DIE STAHLWÜSTE - Herbert W. Franke - E-Book

DIE STAHLWÜSTE E-Book

Herbert W. Franke

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Beschreibung

»Rostig rot ragten wirr verkrümmte Eisenstangen aus Eisenbetonblöcken. Die Reste stählerner Bauten erinnerten an einen verbrannten, von Lawinen durchfurchten Wald. Wo sie eng beisammenstanden, waren sie ineinander verklemmt und bildeten eine Art Dach, von dem klumpig erstarrte Kupfermassen wie exotische Früchte herabhingen und im Wind schaukelten, der nun sanft, aber stetig aus Osten wehte.« Nach einem erneuten Weltkrieg stehen sich Amerika und Europa unversöhnlich gegenüber. Immer wieder entsendet die europäische Diktatur Saboteure. Der Spion Ralph kommt auf seiner neuesten Mission einer dritten Partei auf die Spur, die im Hintergrund die Geschicke der beiden Kontinente zu lenken scheint. Die einzige Freiheit, die Ralph letztlich entdeckt, ist die der Verbannten auf dem Mond …

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Herbert W. Franke

DIE STAHLWÜSTE

Science-Fiction-Roman

SF-Werkausgabe

Herbert W. Franke

Band 5

hrsg. von Hans Esselborn

und Susanne Päch

Herbert W. Franke

DIE STAHLWÜSTE

Science-Fiction-Roman

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 5

hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

www.art-meets-science.io

Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de

Die Originalausgabe ist 1962 im Wilhelm Goldmann Verlag erschienen.

Titelbild: Thomas Franke

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

E-Book-Erstellung: global:epropaganda

Verlag

art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

c/o mce mediacomeurope GmbH

Bavariafilmplatz 3

82031 Grünwald

ISBN 978 3 911629 04 1

1

Das Brausen verklang, der Beschleunigungsdruck ließ nach, und die starren Fratzen der drei Männer wurden wieder zu menschlichen Gesichtern. Singendes Tuten drang aus irgendeinem Winkel der Kapsel – es war nicht festzustellen woher –, und dann erfüllte eine verzerrte Stimme unerwartet laut den Raum.

»Achtung, Achtung! Hier Barbarossa. Hier Barbarossa. An Karussell, an Karussell! Barbarossa ruft Karussell!«

Die Männer richteten sich vorsichtig mit ihren Kippstühlen auf und öffneten die Helme; die Schwerelosigkeit ließ ihre Bewegungen eckig erscheinen. Keiner sprach. Sie lauschten.

»Achtung, Karussell! Start geglückt. Ihr befindet euch auf dem ansteigenden Ast der Parabel. Alles in Ordnung! Variante E 5. Einstellen auf E 5!«

Der breitschultrige, weißblonde Mann rechts in der Reihe hob eine Hand und drückte einen Knopf. Leise klickend schloss sich ein Kontakt.

»Achtung, Karussell! Wir haben das Signal empfangen. Alles Weitere übernimmt die Automatik. Barbarossa schaltet nun ab. Viel Glück! Wir wünschen euch viel Glück!«

»Wir werden es nötig haben!«, murmelte der Mann, der in der Mitte saß, ein schmächtiger Bursche mit scharfen Gesichtszügen und einem spitzen Kinn – dem Augenschein nach der älteste von den dreien. Er sah aus wie einer von jenen, die man nicht gern zum Freund, aber noch weniger gern zum Feind hat.

Der Mann links neben ihm drehte den Kopf. An seinem Gesicht gab es nichts Auffälliges außer den ein wenig eng geschlitzten Augen; sie verliehen ihm einen freundlich lächelnden Ausdruck.

»Wer ist der Colonel?«, fragte er.

»Brauchst mich gar nicht so anzusehen«, antwortete sein Nebenmann. »Ich bin’s nicht.«

Beide wandten sich dem dritten, dem Blonden, zu.

»Hier gibt es keinen Colonel«, sagte der. Er sprach mit gleichgültiger, etwas schleppender Stimme. »Dienstgrade und Privatnamen haben wir abgelegt. Während unseres Unternehmens führe ich den Namen Sven. Ist leicht zu merken«, fügte er mit der Andeutung eines Lächelns hinzu und streckte den beiden anderen die Hand entgegen. »Auf gutes Gelingen!«

»Carel«, sagte der Mittlere, »Ralph«, der Linke. Beide erwiderten den kräftigen Händedruck. Sven beugte sich vor und drehte eine Kurbel. Die ganze Inneneinrichtung, die Sitze samt den Personen sowie das Gepäck waren kardanisch im Raumschiff befestigt – man konnte sie relativ zur Hülle beliebig orientieren. Nach dem Gesetz von der Erhaltung des Drehimpulses drehte sich dann das Äußere im entgegengesetzten Sinn – auf diese einfache Weise war das Raumboot ohne weitere Umstände in jede beliebige Richtung zu bringen. Die Stühle ließen sich zusätzlich kippen, sodass sich die Insassen mit dem Rücken gegen den Andruck stemmen konnten.

