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In Zukunft herrscht ein perfektionierter Weltstaat. Dennoch sind nicht alle Menschen zufrieden, eine Gruppe von Revolutionären will die Weltregierung stürzen, die ihren Sitz auf dem Mond hat. Der Plan der Machtübernahme scheitert, aber den Aufständischen gelingt es im letzten Moment, sich eines Raumschiffes zu bemächtigen und in die Tiefen des Weltalls zu fliehen. Doch auch innerhalb dieser kleinen Gruppe von Gleichgesinnten erweisen sich die Unterschiede als unüberwindbar, gelingt es nicht, die gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Ein Neubeginn auf einem Planeten nimmt nach einem hoffnungsvollen Start eine schlimme Entwicklung, die alten Probleme, welche die Menschen schon auf der Erde geplagt haben, brechen wieder auf. Um ihr Überleben als Kulturwesen zu sichern, müssen die Menschen zu einer ungewöhnlichen Methode greifen. Der Elfenbeinturm, 1965 erstmals erschienen, ist ein bereits klassischer Roman der deutschen Science-Fiction, der die Frage, was den Menschen ausmacht, von einer ungewöhnlichen Warte aus sieht und zu einer unbequemen Antwort gelangt.
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Seitenzahl: 263
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Herbert W. Franke
SF-Werkausgabe
Herbert W. Franke
Band 7
hrsg. von Hans Esselborn
und Susanne Päch
Herbert W. Franke
DER ELFENBEINTURM
Science-Fiction-Roman
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 7
hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
www.art-meets-science.io
Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de
Die Originalausgabe ist 1965 im Wilhelm Goldmann Verlag erschienen.
Titelbild: Thomas Franke
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
E-Book-Erstellung: global:epropaganda
Verlag
art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
c/o mce mediacomeurope GmbH
Bavariafilmplatz 3
82031 Grünwald
ISBN 978 3 911629 06 5
Die Sonnenstrahlen, die durch die Glaswand drangen, erwärmten die Luft über den Regelwert hinaus, und mit einem leisen Klicken der Relais schaltete sich das Kühlsystem ein. Ein frischer Atem strich die Scheiben entlang; für einen Augenblick hauchte er die mattweiße Milch winziger Wassertröpfchen darüber.
Mortimer Cross löste den Blick vom Silber der Gipfel und vom Blau der Firnenfelder, die nun hinter aufsteigenden Schleiern schwankten. Er rollte seinen Liegesessel ein wenig von der Sichtfläche ab; auf einen Knopfdruck hin hob sich die Rückenlehne um eine Handspanne und rastete in Mittellage ein. Mit Befriedigung konstatierte Mortimer, wie gut sich die lederüberzogenen Schaumgummipolster der Seitenlehnen seinen Unterarmen anschmiegten, sodass er nicht befürchten musste, nach der Siesta die hässlichen Male von Kanten und Ecken in der jeder Beanspruchung entwöhnten Haut zu finden.
Die Wärme, das leise Rauschen der Stimmen im Hintergrund, die unbestimmten Träume und die sanfte Müdigkeit des Nachmittags – das alles ließ jeden Wunsch, jedes Verlangen sinnlos erscheinen. Von allen Sehnsüchten blieb nur die angenehme Wehmut zurück, die von der Leere trennt.
Mortimer versuchte sich aus dem Netz seiner Lethargie zu befreien, doch er musste wiederholt tief ein- und ausatmen, ehe er das Mikrofon zum Mund zu heben vermochte, um Kaffee zu bestellen. Prompt näherte sich der Robotwagen in der Leitschiene und stellte die Nickelschale mit der dampfenden Köstlichkeit auf die Magnetfläche des Tisches. Mortimer nahm einen belebenden Schluck. Er fühlte das Prickeln des Tatendrangs durch seine Adern pulsieren und richtete sich ein wenig auf.
Sein Blick glitt über die anderen Gäste im Saal. Rund ein Drittel der Tische war besetzt, meist von einzelnen Männern und Frauen, die die Aussicht genossen, in Magazinen blätterten oder sich von der Stille und vom Nichtstun lähmen ließen. Wenn sie sich bewegten, sich in den Sesseln zurechtsetzten oder ihre Tassen zum Mund führten, taten sie es langsam, als wären sie sehr müde oder sehr ausgeruht. Auf der Haut ihrer Gesichter lag ein stumpfer Glanz.
Mortimer verstellte den Polarisationswinkel seiner Sonnenbrille. Die Glaswand neben ihm wurde dunkellila, und er sah sein Spiegelbild: ein angenehmes, wenn auch mageres Gesicht mit vielen scharfen Falten, ungebändigtes Haar, das locker wie Schaum auf dem Kopf saß und glänzte – blond oder weiß, das war im Belag des stumpfen Lichts nicht zu unterscheiden.
Ein unterdrücktes Lachen riss ihn aus seiner Versunkenheit. Es wirkte wie ein Gongschlag, weil sonst kein Laut aus der Geräuschkulisse des Surrens der Gummiräder in den Leitschienen, des Fauchens der Klimaanlage und des gedämpften Murmelns der Menschen heraustönte.
