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Eine Stadt im Jahre 2000 – ein totalitäres technokratisches System, absolute Kontrolle durch elektronische Überwachungsanlagen … das ist die Szenerie des Romans »Ypsilon minus« von Herbert W. Franke. Ypsilon minus – nach der Indexnummer der Ausgestoßenen, die vom zentralen Meldeamt all jenen zugesprochen wird, die von der vorgeschriebenen Linie abweichen. Benedikt Erman, genannt Ben, ist dort als Rechercheur beschäftigt. Eines Tages bekommt er vom Computer den Befehl, sich selbst zu kontrollieren. Irrtum der Maschine? Raffinierter Schachzug einer verborgenen unmenschlichen Intelligenz? Benedikt rollt seine eigene Vergangenheit auf, und zu seiner Überraschung stößt er auf Ereignisse, die längst aus den historischen Protokollen gelöscht wurden – auf das Geschehen, das zu diesem computergesteuerten Staatswesen geführt hat. Aber Benedikt ist Programmierer, und so hat er die Möglichkeit, sein Wissen einzusetzen und sich zu wehren. Wie bei allen Science-Fiction-Stoffen von Herbert W. Franke geht es um prinzipiell mögliche Entwicklungen, um solche, die sich verwirklichen könnten, wenn man den Dingen ihren Lauf ließe. Erst wird der Leser von den geschilderten Ereignissen gefangen sein, vom verzweifelten Kampf gegen Reglementierung und Entpersönlichung vor der fantastisch-abstrusen Kulisse einer Automatenwelt. Erst nachher wird er merken, dass ein beachtlicher Teil davon längst zur Realität unserer täglichen Umwelt geworden ist.
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Seitenzahl: 286
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Herbert W. Franke
SF-Werkausgabe
Herbert W. Franke
Band 10
hrsg. von Hans Esselborn
und Susanne Päch
Herbert W. Franke
YPSILON MINUS
Science-Fiction-Roman
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 10
hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
www.art-meets-science.io
Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de
Die Originalausgabe ist 1976 im Suhrkamp Verlag erschienen.
Titelbild: Thomas Franke
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
E-Book-Erstellung: global:epropaganda
Verlag
art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
c/o mce mediacomeurope GmbH
Bavariafilmplatz 3
82031 Grünwald
ISBN 978 3 911629 09 6
Dieser Tag unterschied sich durch nichts von tausend anderen Tagen.
Um sechs Uhr früh Wecken. Das übliche Gedränge im Waschraum. Das Anstellen um das Frühstücksgeschirr, um die Synthesemilch, um Brot und Marmelade.
Der Vormittag: Gymnastik. Psychotraining. Unterricht. Die Privatstunde von elf bis zwölf hatte Ben Erman benutzt, um seinen Berechtigungsschein für die Benutzung der Mikrofilmbibliothek erneuern zu lassen und einen Antrag auf einen neuen Overall zu stellen.
Zwölf Uhr bis vierzehn Uhr: Anstellen um das Essen. Wieder einmal hatte er ein Randstück vom Algenbrot bekommen – so hart, dass er erst gar nicht versuchte, es zu zerlegen. Er warf es mit den Papiertellern und dem Plastikbesteck in den Müllschlucker.
Die Fahrt mit der Hängebahn … sie war eine Zäsur in seinem Tagesablauf – zwischen der Individual- und der Sozialarbeit. Und sie war ein kurzer Zeitabschnitt ohne Aufgabe, ohne Verpflichtung. Er saß in seiner Einmannkabine – allein –, blickte von hoch oben auf die Straßen mit ihren Laufstegen und Schwebezügen, mit den durcheinanderströmenden Menschenmassen … Von hier sah es aus, als wäre eine träge wirbelnde Flüssigkeit zwischen Mauern eingeschlossen. Die Luft in der Kabine war gut – Ben brauchte seinen Atemfilter nicht zu benutzen. Vielleicht war das der Grund, dass er sich in diesen Minuten immer wie befreit vorkam – als wäre er nicht selbst ein Teil dieser ruhelosen Stadt.
Vierzehn Uhr: Beginn des vierstündigen Arbeitstags.
Ben Erman war Rechercheur in der Computerzentrale – ein Posten, der nur Angehörigen der R-Kategorie zustand.
Auch jetzt noch wies nichts auf die Besonderheit des Tages hin. Ben setzte sich auf seinen Rollstuhl, ließ den Hebel der Stromversorgung nach rechts klicken und tastete seine Kennnummer ein: 33-78568700-16 R. Ein rotes Lämpchen leuchtete auf. Ben wartete einige Sekunden lang, dann erschien ein Schriftzug auf dem elektronischen Leuchtschirm: Die Verbindung zur Arbeitseinheit war hergestellt, das Interaktionssystem stand bereit. Zugleich erschienen rechts oben die rasch wechselnden Ziffern der elektronischen Kontrolluhr, die die Rechenzeit und den Rechenwert überwachte. Ben rief die Resultate des letzten Tages ab und wandte sich dann jenen Punkten zu, die er noch nicht berücksichtigt hatte: den Ergebnissen der medizinischen Untersuchungen und psychiatrischen Tests, den Listen der Medikamente und Drogen – soweit sie offiziell zugeteilt worden waren –, der Zahl der Fremdkontakte mit Personen außerhalb des eigenen Wohnblocks, dem Freizeitverhalten usw.
Bisher hatte es nicht schlecht um den Prüfling gestanden. Die Ergebnisse waren nicht besser undnicht schlechter als bei tausend anderen, die er überprüft hatte. Eine Kategorie hinauf oder hinunter … gewiss: wichtige Entscheidungen für den Betroffenen, doch für die Statistik bedeutungslos!