Sven musste lange kurbeln, bis er eine Position hergestellt hatte, in der sie durch das Bleiglasfenster die Erde sehen konnten, denn der Mantel und vor allem die Spitze der Kapsel waren massiv gearbeitet.

Obwohl Ralph den Anblick, der sich ihm bot, schon bei mehreren Übungen genossen hatte, war er auch diesmal wieder von ihm gefangen. Das Schiff überflog gerade die Schattengrenze. Die Erde war in einen perlmuttschimmernden Schleier gehüllt, dessen Farben von Augenblick zu Augenblick wechselten. Aus dieser Sicht erschien sie wie ein flächenhaftes Gebilde – eine kreisrunde Scheibe, durch eine den Mittelpunkt schneidende Gerade in zwei gleich große Hälften zerschnitten, die eine silberweiß, die andere braunschwarz. Von der Mitte des lichten Halbkreises ging kupfernes Leuchten aus – dort flimmerte ein nach außen in Blaugrau verlaufender Fleck: das Spiegelbild der Sonne, das sich im Atlantischen Ozean badete.

Sven warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Wir haben noch sechs Minuten. Dann beginnt das Landemanöver!«

Er kippte mit seinem Stuhl zurück. Die Arme hatte er breit auf die schaumstoffgepolsterten Armlehnen gestützt.

»Im Großen und Ganzen weiß jeder, was er zu tun hat. Ich brauche euch nicht zu sagen, dass wir auf keinerlei offizielle Unterstützung unserer Stellen zählen dürfen, und wie weit man sich auf die Liga verlassen kann, wird sich erst herausstellen. Der Job fordert also von jedem einzelnen …«

»Mach’s kurz«, fiel ihm Carel ins Wort. »Das haben wir schon oft genug gehört.«

Sven zögerte einen Atemzug lang. Dann sagte er achselzuckend: »In Ordnung! Wir werden es schon schaffen.«

Ralph deutete auf die Sichtluke.

»Seht euch diese Festbeleuchtung an!«

Über den Horizont hob sich ein leuchtender Strich und formte sich allmählich zu einem aus Rechtecken zusammengesetzten blauweißen Lichtgürtel. Das von ihm umfasste Terrain war von glitzernden Punkten gesprenkelt, während die äußeren Regionen wie mit nachtschwarzem Tuch bedeckt schienen.

»Sie haben aufgebaut«, stellte Carel fest.

»Ein riesiges Vermögen – diese Glashäuser«, sagte Ralph. »Und es lohnt sich: Die leiden keinen Mangel an Gemüse.« Mit dem Kinn deutete er nach unten.

Sven machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. »Wartet ab – bald sind wir auch soweit!«

Während die Erdkugel schon bis auf eine schmale Sichel vom Nachthimmel verschlungen war, fuhr die Kapsel noch in den sonnenerfüllten Höhenregionen dahin. Carel bückte sich, oder, richtiger gesagt, er zog sich an seinen Gurten hinunter und klopfte an die Wand der Kapsel. Gegen die Schwärze des Alls erschien ein funkelnder Schweif von Glennschen Glühwürmchen, winzige Schneekristalle, die die Sonne zum Glitzern brachte.

»Lass den Unsinn«, sagte Sven.

»Schlecht geschlafen, was?«, fragte Carel ironisch.

»Fangt doch nicht jetzt schon Streit an!« Sven hatte die Stimme nicht erhoben, aber eine leichte Schärfe war nicht zu überhören. Alle drei schwiegen daraufhin.

Ein leises Summen zeigte an, dass sich nun die automatische Heizung stärker eingeschaltet hatte. Die Glühwürmchen waren verschwunden, stattdessen schien der Glanz der Sterne strahlender zu werden.

Das Boot hatte die Sonne zur Hälfte überrundet und glitt nun sachte in die Nacht.

Carel räusperte sich.