Mortimer blickte unauffällig zum Nebentisch. Die zwei Mädchen, die er durch den Vorhang eines Spaliers von Kletterorchideen erblickte, brachten irgendeine in ihm vergrabene Erinnerung zum Schwingen. Beide hatten dunkles Haar, doch außer dieser Übereinstimmung gab es nur Gegensätze: Die eine unterstrich ihre Erzählung – und sie schien etwas zu erzählen – mit lebhaften, obzwar nur angedeuteten Gesten der nervösen Hände; das war Lucine. Die andere hörte mit leicht zusammengekniffenen Augen und mit einer Andeutung ironischer Skepsis im Gesichtsausdruck zu; das war Maida. Mortimer kannte die Namen, ohne zu wissen, woher. – Aber das war nichts Überraschendes in der Traumatmosphäre dieses Hotels oder Sanatoriums, wie man es nun nennen wollte – nichts, worüber man nachdachte. Es passierte oft, dass solch ein Funken aus einer dunklen, jenseitigen Region aufglomm und verlosch, ehe er ein Feuer entzündete.
Mortimers Blick grub sich in die beiden glatten Gesichter, als gelte es, etwas aus ihnen zu lesen, etwas, das irgendwie verschlüsselt darin eingeprägt war … Er bemühte sich vergebens. Das Einzige, was er in sich wachrufen konnte, war ein Anflug von Sympathie.
Mortimer stand auf, trat an den Nebentisch, lächelte und verbeugte sich.
Sie trafen einander während der allwöchentlichen Pressekonferenz in der großen Halle des Gemeinschaftshauses. Während die Journalisten ihre vorbereiteten Fragen in die Mikrofone sprachen, blickte Mortimer unauffällig umher. Er kannte den anderen nicht, aber er vermutete, dass es jener groß gewachsene Afrikaner war, der an der Säule lehnte und heftig an einer Zigarette zog, die er im Mundwinkel hängen hatte. Wenn seine Vermutung zutraf, dann waren sie beide zu früh gekommen, doch vor dem Schluss der Pressekonferenz durften sie den Saal sowieso nicht verlassen, wenn sie sich nicht verdächtig machen wollten.
Es war noch nicht so weit. Zwar konnte Mortimer die große Bildfläche vorn auf der Bühne nicht sehen, doch gab es auch hier im Hintergrund genügend kleine Fernsehschirme, auf denen man die bedruckten Streifen beobachten konnte, die sich aus dem Ausgabeschlitz wanden. Und zum Überdruss las sie der Sprecher auch noch vor.
»… Das erste Vorhaben im Rahmen des Weißen Plans ist der Bau eines Skistadions und einer Fabrik für synthetischen Schnee am Ostrand des inneren Citygürtels. Die eine Million Zuschauer fassende Tribüne wird mittels des neuen Verfahrens der Elektronendiffusion geheizt.
Frage: Warum wurde die Bevölkerung nicht unverzüglich von den Aufständen im Massaidistrikt unterrichtet?
Antwort: Nach den Berechnungen des OMNIVAC hätte eine vorzeitige Bekanntgabe im ganzen afrikanischen Raum ein Steigen des Unruhepegels um elf Prozent über den Normalstand zur Folge gehabt. Dadurch wäre der Regierung die inzwischen erfolgte Rückgliederung der abgefallenen Gruppen ins Staatsgefüge erschwert worden.«
Zum Zeichen des Einverständnisses klang da und dort Applaus auf. Mortimer blickte ein wenig nervös auf das große Zifferblatt an der Rückwand des Saales: Die Zeit war schon um fünf Minuten überzogen.
»Frage: Noch immer besitzen fünf Prozent der Bevölkerung kein Auto. In den Notstandsgebieten sind es sogar sieben Prozent! Wann endlich erfolgt die schon seit Langem angekündigte kostenfreie Zuteilung der Standardmodelle an Bedürftige?«
Mortimer achtete nicht auf die Antwort. Diese Ignoranten mit ihren lächerlichen Problemen!, dachte er. Aber die Stunden der Weltregierung sind gezählt …! Aus dem Augenwinkel musterte er den Afrikaner an der Säule; als sich ihre Blicke trafen, wandte er die Augen rasch zur Seite. Plötzlich erhielt er einen leichten Stoß, und ein gedrungener Mann mit einer Jockeykappe trat neben ihn, ohne auch nur einen Seitenblick zu verschwenden. Unter dem Arm geklemmt trug er die »Confidential« vom Tag zuvor – auf der richtigen Seite aufgeschlagen und die Ecke mit der Seitenzahl abgerissen. Das war das Zeichen! Also war es doch nicht der Afrikaner.
Mit Unbehagen wartete Mortimer das Ende der Pressekonferenz ab, und als sich die Teilnehmer erhoben und im Gebäude zerstreuten, folgte er dem anderen, der ohne besondere Eile auf die Straße hinaustrat und die Richtung zum Ostbezirk einschlug.
Zum ersten Male sah Mortimer Angehörige einer Aktionsgruppe. In einer leeren Wohnung eines sechzigstöckigen Appartementhauses erwarteten ihn drei Leute. Der Erste von ihnen war ein Mann mit kurz geschorenem Haar, der so brutal aussah, wie sich Mortimer Revolutionäre vorgestellt hatte. Obwohl er nicht groß wirkte, überragte er Mortimer um einen Kopf, und dieser richtete sich unwillkürlich auf und biss die Zähne zusammen. Der Zweite lehnte an der Wand und trat nun vor, um Mortimer forschend mustern zu können. Er war etwa dreißig Jahre alt und hielt sich etwas gebeugt. Dunkelbraune Locken fielen ihm in die Stirn. Man hätte ihn für einen sensiblen Künstler halten können, wenn nicht seine leicht zusammengekniffenen grauen Augen und der schmale Mund diesen Eindruck sofort verwischt hätten. Der dritte Verschwörer war ein blutjunges dunkelhaariges Mädchen.
