speichel bedeckten Kopf wieder auf den Boden sinken und richtete sich auf, wobei sie die ausgefranste Leine locker in der rechten Hand hielt.

Der Mann trat zu ihr. »Tja, das ist alles ziemlich verwirrend, was?«

»Ja.«

»Und wir dachten, das Leben sei verwirrend.«

Sie warf ihm einen Blick zu. »Dann sind wir also tatsächlich tot?«

»Ich nehme es an.«

»Dann verstehe ich das alles nicht. Ich sollte in einer Gruft beigesetzt werden. In einer schönen, stabilen Gruft – ich habe sie selbst gesehen. Sie war prächtig ausgestattet und sollte Schutz vor Dieben gewähren, mit Fässern voller Wein und gewürztem Fleisch und Früchten für die Reise …« Sie deutete auf die Lumpen, die sie trug. »Ich sollte in meine besten Kleider gekleidet werden, sollte all meinen Schmuck tragen.«

Er betrachtete sie. »Dann warst du also reich.«

»Ja.« Sie schaute wieder zu dem toten Hund am Ende der Leine hinunter.

»Jetzt bist du es nicht mehr.«

Sie starrte ihn wütend an, und dann wurde ihr klar, dass diese Wut … nun ja, sinnlos war. »Ich habe diese Stadt hier noch nie gesehen. Sie sieht aus, als ob sie zerfällt.«

»Ja, sie zerfällt. Du hast ja so recht.«

»Ich weiß nicht, wo ich lebe – oh, das klingt merkwürdig, oder?« Sie schaute sich erneut um. »Hier gibt es überall nur Staub und Zerfall … und was ist das da hinten – zieht da ein Sturm auf?« Sie deutete die Hauptstraße entlang auf den Horizont, wo sich jetzt schwere, merkwürdig leuchtende Wolken über den kahlen Hügeln zusammenzogen.

Sie starrten sie einige Zeit lang an. Tropfen aus Jade schienen aus den Wolken zu regnen.

»Ich war einst ein Priester«, sagte der Mann, während sein Hund sich an seine Füße kuschelte und dort hechelnd liegenblieb. Seine Schnauze war blutverschmiert. »Immer, wenn wir einen Sturm haben aufziehen sehen, haben wir die Augen geschlossen und noch lauter gesungen.«

Sie schaute ihn ein bisschen überrascht an. »Du warst ein Priester? Aber warum … warum bist du dann nicht bei deinem Gott?«

Der Mann zuckte die Schultern. »Wenn ich auf diese Frage eine Antwort wüsste, wäre ich tatsächlich das, was ich einst zu sein glaubte: erleuchtet.« Plötzlich straffte er sich. »Sieh nur, wir bekommen Besuch.«

Eine Gestalt näherte sich ihnen mit ruckendem Gang – groß und so vertrocknet, dass ihre Gliedmaßen an Baumwurzeln erinnerten und die verrottete, verwitterte Haut ihres Gesichts sich über den Knochen spannte. Aus einer bleichen, sich schälenden Kopfhaut wuchsen lange, lose herabhängende graue Haare.

»Ich sollte mich wohl an diese Art von Anblick gewöhnen«, murmelte die Frau.

Ihr Begleiter sagte nichts, und sie sahen beide zu, wie die hagere, hinkende Gestalt an ihnen vorbeistolperte, und als sie sich umdrehten, um ihr weiter nachzusehen, sahen sie einen weiteren Fremden; dieser war in einen dunkelgrauen, zerschlissenen Kapuzenumhang gekleidet und ebenso groß wie der andere.

Keiner der beiden schien von den Zuschauern Notiz zu nehmen, als der im Kapuzenumhang sagte: »Randgänger.«

»Du hast mich hergerufen«, antwortete derjenige namens Randgänger, »damit ich … abschwäche.«

»Das habe ich.«

»Das hier hat lange auf sich warten lassen.«

»Möglich, dass du so denkst, Randgänger.«

Der grauhaarige Mann – der ganz offensichtlich schon lange tot war – legte den Kopf etwas schief und fragte: »Warum jetzt?«

Die Gestalt im Kapuzenumhang drehte sich ein bisschen zur Seite, und die Frau dachte, dass sie vielleicht auf den toten Hund hinunterschaute. »Abscheu«, lautete die Antwort.

Randgänger lachte leise und krächzend.

»Was für ein grässlicher Ort ist das hier?«, zischte eine neue Stimme, und die Frau sah eine Gestalt – nicht mehr als einen verwaschenen Fleck aus Schatten – wie einen geflüsterten Hauch aus einer Gasse herausgleiten, obwohl sie gleichzeitig humpelte und sich auf einen Stock zu stützen schien, und plötzlich waren da große Tiere … zwei, vier, fünf, die um den Neuankömmling herumtappten.

Der Priester neben der Frau knurrte leise. »Schattenhunde. Ach, wenn mein Gott das nur sehen könnte!«

»Vielleicht tut er es – durch deine Augen.«

»Oh, das bezweifle ich.«

Randgänger und sein Gegenüber im Kapuzenumhang sahen zu, wie die schattenhafte Gestalt näher kam. Sie war klein und waberte, wurde dann aber etwas fester. Der schwarze Gehstock klopfte auf die dreckige Straße, wirbelte kleine Staubwölkchen auf. Die Hunde wanderten ziellos umher, schnüffelten mit gesenkten Köpfen am Boden. Keiner näherte sich dem Kadaver des Hundes der Frau oder dem hechelnden Tier zu Füßen ihre neugewonnenen Freundes.

»Ein grässlicher Ort?«, wiederholte die Gestalt im Kapuzenumhang. »Ja, ich nehme an, das ist er. Eine Art Totenstadt, Schattenthron. Ein Dorf der Weggeworfenen. Sowohl immerwährend als auch … ja, nutzlos. Solche Orte«, fuhr er fort, »sind allgegenwärtig.«

»Sprich für dich«, sagte Schattenthron. »Sieh uns an – wir warten. Warten. Oh, wenn ich mir nur etwas aus Anstand und Schicklichkeit machen würde!« Ein plötzliches Kichern. »Wenn wir uns alle nur etwas daraus machen würden!«

Auf einmal kehrten die Hunde zurück, das Nackenfell gesträubt, den Blick auf etwas gerichtet, das weit weg auf der Hauptstraße war.

»Noch einer«, murmelte der Priester. »Noch einer – und das ist der Letzte, ja.«

»Wird all dies wieder geschehen?«, fragte ihn die Frau, als plötzlich Furcht sie durchfuhr. Jemand kommt. Oh, bei den Göttern, jemand kommt. »Wird es morgen wieder so sein? Sag es mir!«

»Ich würde sagen … nein«, antwortete der Priester nach einem Augenblick des Zögerns. Er richtete den Blick auf den Hundekadaver im Staub. »Nein«, wiederholte er, »ich würde sagen, nein.«

Über den Hügeln grollte der Donner, und Jaderegen prasselte wie ein Pfeilhagel aus zehntausend Schlachten herab. Auf der Straße war plötzlich ein Rattern zu hören, wie von den Rädern einer Kutsche.

Beim letzten Geräusch drehte sie sich um und lächelte. »Oh«, sagte sie erleichtert, »da kommt ja meine Mitfahrgelegenheit.«

Einst war er ein Magier aus Fahl gewesen, den die Verzweiflung zum Verrat getrieben hatte. Doch Anomander Rake war weder an ihrer Verzweiflung interessiert gewesen, noch an irgendeiner anderen Entschuldigung, die Schloot und seine Kameraden hätten vorbringen können. Wer den Sohn der Dunkelheit verriet, küsste Dragnipur, und irgendwo in dieser Legion, die im immerwährenden Zwielicht schuftete, waren Gesichter, die er erkennen würde, waren Augen, deren Blicke sich mit seinem kreuzen könnten. Und was würde er in ihnen sehen?

Nur das, was er zurückgab. Verzweiflung war nicht genug.

Dies waren seltene Gedanken, weder unwillkommener noch weniger unwillkommen als alle anderen, die sich über ihn lustig machten, wenn sie ihre Freiheit nutzten und in ihm aufstiegen und alsbald davondrifteten; und wenn sie nicht in der Nähe waren, tja, dann schwebten sie vielleicht durch fremde Himmel, glitten auf warmen Winden dahin, so sanft wie ein leises Lachen. Wer nicht fliehen konnte, war Schloot selbst – und das, was er auf allen Seiten ringsum sehen konnte. Dieser ölige Schlamm mit seinen scharfkantigen schwarzen Steinen, die die verrotteten Sohlen seiner Stiefel zerfetzten; die tödlich feuchte Luft, die einen schmierigen Film auf die Haut legte, als wenn die Welt selbst fieberte und schweißnass wäre. Die leisen Schreie – die merkwürdigerweise in Schloots Ohren immer klangen, als kämen sie von weit her – und, viel näher, das Ächzen und Knirschen der gewaltigen Maschinerie aus Holz und Bronze, das gedämpfte Quietschen von Ketten.