»Hoffentlich holen sie uns nicht schon von hier oben herunter!«

»Wie denn?«, fragte Ralph.

»Mit Raketen, Abwehrgeschützen, Jägern …«

»Dazu müssen sie uns erst finden.«

»Es besteht keine Gefahr«, erklärte Sven. »Erst ein einziges Landeteam wurde erwischt – die Kapsel war noch mit Verbrennungsbremsung ausgestattet, und eine Sternwarte hatte den Feuerschein bemerkt. Das kann bei uns nicht vorkommen. Wir benutzen Pressluft zum Verzögern.«

»Ach, tu doch nicht so, als könnte uns nichts passieren«, sagte Carel. »Vielleicht landen wir in einer radioaktiven Zone und sind gebraten, ehe wir bis drei zählen können!«

»Die im dritten Weltkrieg benutzten Bomben waren relativ sauber«, sagte Ralph. »Wir müssten schon besonderes Pech haben – mitten in einem Aufschlagszentrum landen beispielsweise. Dann freilich …« Er schwieg vielsagend.

Sven mischte sich wieder ein.

»Die Wahrscheinlichkeit dafür steht tausend zu eins. Die Gefahr, dass dir ein Blumentopf auf den Kopf fällt, wenn du in Madrid oder Hannover durch die Straßen gehst, ist viel größer.«

Carel blickte mürrisch vor sich hin, als wäre er des Gesprächs überdrüssig. Sven drehte wieder an der Kurbel. Diesmal beobachtete er aufmerksam einen Zeiger des Kreiselkompasses an der Schalttafel vor seiner Brust und brachte den roten Strich, der die Inklination der Längsachse des Schiffes kennzeichnete, mit ihm zur Deckung. Dann justierte er auf dieselbe Weise die Deklination.

»Kippt eure Fauteuils!«, befahl er. »Und die Helme schließen!« Sie schwenkten ihre Sessel so, dass auch deren Winkelanzeige, an der Innenseite der Lehnen montiert, mit jener des Hauptkompasses übereinstimmte, und klappten die durchsichtigen Frontplatten ihrer Helme herunter.

Ein Schnarrzeichen ertönte.

Die Männer drückten sich in die Unterlagen, ihre Blicke hingen an der kleinen wassergefüllten Kunstglaskugel, in der ein schwarzes Körnchen schwebte. Durch hineingeschossene Protonen war es positiv geladen, während das Kunstglas negative Ladungen in Form von Elektronen enthielt. Ohne äußere Krafteinwirkung blieb das Korn infolge der elektrostatischen Abstoßung genau in der Mitte. Gravitations- oder Trägheitseinwirkung zogen es jedoch gegen die elektrischen Kräfte an die Glaswand des Gefäßes.

Das Schnarrzeichen ertönte noch einmal. Sie atmeten tief. Das schwarze Korn zitterte, als ein leises Pfeifen erscholl, und plötzlich wanderte es stetig und immer rascher an die Oberfläche der Kugel hinunter, wenn man es so ausdrücken will, wo es ruckartig zum Stehen kam. Das leise Geräusch des Auftreffens war nicht mehr zu hören. Draußen zischte und brauste es und verstärkte sich mit einem Mal zum Orkan – aus den Rückstoßdüsen schoss die auf viele Zehntausend Grad erhitzte Pressluft. Das Boot stemmte sich gegen den rasenden Fall. Eine eiserne Faust drückte den Männern die Mägen gegen die Wirbelsäule, die Augen in den Kopf; ihre Hände krampften sich um die breiten, sonst so nachgiebigen Lehnen, die nun stahlhart geworden waren.

Unversehens löste sich der Druck. Noch war das Brausen da, aber es klang beruhigend; aus dem Luftpolster, das sie, sachte, wie es schien, zur Erde niedertrug, strömte Luft die Seitenflächen entlang. Der Mantel und besonders die Spitze der Kapsel waren mit einer Schicht aus schwer schmelzbarem Borglas überzogen, das beim Flüssigwerden große Hitzemengen band, aber trotz der Schmelzkühlung drang es beklemmend heiß durch die spiegelnden Hüllen der Raumanzüge. Ein leiser Ruck zeigte an, dass sich draußen der Widerstandskörper entfaltet hatte – ein in die Luft geworfener Schleppanker –, und kurz darauf ruckte es noch einmal; der große Kreisbänderfallschirm war aufgegangen. Ihre Fallgeschwindigkeit betrug jetzt noch etwa sechshundert Stundenkilometer, aber der Verzögerungsdruck war auf das rund Zweifache der Erdanziehungskraft zurückgegangen.