»Er hat sich wie ein Idiot benommen«, sagte der Gedrungene, der Mortimer hierher gebracht hatte.
Der Mann mit den Künstlerlocken blickte ihn nur fragend an.
»Zuerst hätte er fast einen Fremden auf sich aufmerksam gemacht, und dann schlich er hinter mir her wie der Detektiv in einem Kriminalfilm. Ich bin froh, dass wir hier angekommen sind, ohne geschnappt zu werden.«
Die drei betrachteten den Neuling schweigend.
Dann meinte der Braungelockte: »Niklas wird sich doch etwas dabei gedacht haben, als er ihn bestimmte – oder?« Er wandte sich an Mortimer. »Sei in Zukunft vorsichtiger! Wir können uns keine Späße leisten. – Okay. Das ist Maida. Breber ist dir sicher ein Begriff. Spencer kennst du schon. Und ich bin Guido.«
Breber war tatsächlich ein Begriff – der Begriff des Tapfersten und des Unerbittlichen. Wo es riskant wurde, bei jedem waghalsigen Unternehmen, bei jedem lebensgefährlichen Coup war er dabei. Seine Grausamkeit war sprichwörtlich – er schonte keinen Gegner. Seit er bei einer der jährlichen psychologischen Untersuchungen als abnormal registriert worden war, befand er sich ständig auf der Flucht. Mortimer sah ihn von der Seite her neugierig an, hütete sich aber, es zu auffällig zu tun.
Guido war der Einzige, der ihm die Hand reichte.
»Was habe ich zu tun?«, fragte Mortimer.
»Er kann es nicht lassen, den Helden zu spielen«, warf Breber höhnisch ein.
»Wir müssen auf Niklas warten«, erklärte Guido.
Er trat zum Fenster und sah hinaus. Im Westen, wo die Sonne eben untergegangen war, türmten sich schon die Wolken des für die Nacht vorgesehenen Regens. Auf den Quadern der Hochhäuser lagen farbige Schatten, die nach Westen gerichteten Flächen waren orange bestäubt. Die Dunstglocke über der City war von einem ockergelben übertuschten Regenbogen begrenzt. Aus der Tiefe drang das Rauschen des einsetzenden Abendverkehrs.
Mortimer fühlte sich noch immer beobachtet, und um seine Befangenheit zu überwinden, begann er eine Erklärung zu stammeln.
»Ich freue mich, dass ich dabei sein darf.«
Der ablehnende Gesichtsausdruck Brebers irritierte ihn, und er wandte sich an Guido, der ihm immer noch den Rücken zukehrte.
»Ich müsste wissen, ich … Ich meine, ich habe wenig Erfahrung, aber ihr könnt euch auf mich verlassen. Ich verabscheue das Regierungssystem genauso wie ihr – ach, wie ich es hasse!«
»Das ist doch selbstverständlich, Kleiner«, warf Breber ein. »Ist das alles, was du zu bieten hast?«
Zum ersten Male meldete sich das Mädchen Maida.
»Lass ihn in Frieden!«, forderte sie.
Guido drehte sich um und lehnte sich an die Fensterbrüstung.
»Schluss mit dem Geschwätz!«
Nun schwiegen alle im Zimmer, bis ein Klingelzeichen wie ein Alarmsignal die Stille zerriss. Gespannt lauschten sie auf die Folgen der langen und kurzen Töne, und dann eilte Spencer hinaus, um zu öffnen.
Mortimer hörte das Quietschen von Gummireifen auf dem glatten Styrosinboden, und gleich darauf erschien ein Rollstuhl mit einer in Decken gehüllten Gestalt, von der nur eine hohe Stirn und ein schmallippiger Mund frei blieben. Die Augen waren hinter schwarzen Haftgläsern verborgen, Haftgläsern, die die Augäpfel völlig verdeckten. Mortimer fühlte sein Herz schlagen. Das war eines der legendären Oberhäupter der Organisation: der Chef der Gruppe Nord! Donnerwetter – sie mussten schon etwas Großes mit ihm vorhaben.
Spencer schob den Stuhl vollends in den Raum, und hinter ihnen kam noch ein magerer junger Mann, dessen Oberlippe ein wenig hochgezogen war, sodass es aussah, als fletschte er ständig die Zähne.
»Hallo, Niklas!«, sagte Guido.
Der Mann im Rollstuhl rührte sich nicht – man konnte daran zweifeln, ob er gehört hatte. Dann machte er eine ungeduldige Handbewegung, und Spencer brachte ihn vor Mortimer.
Ohne Einleitung fragte der Blinde: »Was erhoffst du dir von unserer Organisation?«
Mortimer hatte den Eindruck, eine Prüfung bestehen zu müssen, aber trotzdem fühlte er sich erleichtert, denn diese Frage hatte er sich selbst schon tausendfach gestellt. Seine Wangen röteten sich.
