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»Ich habe dafür gesorgt, dass Sie sich wohlfühlen. Wir verfügen heute über chemische Mittel, mit denen wir alle Gefühlseindrücke, gleichgültig ob körperliche oder emotionelle, fast beliebig steuern können. Sie haben also nichts zu befürchten, keine Angst und keinen Schmerz. Und ich verspreche Ihnen nochmals – Sie werden wieder ein vollgültiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft sein.« Die Handlung des Romans läuft auf zwei parallelen, zeitlich verschobenen Erzählebenen ab. In der einen bemüht sich der Soldat Abel, die lähmenden Drogen abzuschütteln, die ihm und seinen Kameraden den Willen rauben und sie in einer von einem Major beherrschten stumpfsinnigen Kasernenwelt militärischen Drills festhalten. In der anderen reisen die letzten Überlebenden eines Atomkriegs in einem Raumschiff durch den Weltraum, auf der Suche nach einer bewohnbaren Welt, angeführt von einem Arzt, der Zucht und Ordnung hochhält und ein stabiles, überlebensfähiges System errichten will, der vorgibt, sein System der Persönlichkeitsunterdrückung diene der Abschreckung eines nicht vorhandenen Feindes. Zu den Opfern seines Ordnungswahns zählt ein gewisser Phil Abelsen. Wieder schildert Franke einen Versuch der Befreiung aus erniedrigenden und entmenschlichenden Zusammenhängen. Hoffnung ist das Leitmotiv des Romans.
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Seitenzahl: 269
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Herbert W. Franke
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 4
hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch
Herbert W. Franke
DIE GLASFALLE
Science-Fiction-Roman
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 4
hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
www.art-meets-science.io
Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de
Die Originalausgabe ist 1962 im Wilhelm Goldmann Verlag erschienen.
Titelbild: Thomas Franke
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
E-Book-Erstellung: global:epropaganda
Verlag
art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
c/o mce mediacomeurope GmbH
Bavariafilmplatz 3
82031 Grünwald
ISBN 978 3 911629 03 4
Einem gegenüber war alles andere bedeutungslos, und dieses eine stand unabänderlich fest: Der Major musste sterben.
Das Kasernengelände war vollkommen eben und genau quadratisch. Vier Gebäudefronten umgrenzten es. Nur wenige der Gebäude, wie die Maschinenhäuser und die Magazine, besaßen Fenster, alle anderen wiesen mit leeren Mauern nach innen, und auch ihr Zweck war nicht bekannt.
Inmitten der Mauern lagen die Exerzierplätze, die Hindernisbahnen, die Wege, die Steinflächen und einzelne kreuz und quer gebaute Baracken. Die Gebäude waren grau, die Erde war gelb. Gelb waren auch die Uniformen, gelb war die Haut der Männer, und gelb war der Himmel, ein Himmel voll Dunst, der schwer und tief über dem Gelände hing. Die Kaserne war eine Welt für sich, eine Welt in Gelb und Grau.
Das Bataillon war auf dem großen Exerzierplatz angetreten. Es war sechs Uhr dreißig – die Zeit des Tagesaufrufs. Wie ein Block stand die Belegschaft vor dem Major. Hinten in Zehnerreihen die tausend Soldaten; davor, in drei Schritt Abstand, die hundert Korporale und davor, wieder in drei Schritt Abstand, die zehn Sergeanten. Der Major stand weit von allen entfernt, einsam und groß, hoch aufgerichtet ihnen zugewandt. Seine Worte, durch Kehlkopfmikrofon und Handlautsprecher verstärkt, dröhnten über den Platz. Er sprach von der Ehre des Soldaten, von der Pflicht, vom Gehorsam, von der Achtung vor dem Vorgesetzten. Er sprach jeden Tag solche Worte, und die Belegschaft nahm sie dankbar auf. Sie schöpfte aus ihnen Glauben, Freude, Begeisterung. Kraft für den schweren Dienst. Tapferkeit für die Waffenübungen, die Mutproben.
»… der Soldat besitzt nichts Wertvolleres als seine Ehre. Unablässig ist er bereit, sie zu verteidigen, um sie zu kämpfen. Unablässig bereitet er sich darauf vor, allem zu begegnen, was sie zu verletzen droht …«
Nach dem Appell würden sie wegtreten, um ihre Aufgabe zu erfüllen: zu den Schießübungen, zum Unterricht, zum Sport, zum Exerzieren, und immer noch, den ganzen Tag über, würden diese Worte in ihnen nachklingen. Der Dienst war schwer, am Abend fielen sie ausgepumpt und leer in ihre Betten, aber selbst noch im Einschlummern machte sie die Erinnerung an diese Worte glücklich.
»… der Gehorsam ist das Fundament der soldatischen Erziehung. Jeder ist ein Glied in einer großen Kette, die durch den Gehorsam zusammengeschweißt wird. Unverzüglich und unbeirrt gehorcht der Soldat seinen Vorgesetzten …«
Eintausendeinhundertzehn Männer standen bewegungslos unter dem gelben Himmel, der tief und schwer herunterhing, während der Major sprach. Eintausendeinhundertneun von ihnen brannten darauf, ihre Dienstbereitschaft zu beweisen, sich zu bewähren. Einer von ihnen dachte darüber nach, wie er den Major töten könnte.