Dann aber sank die Kennzahl der integralen Bewertung rapide. Schon die Antworten auf den Fragebogen für die regelmäßigen psychologischen Prüfungen zeigten einen deutlichen Abfall. Auch die Aussagen, die er in den obligatorischen Stunden der Selbstkritik gemacht hatte, ergaben überraschend niedrige Werte, als er sie nach dem sozialen Schlüssel auswertete. Einen niederschmetternden Eindruck machte schließlich die Auflistung der Fernsehsendungen und Filme – hier ergab sich ganz deutlich eine Bevorzugung der aus Testzwecken in die Programme eingebauten negativen Archetypen in einem ganz bestimmten Sinn, nämlich in Richtung auf destruktive Elemente. Bevor sich Ben der nächsten Qualifikationsgruppe zuwandte, schaltete er auf grafische Ausgabe um. Noch befand sich der rote Punkt hoch über dem Strich, der die Y- und die Z-Kategorien trennte. Aber es war unverkennbar, dass er sich ihm mehr und mehr näherte.
In diesem Moment legte sich eine Hand auf Bens Schulter. »Hallo, Ben!« Es war Olf Peman, Bens Nachbar aus der Arbeitsnische links von ihm.
Olf warf nur einen Blick auf den Bildschirm … »Donnerwetter! Ein interessanter Fall – warum rufst du uns nicht?«
Olf lief aus Bens Nische, doch – wie zu erwarten war – nur, um die anderen Mitarbeiter der Abteilung heranzuholen.
Im Stillen ärgerte sich Ben darüber – er hätte diesen Fall lieber noch eine Weile allein bearbeitet, um ganz sicher zu sein … Noch stand keineswegs fest, dass die Bewertungskurve weiter absinken würde. Einige weitere Qualifikationswerte, und alles könnte sich als blinder Alarm herausstellen.
Und andererseits: Ben hatte es nie leiden können, wie die Ypsilon-minus-Fälle von der Belegschaft behandelt wurden. Gewiss, es handelte sich um Entartete, um heimliche Außenseiter, die aus der Gesellschaft eliminiert werden mussten. Und doch – konnte man hier von Absicht oder Schuld sprechen? War es nicht vielmehr ein Schicksal, das sich aus welchen Gründen auch immer auf irgendeinen von ihnen richtete – das zu tragisch war, als dass man die letzten Entscheidungen, das letzte Urteil wie einen sportlichen Schiedsspruch erwarten und feiern durfte?
Doch nun war es zu spät – aus allen Kabinen strömten die Rechercheure, die Statistiker, die Analytiker und drängten sich um ihn.
Es kostete ihn Mühe, konzentriert weiterzuarbeiten – immerhin hing das Schicksal eines Menschen von seiner Aufmerksamkeit ab; ein Irrtum wäre – selbst wenn er später vom Computer korrigiert worden wäre – ärgerlich und blamabel. Er hatte noch nie einen Ypsilon-minus-Fall gehabt – ebenso wenig wie viele seiner Kollegen, die zum Teil schon länger als er in der Abteilung waren. Und was könnte es jetzt für sie alle Amüsanteres geben, als dass er sich zu verrechnen begann, dass er unsicher wurde, dass er sich als unfähig herausstellte.
Ben rechnete jetzt langsamer, doch es war ihm gelungen, sich zu konzentrieren. Trotz der Stimmen hinter ihm, des Geflüsters, der Ratschläge von jenen, die es besser wissen wollten, blieb er ruhig und nahm sich eine Qualifikation nach der anderen noch einmal vor: die Resultate des programmierten Unterrichts, das Kontaktregister, das Freizeitverhalten, die Fluktuationen während der Ferienzeit …
Selbstverständlich würden sich die Ärzte und Psychologen, die Verhaltensforscher und Soziologen, die Organisatoren und Kontrolleure mit dem Fall beschäftigen. Sie würden herauszufinden versuchen, an welcher Stelle ein Fauxpas passiert war – in der genetischen Konditionierung, in den psychologischen Programmen des Unterrichts, in der Verhaltensorganisation, in der zur allgemeinen Verwendung freigegebenen Information oder in unerwünschten Fehleinflüssen des Freizeitangebots. Dabei handelte es sich aber lediglich um Erklärungsversuche und nicht um eine Revision; die Entscheidung war längst getroffen. Es ging um Vorkehrungen für die Zukunft, um die Verhinderung weiterer ähnlicher Fälle, um eine Vervollständigung der Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen. Damit hatte er, Ben, nichts mehr zu tun. Er war Rechercheur und kein Organisator. Eigentlich brauchte ihn ein solcher Fall nicht zu berühren; für ihn bedeutete er nicht mehr als Zahlen und Symbole auf Leuchtschirmen, sinnvoll im Dienst der Sozietät verbrachte Arbeitszeit, vielleicht einen Pluspunkt in seinem beruflichen Werdegang, eine Prämie, vielleicht gar eine Neueinstufung? Ben kam zu den letzten Qualifikationen. Das Gemurmel hinter ihm wurde leiser, die Spannung wuchs. Und als der rote Punkt dann endgültig unter der waagerechten Trennlinie verschwand, ging ein Ächzen durch den Raum, und dann jubelten sie, klatschten, schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Nur Ben saß wie erstarrt auf seinem Stuhl, und obwohl sie ihm die Hände drückten und ihm gratulierten, war er wie durch eine Mauer von ihnen getrennt, er bemühte sich, zu verstehen, was geschehen war, fragte sich, welchen Anteil er eigentlich daran hatte und wieso ihm Glückwünsche zukamen. Er starrte auf den Schirm, auf dem jetzt die zusammenfassenden Ergebnisse der einzelnen Qualifikationsbereiche aufgelistet wurden, bis schließlich, gewissermaßen als Summe eines Lebens, das unumstößliche Resultat erschien: Y-.