»Sie muss die Menschheit retten! Wenn die jetzige Regierungsform nicht bald durch eine andere abgelöst wird, dann geht unsere Kultur endgültig unter. Die Vereinheitlichung, die Norm verschlingt die Persönlichkeit – der Mensch wird zum Herdenvieh. Man darf ihn nicht in der Masse ersticken lassen, man muss ihm Gelegenheit geben, wieder Individualität zu entfalten, Initiative zu zeigen. Die Organisation kämpft für eine bessere Welt. Das ist ihr Ziel!«
»Aber zunächst –«, begann Breber, doch unter einem Blick von Guido verstummte er.
»Mortimer hat recht«, sagte Niklas scharf. Er wandte den Kopf wieder zu Mortimer und schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Wir kämpfen schon seit dreißig Jahren. Als du noch nicht geboren warst, misslang unser Anschlag auf das Strategische Büro. Damals habe ich meine Beine verloren. Die Liberale Partei wurde verboten, aber sie bestand weiter – im Geheimen. Wir warteten zehn Jahre, allerdings nicht tatenlos. Wir haben alle Vernünftigen um uns versammelt, die die ungeheure Gefahr erkannten, in der die Menschheit schwebt. Dann griffen wir die Wissenschaftliche Zentrale in Genf-Meyrin an; das Beraterteam der Regierung ist ihr eigentlicher Kopf. Auch dieser Überfall schlug fehl, und ich wurde gefangen genommen. Mit Drogen versuchten sie mich zum Verrat zu zwingen, doch ich nahm ein Gegengift. Dabei verlor ich mein Augenlicht, aber ich schwieg.« Niklas besann sich eine Weile, dann fuhr er fort: »Jetzt – nach weiteren zwanzig Jahren – erfolgt unser dritter Versuch. Inzwischen wurde die Regierung samt den wissenschaftlichen Beratern und dem OMNIVAC auf den Mond verlegt. So schwer war es noch nie. Aber wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, verstehst du?«
Mortimer nickte, und Niklas sprach weiter.
»Es geht jetzt nicht mehr um einen politischen Umschwung, sondern um die Rettung der Welt. Nicht zuletzt geht es auch um das Andenken unserer geopferten, niedergemetzelten und in Lagern elend zugrunde gegangenen Kameraden. Uns von der alten Garde hat das Schicksal zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengeschweißt. Wir haben keine persönlichen Wünsche oder Gedanken mehr – alles gehört unserer Aufgabe. Und wer mit uns kämpft, muss ebenso fanatisch sein, ebenso hart, ebenso unerbittlich. Wirst du das können?«
»Ja!«, antwortete Mortimer heiser.
Würde er es können? Er hatte den Willen dazu – und seine Überzeugung.
»Bist du bereit, alles aufzugeben – deine Verwandten, dein gewohntes Dasein? Bist du bereit, auch dein Leben einzusetzen und mit uns bis zum Ende zu gehen?«
Mortimer dachte an seinen Vater und dessen vergeblichen Kampf gegen die automatisierten Schulen, die Lernmaschinen, den programmierten Unterricht, die Informationspädagogik, er dachte an die alten Schriften von Körner und Petöfi, die er während des Unterrichts unter der Bank gelesen hatte, an seinen Freund Herwig, der Maler war und den sie wegen Nonkonformismus entpersönlicht hatten.
Er sagte: »Ja!« – nun im entschiedenen Ton der Sicherheit.
»Dann ist es gut. Ich vertraue dir«, sagte der Blinde. »Guido, stell die Verbindung her!«
Der Große trat an die Fernsehanlage und drückte einige Tasten. Es flimmerte hell über den Schirm, dann fügten sich die jagenden Streifen zu einem fleischigen, derben Gesicht.
»Cardini!«, stieß Mortimer mit einem Würgen der Angst hervor.
Farbig und plastisch blickte der allmächtige Chef der Weltpolizei auf sie herunter. Hinter ihm war sein Sekretär Buschor zu erkennen.
Die Stimme Cardinis dröhnte aus dem Lautsprecher.
»Ist alles gut vorbereitet?«
»Bis ins kleinste Detail«, antwortete Niklas.
»Dann gebe ich das Zeichen zum Beginn! Führt euer großes Werk zum Gelingen – die Menschheit wird es euch danken. Ich wünsche euch alles Glück dieser Welt!«
Das Bild auf dem Sichtschirm zerfiel, Guido schaltete ab.
Mortimer hatte sich noch nicht von seiner Überraschung erholt.
»Cardini weiß alles?«, stammelte er.
»Er ist auf unserer Seite. Ja. Diesmal haben wir den Trumpf in der Hand. Und du, Mortimer, kennst jetzt das große Geheimnis. Das ist der Beweis unseres Vertrauens.«
Guido selbst brachte ihn mit einem neuen batteriegetriebenen Cabrio an den Stadtrand, weit über den äußeren Gürtel hinaus, in ein seit langer Zeit geräumtes Vorortgebiet, in dem alte Ein- und Zweifamilienhäuser mit dazwischengeschachtelten unlizenzierten Bauten zu einem Labyrinth zusammengewachsen waren, dessen Unübersichtlichkeit jener der alten orientalischen Kasbahs aus den archäologischen Schutzgebieten nicht nachstand. Die Absperrung hatten sie ohne Schwierigkeiten passiert. Guido kannte eine Passage, die durch einen stillgelegten Entwässerungskanal führte, und im Übrigen kümmerte sich die Polizei wenig um die Sperrzonen, solange dort keiner zu siedeln gedachte.