Sven rappelte sich ächzend aus der liegenden Stellung empor. Geschwind drehte er die künstliche Beleuchtung aus, drückte den Einschaltknopf für die Radarabtastung und öffnete durch ein Hebelsystem die Klappe vor dem zusammengeschobenen Parabolschirm, dessen Duraluminiumstreben sich nun durch Federn getrieben ausfächerten.

Zwei, drei Sekunden lang war es dunkel, dann leuchtete der Bildschirm grünlich auf, und der zeigerartig rotierende grüne Strich malte das Echobild der Zentimeterwellen: körnige Massen, matt glänzende Flecken und dazwischen schwarze Striche und Dreiecke.

»Jetzt ist es soweit!«, rief Sven. Mit einem Schaltgriff ließ er Helium in das aufblasbare Ballongewebe einströmen, sodass rechts und links aus den Seiten der Kapsel flügelartige Wülste herauswuchsen. Das Raumschiff war zu einem Fallgleiter geworden, den man in gewissem Bereich steuern konnte. Er legte sich waagerecht in die Luft.

»Hier ist ebenes Terrain«, sagte Carel und tippte mit dem Finger auf eine gleichmäßig matt beleuchtete Stelle im Radarbild.

Sven antwortete nicht, aber seine Gefährten sahen, dass er der Anregung folgte; das Fadenkreuz wanderte auf den angegebenen Fleck zu. Als Segelflugzeug schoss die Kapsel ihrem Ziel entgegen.

Sven blickte angestrengt auf den Bildschirm, zwischendurch beobachtete er den Höhenmesser. Mit einer entschlossenen Bewegung riss er schließlich den Landehebel herum: Statt eines Fahrgestells kippten aus der Bauchseite des Flugkörpers Hunderte von Borsten – Stahlklingen hoher Elastizität –, und schon begann das ohrenbetäubende Gerassel der Landung. Wie auf einem Schlitten rutschten sie über das Gelände. Es holperte, bebte und schwankte. Dann ruckte es. Sie standen.

Die Männer lehnten sich aufatmend zurück. Sie waren angekommen – aber sie waren nicht in Sicherheit. Sie befanden sich mitten im Land des Gegners.

2

Als Ralph die Gurte losgeschnallt hatte und sich aufzurichten versuchte, soweit das die Enge der Kapsel zuließ, fühlte er ein Zittern in seinen Knien.

»Soll ich das Licht anknipsen?«, fragte er.

»Lieber nicht«, meinte Sven.

»Ich dachte, die Gegend sei absolut menschenleer?«, fragte Carel.

Sven lockerte die Flügelschrauben der Ein- und Ausstiegsluke. »Man kann nicht vorsichtig genug sein.«

Der Deckel schwenkte auf, und Sven machte sich daran, den äußeren Verschluss abzuheben. Durch das Glas des Mantelüberzugs, das während der Hitzeentwicklung beim Bremsmanöver flüssig wird und gegen die Flugrichtung kriecht, war er verklebt, und es knirschte unangenehm, als der dünne Film zerriss und der Verschluss nach außen fiel.

Ralph hielt Sven, der den Kopf hinausstecken wollte, am Arm fest.

»Warte!«, mahnte er.

Aus der Außentasche seines Tornisters nestelte er den Geigerzähler und hielt ihn durch die Öffnung ins Freie. Es blieb still. Er vergrößerte den Empfindlichkeitsgrad um eine Zehnerpotenz und wiederholte den Test. Wieder blieb es still. Erst nach einem weiteren Verzehnfachen der Empfindlichkeit sprach das Gerät an; ein leises unregelmäßiges Ticken erscholl.

»Kaum merklich über dem Normalwert!«, verkündete er.

»Na, dann ziehen wir los!«, forderte Carel. »Wir waren nicht gerade leise. Vielleicht gibt es doch Streifen?«

»Nichts davon gehört«, sagte Sven. »Aber gewiss – wir machen, dass wir davonkommen. Nehmt das Gepäck!«

Er zwängte sich durch die Luke und sprang zu Boden. Er landete weich. Eine Wolke Staub stieg empor, die er zwar nicht sehen, aber riechen konnte. Ralph stieg nach ihm aus, dann folgte Carel, der die Tornister heruntergereicht hatte.

»Das also war Chicago«, sagte Ralph.