Wie die statistische Analyse beweist, greifen in historische Entwicklungen oft Zufallsprozesse ein, die die Abläufe in unkontrollierbare Bahnen lenken. Auf diese Weise kam es vor der Stunde Null oft zu nicht vorhersehbaren Situationen, die die Entscheidungsträger vor unlösbare Aufgaben stellten. Die Lösungsversuche beschränkten sich meist auf passives Reagieren, auf Aktionen von lediglich kurzfristigem Einfluss. Deren Effektivität wurde bald durch weitere Zufallsereignisse gemindert, vage Ansätze zur gesellschaftlichen Besserstellung fielen den zunehmenden Turbulenzen zum Opfer. Der Mensch war lediglich Werkzeug der Geschichte, aber nicht ihr Gestalter. Durch den Zustand hochgradiger Unordnung war seine Freiheit erheblich eingeschränkt.
Die geschilderte Situation ist typisch für die archaische Gesellschaft vor der Stunde Null. In unserem Staat der Einheitlichkeit und der Ordnung müssen entropische Einflüsse aus der Geschichte eliminiert werden. Daraus folgt die Notwendigkeit einer präzisen Planung historischer Abläufe, die durch eine hoch entwickelte elektronische Simulationstechnik möglich geworden ist. Wir unterscheiden die zwei Programme KURZHIST und LANGHIST für kurzfristige und langfristige Planung. In der kurzfristigen Planung werden nicht nur die gewünschten Entwicklungen – soziologische Relevanzen, bildungstechnische Maßnahmen, medizinische Betreuung, psychologisches Training usw. – im Detail ausgearbeitet, sondern auch die dafür nötigen Eingriffe. Die angezeigten Maßnahmen werden in der allgemein verständlichen Sprache SIMPLON ausgegeben. Sie werden nach dem Programm VARIATORFAKT über das Kommunikationssystem SELEKTOR verteilt und den Angehörigen der operativen Klassen A und B übermittelt. Die langfristige Planung beschränkt sich vorderhand auf die Ausarbeitung von Zielvorstellungen und ihre Gewichtung nach den verfügbaren Ressourcen. Auf Detailanweisungen zur Durchführung wird vorderhand verzichtet, doch ist eine sukzessive Erweiterung der Kurzfristprogrammierung in den Langfristbereich vorgesehen.
Die Erkenntnis einer fehlerhaften Entwicklung der Geschichte erfordert auch Maßnahmen zu ihrer Korrektur. Philosophische Grundlage dazu ist das informationspositivistische Prinzip der Realität: Die Wirklichkeit ist die Summe aller korrelierbaren Informationen. Dem Institut für historische Planung ist deshalb eine Abteilung für Geschichtskorrektur angefügt. Sie hat die Aufgabe, die historischen Tatbestände neu festzulegen, und zwar so, dass sie den logisch-kausalen Hintergrund der modernen Geschichte bilden. Auf diese Weise sollte es gelingen, alle dunklen Punkte aus unserem Weltbild zu entfernen, die heute noch an eine düstere Vergangenheit erinnern und die Psyche der Bürger belasten. Der vollkommene Staat braucht auch eine vollkommene Geschichte.
Bens Arbeitstag neigte sich dem Ende zu. Zwei Stunden, achtundvierzig Minuten und drei Sekunden Rechenzeit hatte er benötigt, um den Nachweis zu führen, dass einer von ihnen in ihrer Gemeinschaft nichts mehr zu suchen hatte. Die Pause nach dem Erreichen des Ziels war nur kurz gewesen – sie alle hatten ihr Soll zu erfüllen. Sie hatten sich gegenseitig Pharmadrops angeboten, und Olf hatte aus dem Schrank, in dem die Kassetten mit den Magnetbändern lagen, eine Flasche Fitnesssekt geholt – sie waren alle gut gestimmt, als sie seine Kabine verließen. Auch Ben fühlte die künstliche Hochstimmung, die Energie, die das Getränk freigesetzt hatte, aber es fehlte die Gelegenheit, sie angemessen zu verwenden. Ihm blieben nur noch fünfzehn Minuten, um die verlorene Zeit wenigstens zum Teil aufzuholen, und so wandte er sich seinem nächsten Fall zu. Er stellte die Verbindung mit dem Speicher her und rief die Kenndaten und Codezahlen ab. Nur Bruchteile von Sekunden später lagen ihm alle nötigen Angaben vor, und er griff schon nach dem Xeroxduplikator, als er gewahr wurde, welche Kennzahl da stand: 33-78568700-16 R. Er blickte noch einmal hin – ein Irrtum der Maschine? – was konnte es anderes sein! Er bat um Überprüfung und Korrektur … einige Sekunden Wartezeit, dann die Antwort: korrekte Angabe – und wieder die Zahl: seine Zahl!
An diesem Abend arbeitete Ben nicht mehr. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er verstand, doch dann musste er es sich selbst bekräftigen: Er hatte den Befehl erhalten, sich selbst zu überprüfen.