Weiter, weiter, während der Sturm hinter ihnen immer näher rückte, Wolke sich auf Wolke türmte, silbern und brodelnd und von sich windenden eisengrauen Speeren durchsetzt. Asche regnete mittlerweile unaufhörlich auf sie herab, und jede Flocke war so kalt wie Schnee, doch dies war ein Schlamm, der nicht schmolz, sondern stattdessen den Matsch aufwühlte, bis es aussah, als marschierten sie durch ein Feld aus Schlacke und Abfallerz.

Schloot war zwar ein Magier, aber weder klein noch zerbrechlich. Er hatte etwas Derbes an sich, das andere an einen Strolch und Gassenschläger hatte denken lassen – damals, in jenem Leben, das er früher gehabt hatte. Seine Gesichtszüge waren grob, kantig und in der Tat brutal. Er war ein starker Mann gewesen, aber das nützte nichts, nicht hier, nicht, wenn man ans Joch gekettet war. Nicht in Dragnipurs dunkler Seele.

Die Anstrengung war unerträglich, aber er ertrug sie. Der Weg voraus war endlos, ein einziger wahnsinniger Schrei, doch er klammerte sich an seine geistige Gesundheit, wie ein Ertrinkender sich an ein zerfetztes Seil klammern mochte, und er zog sich vorwärts, Schritt um Schritt. Eiserne Fesseln ließen seine Gliedmaßen Blut weinen, ohne Hoffnung, dass es irgendwann aufhören würde. Schlammverkrustete Gestalten trotteten rechts und links von ihm dahin, und hinter ihnen, in der Düsternis nur undeutlich erkennbar, gab es noch unzählige andere.

Bot ein miteinander geteiltes Schicksal Trost? Sich die Frage auch nur zu stellen konnte zu nichts anderem als zu hysterischem Gelächter führen, zum Sprung ins kostbare Vergessen des Wahnsinns. Nein, es gab gewiss keinen solchen Trost, der darüber hinausging, sich gegenseitig irgendwelcher Verrücktheiten, Pech und unbelehrbarer Dummheit zu bezichtigen, und diese Charakterzüge waren der Kameradschaft nicht gerade dienlich. Außerdem hatten die Gefährten auf beiden Seiten die Angewohnheit, binnen eines Augenblicks zu wechseln, ein unglückseliger Narr ersetzte den anderen in einem körnigen, verwaschenen Wirbel.

Dazu gezwungen, sich immerzu in die Ketten legen zu müssen, um das Joch in Bewegung zu halten, blieb auf dieser alptraumhaften Flucht keine Kraft, keine Zeit für Gespräche. Und daher ignorierte Schloot die Hand, die seine Schulter anstieß, beim ersten Mal, beim zweiten Mal. Der dritte Stoß war allerdings so heftig, dass der Magier seitwärtsstolperte. Fluchend drehte er sich um und starrte denjenigen wütend an, der nun an seiner Seite ging.

Einst, vor langer Zeit, wäre er beim Anblick einer solchen Erscheinung wahrscheinlich zurückgeschreckt. Sein Herz hätte vor Entsetzen einen Schlag ausgesetzt.

Der Dämon war riesig und ungeschlacht. Sein einst königliches Blut bescherte ihm hier in Dragnipur keine Vorrechte. Schloot sah, dass die Kreatur die Gefallenen trug, die Gescheiterten, dass sie knapp zwei Dutzend Körper und die an ihnen befestigten Ketten zusammengerafft hatte. Muskeln spannten sich an, wölbten sich, wanden sich, als der Dämon sich voranschob. Dürre Körper hingen schlaff und wie Klafterholz gestapelt unter seinen Armen. Eine, die noch bei Bewusstsein war, auch wenn ihr Kopf hin und her rollte, hockte auf seinem breiten Rücken wie ein neugeborener Affe; der Blick ihrer glasigen Augen glitt über das Gesicht des Magiers.

»Du Narr«, knurrte Schloot, »wirf sie auf den Wagen!«

»Kein Platz«, antwortete der Dämon mit hoher, kindlicher Stimme.

Doch der Magier hatte all sein Mitgefühl aufgebraucht. Um seiner selbst willen hätte der Dämon die Gefallenen zurücklassen sollen, aber dann würden sie alle natürlich das zusätzliche Gewicht spüren, das armselige Zerren an den Ketten. Aber was war, wenn der hier fiel? Was, wenn diese außerordentliche Kraft, dieser außerordentliche Wille versiegte? »Verflucht soll der Narr sein!«, brummte Schloot. »Warum tötet er nicht einfach noch ein paar Drachen, verdammt!«

»Wir versagen«, sagte der Dämon.

Schloot hätte am liebsten aufgeheult. War das denn zu übersehen? Aber die bebende Stimme klang gleichermaßen verwirrt und verzweifelt, und sie traf ihn bis ins Mark. »Ich weiß, mein Freund. Es wird nicht mehr lange dauern.«

»Und dann?«

Schloot schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

»Wer weiß es?«

Wieder wusste der Magier keine Antwort.

Der Dämon blieb beharrlich. »Wir müssen einen finden, der es weiß. Ich gehe jetzt. Aber ich werde zurückkommen. Bitte, bemitleide mich nicht.«

Ein plötzliches Wirbeln, grau und schwarz, und dann war ein bärenähnliches Tier neben ihm, das längst zu erschöpft, zu stumpfsinnig war, um auch nur nach ihm zu schlagen – wie es einige Kreaturen immer noch taten.

»Du bist schon zu lange hier, mein Freund«, sagte Schloot zu ihm.

Wer weiß es?

Eine interessante Frage. Wusste irgendjemand, was passieren würde, wenn das Chaos sie einholte? Irgendjemand hier in Dragnipur?

In jenen ersten Augenblicken, nachdem er das Schwert geküsst hatte, hatte er mehr oder weniger abwechselnd hektisch versucht zu fliehen, verzweifelt geschrien und allen um sich herum Fragen gestellt – ja, er hatte sogar versucht, einen Schattenhund anzuquatschen, aber der war zu sehr damit beschäftigt gewesen, an seinen Ketten zu reißen, während der Geifer ihm aus dem gewaltigen Maul troff, und hätte ihn beinahe niedergetrampelt, und danach hatte er ihn nie wiedergesehen.

Aber jemand hatte ihm geantwortet, jemand hatte mit ihm gesprochen. Über etwas … oh, er konnte sich an kaum mehr als an einen Namen erinnern. Einen einzigen Namen.

Draconus.

In diesem unendlichen Zwischenspiel in ihrer Laufbahn hatte sie schon viel gesehen, aber nichts davon war so frustrierend gewesen wie die Flucht der zwei Schattenhunde. Eine wie Apsal’ara, die Herrin der Diebe, war nicht dafür geschaffen, ihre Existenz mit der mühevollen Unwürdigkeit zu besudeln, bis in alle Ewigkeit an einer Kette zu zerren. Fesseln waren etwas, dem man entfloh, Bürden etwas, das man vermied.

Vom ersten Augenblick an, da sie stolpernd hier angekommen war, hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, die Ketten zu sprengen, die sie an diese grässliche Sphäre banden, aber das war praktisch unmöglich, wenn man dazu verflucht war, ununterbrochen den verdammten Wagen zu ziehen. Und sie verspürte nicht den Wunsch, die entsetzliche Schleppe am Ende der Ketten noch einmal zu Gesicht zu bekommen, die abgeschrammten Klumpen immer noch lebenden Fleisches, die über den von Furchen übersäten, schlammigen Boden gezogen wurden – hier ein offenes, aufblitzendes Auge, dort ein zuckendes Stück Arm, das sich in ihre Richtung reckte –, eine schreckliche Armee der Gescheiterten, derjenigen, die aufgegeben hatten, und derjenigen, die die Kraft verlassen hatte.

Nein, Apsal’ara hatte sich näher an den gewaltigen Wagen herangearbeitet, bis sie schließlich feststellte, dass sie neben einem der riesigen hölzernen Räder herstapfte. Dann war sie etwas langsamer geworden, bis sie direkt hinter dem Rad war. Von dort aus hatte sie sich nach innen bewegt, war unter das ächzende Wagenbett geschlüpft, von dem unablässig braunes Wasser, Blut und die Abfälle von langsam verfaulenden, aber immer noch lebenden Körpern herabregneten. Sie hatte die Kette hinter sich hergezogen und es schließlich auf ein Brett des Fahrgestells geschafft, direkt über der Vorderachse, hatte sich mit angezogenen Beinen hineingequetscht, den Rücken gegen das schmierige Holz gepresst.