Abel war der sechsundfünfzigste in der siebenten Reihe. Während er wie die anderen mit unbeweglichem Gesicht der Parole des Majors zu lauschen schien, arbeitete er im Stillen an einem komplizierten Plan. Er hatte undenklich lange Zeit in der Kaserne gelebt, ohne dass sein Gehirn etwas anderes zu verarbeiten gehabt hatte als die Texte der Kampflieder, die Vorschriften zur Waffenreinigung, die Grundregeln des Soldatentums, die sie in den Unterrichtsstunden lernten. Jetzt war ihm, als ob sein Denken plötzlich von den eingefahrenen Geleisen abwiche, weiter und weiter, und sich in unbekannten bodenlosen Räumen verlor. Etwas bisher Eingeschlossenes war plötzlich ausgebrochen, ohne dass er es kontrollieren konnte. Es kreiste unablässig nur um eines – um den Tod des Majors. Sein Sterben war durchplant wie eine entscheidende, auf das unabwendbare Matt gerichtete Folge von Schachzügen, durchgerechnet wie ein System Gleichungen mit mehreren Unbekannten, aus dem sich stets dieselbe Lösung ergibt, auf welche Weise man die Rechnung auch beginnt.
Die Spannung in Abel ließ ein wenig nach. Er bemerkte, dass der Major seine Rede beendet hatte. Fast eine Minute lang war es still. Dann kam der abschließende Befehl: »Zum Tablettenfassen abtreten lassen!«
Jeden Tag und auch heute sprangen die zehn Sergeanten wie etwas Einheitliches, Zusammengewachsenes vor, machten kehrt und gaben das Kommando weiter. Die Salven ihrer herausgestoßenen Worte schossen über die Mannschaft hinweg. Die Starre zerschmolz in einem jähen Zusammenknicken; dann kam ein Moment des Chaos, des sinnlosen Aneinanderstoßens, des Drängens und Schiebens, und dann folgte das Gewirr aus pflichtbewusster Zielstrebigkeit und automatenhaftem Laufschritt, in dem, mit leicht gegrätschten Beinen und zusammengekniffenen Augen, der Major wie vergessen übrig blieb.
Zum ersten Mal nach der schlaflosen Nacht und der ersten Dienststunde liefen Abels Gedanken etwas geruhsamer. Noch fühlte er keine Regung, nach Ursachen zu grübeln, nach Hintergründen zu forschen, aber zum ersten Mal wunderte er sich über seine Gleichgültigkeit dem gegenüber, was seiner Veränderung zugrunde lag – und solcherart hatte er sie immerhin schon zur Kenntnis genommen. Dagegen war er sich über den Anlass klar, wenn auch nur, weil dieser in seinem Plan eine gewisse Rolle spielte. Er war der Anknüpfungspunkt, von dem aus er Hilfe zu erlangen hoffte: jenes kleine, wahrscheinlich zufällige Ereignis am Vortag, bei der Tablettenausgabe.
Nun standen sie, genauso wie gestern, zugweise angetreten, vor den Schaltern an der Wand des Vorratsmagazins. Es würde etwas Ähnliches geschehen wie gestern zur selben Zeit, nur mit einem kleinen Unterschied: Es würde nicht nur ihn erfassen, sondern auch einen anderen.
Es gab zehn Öffnungen in der Wand, kreisrunde Löcher, aus denen kurze dachrinnenförmige, in schnabelartige Enden auslaufende Blechformen ragten. Ein Mann nach dem anderen stellte sich davor auf, legte die linke Hand mit dem um den kleinen Finger genieteten Kontrollring auf die Registraturplatte neben der Auswurfrinne, und nach einem trockenen Rasseln aus dem Inneren des Gebäudes kollerte das Plastiktütchen mit den Tabletten in die aufgehaltene Rechte.
Abel stand in der Reihe und wartete. Verstohlen musterte er seine beiden Nebenmänner. Arthur stand rechts von ihm, aus seinem Gesichtswinkel erblickte Abel nur das angezogene Kinn und die nahezu gerade Linie Stirn–Nasenrücken, die wie ein Dach über die Lippenpartie ragte. Kommt nicht infrage, dachte er. Er wandte sich nach links. Austin war einen Zentimeter kleiner als er, sein Gesicht um eine Nuance dunkler pigmentiert als die Haut der anderen. Das Auffälligste waren die schwarzen Augen mit den matt blinkenden Lichtern darin. Aber diese Augen blickten starr geradeaus ins Leere.
Abel entschied sich für Austin.
Als ihr Zug an der Reihe war und Abel das durchsichtige Plastiktütchen erhalten hatte, tat er fast dasselbe wie alle anderen. Er trat beiseite, riss es auf und ließ die Tabletten herausrollen. Nun lagen sie auf seinem Handteller, zwei große weiße, mit einer wachsartigen Substanz überzogen, die sie leicht in den Hals hinuntergleiten ließen, eine kleine braune, die süßlich schmeckte, und eine schwarze, kugelförmige von der Größe eines Schrotkorns. Abel steckte eine der großen in den Mund und schluckte; er fühlte sie in die Speiseröhre hinuntergleiten. Dann verschlang er die zweite und auch die kleine braune. Flüchtig fiel ihm auf, dass er keine Zähne hatte und dass auch seine Kameraden keine besaßen. Nur der Major hatte Zähne, die man bei seinen Kommandos schimmern sah. Aber das war jetzt unwichtig. Er blickte sich um … der Augenblick war günstig, alle um ihn herum waren mit den Pillen beschäftigt, auch der Korporal sah weg … Abel schloss die Hand um die schwarze Kugel und steckte sie unauffällig in die Seitentasche seiner Jacke … wieder blickte er sich um … gelungen!