Dieser Fall war so unerwartet und ungewöhnlich, dass Ben einige Zeit hindurch nicht imstande war, etwas zu tun. Eine Überprüfung – das musste noch nicht unbedingt etwas Negatives bedeuten; oft genug wurden Personen durch den Zufallsgenerator ausgewählt und durch die Mühlen der Kontrolle gedreht. In solchen Fällen hatte sich allerdings noch nie eine Abweichung ergeben. In der Mehrzahl der Fälle aber bestand begründeter Verdacht; und meist war dann, wie die Berechnungen erwiesen, auch eine Rückstufung unvermeidlich. Als er daran dachte, lief es ihm kalt über den Rücken. Er war sich darüber im Klaren, dass es ausnahmslos jeden treffen konnte. Jeder konnte Verdacht erregen, und meist gab es auch Gründe dafür. Freilich war es für die meisten schwer, diese Gründe festzustellen – wenn sich ihnen diese Gelegenheit überhaupt bot. Einige falsche Antworten bei den Befragungen, eine ungünstige Auswahl des Lesestoffs oder der Spielpartner, Verdachtsmomente durch ungewöhnliche Reaktionen beim Psychotraining und so fort … aber all das konnte bei ihm kaum zutreffen, denn er wusste genau, bei welchen Gelegenheiten man Gefahr lief, sich eine Blöße zu geben. Für jeden Kriminalfilm, den er sich ansah, tippte er zwei oder drei historische oder soziale Sendungen ein – selbst wenn er die Stunden dann in den letzten Reihen dösend verbrachte. Und jeden Kontakt mit dem leichtsinnigen Rex Oman, seinem Freund, kompensierte er durch Unterhaltungen mit seinem Psychotrainer oder mit einem der Gruppenersten. Ben konnte sich nicht vorstellen, wodurch er Verdacht erregt haben könnte.
Dazu kam aber der unglaubliche Fall, dass er seine Überprüfung selbst vornehmen sollte. Könnte es sich dabei um einen besonders raffinierten, ja geradezu witzigen Trick der Kontrolleure handeln? Aber diesen Gedanken verwarf er bald; denn wenn eines feststand, war es die Tatsache, dass die Kontrolleure bei ihrer Arbeit nicht das geringste Anzeichen von Witz erkennen ließen. Sie gingen absolut kein Risiko ein. Dann blieb nur noch eine Möglichkeit, die aber ebenso unwahrscheinlich war, nämlich ein Irrtum der Maschine …
Aber auch bei diesem Gedanken stockte er. Die Maschine irrte sich nie, und wenn nun der sicher überaus seltene Zufall eintrat, dass ein Rechercheur seinen eigenen Fall zur Bearbeitung übertragen bekam, so konnte das einfach daran liegen, dass man vergessen hatte, diese Möglichkeit auszuschließen. Immerhin – das müsste sich überprüfen lassen. Er hatte Zugang zu den Programmen, und was gab es Einfacheres, als sich über diesen Punkt zu informieren … Schon wollte er zur Tastatur seines Fernschreibers greifen, als ihm einfiel, dass das, was er eben zu tun beabsichtigte, nicht zur üblichen Routine seiner Arbeit gehörte. Obwohl es keine Anweisung gab, die es ihm untersagt hätte, so gab es auch keine, die es ihm nahelegte … was er tun wollte, war nicht vorgeschrieben – und aus diesem Grund zumindest bedenklich. Und in diesem Moment wurde ihm mit erschreckender Deutlichkeit klar, dass er aus seiner Situation nicht herausfinden würde, ohne seinen Status als loyales Mitglied der Freien Gesellschaft zu gefährden.
Ben hatte das interaktive System ausgeschaltet – zwei Minuten zu früh. Er war einfach nicht fähig, an diesem Tag noch weiterzuarbeiten. Die Unterbrechung kam ihm gelegen – er wollte mit seinen Gedanken ins Reine kommen.
Bevor er das Haus verließ, ging er in den Waschraum. Er ließ sich einen Viertelliter Trinkwasser in den Papierbecher gießen und schluckte zwei Tabletten: eine zur Beruhigung und eine zur Ermunterung.
Am liebsten hätte er den Heimweg heute allein angetreten, doch als er am Ende des langen Korridors um die Ecke bog, trat ihm Olf entgegen, legte die Hand auf seinen Arm und dirigierte ihn zum Ausgang.
»Du bist ein Glückspilz«, sagte er. »Ein solcher Fall sollte mir auch einmal unterkommen! Ich bin sicher, dass du mindestens zwanzig Punkte Prämie bekommst –«
Durch die Schleusentür kamen sie ins Freie, sie mussten ihre Atemfilter umbinden, wodurch Olfs Redefluss ein wenig gedämpft wurde. Wie schon in den letzten Tagen hatte sich gegen Abend der Smog gesenkt, und nun hatten sie Mühe, die paar Schritte durch die Schwaden hindurch bis zur Haltestelle der Schwebezüge zu finden.
Ben machte einen Versuch, dem hartnäckigen Gesprächspartner zu entgehen. »Wir sind heute ein wenig später dran – vielleicht finde ich eine freie Gondel.«
»Unsinn!«, meinte Olf. »Da musst du mindestens eine halbe Stunde warten. Komm, wir steigen ein – hier sind noch Plätze frei.«
Sie setzten sich, und Olf band seinen Atemfilter ab. Die Luft war auch hier nicht gerade gut, aber man konnte sie ohne Schleimhautreizung atmen.
»Ich bereite mich schon auf meinen Urlaub vor«, berichtete Olf. Es war anzunehmen gewesen, dass er bald wieder auf seine eigenen Angelegenheiten zurückkommen würde. »Ich habe mich diesmal für einen Skikurs entschieden. Sie haben das alte Kohlerevier im Norden zum Wintererholungspark gemacht. Eisbahnen, künstlicher Schnee und so fort. Viel angenehmer als bei echter Kälte. Meinst du, dass ich Abfahrt machen soll? Oder könnte man mir das als Aggressivität anrechnen?«
Ben zuckte die Schultern. Er hatte Olf nicht zugehört. Wie sollte er sich verhalten? Natürlich war es möglich, sein Dilemma mit dem Psychiater zu besprechen; aber das wäre das Letzte, was er tun würde. Er konnte Bengt Haman nicht ausstehen – was er sich natürlich nicht anmerken ließ.