Feuer war das Geschenk gewesen, das gestohlene Geschenk, aber in dieser durchnässten Unterwelt konnte es keine Flamme geben. Da das nicht ging, gab es aber immer noch … Reibung. Sie hatte damit angefangen, ein Stück der Kette gegen ein anderes zu reiben.

Wie viele Jahre? Sie hatte keine Ahnung. Es gab keinen Hunger, keinen Durst. Die Kette bewegte sich sägend vor und zurück. Es gab einen Hauch Hitze, der Kettenglied um Kettenglied zu ihrer Hand aufstieg. War das Eisen weicher geworden? War das Metall von neuen, silbernen Rillen gezeichnet? Sie hatte schon lange aufgehört, es zu überprüfen. Die Bemühung allein reichte. So lange Zeit hatte sie gereicht.

Bis zu der Sache mit den verdammten Hunden.

Das und die unbestreitbare Tatsache, dass der Wagen langsamer geworden war – dass mittlerweile genauso viele auf ihm lagen, wie draußen im Zwielicht verzweifelt an ihren Ketten zerrten. Und durch das Wagenbett über ihr konnte sie das erbärmliche Ächzen und Stöhnen derjenigen hören, die unter der Last von zahllosen Körpern gefangen waren.

Die Hunde waren gegen die Seiten des Wagens gekracht. Die Hunde hatten sich in den Rachen aus Dunkelheit in seinem Zentrum gestürzt.

Da war ein Fremder gewesen, ein Fremder, der nicht angekettet war. Er hatte die Hunde verspottet – hatte sie verhöhnt! Sie erinnerte sich an sein Gesicht, oh, ja, sein Gesicht. Selbst nachdem er verschwunden war …

Angespornt von diesen Geschehnissen hatte Apsal’ara natürlich versucht, den Tieren zu folgen, nur um von der enormen Kälte des Portals zurückgetrieben zu werden – einer so gewaltigen Kälte, dass sie Fleisch zerstörte, einer Kälte, die größer war als die von Omtose Phellack. Die Kälte der Negierung. Der Leugnung.

Es gab keinen größeren Fluch als die Hoffnung. Eine geringere Kreatur hätte geweint, hätte aufgegeben, hätte sich unter eines der Räder geworfen, um sich dann hinter dem Wagen herschleifen zu lassen, nichts weiter als ein zusätzliches Stück Strandgut aus zermalmten Knochen und zerfetztem Fleisch, das holpernd und knirschend durch den steinigen Schlamm schleifte. Stattdessen war sie zu ihrer abgelegenen Sitzstange zurückgekehrt und hatte sich wieder daran gemacht, die Ketten zu bearbeiten.

Einst hatte sie den Mond gestohlen. Sie hatte das Feuer gestohlen.

Sie war in Mondbrut durch die schweigenden Hallen mit ihren gewölbten Decken geschlendert.

Sie war die Herrin der Diebe.

Und ein Schwert hatte ihr Leben gestohlen.

Das geht nicht. Das geht gar nicht.

Insekten stiegen summend in die Luft, als der räudige Hund, der auf seinem üblichen Platz lag – einem flachen Felsen neben dem Bach –, den Kopf hob. Einen Augenblick später stand er auf. Sein Rücken war von Narben übersät, von denen einige so tief waren, dass sie die Muskeln verformten. Der Hund lebte in dem Dorf, aber er stammte nicht aus dem Dorf. Und das Tier gehörte auch nicht zur Meute des Dorfes. Es schlief nicht vor dem Eingang zu irgendeiner Hütte; es ließ niemanden an sich herankommen. Selbst die Pferde des Stammes gingen ihm aus dem Weg.

In seinen Augen, darin waren sich alle einig, lag eine tiefe Bitterkeit – und ein noch tieferer Kummer. Er ist von den Göttern berührt, sagten die Ältesten der Uryd, und diese Behauptung sorgte dafür, dass der Hund niemals hungern und niemals davongejagt werden würde. Er würde geduldet werden – wie alles, was von den Göttern berührt worden war.

Trotz seiner kaputten Hüfte trottete der Hund jetzt erstaunlich geschmeidig die Hauptstraße entlang durch das ganze Dorf. Als er das südliche Ende erreichte, trottete er weiter, den Hang hinunter, schlängelte sich zwischen den moosbewachsenen Felsbrocken und den Knochenhaufen hindurch, die die Abfallhalde der Uryd kennzeichneten.

Zwei Mädchen, die noch ein Jahr oder mehr von jener Nacht entfernt waren, die ihren Übergang ins Erwachsenenleben einläuten würde, bemerkten, wie der Hund davontrottete. Ihre Gesichtszüge ähnelten sich, und sie waren beinahe gleich alt, nur wenige Tage nacheinander geboren. Keine der beiden hätte man als gesprächig bezeichnen können. Sie teilten die stumme Sprache, die unter Zwillingen üblich war, obwohl sie keine Zwillinge waren, und es schien, dass ihnen diese Sprache genügte. Und daher wechselten sie nur einen kurzen Blick, als sie sahen, dass der Hund das Dorf verließ, suchten an Vorräten und Waffen zusammen, was gerade zur Hand war, und folgten dem Tier.

Ihr Aufbruch wurde bemerkt, aber das war auch alles.

Nach Süden, weg von den großen Bergen der Heimat, wo Kondore zwischen den Gipfeln kreisten und Wölfe heulten, wenn die Winterwinde kamen.

Nach Süden, hinunter zu den Landen der verhassten Kinder der Nathii, wo die Überbringer von Krieg und Pestilenz hausten, die Mörder und Versklaver der Teblor. Wo die Nathii sich wie Lemminge vermehrten, bis es den Anschein hatte, dass es auf der ganzen Welt keinen Platz mehr für andere oder anderes als sie selbst gab.

Genau wie der Hund waren die beiden Mädchen furchtlos und entschlossen. Sie wussten es nicht, aber diese Charakterzüge hatten sie von ihrem Vater geerbt, den sie noch nie gesehen hatten.

Der Hund blickte nicht zurück, und als die Mädchen ihn einholten, blieb er so gleichgültig wie zuvor. Er war, wie die Ältesten gesagt hatten, von den Göttern berührt.

Im Dorf erfuhren mittlerweile eine Mutter und eine Tochter von der Flucht ihrer Kinder. Die Tochter weinte. Die Mutter nicht. Stattdessen verspürte sie plötzlich Hitze im Unterleib, und für einige Zeit verlor sie sich in Erinnerungen.

»Oh du hinfällige Stadt, wo Fremde ankommen …«

Eine leere Ebene unter einem leeren Nachthimmel. Ein einsames Feuer, so schwach, dass es beinahe von den geschwärzten, gesprungenen Steinen verschluckt wurde, die es umgaben. Auf einem der beiden flachen Steine unweit der Feuerstelle saß ein kleiner, rundlicher Mann mit fettigen, schütteren Haaren. Er trug eine verschossene rote Weste über einem Leinenhemd mit fleckigen, einst weißen pludrigen Manschetten um die pummeligen Hände. Das runde Gesicht war gerötet, spiegelte die flackernden Flammen wider. Von dem kleinen, spitzen Kinn hingen lange schwarze Haare – leider nicht genug, um sie zu flechten –, und er hatte eine neue Vorliebe entwickelt, er zwirbelte sie und strich über sie, wenn er tief in Gedanken war … oder auch weniger tief. Ja, tatsächlich machte er es sogar dann, wenn er überhaupt nichts dachte, aber den Eindruck ernsthaften Nachsinnens erwecken wollte, falls ihn jemand gedankenvoll beobachten sollte.

Und jetzt, während er in das Feuer vor sich starrte, strich und zwirbelte er sie ebenfalls.

Was hatte der grauhaarige Barde gesungen? Dort, auf der bescheidenen Bühne in K’ruls Kneipe früher am Abend, während er zugesehen hatte, zufrieden mit seinem Platz in der Stadt, die er mehr als einmal gerettet hatte?