Die Augen gewöhnten sich allmählich an die Finsternis. Ein prächtiger Sternenhimmel flimmerte über ihnen. Es war eine warme Sommernacht, wie sie sich die Liebespaare wünschen. Kein Lüftchen regte sich. Die Männer befreiten sich von den schweren Schutzanzügen. Darunter trugen sie Kombinationen aus porösem Terylenegewebe.

»Ich habe ein Bild vom alten Chicago gesehen«, sagte Ralph. »Häuser im alten Stil – Würfel und Quader. Der ganze Verkehr unten am Boden. Die Leute hatten Zeit. Und Ruhe.«

»Bist wohl ein Romantiker, he!«, neckte ihn Carel. »Haben wir unser Ziel genau getroffen?«

Sven wiegte den Kopf.

»Lässt sich schwer sagen. Wenn alles geklappt hat, sind wir etwa sechzehn Kilometer südlich vom Michigansee. Gehört zum Sperrdistrikt Illinois. Dort drüben irgendwo muss Indiana liegen.«

»Jedenfalls war das hier Industriegelände«, sagte Carel.

Der Himmel war nur wenig heller als die Bodenregion, doch konnte man die Konturen gut ausmachen. Sie waren gezackt und zerrissen, da und dort zeichneten sich Skelette von Fördertürmen und Knäuel verbogener Rohre ab.

»Eine prima Landung«, brummte Carel. Er war ein paar Schritte von den anderen weggegangen und begutachtete die Landebahn. Zum ersten Mal war etwas wie Anerkennung aus seinem Ton herauszuhören.

Sven löste einen Riemen von seinem Tornister und nahm ein Bündel eng zusammengelegter Plastikfolien herunter.

»Helft mir«, forderte er. »Ich denke, wir können die graubraune Seite nehmen.«

»Von Pflanzen keine Spur«, bestätigte Ralph.

Sie breiteten das Tarngewebe aus und kehrten die graugrüne Seite zur Erde, dann zerrten sie es über die Raumkapsel, die ein wenig schief, aber unbeschädigt auf einer eingeebneten Fläche von zerbröckelten und klein gemahlenen Ziegeln lag.

»So ein Ding hätte uns aufgespießt wie einen Schmetterling«, sagte Carel und deutete auf einen schief aus dem Boden herausragenden Stahlmast.

Sven blickte kaum hin.

»Hat aber nicht!«

Sie schleppten einige schwere Brocken herbei, um den Rand der Plane zu beschweren.

»Sollten wir nicht die Kisten mit der Ersatzausrüstung ein Stück mitnehmen und verstecken?«, fragte Ralph.

Sven sah kurz auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr.

»Ein Uhr sechsunddreißig«, sagte er. »Das würde uns zu lange aufhalten. Sie in der Nähe zu verstecken, hat keinen Sinn. Da können wir sie gleich hier lassen. Wenn sie unsere Landung beobachtet haben, dann sperren sie sowieso die ganze Gegend. Vorwärts! Wir gehen!« Er hob die rechte Hand, um an seinem Kompass die Richtung abzulesen. Er trug ihn wie eine Armbanduhr, die Leuchtfarbe schimmerte grün. Magnetnadel und Teilstriche waren gut zu erkennen. »Dorthin – das ist unsere Richtung.«

Sie nahmen die Tornister auf und setzten sich in Bewegung. Es war nicht leicht, die Orientierung zu behalten, denn immer wieder versperrten Barrikaden aus zusammengestürzten Gebäuden, geborstenen Mauern und brüchigen Fahrdämmen den Weg. Am besten kamen sie vorwärts, wenn sie sich an die streckenweise vom Explosionsdruck leer gefegten Straßen und Plätze hielten, aber trotzdem war höchste Vorsicht geboten, denn oft waren diese von tiefen Sprüngen durchzogen. Die drei waren auf ihre Augen angewiesen – ihre Handscheinwerfer durften sie nur selten und gedämpft aufblitzen lassen.

Rechts und links von ihnen ragten grotesk verkrümmte Gebilde zum Himmel empor. In der ungeheuren Hitze der Neutronenreaktion war das Metall der Brücken, Sendetürme, Kräne, Signale, Hochöfen, Druckbehälter, Treppenbauten und Stützgerüste geschmolzen, zusammengesintert, verbogen, verkrümmt, eingeknickt. Schienen hatten sich aufgerollt wie Frässpäne, Hochspannungsmasten waren in sich zusammengesunken, Lokomotiven und Wagen lagen als formlose Massen auf den Dämmen. Was sich einst in hektischer Betriebsamkeit geregt hatte, war zu einer Wüste geworden, die sich von den arabischen und mexikanischen Felswüsten nur durch ihre bizarren Auswüchse aus Metall unterschied.