»Wenn ich mich zusätzlich in eine Gruppe für meditativen Gesang einschreiben lasse, hätte ich sogar noch einige Bewertungspunkte gut – was meinst du? Ich bin nur noch nicht sicher, ob ich Übernachtung in einem Ferienheim beantragen oder lieber zu Hause schlafen soll. Ich glaube, ich werde mich für das Ferienheim entscheiden. Das kostet mich freilich einige Formalitäten, aber ich habe ja Zeit.«
Zwar war es Vorschrift, alle persönlichen Schwierigkeiten mit dem psychologischen Personal durchzusprechen, aber in Bens Fall handelte es sich ja zunächst um ein berufliches Problem. Die zuständige Stelle war der Abteilungsleiter Oswaldo Efman, und ihm hätte sich Ben ohne Weiteres anvertraut – wenn er sich darüber schlüssig gewesen wäre, ob das Problem für eine offizielle Anfrage ernst genug war. Vielleicht handelte es sich gar nicht um einen Irrtum oder einen unberücksichtigten Sonderfall – warum sollte es auch nötig sein, für Überprüfungen der eigenen Person besondere Ausnahmen vorzusehen. Ob es nun er war oder ein anderer– er konnte ja sowieso nichts tun als seiner Routine nachgehen, Punkt für Punkt durchnehmen, die Qualifikationen auflisten und bewerten, die Testergebnisse entschlüsseln und so fort.
»Ich glaube, dass mir der Wintersport recht gut liegt«, sagte Olf. Er sprach weiter, ohne darauf zu achten, dass ihm Ben kaum zuhörte. »Hast du schon gesehen, wie ich von der Drehscheibe auf das Schnellaufband springe? Ich habe nicht die geringsten Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht. So ähnlich stelle ich mir das Skifahren vor. Man bekommt doch bei sportlichen Erfolgen auch Punkte – oder nicht?«
Ben schreckte aus seinen Grübeleien auf. »Gewiss, aber ich glaube, das gilt nur für Berufssportler – nicht für Amateure.«
»Schade!« Olf bemühte sich, einen Blick nach draußen durch die Fensterscheiben zu werfen; sie waren – obwohl sie täglich gereinigt wurden – von einer dicken Schmutzschicht überzogen. »Hier muss ich raus! Machs gut!«
Er drängte sich durch die Menge, Ben hatte noch zwei Stationen zu fahren. Der Zug erhob sich ein wenig schwingend, die Beschleunigung drückte die Fahrgäste, die Sitzplätze gefunden hatten, in die Schaumgummikissen. Ben war unruhig, unauffällig griff er sich an den Hals, suchte mit der Fingerkuppe die Schlagader, um seinen Pulsschlag zu überprüfen. Fast hundert! Er holte eine weitere Beruhigungstablette aus seinem Schächtelchen und schluckte sie ohne Wasser hinunter. Hoffentlich wirkte sie! Mehr als drei Tabletten so kurz hintereinander – wie alle anderen hatte er das schon einmal mitgemacht: Man glaubte, nie mehr in den normalen Zustand zurückzukehren – so stark war das Gefühl der Übelkeit. Nun gut, diese eine ließ sich noch verantworten.
Als er aus der Wärme des Wageninneren in den kühlen Nebel hinaussprang, fühlte er einen Stich in seiner Schulter. Er würde sie wieder einmal bestrahlen lassen müssen. Mit eingezogenem Kopf ging er weiter, durch den Atemfilter mühsam Luft holend. Am liebsten hätte er heute auf das Abendessen verzichtet, aber die nicht abgegebenen Essenmarken hätten in der Abrechnung gefehlt und wären in seinem individuellen Protokoll vermerkt worden. Er stellte sich in die langen Reihen im Korridor vor der Kantine und war froh, dass vor und hinter ihm kein Bekannter stand. Er achtete nicht darauf, was ihm der Automat auf den Pappteller schob und hätte fast vergessen, Aufmerksamkeit zu heucheln, als nach dem Essen die News durchgegeben wurden. Auf dem großen Bildschirm auf der Stirnseite des Saals erschien der Sprecher und stellte einige verdiente Mitarbeiter vor – einen Biotechniker, der eine besonders große Algenausbeute zu verzeichnen hatte, und einen Beamten des Wasserwerks, der auf zehntausend erfolgreiche Chlorierungen zurücksehen konnte. Es folgten die »Berichte aus der Arbeitswelt« – Szenen aus einer Kugellagerfabrik und aus einer Werkstatt, in der Nylonborsten für Reinigungsanlagen erzeugt wurden. Mit dem gewohnten spontanen Beifall wurden die jüngsten Zahlen aus der Kommune quittiert – eine neue Strecke der U-Bahn freigegeben, eine Tagung über Probleme der Ergonomie erfolgreich beendet. Dazwischen kamen die kurzen Zeichentrickfilme, die in spaßiger Art auf oft begangene Fehler hinwiesen: ungenügende Reinigung des Arbeitsgeräts, Stromverbrauch und Nutzwasserverschwendung. Schließlich wurde auf Abgabetermine für die Formulare aus verschiedenen sozialen Aktionen aufmerksam gemacht, und nach dem Wetterbericht, der die Zeiten des für morgen vorgesehenen Regens angab, durften sie aufstehen und den Saal verlassen.
Ben verzichtete für diesmal auf die Lesestunde, für die er eine Sondererlaubnis hatte. Er setzte sich nur noch für einige Minuten in das Raummusiktheater, ließ die schwebenden und schwellenden Klänge auf sich wirken – und stellte doch nur fest, dass sie ihn nicht von seinen Grübeleien ablenken konnten.