»Oh du hinfällige Stadt, wo Fremde ankommen …«

»Ich muss dir etwas sagen, Kruppe.«

Der rundliche Mann blickte auf und stellte fest, dass eine in einen Kapuzenumhang gekleidete Gestalt auf dem anderen flachen Stein saß und schmale, blasse Hände über die Flammen hielt. Kruppe räusperte sich, ehe er sagte: »Es ist lange her, seit Kruppe zum letzten Mal so dagesessen hat, wie du ihn jetzt dasitzen siehst. Dementsprechend hat Kruppe schon längst geschlussfolgert, dass du ihm etwas von so überwältigender Bedeutung zu sagen gedenkst, dass niemand außer Kruppe es wert ist, es zu hören.«

Ein leichtes Glitzern in der Dunkelheit unter der Kapuze. »Ich bin an diesem Krieg nicht beteiligt.«

Kruppe strich über die Rattenschwänze seines Barts und erfreute sich daran, nichts zu sagen.

»Das überrascht dich?«, fragte der Ältere Gott.

»Kruppe erwartet immer das Unerwartete, alter Freund. Könnte man denn überhaupt etwas anderes erwarten? Kruppe ist entsetzt. Doch jetzt kommt ihm ein Gedanke, hirnwärts geschleudert von einem Zupfen an diesem hübschen Bart. K’rul sagt, er ist an diesem Krieg nicht beteiligt. Doch Kruppe hat den Verdacht, dass er nichtsdestotrotz der Preis ist, um den es in diesem Krieg geht.«

»Nur du verstehst das, mein Freund«, sagte der Ältere Gott seufzend. Dann legte er den Kopf leicht schräg. »Ich hatte es eben nicht bemerkt, aber du scheinst traurig zu sein.«

»Die Traurigkeit hat viele Nuancen, und es scheint, als hätte Kruppe sie alle gekostet.«

»Willst du jetzt über diese Dinge sprechen? Ich glaube, ich bin ein ziemlich guter Zuhörer.«

»Kruppe sieht, dass du schlimm bedrängt wirst. Vielleicht ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.«

»Das spielt keine Rolle.«

»Für Kruppe schon.«

K’rul warf einen Blick zur Seite und sah, dass sich ihnen jemand näherte. Eine Gestalt … grauhaarig und dürr.

Kruppe fing an zu singen. »›Oh du hinfällige Stadt, wo Fremde ankommen‹ … und wie geht’s weiter?«

Der Neuankömmling antwortete mit tiefer Stimme: »›… die sich in Ritzen drängen, um dort zu hausen.‹«

Und der Ältere Gott seufzte.

»Gesell dich zu uns, Freund«, sagte Kruppe. »Setz dich hier zu uns ans Feuer: Diese Szene beschreibt uns, unsere Art, schon seit der fernsten Vergangenheit, wie du sehr wohl weißt. Eine Nacht, eine Feuerstelle, und eine Geschichte, die erzählt wird. Teurer K’rul, teuerster Freund von Kruppe, hast du Kruppe jemals tanzen sehen?«

Der Fremde setzte sich. Ein blasses Gesicht, ein Ausdruck von Kummer und Schmerz.

»Nein«, sagte K’rul, »ich glaube nicht. Weder mit Gliedmaßen, noch mit Worten.«

Kruppes Lächeln war verhalten, und etwas glänzte in seinen Augen. »Dann macht es euch heute Nacht bequem, meine Freunde. Und seid meine Zeugen.«

Buch Eins

Schwur an die Sonne

Diese Kreatur aus Worten geht

Ans Herz und huch!, flitze weg

Ein roter Sprühregen

Unter einem klaren blauen Himmel

Entsetzen über all das, was enthüllt wird

Was nützt jetzt die Rüstung

Wenn Worte so leicht durch sie hindurchrutschen?

Dieser Gott der Versprechungen lacht

Über die falschen Dinge zum unpassenden Zeitpunkt

Macht damit all diese Opfer zunichte

In absichtlicher Boshaftigkeit

Weiche zurück wie ein aufgescheuchter Soldat

Dem der Rückzug verweigert wird

Bevor sich Leichen zu Wällen türmen

Du wusstest, dass das passieren würde

Und täusche nichts vor, tu nicht überrascht

Wenn du diesen Becher gefüllt vorfindest

Mit dem Schmerz eines anderen

Es ist niemals so schlecht, wie es scheint

Der Geschmack süßer als erwartet

Wenn du dich in den Traum eines Narren kauerst

Also schaff diese Streitsucht

Wohin du willst, der zähe Hundesohn

Ist der Auftrag meiner Seele

In die Mitte der Straße

Die gebleckten Fänge herumwirbelnd

Nach durstigen Speeren schnappend

Kalt und gesäubert aus euren Händen gestoßen

Jagende Worte

Brathos von Schwarz-Korall

Kapitel Eins

Oh du hinfällige Stadt!

Wo Fremde ankommen

Die sich in Ritzen drängen

Um dort zu hausen

Oh, du blaue Stadt!

Alte Freunde sammeln Seufzer

Am Fuße der Docks

Nach der Flut

Ungekrönte Stadt!

Wo Spatzen

In Spinnenspuren landen

Auf ziemlich hohen Simsen

Todgeweihte Stadt!

Die Nacht rückt näher

Geschichte erwacht

Um hier zu verweilen

Hinfälliges Zeitalter

Fisher kel Tath

Umgeben von einer Stadt aus blauem Feuer, stand sie allein auf dem Balkon. Die Dunkelheit des Himmels wurde weggeschoben, war ein unwillkommener Gast in dieser ersten Nacht der Feste zu Ehren Gedderones. Menschenmassen drängten sich auf den Straßen von Darujhistan, vergnügt und ausgelassen und gutmütig trotz des Unglücks, dass ein Jahr endete und ein anderes begann. Die Nachtluft war feucht und von zahllosen Gerüchen geschwängert.

Es hatte Bankette gegeben. Junge Männer und junge Mädchen waren als erwählbar offenbart worden. Tische voller exotischer Nahrungsmittel, in Seide gehüllte vornehme Damen, Männer und Frauen in protzigen, goldglitzernden Uniformen – eine Stadt ohne stehendes Heer brachte eine Unmenge privater Milizen und eine chaotische Vielzahl von hohen Rängen hervor, die mehr oder weniger ausschließlich vom Adel besetzt wurden.

Während der ganzen Feierlichkeiten, an denen sie an diesem Abend am Arm ihres Ehemannes teilgenommen hatte, hatte sie nicht einen einzigen echten Offizier der Stadtwache von Darujhistan gesehen, nicht einen einzigen richtigen Soldaten mit staubigem Umhang, dessen polierte Stiefel Kratzer aufwiesen, dessen Schwertgriff aus schlichtem Leder bestand – mit einem Knauf, der vom Tragen gezeichnet war. Was sie allerdings gesehen hatte – weit oben an gut genährten, weichen Armen –, waren Reife von der Art, wie sie Soldaten der malazanischen Armee als Auszeichnung trugen, Soldaten eines Imperiums, das vor noch gar nicht so langer Zeit die Mütter Darujhistans mit abschreckenden Drohungen für ihre aufsässigen Kinder versorgt hatte. »Die Malazaner, Kind! Die schleichen nachts herum, um dumme Kinder zu stehlen! Um euch zu Sklaven ihrer schrecklichen Imperatrix zu machen – ja! Genau hier, in dieser Stadt!«

Doch die Reife, die sie an diesem Abend gesehen hatte, waren nicht aus der schlichten Bronze oder dem leicht geätzten Silber der echten malazanischen Schmuckstücke und Rangabzeichen gewesen, die wie die Relikte eines lang vergangenen Kults in den Marktständen der Stadt auftauchten. Nein, die hier waren aus Gold gewesen, mit Juwelen besetzt, wobei Saphirblau die am meisten verbreitete Farbe gewesen war – blau wie das blaue Feuer, für das die Stadt berühmt war, blau, um zu verkünden, dass der Träger Darujhistan einen großen, tapferen Dienst geleistet hatte.

Sie hatte so einen Reif unter ihren eigenen Fingern gespürt, am Arm ihres Ehemannes, doch darunter hatten sich echte Muskeln befunden, deren Härte zu dem verächtlichen Blick gepasst hatte, den er über die Grüppchen aus Adligen in der großen, von Stimmengewirr summenden Halle hatte schweifen lassen – mit einer Miene, die er sich zugelegt hatte, seit er Mitglied des Rates geworden war, und die den Eindruck vermittelte, als würde all das ihm gehören. Die Verachtung war schon viel früher da gewesen und war nach seinem letzten und triumphalsten Sieg eher noch größer geworden.