Das Schwerste kam noch. Er beobachtete Austin, der eben vom Schalter wegtrat und sich seiner Tüte zuwandte. Unauffällig stellte sich Abel neben ihn. Die beiden großen Tabletten hatte Austin schon verschlungen; jetzt griff er nach der schwarzen; offenbar wollte er die süße Braune bis zuletzt aufheben, um ihren Geschmack länger auszukosten. Schnell drehte sich Abel um und stieß dabei mit dem Ellbogen nach Austins Hand. Die beiden Tabletten fielen zu Boden. Abel verfolgte den Weg der Schwarzen. Als sie zur Ruhe kam, setzte er seinen Fuß darauf. Er trat fest zu und drehte ihn ein wenig – so wie man ein lästiges Ungeziefer zermalmt.
Austin bückte sich nach der braunen Pille und hob sie auf. Dabei sah er erschrocken auf den schwarzen Fleck, der auf dem Stein zurückgeblieben war, und konnte die Augen nur schwer davon lösen. Mechanisch steckte er die braune Tablette in den Mund. Schließlich blickte er Abel an, noch immer mit dem Ausdruck hilfloser Bestürzung. Abel zuckte die Schultern und wandte sich ab. Austin hatte die Pflicht, diesen Vorfall zu melden – aber vorderhand keine Gelegenheit dazu. Er durfte nicht sprechen. Keiner der gewöhnlichen Soldaten durfte jetzt sprechen. Erst um ein Uhr zehn, beim Mittagsappell, ergab sich die Möglichkeit, doch Abel hoffte, dass sie unbenutzt bliebe.
Inzwischen konnte Abel anderen Details seines Planes nachgehen. Bisher war er wie alle fest in den Maschen des Dienstplanes verstrickt gewesen. Seine Pflicht hatte ihn voll und ganz in Anspruch genommen, und er hatte sich in dieser schützenden Hülle aus Vorschriften, Kommandos und Drill wohlgefühlt – sie hatte ihn vor allen anderwärtigen Einflüssen geschützt, störenden, verwirrenden und daher schädlichen Einflüssen. Nun fiel ihm auf, wie viele Lücken es darin gab. Ihm war, als könnte er erst jetzt sehen, hören, fühlen, als wäre alles davor ein Traum gewesen, der einen Teil seiner selbst betäubt gehalten hätte, einen wichtigen, vielleicht den wesentlichen Teil seiner selbst. Aber jetzt war er wach, er fühlte das, was von irgendwo auf ihn einstürmte: Gefühle, Wissen, Erinnerungen, alles blass, nicht greifbar: Er wusste, dass ihn dieses Fremde völlig durcheinanderbrachte – aber er gab sich ihm hin.
Die Kompanie, zu der er gehörte, marschierte über die Betonstraßen, zwischen den Baracken hindurch. Die Männer fühlten sich eins mit ihrer Kompanie. Sie stampften ihre Stiefel in den Boden und marschierten über Appellplätze, steinbedeckte Höfe, Sport- und Exerzierfelder. Sie sangen die Lieder, die sie in den Unterrichtsstunden, von elf bis zwölf und von siebzehn bis neunzehn Uhr, gelernt hatten. Sie sangen sie im Takt der pendelnden Arme, der stampfenden Füße. Sie sangen, so laut sie konnten: die Texte, die sie auswendig gelernt hatten, ohne ihren Sinn zu verstehen, Texte von Gehorsam, Treue, Pflichterfüllung. Von Soldatentum.
Die Kompanie marschierte über die grauen Betonstraßen, über die fahlgelben Flecke rohen, unbebauten Bodens, und Abel marschierte mitten darin. Er sang die Melodie mit den anderen, aber leise sang er einen neuen Text: Der – Major – muss – sterben. Der – Major – muss – sterben. Er blickte geradeaus, auf den Nacken seines Vordermannes, Arthurs 6/56, und er sah mehr als sonst: Das Blickfeld war weiter, seine Augenwinkel waren saubergewischt, unsichtbare und undurchsichtige Scheuklappen schienen gefallen, und sein Gehirn registrierte das Wippen der Kolonne, die Falten in den straffen Uniformen der Soldaten, die sie bei jedem Schritt in wechselnde, kreuz und quer weisende Richtungen spannten, die blassen pulsierenden Streifen, die zwischen den Reihen der Marschierenden sichtbar wurden, das fahle Licht des sonnenlosen Himmels, den der scharfe Rand seines Helms abschnitt.
Er war ein Teil dieses Körpers, der marschierte, sang, lief, auseinanderstob, sich zu Boden warf, sich wieder zusammenschloss, marschierte, lief … Er erlebte es von seinem neuen, nach außen versetzten Standpunkt aus, und es war wie ein interessanter Unterrichtsfilm. Die eigentliche Fortsetzung seines neuen belebten Daseins lief aber erst beim Waffenreinigen nach dem Übungsschießen wieder an.