Dann machte er sich zum Schlafengehen bereit, ein wenig früher als die anderen, die die Freizeit am Abend stets bis zur letzten Minute auskosteten. Der Schlafsaal war nahezu leer, die meisten Kojen unbesetzt. Ben hatte eine in der vierten Reihe – über eine kleine Leiter stieg er hinauf. Es waren vier Quadratmeter, und sie gehörten ihm allein. Zwei Schränke, ein Lautsprecher – der Anschluss zum öffentlichen Rundfunkprogramm –, sein Bett. Aus dem Punkteüberschuss der letzten Monate hatte er sich eine bunte Decke und einen Kissenüberzug gekauft; so unterschied sich seine Schlafstätte wohltuend von dem einheitlichen Grau der anderen. Und an die Schrankwände hatte er die Etiketten der letzten Sammelaktion geklebt. Er hätte sie gegen Schokominzwürfel umtauschen können, doch sie waren so hübsch, dass er sie lieber für sich behielt.
Sonst, wenn er den Vorhang zuzog und sich damit vor der öffentlichen Welt verschloss, hatte er immer ein Gefühl der Zufriedenheit verspürt – eine Art Harmonie zwischen sich und der Gesellschaft, die in einer dialektischen Wechselwirkung zueinander stehen, und doch, auf einer höheren Ebene, eins sind. Doch dieses Gefühl versagte sich ihm heute, und so blieb ihm als letzte Hoffnung nur noch Blondy, seine Schlafpuppe. Er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, sie gegen den anderen Typ, die etwas kleinere und schwarze Blacky, umzutauschen, hatte sich doch letztlich nie dazu entschließen können. Nun war er froh, dass er sie behalten hatte. Er legte sie neben sich ins Bett, drückte sich an sie und kostete das Gefühl der Wärme aus, das sie ihm stets übermittelte. Er ließ seine Finger durch ihr blondes Kunsthaar streichen und schmiegte seine Wange an die ihre. Endlich merkte er, dass die ihn beunruhigenden Gedanken von ihm abließen und dass es doch noch Momente im Leben gab – Belohnung für die im Dienste der Gemeinschaft geleistete Arbeit –, die ihm niemand wegnehmen konnte. Sogar die Schmerzen in seiner Schulter verschwanden, und er überließ sich den zärtlichen Bemühungen der Puppe – durch ein Feedbacksystem kontrolliert und gesteuert.
Seiner biologisch bedingten physischen und psychischen Struktur gemäß ist der Mensch auf Tätigkeit angelegt. Im archaischen Zeitalter diente seine Aktivität der Erhaltung des Überlebens. Da es keinerlei Instanzen gab, die für die Durchführung eventuell unterlassener notwendiger Maßnahmen verantwortlich waren, stand die gesamte Existenz des Menschen unter einem ständigen Zwang, der sich mit den Grundsätzen unseres modernen Staats nicht in Einklang bringen lässt. Aus diesem Grund hat der Staat die Versorgung und Betreuung der Bürger übernommen – eine Voraussetzung für Freiheit und Glück.
Maßnahmen dieser Art verlangen auch eine Änderung der menschlichen Funktionen und Einstellungen. Die Teams der anthropologischen Planungsabteilungen sind dabei, die Eingriffe vorzubereiten, die den Menschen auch biologisch von dem Zwang ununterbrochener Aktivität und Wachheit befreien. Bevor dieses Problem nicht gelöst ist, muss unsere Situation als Übergangsstadium gewertet werden. Obwohl es, insbesondere mit medikamentösen Mitteln, durchaus möglich ist, den Aktivitätspegel herabzusetzen, bleibt doch die Notwendigkeit bestehen, einen vorderhand nicht reduzierbaren Rest an Aktionspotenzial zu berücksichtigen. Aus diesem Grund sind die Angehörigen der Klassen C bis H bedingt und jene der Klassen I bis T ausschließlich mit pseudoberuflicher Tätigkeit zu beschäftigen. Dabei handelt es sich um eine Art der Berufsausübung, die äußerlich den im archaischen Zeitalter üblichen Berufsständen entspricht, der jedoch die produktive Komponente fehlt. Unvermeidbare Arbeitsleistungen sind durch Dispersionsprozesse zu kompensieren. Angehörige der nicht angepassten Klassen U bis X können vorderhand zu Dienstleistungen in Form von körperlicher Arbeit herangezogen werden, durch die ihr energetisches Potenzial ausgeglichen wird. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Tätigkeiten, zu deren Automatisierung ein höherer Aufwand an Robotsystemen nötig wäre.
Es entspricht somit der Planungsstrategie, dass ein gewisser Teil der lebenserhaltenden Maßnahmen – insbesondere für Versorgung und Dienstleistung – vorderhand von der Automatisierung und Computerisierung ausgenommen wird. Die Vorbereitungen für eine Umstellung auf Vollautomatisierung sind jedoch praktisch beendet; diese kann jederzeit kurzfristig erfolgen, sobald das biologisch-anthropologische Problem gelöst ist.
Als Ben am nächsten Tag seinen Arbeitsraum betrat und sich ans Pult setzte, war ihm, als hätte sich hier etwas verändert … doch es gelang ihm nicht herauszufinden, was es war. Die Konsolen waren blank geputzt wie immer, der antistatische Leuchtschirm glänzte, die Magnetbänder im Eingabesystem waren straff gespannt, das grüne Kontrolllicht brannte, die Anzeige des Adressenwählers stand auf null. Die grauen Gevierte der Kästen, unter denen sich die elektronischen Eingeweide verbargen, waren perfekt ausgerichtet in den Raum geschrieben, die Kanten ordneten sich einem rechtwinkligen Koordinatensystem ohne die geringste Abweichung ein. Das war sein Arbeitsraum, so wie er es seit Monaten und Jahren gewesen war – und doch kam er Ben heute anders vor. Aber er war es selbst, der sich verändert hatte; es war seine Beziehung zu den Geräten, zu seiner Aufgabe, zu deren Sinn … die alte absolute Trennung zwischen Subjekt und Objekt war plötzlich aufgehoben. Er war nicht mehr unbeteiligt, denn es ging um ihn selbst.