Mit den für die Daru typischen Gesten war ihnen gratuliert und Respekt bezeugt worden, während sie sich würdevoll durch die Menge bewegt hatten, und mit jeder anerkennenden Geste war das Gesicht ihres Mannes härter geworden, hatten sich die Oberarmmuskeln unter ihren Fingern mehr angespannt, waren seine Fingerknöchel über dem Schwertgürtel – in dessen geflochtene Schlingen er seine Daumen gesteckt hatte, wie es der neuesten Mode unter Duellanten entsprach – weißer geworden. Oh, er genoss es, jetzt einer von ihnen zu sein; ja, in der Tat über den meisten von ihnen zu stehen. Doch für Gorlas Vidikas bedeutete das nicht, dass er auch nur einen von ihnen mögen musste. Je mehr sie ihm schmeichelten, desto größer wurde seine Verachtung, und dass er beleidigt gewesen wäre, hätten sie sich nicht so kriecherisch verhalten, war – wie sie vermutete – ein Widerspruch, über den ein Mann wie ihr Ehemann nicht allzu lange nachzudenken pflegte.

Die Adligen hatten gegessen und getrunken, herumgestanden und sich in Pose geworfen, waren herumstolziert und hatten bis zur – rasch nahenden – Erschöpfung getanzt, und jetzt drang aus den festlichen Prunksälen nur noch ein schwacher Nachhall in Form der halbherzigen Aufräumversuche der Bediensteten. Doch jenseits der hohen Mauern des Anwesens feierte das gemeine Volk noch immer ausgelassen auf den Straßen. Maskiert und halbnackt tanzten sie auf den Pflastersteinen – die zügellosen, wirbelnden Tanzschritte des Häutens von Fander –, als würde die Morgendämmerung niemals kommen, als würde der dunstige Mond höchstselbst reglos im Abgrund stehen, um Zeuge ihrer ausgelassenen Orgie zu werden. Patrouillen der Stadtwache hielten sich einfach nur am Rand und schauten zu, zogen die staubigen Umhänge eng um die Körper und legten die Hände in knarzenden Handschuhen auf Knüppel und Schwerter.

Direkt unterhalb des Balkons, auf dem sie stand, zwitscherte und gurgelte der Springbrunnen des unbeleuchteten Gartens vor sich hin, durch die hohen, festen Mauern des Anwesens von den Festlichkeiten abgeschirmt, die sie während ihrer quälenden Kutschfahrt auf dem Weg nach Hause bemerkt hatten. Verwaschenes Mondlicht kämpfte in dem sanft wirbelnden Wasser, das den Springbrunnen umgab.

Das blaue Feuer war in dieser Nacht zu stark; nicht einmal der schwermütige Mond kam dagegen an. Darujhistan selbst war ein Saphir, der im Reif der Welt schimmerte.

Und doch vermochte die Schönheit der Stadt mitsamt ihrem begeisterten Stolz und den zahlreichen Stimmen sie in dieser Nacht nicht zu erreichen.

In dieser Nacht hatte Lady Vidikas ihre Zukunft gesehen. Jedes einzelne Jahr. Am harten Arm ihres Ehemannes. Und der Mond … nun ja, er wirkte wie ein Ding aus der Vergangenheit, eine Erinnerung, die durch die Zeit gedämpft worden war und die sie dennoch zurückgeführt hatte.

Auf einen Balkon, der diesem hier ziemlich ähnlich war – in eine Zeit, die jetzt sehr lange zurückzuliegen schien.

Lady Vidikas, die einst Challice D’Arle gewesen war, hatte gerade ihre Zukunft gesehen. Und dabei entdeckt – in dieser Nacht und gegen diese Balkonbrüstung gelehnt –, dass die Vergangenheit ein schönerer Ort war.

Natürlich musste ihnen ausgerechnet in dieser schlimmsten aller Nächte das Rhivi-Fladenbrot ausgehen. Leise vor sich hin fluchend schob Tippa sich durch die Menge auf dem Marktplatz am Seeufer, diese Meute aus schrecklich hungrigen, betrunkenen Zechern; sie setzte ihre Ellbogen ein, wann immer es nötig war, und starrte jeden finster an, der sie im Delirium anlächelte, bis sie schließlich an der Mündung einer schmuddeligen Gasse herauskam, in der der Abfall knöcheltief herumlag. Irgendwo ein bisschen südlich des Borthen-Parks. Das war jetzt nicht ganz der Rückweg zur Kneipe, der ihr am liebsten war, aber das Fest war in vollem Gange.

Den eingewickelten Packen Fladenbrot unter den linken Arm geklemmt blieb sie kurz stehen, um die Zotteln ihres schweren Umhangs zu entwirren; als sie dabei den neuen Fleck entdeckte, der von einem unachtsamen Passanten stammte – irgendein grotesker Gadrobikuchen –, starrte sie ihn finster an und versuchte ihn wegzuwischen, was alles nur noch schlimmer machte. Inzwischen noch schlechter gelaunt begann sie, durch den Abfall zu stapfen.

Begünstigt vom Zug der Lady war es Blauperl und Fahrig bei ihrer Suche nach saltoanischem Wein zweifellos besser ergangen, und wahrscheinlich waren sie längst zurück im K’ruls. Während sie selbst immer noch hier herumhing, zwölf Straßen und zwei Mauerdurchgänge von ihrem Ziel entfernt, von dem sie außerdem auch noch zwanzig- oder dreißigtausend wahnsinnige Idioten trennten. Würden ihre Kameraden auf sie warten? Nie im Leben. Blend und ihr Fimmel für Rhivi-Fladenbrot sollten verdammt sein! Sie und ihr verstauchter Knöchel hatten sich miteinander verschworen und so Tippa in der ersten Nacht des Festes hier herausgetrieben – falls der Knöchel überhaupt verstaucht war, woran sie so ihre Zweifel hatte, seit Fäustel auf das ärgerliche Gliedmaß hinuntergeschaut und nur die Schultern gezuckt hatte.

Allerdings war das so ziemlich genau das, was alle mittlerweile von Fäustel erwarteten. Seit sie sich im Ruhestand befanden, war er trübsinnig, und die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwann in der Zukunft des Heilers noch einmal die Sonne aufgehen würde, war in etwa so groß wie die, dass der Vermummte vergessen würde, eines Tages die Rechnung zu präsentieren. Und es war ja nun auch nicht so, dass er der Einzige war, der trübsinnig war, oder?

Aber welchen Sinn hatte es, ihre schlechte Laune mit all diesen tausendmal durchgekauten Gedanken zu nähren?

Nun – es sorgte dafür, dass sie sich besser fühlte, und das war immerhin schon mal was.

Den schwarzen Kapuzenumhang eng um sich gezogen beobachtete Dester Thrin, wie die Frau mit dem riesigen Hintern durch den Abfall am anderen Ende der Gasse stapfte. Er hatte sie ausgemacht, als sie aus der Hintertür von K’ruls Kneipe gekommen war – ein krönender Abschluss nach vier Nächten an seinem sorgfältig ausgewählten, von Dunkelheit verschleierten Aussichtspunkt, von dem aus er den schmalen Hintereingang beobachten konnte.

Der Meister seines Clans hatte ihn davor gewarnt, dass die Zielobjekte alle ehemalige Soldaten waren, aber Dester Thrin hatte wenig gesehen, das darauf hingedeutet hätte, dass einer oder eine von ihnen sich fit und in Form gehalten hätte. Sie waren alt und abgeschlafft, kaum jemals nüchtern, und die hier, nun, die trug den dicken Wollumhang, weil sie fett wurde und er ihr offensichtlich Selbstbewusstsein verlieh.

Ihr durch die Menge zu folgen war ziemlich einfach gewesen; sie war einen Kopf größer als der durchschnittliche Gadrobi und schien die Darustraßen auf der Route, die sie zu dem heruntergekommenen Rhivi-Markt am Seeufer nahm, bewusst zu meiden; eine merkwürdige Vorliebe, die sich in sehr kurzer Zeit als tödlich erweisen würde.

Desters Darublut hatte ihm klare Sicht auf sein Zielobjekt gewährt, das sich zielstrebig durch die wogende Masse der Feiernden drängte.

Er machte sich daran, die Gasse zu durchqueren, als sein Zielobjekt sie am hinteren Ende verließ. Rasch mit den Schritten eines Jägers dahinhuschend, erreichte er die Mündung der Gasse und schob sich noch rechtzeitig genug nach draußen, um sehen zu können, wie die Frau in den Durchgang des Walls der Zweiten Stufe verschwand, an den sich dicht darauf der Tunnel durch die Dritte anschloss.

Die Nachfolgekriege der Gilde im Gefolge von Vorcans Verschwinden waren schließlich ohne allzu viel Blutvergießen beigelegt worden. Und Dester war mit dem neuen Großmeister, der ebenso boshaft wie schlau war – während die meisten anderen Kandidaten einfach nur boshaft gewesen waren –, mehr oder weniger zufrieden. Endlich musste ein Assassine der Gilde kein Narr mehr sein, um bei einem Blick in die Zukunft ein bisschen Optimismus zu verspüren.