Vor dem Waffenmagazin hatten sie die Pistolen bekommen, nun hielten sie sich in den Unterkünften auf und reinigten sie. Jede bestand aus zwölf Einzelteilen, die sie mit verbundenen Augen auseinandernehmen und wieder zusammensetzen konnten. Am Ende der halben Stunde, die zum Waffenreinigen bestimmt war, überzeugte sich der Korporal davon, dass die Pistolen einwandfrei gesäubert und mit Molybdändisulfidpaste eingelassen waren. Nach der Prüfung sammelte er sie ein.
Abel brauchte eine Pistole. Das war der schwierigste Teil seines Plans, aber er hatte eine Lösung gefunden. Auf Abels Kontrollring war die Nummer 7/56 eingraviert. Das heißt, er war der siebentgrößte Mann des sechsundfünfzigsten Zuges, und er stand an siebenter Stelle, wenn der Zug, und das war gleichbedeutend mit der Belegschaft eines Zimmers, in einer Reihe angetreten war. Wenn der Korporal bei seinem Appell rechts begann – und das tat er immer –, kam Abel als Siebenter dran. Nach ihm folgten noch drei Mann. Ihre Waffen konnte der Korporal in zwei Minuten prüfen. Das war zwar nicht zu wenig für Abels Zeiteinteilung; denn er benötigte zum Zerlegen und Wiederzusammensetzen der Pistole nur dreißig Sekunden, aber trotzdem musste er einen Kniff anwenden, um den Vorgesetzten abzulenken. Dazu schien ihm die Nummer 9/56, sein Kamerad Allan, ein stumpfsinniger Bursche, der aber recht geschickte Finger hatte, am geeignetsten.
Abel besaß keine Uhr, und auch in der Stube befand sich nichts dergleichen; das Aufstehen, das Heraustreten, Anlauf und Abschluss aller Arten des Dienstes wie auch das Zubettgehen wurden durch Klingelzeichen angezeigt; eine Zentraluhr löste diese durch Funk aus. An dieser Uhr hingen auch die winzigen Lautsprecher, die die Korporale in die Ohrhöhlung geschraubt ständig bei sich trugen, aber die dadurch vermittelten Signale und Befehle blieben für die Mannschaft unhörbar. Deshalb beeilte sich Abel mit seinen Manipulationen an der Pistole. Er wischte mit den Fingern über die Sohlen seiner Stiefel und schmierte den Staub sorgsam ins Innere des Laufes und des Magazins. Dann beobachtete er den Korporal, bis ihm ein leises Zusammenzucken von dessen Augenlidern auffiel – das Zeichen zum Abschließen des Waffendienstes war eingetroffen. Und schon kam der Schrei: »Achtung!«
Die meisten Kameraden hatten das Reinigen beendet und polierten nur noch die Außenseiten. Auf das Kommando »Achtung!« hatte sich jeder mit geschlossenen Füßen und angelegten Armen gerade aufgerichtet dem Korporal zuzuwenden. Eine Sekunde des Aufspringens und Aufstampfens – und alle standen still. Auch Abel.
»Zum Waffenprüfen angetreten!«
Aber die einzige winzige Sekunde hatte ihm genügt – er hatte seine Pistole mit jener Allans vertauscht, die hinter dessen Rücken auf der weißen Plastiktischplatte gelegen hatte. Hoffentlich hatte Allan auch diesmal wieder sauber gearbeitet!, dachte er.
Es war klar, dass der Korporal jedes Mal mindestens einen bestrafen musste. Es konnte jeden treffen – ob nun die Pistole sauber war oder nicht. Um so sicherer aber traf es den, der wirklich nachlässig gewesen war.
Der Korporal stand vor Abel. Er nahm die Waffe aus dessen Hand und drehte sie langsam. Abel hörte sein Atmen. Die Augen mit der grau und weiß gesprenkelten Iris blickten weit geöffnet auf die Waffe. Die Finger strichen darüber hinweg und drückten den Abzug. Der elektrische Zündfunke verursachte einen Knisterlaut. Der Korporal gab Abel die Waffe zurück. Abel holte lautlos Luft. Er musste weiterhin warten, bevor er wieder handeln konnte.
Es traf Allan so sicher wie das Schicksal.
»Was haben Sie sich dabei gedacht?«
Der Korporal fragte es mit gefährlich ruhiger Stimme. Allan starrte ihn hilflos an. Der Korporal rückte dicht an ihn heran. »Hören Sie nicht? Was Sie sich gedacht haben?«
Ein Griff zum Schalter des Kehlkopfmikrofons.
»Warum antworten Sie nicht, Sie Drecksack? Sie sind wohl schwerhörig!«
Jetzt donnerten die Worte im Raum.
»Vortreten!«
Allan sprang aus der Reihe und nahm Haltung an. Der Korporal hielt den Lautsprecher dicht an Allans Ohr.
»Hören Sie mich jetzt besser? Geben Sie jetzt Antwort?«
»Ich war ungehorsam und bitte um Bestrafung«, sagte Allan.
Allmählich kam der Korporal in Rage. Wieder hob er das Megafon.
»Ich habe Sie gefragt, ob Sie jetzt besser hören! Warum antworten Sie nicht, Sie Schwein?«
Alle Mann wussten, was das bedeutete. Es war nur eine Zeremonie: das Vorspiel für die Urteilsverkündung. Das Urteil stand natürlich fest.