Er hatte sich vorgenommen, seine Arbeit durchzuführen, wie stets bisher. Es gab keine Vorschrift, die ihn zu etwas anderem hätte veranlassen können. Und er sah auch keinen Grund, von der Routine abzugehen. Sollte sich in seinem Verhalten die geringste Abweichung von der Norm zeigen, so würde er das feststellen, genau so gut, wie es ein anderer festgestellt hätte. Doch schon, als er das Programm aktivierte und die ersten Daten aufrief, stellte er fest, dass sein Herz wieder klopfte, dass sein Atem schneller ging, dass er gespannt auf den Schirm starrte … Er griff zur Pillenschachtel und ließ zwei der weißen Scheibchen in seinen Mund gleiten. Beruhigung und Konzentration – mithilfe der Chemie und der Pharmazie würde er seine Aufgabe erfüllen. Und er wollte sie erfüllen.
Er rief die erste Qualifikation auf – Routineüberprüfung. Daten aus dem genetischen Programm, aus den Erziehungsprotokollen, aus den Psycholehrgängen – Resultate der Prüfungen, Ja-Nein-Antworten auf gestellte Fragen, Kreuze in viereckige Felder, gestanzte Löcher oder nicht markierte Besetzungsstellen … In diesen Symbolen lag sein Ich verschlüsselt, das war er mit seiner physischen und psychischen Existenz, mit seinen Verhaltensweisen und Routinen, mit seinem Antriebsmuster und seinen Motivationen, mit seinen Vorzügen und Schwächen … Wieder schreckte er aus seinen Gedanken auf, gab die Daten in den Speicher, ließ sie summieren und integrieren, subtrahieren und differenzieren, ordnen und vergleichen, wieder ausschreiben und bewerten.
Was sich dabei ergab, war Durchschnitt – in keiner Weise bemerkenswert. Das war nicht gerade erfreulich, denn insgeheim hielt sich Ben wie so viele andere doch für etwas Besonderes, eher ein Individuum als repräsentativer Querschnitt der normierten Gesellschaft. Andererseits war das Ergebnis beruhigend. Vielleicht hatten auch die Tabletten ihre Wirkung getan, aber diese Zahlen sprachen für sich: Hier gab es nichts daran zu rütteln – sie entsprachen durchaus seiner Einordnung in die R-Klasse und deuteten nicht im Geringsten auf eine Veränderung und schon gar nicht auf eine Abklassifizierung hin.
Als zweites ging Ben die medizinischen Daten durch. Hier war alles vermerkt: seine Klongruppe, seine Geburtsdaten, sein Wachstumskoeffizient, seine Impfungen und Immunisierungen, die Fluorierung seiner Knochen und Zähne, die Pigmentierung seiner Haut. Seine Kinderkrankheiten waren ebenso aufgezeichnet wie alle kleineren Unfälle im Heim und auf der Straße – vom abgerissenen Fingernagel bis zum aufgeschlagenen Knie. Die Medikamente, die man ihm verabreicht hatte, waren ebenso angeführt wie die Mengen von Watte und Heftpflaster, die ihm zugeteilt worden waren. Nach Beendigung der Aufbauphase, mit zweiundzwanzig Jahren –, und das bedeutete gleichzeitig das Ende der Konditionierung – traten kaum noch Krankheiten auf. Er war gesund, und wieder erinnerte er sich daran, dass die Genugtuung darüber nicht die war, die man einem Fremden gegenüber aufbringt. Daran war nichts zu ändern: Er war es selbst, den er untersuchte, und was dabei herauskam, war ihm prinzipiell nicht gleichgültig.
Auch die medizinische Qualifikation hatte zu keinem ungewöhnlichen Ergebnis geführt. Es steckte kein heimliches Leiden in ihm, das sich im Laufe der obligatorischen Gesundheitsuntersuchungen angedeutet und ihn aus den Reihen der Normalen ausgestoßen hätte. Alles war in Ordnung, alles entsprach seiner Klassifikation: Stufe R. Er lehnte sich im Stuhl zurück und atmete auf – vielleicht war doch alles nur ein böser Traum. Aber gerade in diesem Moment, ohne dass er einen Anlass erkannte, fiel ihm etwas Bestürzendes auf und ließ es siedend heiß in ihm aufsteigen: In diesem Protokoll stand nämlich nichts von seiner schmerzenden Schulter. Bisher hatte er kaum Gedanken darauf verschwendet – er erinnerte sich, dass vor Jahren einmal von einem Unfall die Rede gewesen war, und einmal hatte er in einem Spiegel eine schwache Narbe bemerkt, die vom Halsansatz nach hinten lief. Nur relativ selten spürte er Schmerzen, und er hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass er sie kaum noch beachtete. Nun erst gewann dieses kleine Gebrechen an Bedeutung – als er nämlich feststellte, dass es in seinem medizinischen Protokoll fehlte.
Wieder begann er, zu grübeln. Was war zu tun? Er zwang sich zur Ruhe, suchte die Situation logisch zu bewältigen und kam zum Schluss, dass er offiziell keinen Anlass hatte, der Sache weiter nachzugehen. Denn normalerweise hätte er von dieser Unstimmigkeit nichts erfahren. Für ihn als Rechercheur existierte die Narbe nicht. Für ihn als Person freilich war sie vorhanden, und wenn er sich darum kümmerte, dann war das seine private Angelegenheit.