Die Männer stapften unberührt vom erstarrten Grauen um sie herum einher. Sie kannten die Todeszonen der Zerstörung von ihrer Heimat Europa. Wiederaufbau lohnte sich nicht, es war billiger, nebenan neu zu bauen. Die Stahlwüsten blieben verlassen. Es war verboten, sie zu betreten. Ungezählte Blindgänger lagen zwischen den Trümmern, radioaktive Massen mussten jahrhundertelang abklingen.

Zweimal hatte Ralphs Geigerzähler zu ticken begonnen, und vorsichtig hatten sie die Strahlenherde umgangen.

»Wann nimmst du endlich Funkverbindung auf?«, fragte Carel, nun schon zum dritten Mal.

Sie rasteten auf einer erhöhten Stelle. Vom nächtlichen Lichtermeer der Stadt erspähten sie nichts, nur eine dämmrige Wolke über dem Horizont zeigte an, dass sie sich dem bebauten Gelände näherten.

Sven wandte sich an Carel.

»Du weißt, wie zurückhaltend wir mit dem Senden sein müssen«, sagte er. »Außer dem kurzen Signal zur Bestätigung des Empfangs durften wir nicht einmal vom Raumschiff aus funken. Auch hier werden wir das Funkgerät erst im allerletzten Moment benutzen. Ich schätze, das wird erst morgen sein.«

»Das heißt, wir marschieren noch vierundzwanzig Stunden durch diese Einöde?«, fragte Carel.

»Untertags verstecken wir uns und ruhen uns aus. Hier machen wir nicht mehr als zwei Kilometer in der Stunde.«

Carel fluchte leise vor sich hin.

»Du wirst dich nicht überanstrengen«, sagte Ralph. »Die Nächte sind kurz. Wir kommen nicht mehr weit …«

Ein Zischlaut Svens ließ ihn verstummen. Eine Weile war es völlig ruhig.

»Was ist?« fragte Carel.

»Habt ihr nichts gehört?«, fragte Sven.

Ralph schüttelte den Kopf, und als ihm einfiel, dass Sven das nicht sehen konnte, flüsterte er: »Nein.«

»Ein Pfeifen«, sagte Sven mit gedämpfter Stimme. »Mir war, als hätte ich ein leises, zischendes Pfeifen gehört.«

»Eine Maus?«, fragte Ralph.

»Unsinn«, fuhr ihn Carel an. »Wie sollen Mäuse hierher kommen?«

Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Feldflasche. »Gespenster«, sagte er. »Die Gespenster der Verbrannten, Zerquetschten, Atomisierten, Zerstückelten …«

»Halt’s Maul«, sagte Sven heftig.

»Nur nicht so empfindsam«, antwortete Carel mit hämischem Unterton. »Wozu sind wir denn da … als dass es wieder geschieht!«

3

Als im Osten die Dämmerung aufzog, suchten sie ein Versteck. Nach einigen Minuten tauchte vor ihnen ein Bauwerk auf, das nicht völlig zerstört war; seine dicke Betondecke war zwar in der Mitte durchgebrochen und hatte die mittlere Stützmauer eingedrückt, später darauf gestürzte Blöcke aber abgefangen. Sie lagen noch wie zum Beschweren darüber verstreut. Die nischenartigen Räume darunter standen offen und waren einigermaßen schuttfrei.

»Könnte eine Garage gewesen sein«, vermutete Sven.

Ralph deutete auf ein verblasstes Zeichen an der Mauer. »Eine Garage des Luftschutzdienstes.«

Durch Schutt und Sand bahnten sie sich einen Weg. Die Nischen waren dunkel, und sie tasteten sich nach hinten.

Aufatmend legten sie die Rucksäcke ab.

»Esst eine Kleinigkeit, aber spart mit dem Wasser!«, schlug Sven vor. »Und dann legt euch schlafen. Wer weiß, ob es gegen Mittag nicht zu schwül wird.«

Sie machten es sich bequem, so gut es ging. Ihre Köpfe betteten sie auf die Tornister. Bald zeigten tiefe Atemzüge an, dass Sven und Carel eingeschlafen waren.