»Eine Stunde Musikzimmer.«
Der Gemaßregelte trat zurück in die Reihe. Er war dazu verdammt, die Ruhestunde zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr im Schallraum des Gefängnisses zuzubringen, der auch für das Training der Ausdauer und Selbstbeherrschung verwendet wurde.
Die Klingel schrillte. Der Korporal brach die Überprüfung ab.
»Vor der Baracke angetreten, marsch, marsch!«
Die Männer stürmten zur Tür hinaus und stellten sich in einer Reihe auf.
»Zur Waffenabgabe, im Gleichschritt marsch!«
Vor dem Magazin hielten sie. Sie mussten warten – zwei Züge waren vor ihnen angelangt und kamen vor ihnen an die Reihe. Dann reichte jeder seine Waffe dem Korporal, der sie aufnahm und in eine Wandöffnung steckte. Mit einem Klicken der Zählvorrichtung verschwand eine nach der anderen im Innern des Aufbewahrungsraums.
»Zur Unterkunft, vorwärts, marsch!«
Sie marschierten zurück.
»In die Stube, marsch, marsch!«
»Fertigmachen zum Sport!«
Die Soldaten eilten zu ihren Schränken, um die Turnkleidung anzulegen. Als sie sich umzogen, schob Abel etwas unter die Glaswollmatratze seines Bettes. Während sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf Allan konzentriert hatte, hatte Abel hinter seinem Rücken die Pistole auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Eine der Pistolen, die nun im Magazin lagen, war nicht mehr vollständig. Ihr fehlte die Batterie mit der Zündvorrichtung. Aber davon war äußerlich nichts zu bemerken.
Anmerkung des Herausgebers: Es mag auf den ersten Blick verwirrend erscheinen, dass nun unvermittelt auf den ersten Handlungsfaden ein zweiter folgt, der mit dem ersten scheinbar nichts zu tun hat. Diese Art der Darstellung zerreißt zwar den chronologischen Zusammenhang, hebt aber die psychologischen Gesichtspunkte umso besser hervor. Aus diesem Grund erschien es angebracht, diese Eigenart des Originals beizubehalten, was auch im weiteren Verlauf der Wiedergabe geschehen ist.
Zuerst gab es nur den silbernen Nebel. Nichts als den konturlosen silbernen Nebel.
Einige Augenblicke strengte er sich so an, dass die dünne Schicht von Bewusstsein, die ihn getragen hatte, zersplitterte und ihn wieder in die bodenlose Dunkelheit fallen ließ.
Lange Zeit trieb er in der schwerelosen Leere.
Dann wogte wieder der Nebel. Und wieder mühte und peinigte sich etwas in ihm, um das Gestaltlose zu durchdringen.
Mit einem Mal lösten sich schwarze Arabesken und weiße Kringel aus einem mit grauen Rechtecken ausgelegten Hintergrund, und dann, als wäre ein projiziertes Bild erst richtig eingestellt worden, fügte sich alles zu glasklarer Ordnung.
Er blickte in einen metallenen Kreis, der eine Milchglasscheibe einschloss. Ein Bügel ging davon aus, um den sich eine weiß umsponnene Leitungsschnur schlängelte. Links davon stand ein trogartiger Rahmen – die offene Seite ihm zugewandt – das Innere von kreuz und quer gespannten Drähten durchzogen.
Das Äußere war ihm eher bewusst geworden als er sich selbst. Jetzt erst kam der Gedanke, dass seine Person existierte, dass sie sich vor diesen Dingen, vor dem metallischen Kreis und dem rechteckigen Rahmen, befand. Hastig versuchte er sich aufzusetzen, aber sein Wille stieß ins Nichts. Er versuchte den Kopf zu drehen … es gab keinen Widerstand, doch auch nicht die geringste Reaktion.
Er richtete die Augen langsam nach rechts …
Da war Bewegung …
Inmitten eines Gewirrs aus silberglänzenden Röhren und Stangen hing ein roter kugeliger Gummibeutel, der sich blähte … und zusammensank … sich blähte … und zusammensank. Das ging ganz regelmäßig vor sich; wenn er sich vergrößerte, wurde er zu einem prallen Ball, wenn er sich verkleinerte, bildeten sich Lappen, die wie die Rippen eines Fächers zusammenklappten. Dann entstand jedes Mal ein feines raschelndes Geräusch, ähnlich dem Pfiff einer Maus.
Daneben stand eine andere Anordnung: Ein Kolben glitt langsam in einem Glaszylinder hin und her. Aus einer Zuleitung strömte eine rote Flüssigkeit hinzu und wurde von dem Kolben in ein schüsselartiges geschlossenes Gefäß gepresst, in dem sie sprudelte und schäumte, ehe sie durch ein Sieb verschwand.
Ein Laboratorium?
Es gab Hebel und Schalter und Anzeigeinstrumente, Leitungen, Röhren … also ein Laboratorium.
Wie kam er hierher? Was hatte er hier zu tun? Was war mit ihm?