Sie kamen durch Garagen, Gartenhäuser, Kaninchenställe, in denen noch ein Anflug von Geruch nach Heu und Kot lag, schlüpften durch muffige Keller und schlichen an verrosteten Gitterzäunen, Stacheldraht und verfallenen Mauern vorbei. Überall wucherten verwilderte Begonien und Kletterrosen, Bohnen und Zierkürbisranken und vernetzten die Bauten zu einem Dschungel, durch den man sich nur mühsam zu zwängen vermochte. Endlich wies Guido auf eine Sanitätsbaracke, auf deren Dach noch die Umrisse eines roten Kreuzes zu erkennen waren.
Der alte Mann im schmuddeligen Zweireiher, der ihnen entgegentrat, kam Mortimer bekannt vor. Doch erst als ihn Guido begrüßte, fiel ihm ein, wo er dieses eckige Gesicht mit dem unsteten Blick schon gesehen hatte: auf den Fotos in den Gerichtsreportagen der Zeitschrift »Crime and Sex«. Es hatte da einen Prozess gegeben, in dem der Neurologe Doktor Prokoff angeklagt war, Verbrechern durch Gehirnübertragungen zu andern Körpern verholfen zu haben, um sie der Gerechtigkeit zu entziehen.
»Verdammt, warum lasst ihr mich so lange warten?«, fragte der Arzt und schob Guido und Mortimer in ein Wartezimmer. »Hast du den Pass und das Geld?«
Guido klopfte auf seine Brusttasche.
»Klar! Doch das erledigen wir später. Und wie steht’s bei dir? Ist alles vorbereitet?«
Der Arzt drückte Mortimer einen Rasierapparat in die Hand, zog einen Vorhang von einer Waschnische und schob den Filter von der Radiumlampe zurück. Der bleihaltige Fluoreszenzstoff goss sein grünliches Licht aus.
»Ab mit der Lockenpracht!«, befahl er.
Mortimer sah sich nach Guido um, der ihm zunickte und die Achseln zuckte. Bevor ihn das Surren der Schneideräder von den Geräuschen der Umgebung abschnitt, hörte er noch, wie Doktor Prokoff sagte: »Ich bin soweit. Der Fremde liegt schon seit Vormittag im Hinterzimmer. Aber es ist das letzte Mal – das kannst du deinen Kollegen ausrichten!«
Als der letzte Streifen der schwarzen Haarsträhne gefallen war, trat Mortimer wieder zu den anderen. Ihm war, als hätte er schon einen Teil seiner Persönlichkeit aufgegeben. Der Arzt fuhr mit der Hand prüfend über den kahlen Schädel, von dem nur mehr ein Anflug von winzigen Borsten abstand.
»Darf ich erfahren, was ihr vorhabt?«, fragte Mortimer.
»Für deine Aufgabe brauchst du eine gute Tarnung«, erklärte Guido. »Gib dich zunächst damit zufrieden.«
»Tarnung!«, sagte Doktor Prokoff mit einem hämischen Unterton. »Weiß er nicht, was ihm bevorsteht?«
»Kümmere dich nicht drum«, entgegnete Guido scharf. »Fang endlich an!«
»Dann kommt!«
Sie traten in einen Behandlungsraum, der eher einem elektrischen Rechenzentrum glich. Eine umfangreiche Schalttafel mit mehreren Oszillografenschirmen bildete eine Barriere in der Mitte des Raumes, dahinter standen zwei Gerüste, von denen mehrere Bündel von metallumsponnenen Leitungen wegführten. Über dem Kopfende zweier Liegen, an Stativen befestigt, saßen Metallhauben, aus denen Flügelschrauben herausragten.
Doktor Prokoff legte den Hauptschalter herum, eine Pumpe begann, leise ächzend zu arbeiten. Dann verschwand er in einem Nebenraum und erschien kurze Zeit später, ein Rollbett vor sich herschiebend. Darauf lag eine bewegungslose, mit einem Laken bedeckte menschliche Gestalt. Der Neurologe hob es ein wenig, und Mortimer erblickte das lange, magere Gesicht mit der hohen Stirn und dem mattblonden Haar, das locker wie Schaum war.
Guido ließ den Blick abschätzend zwischen dem Ohnmächtigen und Mortimer hin- und herwandern.
»Gänzlich verschiedene Typen«, bemerkte er.
»Glaubst du noch an Kretschmer?«, fuhr ihn der Gehirnchirurg an. »Hauptsache, die Ruhefrequenzen und die Modulationskoeffizienten der Gehirnströme sind gleich. Da macht mir niemand etwas vor. Von allen, die ich geprüft habe, kommt kein anderer infrage.«
Er nahm den Rasierapparat, trat an den Fremden heran und schnitt ihm die Haare ab.
»Hättest du das nicht schon lange machen können?«, fragte Mortimer.
»Das Zeug wächst zu schnell nach«, antwortete Doktor Prokoff. »Wenn du willst, dass es schneller geht, dann hilf mir lieber.« Er warf Guido den Batterierasierer hin und wandte sich wieder seiner Schalttafel zu.