Auch Ralph hatte die Augen geschlossen, aber trotz seiner Müdigkeit konnte er keine Ruhe finden. Er drehte sich hin und her, zog seine Stiefel aus und öffnete den Kragen seines Kombinationsanzuges, ohne es in irgendeiner Lage längere Zeit aushalten zu können. Sein Gehirn arbeitete. Es gaukelte ihm Bilder aus seinem bisherigen Leben vor, das Kinderheim seiner ersten Jahre, Mackensen, den alten Betreuungslehrer, die Düngemittelfabrik aus der Zeit des Arbeitsdienstes, das Schulungslager am Mittelmeer, das ihn über seine alten Kameraden hinauswachsen lassen und ihn von ihnen getrennt hatte. Und schließlich seine Eingliederung in die Spezialtruppe, die Ausbildung für den Sonderauftrag.

Es war sein erster Einsatz. Sven und Carel waren älter, sicher hatten sie schon mehr Erfahrung als er. Er hätte es gern gewusst, aber er durfte nicht danach fragen. Darüber hatten sie zu schweigen.

Ralph fröstelte. Die Wärme des beschwerlichen Marsches verflüchtigte sich aus seinen Gliedern, nur ein Anflug von Feuchtigkeit blieb zurück.

Die Kameraden atmeten laut. Ralph blinzelte, und er sah sie als dunkle Klumpen vor dem grauen Rechteck des Ausgangs liegen. Was für Menschen mochten sie sein – der blonde Sven mit seiner heiseren Stimme, dem gelangweilten Gehabe? Der braune schmächtige Carel, der stets unzufrieden und beleidigt tat? Aus welchem Winkel der Europäischen Union kamen sie? Ihrer Sprache war nichts anzuhören – sie alle sprachen das aus den USA stammende, vereinfachte Englisch. War Sven wirklich Skandinavier, wie man aus seinem Blondschopf und dem Namen, den er sich beigelegt hatte, schließen konnte? Wahrscheinlich nicht. Er mochte genauso gut von den ostfriesischen Inseln, aus Slowenien oder sonst woher stammen. Und Carel? Der war noch undurchsichtiger. Solche Typen gab es überall. Es war schließlich auch ohne Bedeutung. Bestimmt hatten sie dieselbe strenge Ausbildung über sich ergehen lassen müssen wie er, dieselben Prüfungen bestanden.

Plötzlich riss Ralph die Augen weit auf – ihm war gewesen, als hätte er auf einem freien Platz zwischen zwei zu Boden geschmetterten Torbögen eineGestalt gesehen – einen bärtigen Mann in einem flatternden Umhang, auf den Lauf eines Gewehrs gestützt. Als er aber jetzt bewusst hinausspähte, sah er nichts mehr – er musste eingenickt sein und geträumt haben. Eine niederdrückende Mattigkeit saß in seinen Gliedern, als er sich aufrichten wollte. Er schloss die Augen wieder, drehte sich zur Seite und schlief endgültig ein.

Ralph erwachte durch das Rascheln von Papier. Carel kniete vor einer Proviantdose und packte einige Schnitten Früchtebrot aus. Ralph reckte sich – seine Muskeln schmerzten, und sein Rücken war steif.

Carel blickte ihn forschend an.

»Siehst heiter aus«, sagte er.

»Bist auch nicht gerade reif für eine Schönheitskonkurrenz«, antwortete Ralph.

Ihre Gesichter waren weiß gepudert von Staub, der stellenweise vom Liegen verschmiert war.

»Meine Kehle ist trocken«, sagte Carel. »Hast du noch Tee?« Ralph zauderte, reichte ihm aber dann doch die Flasche. »Kein Grund zum Sparen«, sagte Carel, »irgendwo finden wir schon Wasser.«

Ralph war nicht so sicher, aber er sagte nichts. Er stand auf und trat an den Eingang. Die Sonne hing hoch am Himmel, es musste eine oder zwei Stunden nach Mittag sein. Draußen flimmerte die Luft, Backofenhitze schlug ihm entgegen, als er einen weiteren Schritt vortrat.

Träge ging er zu seinem Rucksack zurück und nahm eine Packung Erdnüsse heraus. Dann stellte er sich wieder an die Schwelle und blickte über den Hof, während er eine Nuss nach der anderen in den Mund schob. Sie waren geschält und schmeckten fade, weil sie nicht gesalzen waren, um keinen überflüssigen Durst hervorzurufen.