Er schloss die Augen, und es dämmerten die Erinnerungen, aber sie brachten keine Erklärung. Die Vergangenheit drang beunruhigend in seine Festung der Stille und Wunschlosigkeit ein, und er verdrängte sie. Das Denken strengte an. Das Denken tat weh. Also: nicht denken. Sich dem Wohlbefinden hingeben. Er hielt die Augen geschlossen, und währenddessen erwachten langsam seine anderen Sinnesorgane, tranken das ein, was von außen sanft auf sie einströmte: Wärme, die ihn umschmeichelte, das Körpergefühl, das ihm den Eindruck des Schwebens vermittelte; ein unbekannter, aber angenehmer Geruch nach irgendwelchen aromatischen Chemikalien, ein leises einschläferndes Summen, dazwischen die kurzen Pfiffe des roten Balls. Was wünscht man sich mehr? Von seinen Erinnerungen blieb nur noch ein sagenhaftes Wissen um Nerven zersetzende Betriebsamkeit, dumpfes Angstgefühl, pausenlose Hetzjagd; nur der Anflug eines Schattens – gerade genug, um ihn seine jetzige Situation doppelt angenehm empfinden zu lassen.
Er gab seinen Gedanken freien Lauf. Noch war die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fantasie verwischt, und so erfüllten sie seine Wünsche, gaukelten ihm Dinge vor, die er gern sah, ließen ihn empfinden, was er mochte, ließen ihn erleben, was schön zu erleben ist – Abenteuer, wie aus einem spannenden Buch, nicht zu lebendig, um zu bedrücken, nicht zu theaterhaft, um zu langweilen. Geschehnisse rankten sich um Personen und Dinge, beschäftigten ihn in einer unterhaltenden Art, ließen ihn die Wonnen auskosten, die vor dem Erreichen des Erstrebten liegen, wenn kein ernster Zweifel daran besteht, es schließlich doch zu erreichen.
Später versuchten Stimmen in seine Welt einzudringen – eine feste befehlende und eine leise, nachgiebige, aber er verschloss sich ihnen, und sie verstummten. Der Halbschlaf ging in Schlaf über, und die Traumgestalten gewannen volle Herrschaft über ihn.
Die Zeit des mittäglichen Appells rückte allmählich näher. Elf bis zwölf Uhr – die Stunde der körperlichen Ertüchtigung. Heute war Hindernislauf angesetzt. Alle zehn Kompanien befanden sich auf der Rennbahn des Sportplatzes, die Soldaten marschierten, liefen, robbten über den Boden, kletterten über Hinderniswände und sprangen über die Gräben. Sie trugen volle Ausrüstung, schwere Stiefel, Riemenzeug, Behälter mit Gasmasken, Tornister mit Ballastgewichten, Helme aus Platiniridiumstahl. Die Korporale standen bei den Hindernissen und beobachteten mit dem Notizblock in der Hand. Im Zentrum standen die Sergeanten, sie bewegten sich langsam im Kreis, um ihre Kompanie im Auge zu behalten – es sah aus, als zögen sie diese an unsichtbaren Fäden, doch auch Gängelbänder hätten keine engere Verbindung aufrechterhalten können, als es die Kommandos taten, die aus ihren Megafonen prasselten. So explosiv die einzelnen Schreie auch kamen, so verflossen sie doch alle zu einem stetigen Knattern, verwischt durch den linden Zug der vom Boden aufsteigenden Luft, ergänzt durch die dumpfen rollenden Echos von den Häuserwänden. Aus dieser gewaltigen Melodie aber erklang für jeden der Männer die Stimme seines Sergeanten heraus wie ein Fanfarengeschmetter, und sie alle reagierten einhellig und prompt.
»Auf, marsch, marsch!«
»Achtung!«
»Hinlegen!«
»Vorwärts, marsch!«
»Robben!«
»Halt!«
»Vorwärts, marsch!«
»Vorwärts, marsch!«
Die fünfte Kompanie, die Kompanie, der Abel angehörte, lief mit angelegten Gasmasken. So hatte Abel Gelegenheit, Austin, der sich links neben ihm in der Reihe bewegte, durch die runden Augenöffnungen unauffällig zu beobachten. In jeder winzigen Pause zwischen Minutenfolgen gespannter Aufmerksamkeit blickte er nach links hinüber, begierig auf jedes Anzeichen, das das Gelingen seines Versuches angezeigt und ihm einen Gefährten verheißen hätte.
»Gasmasken ab!«
Im Laufen nestelten sie an den Kautschukriemen, zogen sie aus den Spangen, zerrten sie durch die Laschen, lösten die Kontaktstreifen von den schweißtriefenden Gesichtern, stülpten den Gesichtsteil über das Ventil, schoben die nun in ein unauffälliges Gummiknäuel verwandelte Maske in die zylindrische Schachtel.
»Zugführer Kommando übernehmen.«
Die Ertüchtigungsrunde war beendet. Die Blöcke der Kompanien teilten sich in je zehn Reihen, die aus der Bahn scherten und einzeln über die Wege ihren Unterkünften entgegengingen. Sie zogen Spuren von Lehm, Schlamm und Wasser hinter sich her, die sie abends, in der Reinigungsstunde, beseitigen mussten.
Abel war des Wartens müde. Austin benahm sich wie immer. Entweder war er zu schlau, um sich etwas anmerken zu lassen – oder Abel hatte sich getäuscht.
Singend marschierten sie dahin, bis ein Befehl des Korporals den Gesang jäh abreißen lassen würde. Dann müsste jeder trachten, möglichst schnell in die Stube zu kommen, möglichst schnell ausgezogen zu sein, möglichst schnell …
»Lied aus!«
Das kurze Zwischenspiel nach der beendeten und vor der folgenden Dienststunde hatte begonnen.