Mortimer fühlte den Blick Guidos auf sich ruhen: kühl, ein wenig mitleidig und ein wenig verächtlich. Und zum ersten Mal erlosch das Gefühl des Stolzes in ihm, jedoch im selben Maße, wie sein Sendungsbewusstsein nachließ, wuchs atemberaubend die Angst aller Geschöpfe in ihm auf, die erkennen, dass sie in eine Falle geraten sind, aus der es kein Entrinnen gibt.
Doktor Prokoff musterte ihn kurz und legte den Handrücken auf seine Stirn. Sie war von feinen Schweißtröpfchen benetzt. Er langte nach seinem Gelenk, fühlte den Puls … »Er hat Fieber«, konstatierte er.
Guido hielt mit seiner Arbeit inne und trat näher. »Unsinn! Er hat bloß Angst!«
»Das ist genauso schlimm! Er muss völlig ruhiggestellt sein – das weißt du so gut wie ich!«
»Gib ihm eine Spritze!«, forderte Guido.
»Zu spät!«, gab Prokoff lakonisch zurück.
Guido legte Mortimer die Hände auf die Schultern. Er blickte wieder wohlwollend.
»Was ist mit dir los, Junge? Fühlst du dich nicht wohl?«
Mortimer hatte Mühe, das Zucken in seinem Gaumen zu unterdrücken.
»Wollt ihr wirklich … eine Gehirnübertragung …«
»Was bedeutet es schon?«, fragte Guido. »Das Gehirn ist völlig unempfindlich gegen Schmerz. Du spürst also nichts, dir ist, als wenn du träumst, und dann wachst du auf – und bist ein anderer! Wovor hast du Angst?«
»Ich glaube, ich ertrage es nicht!«, flüsterte Mortimer.
»Aber du hast Niklas dein Wort gegeben! Noch vor einer Stunde wolltest du alles opfern – alles was du hast, auch dein Leben!«
»Werde ich mich … ich meine: Werde ich noch ich selbst sein?«
Guido blickte zu Doktor Prokoff hinüber.
»Wird er noch er selbst sein?«
Der Arzt wandte sich ab.
»Was interessiert mich das? Ich stelle die Synchronisation ein, die Fokussierung auf die Synapsen – das ist alles, die Übertragung des Speicherinhalts geht automatisch.«
»Aber wie war das bei Ihren anderen Patienten?«, fragte Mortimer. Er schluckte heftig.
»Die haben eine reine Übertragung bestellt – das heißt, ich transferiere die in der Hirnrinde gespeicherte Information – nicht vielleicht das Gehirn selbst, wie manche meinen. Die tieferen Schichten bleiben unberührt – sonst gibt es Kreislaufstörungen, Fehlreflexe und so weiter. Ihr aber wollt doch …«
»Schluss jetzt!«, unterbrach Guido. Sein Gesichtsausdruck hatte sich in eine Maske des Widerwillens verwandelt.
»Willst du, oder willst du nicht?«, zischte er ganz nahe vor Mortimers Augen. »Hast du alles vergessen? Du wolltest doch die Menschheit retten – oder nicht? Wo hast du deine Ideale gelassen? Menschenwürde, Freiheit, Individualität? Denkst du nicht mehr daran, was wir alle geopfert haben? Weißt du nicht mehr, was mit Herwig geschah? Gilt dir das Lebensziel deines Vaters nichts mehr?« Er schüttelt Mortimer heftig. »Nun!«, schrie er.
»Ich … will es tun«, keuchte Mortimer, ohne sein Schluchzen unterdrücken zu können.
»Also!«, herrschte Guido und gab dem Arzt ein Zeichen.
Dieser schüttelte den Kopf. »Ein Gehirn im Zustand der Ruhe, verstehst du das nicht? Keine Gemütsbewegungen, die Z-Schleife unter dem Nullpegel! Ich habe genug, ich gehe!« Er griff nach dem Hauptschalter.
»Halt!«, rief Guido. Plötzlich hatte er eine Gammapistole in der Hand. Er ließ den Arzt nicht aus den Augen. Mit der Linken zog er ein Schächtelchen aus der Jackentasche. Er zerdrückte die Papierhülle, nestelte eine zellophanüberzogene Pille heraus, und drückte sie Mortimer in die Hand. »Nimm sie ein, aber schnell!« Mit dem rechten Ellbogen wies er zu den Rollbetten. »Leg dich hin!« Er wartete, bis Mortimer gehorcht hatte. Dann drehte er sich zum Arzt und befahl: »Anfangen!«
Der Regierungssitz auf dem Mond war eine Welt für sich. Von einer undurchsichtigen und strahlenhemmenden Kunststoffpyramide umschlossen, lebte da eine ganze Stadt, die zwar noch auf die Versorgung von der Erde angewiesen war, sich aber heftig bemühte, mit den modernen Mitteln der Wissenschaft alle Bindungen abzustreifen. Polyploide Algenrassen lieferten Nährstoffkonzentrate, Wachstumshormone steigerten die Erträge der hydroponischen Gärten, isoliertes Muskelgewebe von Ferkeln und Kälbern wurde durch eigens gezüchtete Viren zum Wuchern gebracht. Die Energieversorgung war erst recht kein Problem – der Atomreaktor brauchte nie auf voller Leistung zu laufen, und die Plutoniumvorräte reichten Jahrhunderte. Von der Spitze der Pyramide schien eine künstliche Sonne herab – ein kleiner Transformationsreaktor zur direkten Umwandlung von Kernenergie in Licht, dessen Steuerstäbe von einer Automatik im Rhythmus von Tag und Nacht ein- und ausgeführt wurden. Keiner der zehntausend Bewohner bekam die Erde zu Gesicht, wenn er nicht gerade eine Urlaubsfahrt unternahm oder zu den Wissenschaftlern gehörte, die die Krater durchforschten oder mit ihren Fernrohren und Radarteleskopen in den glasklaren Raum hinaustasteten. Und ebenso wenig sahen umgekehrt die Bürger des allumfassenden Weltstaates ins Innere der Regierungsstadt, wo über ihr Geschick entschieden wurde. Und doch war dafür gesorgt, dass sie ihre Regierung nicht vergaßen – von den Ecken der dreiseitigen Pyramide strahlten tagaus, tagein das rote, das blaue und das grüne Licht als Symbol der Einheit aller Rassen, und unsichtbar, über die Amplituden der niederfrequenten elektromagnetischen Wellen, strömten Informationen hin und her, pulsierten Anordnungen und Vollstreckungsmeldungen.