Dieser Kontrakt war ein typisches Beispiel – unkompliziert und dennoch so, dass er das Ansehen von Dester und den anderen Mitgliedern seines Clans beträchtlich erhöhen würde, sobald er erfüllt war.

Er strich mit seinen in Handschuhen steckenden Händen über die Knäufe seiner Dolche; die Waffen steckten in einem Wehrgehänge unter seinen Armen. Die beiden Klingen aus Darustahl, deren Zwingen dick mit zähflüssigem Tralb – einem Gift der Moranth – bestrichen waren, fühlten sich immer beruhigend an.

Gift war jetzt für die Mehrheit der Auftragsmörder der Gilde, die auf den Straßen unterwegs waren, die bevorzugte Versicherung, und in der Tat auch für nicht wenige von denen, die oben auf den Dächern auf der Straße der Diebe dahinhuschten. Es hatte einmal einen Assassinen aus Vorcans engstem Umkreis gegeben, der in einer Nacht des Verrats seinem eigenen Clan gezeigt hatte, wie tödlich sich auch ohne Magie kämpfen ließ. Besagter Assassine hatte Gift benutzt und in einer einzigen, mittlerweile legendären blutigen Nacht die Überlegenheit solch weltlicher Substanzen bewiesen.

Dester hatte gehört, dass in einigen Clans ein paar Eingeweihte verborgene Schreine aufgestellt hatten, um Rallick Nom zu ehren, und dass sie so eine Art Kult innerhalb der Gilde geschaffen hatten, dessen Anhänger sich gegenseitig an geheimen Gesten erkannten. Natürlich hatte Seba Krafar, der neue Großmeister, in einer seiner ersten Verkündigungen den Kult geächtet, und es hatte eine Art Säuberung gegeben, in der fünf mutmaßliche Anführer des Kults die Morgendämmerung mit breit grinsenden Kehlen begrüßt hatten.

Dennoch hatte Dester seither genügend Hinweise darauf aufgeschnappt, dass der Kult alles andere als tot war. Er verbarg sich nur einfach besser.

Genau genommen wusste niemand, welche Gifte Rallick Nom benutzt hatte, aber Dester glaubte, dass es Tralb von den Moranth gewesen war, das schon in kleinsten Mengen zur Bewusstlosigkeit führte, wenn es in die Blutbahn geriet, woraufhin ein tieferes Koma folgte, das normalerweise mit dem Tod endete. Größere Mengen beschleunigten den Prozess und boten einen sicheren Pfad durch das Tor des Vermummten.

Die Frau mit dem großen Hintern trampelte weiter.

Vier Straßen von K’ruls Kneipe entfernt – falls sie den Weg nehmen würde, von dem er annahm, dass sie ihn nehmen würde – musste sie eine lange, schmale Gasse entlanggehen, mit der inneren Mauer des Waffenlagers an der Dritten Stufe zur Linken, während sich zur Rechten die Mauer des Badehauses erhob – eine hohe und dicke und massive Mauer mit ein paar wenigen kleinen Fenstern in den oberen Stockwerken, wodurch der unbeleuchtete Durchgang fast völlig im Dunkeln lag.

Dort würde er sie töten.

Am einen Ende der hohen Mauern hockte Chillbais auf der Kreuzblume eines Eckpfostens und starrte mit gefühllosen Augen auf die ramponierte Wildnis unter ihm. Hinter ihm befand sich ein zugewucherter Garten mit einem flachen Teich, der erst vor kurzem neu aufgebaut worden war, aber bereits wieder ungepflegt wirkte, und um den umgestürzte Säulen mit langen Moosbärten herumlagen. Vor ihm standen verdrehte Bäume mit struppigen Ästen, an denen verschrumpelte dunkle Blätter wie Insektenkadaver baumelten; die Erde darunter war zerwühlt und mit verfilzten, schmierigen Gräsern bewachsen. Ein Pfad aus schiefen, verkanteten Pflastersteinen schlängelte sich zu einem plumpen, düster dräuenden Haus, dessen Bauweise sich von allen anderen Gebäuden in Darujhistan unterschied.

Nur selten fiel Licht durch die Spalten der knorrigen Fensterläden, und wenn das geschah, war es gedämpft und schwach. Die Tür ging niemals auf.

Unter seinen Artgenossen war Chillbais ein Riese. Schwer wie ein Dachs, mit deutlich erkennbaren Muskeln unter der stacheligen Haut. Seine zusammengefalteten Flügel waren beinahe zu klein, um ihn himmelwärts zu tragen, und jeder Schlag der ledrigen Schwingen wurde von einem Ächzen aus der Kehle des Dämons begleitet.

Dieses Mal würde es noch schlimmer sein als sonst. Es war Monate her, seit er sich zum letzten Mal bewegt hatte, wo er doch in der Düsternis unter dem herabhängenden Ast der Esche, die hinter ihm im Garten des Anwesens stand, so gut verborgen vor neugierigen Blicken gewesen war. Aber als er die rasche Bewegung vor sich sah, das schattenhafte Etwas, das wie ein Windhauch aus dem knorrigen schwarzen Haus heraus und über den Pfad glitt, während die Erde dahinter aufbarst und sich eine hungrige Grube nach der anderen öffnete, während Wurzeln sich wanden und nach dem Flüchtling ausstreckten, um ihn zu umschlingen, da wusste Chillbais, dass seine Wacht zu Ende war.

Der Schatten glitt bis zu der niedrigen Mauer, die das Grundstück mit dem Azath-Haus umgab, kauerte sich kurz hin und schien die sich näher schlängelnden Wurzeln einen langen Augenblick zu betrachten; dann erhob er sich und strömte wie flüssige Nacht über die niedrige Mauer. Und war fort.

Ächzend spreizte Chillbais die knarrenden Schwingen, schüttelte die Falten aus den Membranschichten zwischen den rippenähnlichen Fingern und machte einen Satz nach vorn, unter dem Ast heraus, wobei er so viel Luft einfing, wie er nur konnte, und unter wilder werdendem Ächzen hektisch flatterte, bis er hart auf dem mit Stroh bedeckten Boden aufschlug.

Zweige und Blätter ausspuckend krabbelte der Dämon zur Mauer des Anwesens zurück, während er hörte, wie die Wurzeln sich umwandten und nach ihm ausstreckten. Chillbais grub seine Klauen in den Mörtel und kletterte auf seinen ursprünglichen Ansitz zurück. Natürlich hatte es keinen wirklichen Grund gegeben, sich zu fürchten. Die Wurzeln griffen niemals über die Mauern des Azath hinaus, und ein Blick zurück versicherte ihm …

Kreischend warf Chillbais sich erneut in die Luft, dieses Mal hinaus über den Garten des Anwesens.

Oh, niemand, wirklich niemand mochte Dämonen!

Er schwang sich in die kühle Luft über dem überwucherten Springbrunnen, und dann, mit kräftig schlagenden Schwingen, nach oben, in die Nacht.

Ein Wort, ja, für seinen Meister. Ein höchst außergewöhnliches Wort. So unerwartet, so aufwiegelnd, so belastet!

Chillbais schlug so heftig wie möglich mit den Schwingen, ein feister Dämon in der Dunkelheit über der blauen, blauen Stadt.

Zechan Wirf und Giddyn der Schnelle hatten die perfekte Stelle für ihren Hinterhalt gefunden – zwei einander gegenüberliegende, zurückgesetzte Hauseingänge in einer engen Gasse, vielleicht zwanzig Schritte hinter der Mündung. Kurz zuvor waren vier Betrunkene vorbeigestolpert, von denen keiner die Assassinen gesehen hatte, die reglos in der tintigen Schwärze standen. Und nun, da sie vorbei waren und der Weg frei war … fehlte nur noch ein einziger Schritt nach vorn, und Blut würde fließen.

Die beiden Zielobjekte näherten sich. Beide trugen Tonkrüge und schwankten leicht. Sie schienen sich zu streiten, aber in einer Sprache, die Zechan nicht verstand. Wahrscheinlich Malazanisch. Ein rascher Blick nach links. Die vier Betrunkenen verließen gerade das hintere Ende der Gasse, tauchten in eine bunt gemischte Schar aus Nachtschwärmern ein.

Zechan und Giddyn waren den beiden von K’ruls Kneipe aus gefolgt, hatten beobachtet, wie sie einen Weinhändler gefunden und mit der Frau um den Preis gefeilscht hatten, den sie für die Weinkrüge wollte, und wie sie sich geeinigt und dann wieder auf den Rückweg gemacht hatten.