»Abteilung halt!«
Sie hielten vier Meter vom Tor entfernt.
»Wegtreten, marsch, marsch!«
Sie stürzten auf das dunkle Rechteck zu, der Flur verschluckte sie. Der Korporal folgte nicht gerade schnell und nicht gerade langsam – doch langsam genug, um die Männer für acht Sekunden unbeaufsichtigt zu lassen.
Abel packte Austin am Arm und sagte leise, aber drängend: »Du darfst die schwarze Tablette nicht nehmen. Verstehst du? Die schwarze Tablette nicht nehmen!«
Austin blickte ihn den Bruchteil einer Sekunde lang an. Die Lichter in seinen Augen flackerten. Dann zischte er: »Halt’s Maul.«
Er sagte es wütend und aggressiv, doch Abel merkte nur, dass er etwas sagte, und nicht, was oder wie er es sagte. Zwar bestand auch jetzt noch keine Gewähr dafür, dass ihn Austin nicht anzeigen würde, dafür aber war Abel sicher, dass er richtig kombiniert hatte: Die schwarze Pille war daran schuld, dass sie in einem ununterbrochenen Dämmerzustand dahinvegetierten, in einer stumpfsinnigen Euphorie, die ihnen den Dienst als Belohnung, die Befehle als Quelle der Freude, die Kaserne als Heimat, den Major als Gott erscheinen ließ, dass sie empfindungslos waren gegenüber Recht und Unrecht, dass sie das Vermögen der Kritik verloren hatten, dass sie keinen Willen besaßen und keine Fähigkeit der Entscheidung. Die schwarze Kugel – ein chemisches Präparat, das das Gehirn vergiftet oder die Drüsen lähmt, das hormonale Gleichgewicht stört oder die Nervenbahnen blockiert. Das mit den Nährmitteln in den Körper eingeschmuggelt wird. Die schwarze Kugel war schuld – dass sie Soldaten waren.
Der Mittagsappell kam heran und ging vorbei. Austin sagte nichts. Tagsüber hatte Abel keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen; er hoffte auf die Nacht. Um sechzehn Uhr fünfundvierzig, bei der zweiten Tablettenausgabe, beobachtete er, wie Austin die schwarze Kugel zum Mund führte, aber nur so tat, als ob er sie nähme. Auch er ließ sie heimlich in die Tasche gleiten. Das war weniger gefährlich, als sie fallen zu lassen.
Die beiden Unterrichtsstunden liefen ab, das Stubenreinigen und das Bad im Waschhaus. Es wurde zwanzig Uhr zwanzig, und sie gingen zu Bett. Um zwanzig Uhr dreißig verlöschte das Licht. Tiefe Atemzüge zeigten an, dass einige schon eingeschlafen waren, obwohl der Korporal noch nicht zur Inspektion gekommen war. Abel spürte keine Müdigkeit. Er lag still unter der grauen, kratzenden Decke und konnte es kaum erwarten, bis der Korporal zum Gutenacht-Zauber erschien.
Er ließ nicht lange auf sich warten. Weiß flammte das Licht auf, und die Männer in den Betten hörten seine Schritte. Sie hörten ihn an den Hockern rücken, hörten, wie er da einen Schrank öffnete, dort einen Stiefel unter dem Bett hervorholte. Er prüfte das Schweißband des Helms von Albert und das Kopfkissen Abrahams. Eine knisternde Spannung hatte sich in der Stube verbreitet. Der Korporal ließ sich heute Zeit …
Diesmal traf es Anton. Er musste die Beine vorweisen, und seine Zehennägel waren schmutzig.
»Raus aus dem Bett, Sie Dreckfink!«
Anton schnellte von seinem Lager auf und nahm Haltung an.
Der Korporal fixierte ihn.
»Sie sind wohl müde, he? Rein ins Bett!
Raus! –
Rein! –
Raus! –
Rein! –
Nanu! Das klappt nicht? Ich bringe es euch bei! Alles aus den Betten, marsch, marsch!
Ihr braucht eine Auffrischung. Auf den Hof, marsch, marsch!«
Draußen herrschte trübes Dunkel. Einige weit voneinander entfernte Lampen brannten. Der Himmel war schwarzgrau mit einem Anflug von Schwefelgelb.
»In Linie angetreten, marsch, marsch!«
Es war kühl, mit ihren bloßen Füßen und in den dünnen Schlafanzügen froren sie und hatten Mühe, ruhig zu stehen und nicht vor Kälte zu zittern.
»Zum Waschhaus, ohne Tritt, marsch!«
Gespenstisch leise bewegte sich die Schlange aus grauen Schatten zur lang gestreckten Baracke mit den Duschen, den Wasserhähnen, Schläuchen und Eimern.
»Unter den Duschen angetreten, marsch, marsch!«
Der Korporal drehte selbst den Hahn auf. Die Männer standen in einem Regen dünner Wasserfäden. Um diese Zeit war die Heizung längst abgedreht.
»Einer für alle, alle für einen.«
Das Wasser rieselte auf die kahl geschorenen Schädel, rann über Stirn, Hinterkopf und Schläfen, drang in und unter die Jacken und Hosen, legte sich wie Gummi auf die klamme Haut von Rücken, Brust und Bauch, strich über die Schenkel abwärts und bei den Hosenbeinen hinaus. Die Füße standen in schwellenden Lachen.