Drei Wochen befand sich Mortimer nun schon in der Pyramidenstadt. Es war eine Zeit der Vorbereitung, des Eingewöhnens, der Vergewisserung. Aber es hätte dieser Vorsichtsmaßnahme nicht bedurft – sein Gedächtnis wies keine Lücken auf. Mit der Sicherheit eines Schlafwandlers benutzte er die leitschienengesteuerten Sitzroller, fuhr er mit den Lifts auf und nieder, wanderte er durch die endlosen Gänge. Er kannte den Grundriss der Stadt, den Halbkreis des Wohnbezirks, die Fabrikanlagen gegenüber, den äußeren Sicherheitsgürtel, den Ring der Gärten mit ihren Trikodylenfarnen, und schließlich natürlich den glasumschlossenen Block der Zentrale. Dort ging er ein und aus, als wäre es nie anders gewesen – und in gewissem Sinn traf das auch zu. Ein Planungsstratege, der auf Erdurlaub fährt und vier Wochen später gut ausgeruht zurückkommt – nichts weiter. Er besaß die Fingerabdrücke Stanton Baravals, das Irismuster, das Blutbild, und er passierte die Sperren mit einem echten Ausweis. Sein kurz geschnittenes Haar – wer sollte sich Gedanken darüber machen? Er besaß vor allem die Kenntnisse und Erinnerungen. Am Anfang hatte ihn oft ein Schreck durchzuckt, wenn er plötzlich angesprochen wurde, wenn jemand Extrapolationskoeffizienten forderte, oder den Termin des nächsten Kegelwettkampfs. Dann aber antwortete etwas aus ihm heraus, ruhig und überlegen, geduldig, manchmal auch ironisch-heiter. Die schlimmsten Augenblicke erlebte er nicht in der Gesellschaft der anderen, sondern abends, wenn er allein war, in der Stille der schallsicheren Schaumstoffwände seines Appartements, in den Minuten vor dem Einschlafen, wenn alles getan war, was getan werden musste. Dann stiegen die Gefühle eines Toten in ihm empor, der gar nicht so tot war, wie er geglaubt hatte, fremde Wünsche stießen an seine eigenen, unbekannte Stimmungen vermischten sich zu einem widerspruchsvollen schizophrenen Ganzen, das ihm selbst unheimlich war und ihn doch beherrschte. Er ertappte sich dabei, dass er Dinge guthieß, die er bisher verabscheut hatte, dass ihn Regungen überfielen, die Verrat an seinen Idealen waren, dass etwas Mächtiges in ihm flüsterte, das sich nicht zum Schweigen bringen ließ und ihm Angst bereitete.
Seine einzige Verbindung zur Organisation war Maida.
Maida war schon vor zwei Jahren als Stewardess in den Passagierdienst zwischen Erde und Mond eingeschleust worden; trotz Robotbediensteten waren menschliche Betreuerinnen im Flugdienst gesucht. Er und sie hatten ein Zusammentreffen arrangiert, das nach außen hin völlig zufällig wirkte, und waren von da an oft ganz offen beisammen gewesen.
Als Maida in dieser Nacht, zu einer Zeit, zu der sie sich bisher zu trennen pflegten, vorschlug, einen Spaziergang in den Gärten zu machen, wusste Mortimer, dass seine Ungeduld nicht mehr lange andauern würde. Der so lange geplante Anschlag erschien ihm als das Ereignis, das das Netz seiner Skrupel zerreißen würde.
Bisher hatten sie kein verfängliches Wort gesprochen. Es war damit zu rechnen, dass es hier von Geheimpolizisten wimmelte, dass an allen möglichen Stellen Abhörmikrofone und getarnte Beobachtungsschirme angebracht waren, genauso gut war es möglich, dass alle derartigen Befürchtungen völlig grundlos waren und sich die Regierung in Sicherheit wiegte, aber die Verschwörer mussten nun einmal stets auf der Hut sein. Maida hakte sich bei ihm ein, und so schlenderten sie über die Bimssteinkacheln der gewundenen Wege, zwischen den neu gezüchteten farnähnlichen Sträuchern hindurch, die fast die gesamte Lufterneuerung der Stadt bewältigten. Man spürte den Sauerstoffreichtum am Atem – jede Lunge voll war ein belebendes Elixier. Die in den Sand eingespritzten Schaumstoffflocken waren feucht und mit eingeschleppten Grünalgen bedeckt, die ein Graspolster vortäuschten. Durch den alles durchdringenden Geruch des fäulnisverhütenden Chinosols drang der Anflug eines schweren Duftes nach Forsythien und Harz.