Irgendwo unterwegs mussten sie die Krüge entkorkt haben, denn jetzt stritten sie sich laut; der etwas Größere, Blauhäutige, der mit dem plattfüßigen Gang – Zechan konnte ihn von seinem Versteck aus gerade noch ausmachen –, blieb kurz stehen, um sich an eine Mauer zu lehnen, als wäre er kurz davor, sein Abendessen wieder von sich zu geben.

Er richtete sich bald wieder auf, und es schien, als sei der Streit plötzlich vorbei. Sich reckend gesellte der Größere sich wieder zu dem anderen, und dann stapften die beiden anscheinend erneut nebeneinander durch den Abfall.

Einfach perfekt.

Nichts Dreckiges. Ganz und gar nichts Dreckiges. Für Nächte wie diese lebte Zechan.

Dester bewegte sich schnell, huschte auf seinen Mokassins rasch, aber vollkommen lautlos über die Pflastersteine auf die Frau zu, die selbstvergessen vor ihm dahinschritt. Noch zwölf Schritte, noch acht, noch vier …

Sie wirbelte herum, und ihr Umhang bauschte sich. Gebläuter Stahl, nur verschwommen wahrnehmbar, blitzte in einem tödlichen Bogen auf. Dester schlidderte, sprang zurück in dem Versuch, der Waffe auszuweichen – Beru hilf, ein Langschwert! –, und etwas fuhr ihm über die Kehle. Er wand sich und duckte sich nach links, beide Dolche vorgestreckt, um sie abzuwehren, sollte sie auf ihn eindringen.

Ein Langschwert!

Hitze strömte ihm den Hals hinunter und weiter über seine Brust unter dem Hirschlederhemd. Die Gasse schien vor seinen Augen zu schwanken, Dunkelheit wogte heran. Dester Thrin stolperte, schlug mit seinen Dolchen wild um sich. Ein Stiefel oder eine Faust im Panzerhandschuh krachte ihm seitlich gegen den Kopf, und irgendetwas spritzte auf die Pflastersteine. Er konnte seine Dolche nicht mehr festhalten, hörte sie klirrend auf die Straße fallen.

Blind und benommen lag er auf dem harten Boden. Es war kalt.

Eine merkwürdige Mattigkeit erfüllte seine Gedanken, breitete sich aus, stieg immer höher … und nahm ihn mit.

Tippa stand über dem Leichnam. Ihr Blick fiel auf die Spitze ihres Schwerts, die rötlich glänzte und sie – was irgendwie merkwürdig war – an Mohnblumen nach dem Regen erinnerte. Sie knurrte. Der Dreckskerl war schnell gewesen, fast schnell genug, um ihrem Hieb auszuweichen. Wenn er das geschafft hätte, hätte sie möglicherweise einige Mühe gehabt. Trotzdem hätte sie ihn schließlich niedergehauen – es sei denn, der Blödmann wäre gut darin gewesen, die mickrigen Dolche zu werfen.

Wer sich durch eine Menge aus Gadrobi drängte, riskierte kaum mehr, als einem Taschendieb zum Opfer zu fallen. Als Volk waren sie auf einzigartige Weise freundlich. Wie auch immer, es vereinfachte solche Sachen, wie einen Verfolger auszumachen, erheblich – natürlich nur, wenn dieser Jemand kein Gadrobi war.

Der Mann, der tot zu ihren Füßen lag, war ein Daru. Er hätte genauso gut auch eine Laterne auf seiner Kapuze tragen können, so hoch, wie sein Kopf über der Menge hinter ihr aufgeragt hatte.

Trotzdem … sie starrte stirnrunzelnd auf ihn hinunter. Du warst kein Verbrecher. Nicht mit diesen Dolchen.

Beim Atem des Vermummten.

Tippa steckte ihr Schwert in die Scheide, zog ihren Umhang wieder eng um sich und vergewisserte sich, dass er die Waffe verbarg, denn wenn sie von einer Wache entdeckt werden sollte, würde sie in einer Zelle landen, die sie erst nach einer verdammt hohen Geldbuße wieder würde verlassen dürfen; dann klemmte sie sich die eingewickelten Fladenbrote fester unter den linken Arm und machte sich wieder auf den Weg.

Und kam dabei zu dem Schluss, dass Blend demnächst jede Menge Ärger am Hals haben würde.

Zechan und Giddyn stürzten sich vollkommen im Gleichklang mit erhobenen Dolchen aus ihren Nischen und stießen zu.

Ein Aufschrei von dem Größeren, als Giddyns Klingen sich tief in seinen Körper gruben. Die Knie des Malazaners gaben nach, und Erbrochenes quoll ihm aus dem Mund, als er zu Boden sank. Der Krug zerbrach, und der Wein ergoss sich auf die Pflastersteine.

Zechans Waffen durchbohrten Leder, und die Schneiden der Klingen schabten an Rippen entlang. Eine für jeden Lungenflügel. Der Assassine zog die Dolche heraus und machte einen Schritt nach hinten, um den Rothaarigen fallen zu sehen.

Ein Kurzschwert grub sich seitlich in Zechans Hals.

Er war tot, noch ehe er auf den Pflastersteinen aufkam.

Giddyn, der sich über den knieenden Malazaner beugte, schaute auf.

Zwei Hände legten sich um seinen Kopf. Eine presste sich auf seinen Mund, und schlagartig war seine Lunge voller Wasser. Er fing an zu ertrinken. Die Hand drückte stärker, und Finger hielten ihm die Nase zu. Dunkelheit stieg in ihm auf, und die Welt verging langsam.

Fahrig schnaubte, als er seine Waffe aus dem Leichnam zerrte; anschließend versetzte er dem Assassinen einen Tritt ins Gesicht, um der darauf eingefrorenen Überraschung noch etwas mehr Nachdruck zu verleihen.

Blauperl grinste ihn an. »Hast du gesehen, wie ich die Kotze hab’ rausspritzen lassen? Wenn das nicht genial war, dann weiß ich nicht, was …«

»Halt die Klappe«, fuhr Fahrig ihn an. »Nur falls du’s noch nicht gemerkt hast: Das hier waren keine Straßenräuber, die sich was zum Saufen beschaffen wollten.«

Stirnrunzelnd sah Blauperl auf den Leichnam vor ihm hinunter, dem Wasser aus Mund und Nase quoll. Der Napanese strich sich mit einer Hand über den glattrasierten Schädel. »Schon klar. Aber das waren trotzdem Anfänger. Beim Vermummten, wir haben ihre Atemwölkchen schon von da hinten auf der Straße gesehen. Und dann waren sie plötzlich nicht mehr zu sehen, als die Besoffenen an ihnen vorbeigetorkelt sind, was uns verraten hat, dass die nicht das Zielobjekt waren. Was wiederum bedeutet hat …«

»Dass wir es sind. Und genau darum geht es mir.«

»Lass uns zurückgehen«, sagte Blauperl, der plötzlich nervös war.

Fahrig zupfte an seinem Schnurrbart herum und nickte. »Mach das mit der Illusion nochmal, Blauperl. Und lass sie zehn Schritte vor uns gehen.«

»Kein Problem, Sergeant.«

»Ich bin kein Sergeant mehr.«

»Ach ja? Und warum brüllst du dann immer noch hier rum und erteilst Befehle?«

Als Tippa in Sichtweite des Vordereingangs von K’ruls Kneipe kam, kochte sie förmlich vor Wut. Sie blieb stehen und musterte die Umgebung. Machte jemanden aus, der gegenüber der Tür zur Kneipe auf der anderen Straßenseite im Schatten lehnte. Die Kapuze hochgezogen, die Hände verborgen.

Tippa setzte sich in Richtung der Gestalt in Bewegung.

Sie wurde bemerkt, als sie noch zehn Schritte entfernt war, und sah, wie der Mann sich gerade aufrichtete, sah an der Art, wie er die Arme unter dem Umhang bewegte, dass er sich zunehmend unbehaglich fühlte. Ein halbes Dutzend Feiernde torkelten zwischen ihnen über das Pflaster, und während sie vorbeizogen, machte Tippa den letzten Schritt, den sie brauchte, um den Mann zu erreichen.

Was auch immer er erwartet hatte – vielleicht, dass sie ihn anpöbeln und ihm irgendwelche Anschuldigungen an den Kopf werfen würde –, nun, es war klar, dass er vollkommen unvorbereitet auf den wilden Tritt zwischen die Beine war, den sie ihm verpasste. Als er zu Boden ging, trat sie dichter an ihn heran und versetzte ihm einen Schlag mit der Rechten gegen den Hinterkopf, um dem Sturz des Mannes noch ein bisschen mehr Schwung zu verleihen. Als seine Stirn auf die Pflastersteine prallte, knirschte es eklig. Sein Körper begann, wild zu zucken.

Ein Passant blieb stehen, glotzte den zuckenden Körper an.