Es waren leise Geräusche, Schritte und Gesprächsfetzen, die Ben aus seinen Grübeleien rissen. Auch eine Frauenstimme war vernehmbar – es konnte sich also nur um Oswaldo Efman handeln und um dessen Sekretärin Gunda. Gunda Iman war die einzige Frau in der Abteilung, und das unterstrich die Sonderstellung von Oswaldo, der der F-Kategorie angehörte. Für viele war es nicht recht verständlich, warum Oswaldo gerade eine Frau zur persönlichen Unterstützung brauchte, und immer wieder gab es Gerüchte, dass sie Schande miteinander trieben. Ben hatte solche Andeutungen stets mit Nachdruck zurückgewiesen; es erschien ihm unmöglich, dass Oswaldo zu einem solch abstoßenden Verbrechen fähig wäre. Damit war freilich die Frage noch nicht beantwortet, warum er eine Frau in seiner Nähe duldete – wobei sich gewisse Peinlichkeiten nie vermeiden ließen – und damit der perversen Fantasie des Personals Nahrung bot. Doch Angehörige der Kategorie F verhielten sich in mancher Weise ungewöhnlich, und es hatte wenig Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Oswaldo wäre der einzige Mensch gewesen, den Ben gern um Rat gefragt hätte, doch hatte er sich bisher nicht dazu entschließen können. Wer konnte Oswaldos Reaktion vorhersagen? Vielleicht hätte er ihm einen väterlichen Rat geben können, durch ein beruhigendes Wort all die Unruhe beschwichtigen, der sich Ben ausgesetzt fühlte. Doch genau so gut war es denkbar, dass sich Oswaldo empört von ihm abwandte, und das hätte seine Situation unerträglich gemacht.
Ben stellte das interaktive System auf ›Pause‹. Rasch schluckte er eine Tablette zur Hebung des Selbstbewusstseins und trat hinaus auf den Korridor. Nur wenige Meter von ihm entfernt, vor dem Eingang zur Nische seines Nachbarn, standen Oswaldo, Olf und Gunda. Als sie Ben sahen, unterbrach Oswaldo das Gespräch und kam auf ihn zu. Er schüttelte ihm die Hand. »Ich hatte noch nicht Gelegenheit, dir zu gratulieren! Herzlichen Glückwunsch! Deine Ableitungen sind fehlerlos – ich bekam vorhin den Bericht.«
»Ich habe nur meine Pflicht getan …«, murmelte Ben. »Es war ein Zufall, dass ich …«
Oswaldo hob abwehrend die Hand. »Nein, nein! Es ist schon oft vorgekommen, dass Kollegen solche Fälle an die Zentrale zurückgewiesen haben. Und sie haben richtig gehandelt – es ist nicht jedermanns Sache, eine solche Verantwortung auf sich zu nehmen.« Bisher waren sie bei den anderen stehen geblieben, doch nun wandte sich Oswaldo zu Bens Arbeitsnische. Gerade das war es, was dieser gern vermieden hätte: Oswaldo hatte sich immer für seine Arbeit interessiert, und so war es nicht ausgeschlossen, dass er sich auch diesmal einige Zwischendaten des neuen Falls einspielen ließ.
»Ich hatte übrigens vor«, fuhr Oswaldo fort, »dich für einen Lehrgang über Psychoprogrammierung vorzuschlagen. Wenn du ihn bestehst, und daran zweifle ich nicht, können wir dir eine höher qualifizierte Aufgabe übertragen. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass damit auch eine Anhebung in die 0-Kategorie verbunden ist.«
Inzwischen waren sie an Bens Arbeitsplatz angekommen, und Oswaldo setzte sich wie selbstverständlich in dessen Stuhl und ließ seine Blicke über die Notizblätter schweifen, die auf der Arbeitsplatte ausgebreitet waren. »Woran arbeitest du jetzt? Wieder ein interessanter Fall?«
Jetzt muss ich es ihm mitteilen, jetzt ist der richtige Augenblick dafür, sagte sich Ben. Er ist dir wohlgesonnen, er hat Verständnis für dich, er wird dir helfen … Stattdessen hörte er sich selbst sagen: »Nichts Besonderes, Oswaldo. Keine Probleme …«
Oswaldo hob die Pauseneinstellung auf und drückte auf einige Tasten. Ben spürte ein leises Zittern, das seinen Körper zu erfassen versuchte, aber er atmete einige Male tief durch, und es gelang ihm, sich zu beherrschen.
Über die Bildfläche flimmerten Symbole, wie hingeworfen bauten sich die Zeilen auf. Mit einem entspannenden Ausatmen konstatierte Ben, dass der Text völlig neutral war. Es handelte sich um die integralen Werte der ersten Qualifikation, und daran war nun beim besten Willen nichts Auffälliges zu bemerken. Vor allem aber erschien oben lediglich die Codezahl des Falls, nicht aber seine eigene Kennziffer.
Oswaldo ließ sich auch das Ergebnis des zweiten Qualifikationskomplexes einspielen und wandte sich dann uninteressiert ab. »Wirklich ein Routinefall. Eigentlich zu einfach für dich. Ich will dafür sorgen, dass du dich in Zukunft mit interessanteren Problemen zu beschäftigen hast!«
Hatte Oswaldo bei diesen Worten gezwinkert? War eine Nuance von Ironie in seinen Worten zu spüren? Nein – das bildete sich Ben nur ein. Es war das schlechte Gewissen, das mit ihm spielte – die Schuld, in die er sich allmählich zu verstricken begann: durch seinen Mangel an Vertrauen, durch seine Unentschlossenheit.
Fast hätte er nun Oswaldo alles gestanden, aber in diesem Moment stand dieser auf, und außerdem war Gunda hinzugetreten.
»Ach ja, fast hätte ich es vergessen. Hast du die Mappe hier?«, wandte er sich an die Frau.
Sie reichte ihm einen Umschlag, und Oswaldo zog eine Magnetkarte heraus. »Im Namen der zentralen Verwaltung überreiche ich dir einen Punktebonus – vierundsechzig Punkte: Verwende sie gut!«
Hatte er wieder gezwinkert?