Maida drehte den Transistorempfänger an ihrem Armband auf. Schmeichelnde Musik ertönte. Die künstliche Sonne war auf Mindestbeleuchtung eingestellt und verbreitete nur einen schwachen grünlichen Glanz, der wie Schimmel auf den Blättern lag.
»Jetzt können wir sprechen«, sagte Maida. »Der Apparat gibt intensiven Ultraschall ab. Sollte uns jemand mit einem Schallfokus verfolgen, dann versteht er nichts.«
»Ist es nicht gefährlich, einen solchen Störgenerator zu besitzen?«
»Der Apparat ist so gebaut, dass man es als einen zufälligen Fehler ansehen muss«, sagte Maida. »Doch wir wollen unsere Zeit nutzen. Gib acht! Der Befehl zum Handeln ist gekommen. Du hast Folgendes zu tun. Das Erste ist die Zerstörung des OMNIVAC-Gedächtnisses. Du weißt, dass darinnen alle Informationen gespeichert sind, auf die die Regierung ihre Macht stützt. Du verwendest dazu einen Ionisator, den du in den Luftversorgungsschacht des Speicherkellers einbringst. Mit ihm wird die Luft leitend gemacht. Die statistisch verteilten Ladungen depolarisieren die molekularen Speicherzellen.«
»Woher bekomme ich den Ionisator?«
»Er wird als Elektronenschweißgerät getarnt. Mit einer normalen Sendung von Werkzeugen kommt er in die Zentrale. Die Veränderungen sind mit Kunststoff und Stromleitröhrchen vorgenommen, sodass die Röntgenkontrolle nichts merkt.«
»Wie erkenne ich das betreffende Gerät?«
»Wir haben einen Mann bestochen, der es untertags zu Reparaturarbeiten an der Glaswand mitnimmt und abends liegen lässt. Komm, ich zeig dir die Stelle!«
Maida sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. Sie schienen weit und breit die einzigen Menschen zu sein. Rasch zog sie Mortimer vom Weg in die bepflasterte Fläche hinein. Der Schaumstoff unter ihren Füßen verschluckte jedes Trittgeräusch, und bald standen sie an der Glasbegrenzung. Wie eine geheimnisvolle Burg lagen die kubischen Klötze der Laboratorien und Programmierungshallen vor ihnen, mit Grün übergossen, kristallen glänzend, an der Seite die Kuppel, unter dem das Gehirn des Ganzen, der hausgroße Computer OMNIVAC seine ununterbrochene Wacht hielt, daneben der fensterlose Gefängnistrakt, in dem die politischen Gefangenen auf das Urteil warteten. Meist lautete es: Entpersönlichung.
Maida deutete auf einige matte Stellen in der Glasfläche vor ihnen.
»Hier ist eine Reparatur fällig. Merk dir die Stelle! Morgen musst du sie von innen finden. Hier, unter diesem Stapel von Bohrbolzen wird das Schweißgerät liegen.«
Mortimer hob warnend die Hand.
»Ein Posten! Weg von hier!«
Im Inneren näherte sich ihrem Platz ein Mann mit einer Gammapistole.
Maida hielt Mortimer zurück.
»Vielleicht hat er uns schon geortet! Wir müssen bleiben!«
Sie legte sich auf den Boden und zerrte Mortimer zu sich herab.
»Küss mich!«
Mortimer tat so, als ob er sie liebkoste, dabei schielte er nach dem Mann jenseits der Glasfläche.
»Vielleicht haben sie ein Alarmsystem?«, flüsterte er.
Maida legte die Arme um ihn.
»Tu, als ob du ihn nicht bemerkst!«
Der Posten ging jetzt langsamer, blieb schließlich stehen. Vorgebeugt stand er da, die Pistole im Anschlag.
Mortimer wagte den Kopf nicht mehr zur Seite zu drehen, aber er hörte jetzt ganz nahe das Knirschen von Schritten. Sein Herz schlug. Er küsste Maida auf die Wangen, auf den Mund, auf den Hals. Seine Hände streichelten ihren Nacken. Jenseits der Wand war es still – eine endlos lange Zeit hindurch. Dann waren wieder Schritte zu hören, zuerst laut, bis sie schließlich verklangen.
Mortimer hielt Maida noch immer an den Schultern fest. Er kniete neben ihr. Sie schauten durch die Wand und sahen den Wachtposten weit entfernt langsam weitergehen.
Maida hörte das heftige Atmen des Mannes, spürte die Hände, die sich an ihr festklammerten. Sie strich ihm über das lockere Haar und stand auf.
»Keine Gefahr mehr«, sagte sie.
Den Vormittag des nächsten Tages verbrachte Mortimer bei einer Diskussion über den Antrag, Stierkämpfe wieder zuzulassen – gleichsam als Ventil des unterdrückten Aggressionswillens. Es gab mehrere Pausen, während der OMNIVAC die eingesparten Kosten von Gerichtsverfahren, Gefängnisraum, Aufsichtsmaßnahmen und so fort gegen Ausgaben für die Organisation der Wettkämpfe abwog und den Aktivitätsmodul gegen das Absinken des Unruhepegels in Rechnung stellte.