»He, du da!«, schnauzte Tippa ihn an. »Was hast du für ein verdammtes Problem?«

Ein überraschtes Gesicht, gefolgt von einem Schulterzucken. »Gar keins, Süße. Geschieht ihm recht, so wie er da rumgestanden hat. Sag – willst du mich heiraten?«

»Hau ab.«

Während der Fremde weiterschlenderte und sein Pech in der Liebe bejammerte, schaute Tippa sich um; sie erwartete mehr oder weniger, irgendjemanden aus einem Versteck in der Nähe herausschießen zu sehen. Sollte das bereits passiert sein, hatte sie es verpasst. Wahrscheinlicher aber war, dass die unsichtbaren Augen, die all das hier beobachteten, von einem der umliegenden Dächer auf sie herabspähten.

Der Mann auf den Pflastersteinen hatte aufgehört zu zucken.

Sie fuhr herum und stapfte auf den Eingang zu K’ruls Kneipe zu.

»Tippa!«

Zwei Schritte von der mitgenommenen Tür entfernt drehte sie sich um und sah Fahrig und Blauperl – Krüge mit saltoanischem Wein schleppend – heraneilen. Fahrig machte ein grimmiges Gesicht. Blauperl hinkte einen halben Schritt hinterher, den Blick auf den reglosen Körper auf der anderen Straßenseite gerichtet, wo ein Gassenmädchen – eine Gadrobi – inzwischen eifrig damit beschäftigt war, dem Leichnam alles zu stehlen, was sie finden konnte.

»Macht, dass ihr hierherkommt«, blaffte Tippa sie an, »alle beide! Und haltet die Augen auf.«

»Einkaufen wird ziemlich tödlich«, sagte Fahrig. »Blauperl hat den größten Teil des Rückwegs Illusionen vor uns herlaufen lassen, nachdem wir einen Hinterhalt gerochen haben.«

Mit einem letzten düsteren Blick auf die Straße packte Tippa sie beide an den Armen und zog sie unzeremoniell auf die Tür zu. »Rein mit euch, ihr Idioten.«

Unglaublich, dass eine Nacht wie diese mir so eine miese Laune bescheren kann. Ich bin echt hingegangen und hab den ersten ordentlichen Heiratsantrag seit zwanzig Jahren abgelehnt.

Blend saß da, wo sie immer saß, wenn sie roch, dass es Ärger geben würde. An einem kleinen Tisch im Schatten gleich rechts neben der Tür zog sie ihre »Ich verschmelze mit der Umgebung«-Nummer ab – nur dass sie dieses Mal die Beine ausstreckte, gerade weit genug, um jeden darüberstolpern zu lassen, der hereinkam.

Tippa verpasste den schwarzen Stiefeln einen kräftigen Tritt, als sie durch die Tür kam.

»Autsch! Mein Knöchel!«

Tippa ließ Blend den Stapel Fladenbrot auf den Schoß fallen.

»Uff!«

Fahrig und Blauperl schoben sich an ihr vorbei. Der ehemalige Sergeant schnaubte. »Tja, das ist unsere furchteinflößende Aufpasserin an der Tür. Und was sagt sie? ›Autsch!‹ und ›Uff!‹.«

Aber Blend hatte sich schon wieder erholt und wickelte das Fladenbrot aus.

»Blend, du weißt aber doch bestimmt«, sagte Tippa, während sie sich an die Theke setzte, »dass die alten Rhivi-Hexen, die die Dinger machen, in die Pfanne spucken, bevor sie den Teig reinschmeißen. Ist wohl irgendein alter Geistsegen …«

»Nein, ist es nicht«, unterbrach Blend sie, während sie das Brot weiter auswickelte. »Das Zischen sagt ihnen, dass die Pfanne heiß genug ist.«

»Wenn’s weiter nichts ist«, murmelte Blauperl.

Tippa machte ein finsteres Gesicht und nickte dann. »In Ordnung. Gehen wir in unser Arbeitszimmer, und zwar alle … Blend, such Fäustel.«

»Schlechter Zeitpunkt«, bemerkte Blend.

»Was?«

»Spindel hat sich auf diese Pilgerreise begeben.«

»Wie schön für ihn.«

Blend stand langsam auf. »Duiker?«, fragte sie mit vollem Mund.

Tippa zögerte kurz. »Frag ihn«, sagte sie dann. »Wenn er will, ist es in Ordnung.«

Blend blinzelte langsam. »Na, heute Nacht schon jemanden umgebracht, Tippa?«

Keine Antwort war auch eine Antwort. Tippa betrachtete argwöhnisch die wenigen Gäste in der Kneipe, diejenigen, die zu betrunken gewesen waren, um beim zwölften Glockenschlag hinaus auf die Straße zu torkeln, wie es Brauch war. Allesamt Stammgäste. Das wird reichen. Tippa winkte den anderen, ihr zu folgen, und machte sich zur Treppe auf.

Am hinteren Ende des Gastraums blökte der verdammte Barde weiter einen der unklareren Verse der Anomandaris vor sich hin, aber niemand hörte ihm zu.

Die drei Männer betrachteten sich als die neue Elite im Rat von Darujhistan. Shardan Lim war der Größte und Dünnste; er hatte ein vertrocknetes Gesicht mit verwaschenen blauen Augen und einer krummen Nase. Der Mund war ein lippenloser Strich, dessen Winkel immer heruntergezogen waren, als könne er seine Verachtung für die Welt nicht verbergen. Die Muskeln seines linken Handgelenks waren doppelt so kräftig wie die seines rechten und von kreuzförmig verlaufenden, stolz zur Schau gestellten Narben gezeichnet. Er sah Challice an, als sei er kurz davor, ihren Ehemann zu fragen, ob er nicht jetzt bei ihr an der Reihe wäre, und sie spürte seinen Blick wie eine kalte Hand, die sich besitzergreifend um ihre Kehle legte. Einen Augenblick später wandte er seine blassen Augen ab, und als er nach seinem Kelch griff, der auf dem Kaminsims stand, huschte so etwas wie ein halbes Lächeln über seine Züge.

Auf der anderen Seite des nahezu erloschenen Feuers – und damit Shardan Lim gegenüber – stand Hanut Orr, dessen lange Finger zärtlich über die uralten Hammersteine strichen, die in die Feuerstelle eingemauert waren. Als Spielball für die Hälfte der adeligen Frauen in der Stadt – sofern sie verheiratet oder sonstwie ihrer Jungfräulichkeit beraubt waren – stellte er in der Tat eine höchst verführerische Mischung aus gefährlichem Charme und dominanter Arroganz dar. Mit diesen Charakterzügen verführte er auch ansonsten intelligente Frauen, und es war wohlbekannt, wie sehr er es genoss, wenn seine Geliebten auf Knien auf ihn zukrochen und um ein bisschen Aufmerksamkeit bettelten.

Challices Ehemann lag links von Hanut Orr mit ausgestreckten Beinen in seinem Lieblingssessel und starrte nachdenklich in seinen Kelch, in dem der leicht blaublütige Wein langsame Wirbel bildete, als er seine Hand lässig im Kreis bewegte.

»Teures Weib«, sagte er jetzt auf seine typische, affektierte Weise, »hat dich die Luft auf dem Balkon erfrischt?«

»Wein?«, fragte Shardan Lim und zog die Brauen hoch, als gäbe es in seinem Leben nichts Wichtigeres, als sie zu bedienen.

Sollte ein Ehemann an dieser Art kaum verhohlener Lüsternheit, wie seine sogenannten Freunde sie zur Schau stellten, Anstoß nehmen? Gorlas schien es gleichgültig zu sein.

»Nein, danke, Ratsherr Lim. Ich bin nur gekommen, um allen eine gute Nacht zu wünschen. Gorlas, wirst du noch lange hierbleiben?«

Er blickte zwar nicht von seinem Weinglas auf, doch sein Mund bewegte sich, als würde er noch dem letzten Schluck nachschmecken und das, was noch da war, ziemlich sauer finden. »Es gibt keinen Grund, auf mich zu warten, Weib.«

Unwillkürlich huschte ihr Blick zu Shardan, und in seinem Gesicht sah sie Erheiterung und die eindeutige Aussage, dass er sich ihr gegenüber nicht so abweisend verhalten würde.

Und sie stellte fest, dass sie dank einer plötzlichen, dunklen Verdorbenheit seinen Blick mit einem Lächeln erwiderte.

Zwar konnte ohne jede Ungewissheit gesagt werden, dass Gorlas Vidikas diesen Blickwechsel nicht bemerkt hatte, doch Hanut Orr hatte ihn sehr wohl bemerkt; seine Erheiterung war allerdings eher grausam und verächtlich.