»Ein Lied!«
Sie sangen ein Lied, eines der Lieder von der Ehre, von der Treue und vom Gehorsam.
»Ein neues Lied!«
Sie sangen, zitternd vor Kälte, ein anderes Lied von der Ehre, von der Treue und vom Gehorsam.
»Seid ihr jetzt sauber?«
»Jawohl, Herr Korporal.«
»Abtreten. In die Betten, marsch, marsch!«
Sie rannten: über die Steinkacheln und über die rohe Erde; von der scharfen Kälte gepeitscht, in den dunklen Flur; stolpernd, stoßend, in die Stube. Sie sprangen in die Betten, nass, wie sie waren, und zogen die Decken bis an die Ohren. Das Licht brannte noch. Die Schritte des Korporals klangen dumpf.
»Unter euch ist ein Dreckschwein, das sich die Klauen nicht wäscht. Dem es nichts ausmacht, dass die ganze Stube dafür bezahlen muss. Kerle!« Er brüllte auf. »Ihr müsst selbst dafür sorgen, dass so etwas nicht vorkommt! Ich hoffe, ihr wisst, was ihr zu tun habt! Gute Nacht!«
»Gute Nacht, Herr Korporal!«
Die Tür schlug zu, das Licht erlosch. Einen Augenblick war kein Ton zu vernehmen. Dann ging ein Huschen und Stampfen, ein Trampeln und Schleifen durch den Raum, und dann klatschten Schläge, schlugen Fußtritte; es seufzte, stöhnte und keuchte, es ächzte und würgte, es tobte sich aus, bis sich der Eifer legte, weil es nichts mehr gab, was sich wehrte. Es wurde ruhig. Die Nachtruhe hatte begonnen.
Sein Traum war nicht so angenehm gewesen wie das Dahindämmern in halb wachem Zustand, aber er konnte sich keiner Einzelheiten entsinnen. Er öffnete die Augen und schloss sie sofort wieder – eine gleißende Sonne blendete ihn. Er versuchte den Kopf abzuwenden, aber das gelang ebenso wenig wie das letzte Mal. Nach und nach erprobte er seine Muskeln – der Erfolg war nicht ermutigend. Die Zehen und die Finger – das war alles, was seinem Willen gehorchte. Und die Augen.
Atmete er? Er spürte nichts davon. Es war, als wäre sein Brustkasten erstarrt. Und dennoch erstickte er nicht. Es war unerklärlich.
Er bewegte die Finger und die Zehen, krümmte sie, streckte sie. Zuerst ging es nur millimeterweise, allmählich aber gewann er die Herrschaft darüber.
Er versuchte sich ein Bild zu machen, welche Stellung er einnahm … Er schien zu liegen. Von seinem Leib spürte er nichts, aber die Beine waren ausgestreckt. Auch die Arme empfand er als gestreckt, und zwar weit ausgebreitet, wie gekreuzigt.
Er setzte das Spiel mit Fingern und Zehen fort, und endlich stieß die Kuppe seines rechten Mittelfingers auf Widerstand … sie berührte etwas. Heftiger mühte er sich darum, die Finger durchzukrümmen, und dann lagen auch der Zeige- und der Ringfinger auf etwas Hartem, das aber ein Stück weiter zurücklag als der Widerstand am Mittelfinger. Auch dieser Gegenstand war hart, aber er gab nach … Etwas schnarrte leise.
»Sie sind wach«, sagte eine Stimme. »Das hat lange gedauert …«
Sprechen, fiel ihm ein … kann ich sprechen?
»Bleiben Sie ruhig! Es kommt alles wieder in Ordnung.« Die Stimme war sanft und angenehm anzuhören. Sie sollte weitersprechen!
»Mit jedem Tag werden Sie sich besser fühlen. Der Doktor wird gleich nach Ihnen sehen!«
Er war in einem Spital. Jetzt wusste er es. Ein Spital? Er war krank. Oder verwundet. Was war mit ihm geschehen?
»Versuchen Sie nicht zu sprechen! Bald wird es von selbst gehen. Sie brauchen nichts zu sagen. Zwinkern Sie mit den Augen, wenn Sie mich verstehen!«
Er senkte kurz die Augenlider. Er hatte verstanden.
»Fühlen Sie sich gut? Oder brauchen Sie etwas? Haben Sie Schmerzen?«
Er hatte keine Schmerzen.
»Sie können ja gar keine Schmerzen haben«, sagte die Stimme. »Dr. Myer macht das schon.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. »Ich bin Schwester Christine. Alle nennen mich Chris. Wenn Sie etwas brauchen, drücken Sie wieder den Knopf. Ich bin allein für Sie da.«
Kurz erschien ein Gesicht in seinem Blickfeld. Braune Augen, eine gesunde, leicht gebräunte, an den Wangen rosa schimmernde Haut, ein fraulicher Mund, eine Welle blonder Haare, unter einem Häubchen hervorquellend. Das Gesicht verschwand. Es rasselte leise. Stille – leises Summen und stetige leise Pfiffe.
Chris. Sie war für ihn da. Ganz stark fühlte er wieder die Zufriedenheit, die seine Umgebung in ihm aufkeimen ließ.