Die Landschaft sah noch trostloser aus als unter dem schützenden Mantel der Nacht. Der Boden war ein Kraterfeld aus grauen Klötzen und Staub. Der Wind hatte die leichten Massen aufgewirbelt und wie Dünensand gewellt. Rostig rot ragten wirr verkrümmte Eisenstangen aus Eisenbetonblöcken heraus. Die Reste stählerner Bauten erinnerten an einen verbrannten, von Lawinen durchfurchten Wald. Wo sie eng beisammenstanden, waren sie ineinander verklemmt und bildeten eine Art Dach, von dem klumpig erstarrte Kupfermassen wie exotische Früchte herabhingen und im Wind schaukelten, der nun sanft, aber stetig aus Osten wehte. Metallstreben schwankten, in kurzen Abständen erscholl ein blechernes Geräusch – eine lose Platte, die der Wind immer wieder von einer Mauer abhob und scheppernd zurückfallen ließ.

»Wie schmeckt’s in einem Grab?«, fragte Carel.

Ralph sah ihn erstaunt an, und Carel deutete kauend und das spitze Kinn vorschiebend auf einen Fleck an der Wand, unmittelbar neben Ralph.

»Das ist alles, was übrig bleibt«, erklärte er. Nun entschlüsselte auch Ralph die Umrisse – die Konturen eines Menschen, der geduckt an der Wand gestanden haben musste, als die Bombe eingeschlagen war. Der Fleck war weiß, die übrige Mauer grau und glasig verkrustet. Gegen den Hintergrund, die Zone des Strahlenschattens, gewann sie allmählich die weiße Farbe wieder.

Angewidert knüllte Ralph den Rest des Einwickelpapiers zusammen, ließ es fallen und trat hinaus. Der Himmel war blau, nur da und dort trieb ein bescheidenes Wölkchen.

Ralph hielt sich im Schatten am Rande der Mauer. Gelegentlich hörte er ein singendes Rieseln von windbewegtem Sand. Selbst wenn es trocken bliebe, würden ihre Spuren, die jetzt als aufgewühlte Gasse quer über den Hof zogen, bald überdeckt und unsichtbar sein.

Langsam und aufmerksam um sich schauend, wanderte Ralph um das Areal herum, an umgestürzten Lastwagen und Trümmerhalden vorbei. Schließlich stand er dort, wo sie in der Nacht den Hof betreten hatten. Er blickte in die Schlucht zwischen zwei wackligen halb eingestürzten Mauern, durch die ihre Spuren führten. Dann stutzte er, vergewisserte sich …

Eilig lief er, sich immer sorgsam in Deckung haltend, zu ihrem Unterstand zurück und rief Sven, der noch immer schlief. Schlaftrunken wischte sich dieser die Augen.

»Was willst du?«

»Komm!«, forderte ihn Ralph auf. Er sprach so bestimmt, dass Sven unverzüglich aufstand und ihm folgte.

Am Eingang zur Gemäuerschlucht wies Ralph auf den Boden. »Schau dir diesen Eindruck an!«

Sven bückte sich.

»Ein Gewehrkolben!« Er richtete sich wieder auf. »Wer weiß, wie lange er schon hier ist!«

»Der Sand verdeckt rasch alle Spuren. Er ist nicht älter als zehn Stunden.« Ralph erzählte von seinem nächtlichen Erlebnis.

»Warum, zum Teufel, hast du uns nicht geweckt?«, fragte Sven. Er hockte sich am Boden nieder und untersuchte den Abdruck sorgfältig.

»Das Gewehr kann nicht von selbst hierhergekommen sein«, murmelte er. »Wo sind die anderen Spuren? Gerade das ist verdächtig.«

Ralph hatte sich auf den Bauch gelegt.

»Komm«, bat er. »Aus diesem Gesichtswinkel sieht man Unebenheiten besser. Es kommt mir vor, als wäre hier … ja, es stimmt – jemand hat seine Spuren verwischt.«

Sven überzeugte sich davon; eine Folge leichter Wischer lief im Sand neben ihrer Spur her. Er stand wieder auf. Beide blickten unsicher in die schweigende Wüste. Weit und breit zeigte sich nichts Verdächtiges, aber es war ihnen, als würden sie von tausend Augen aus Winkeln, Nischen, Löchern, leeren Tür- und Fensteröffnungen beobachtet.

Langsam gingen sie zurück.

»Die Gegend ist doch nicht so verlassen, wie ich dachte«, sagte Sven.

»Was meinst du – Sicherheitsdienst? Oder sollten es Metallsammler sein?«

»Haben die nicht nötig. Stahl und Kupfer braucht man heute kaum mehr. Sind zu schwer.« Sven sagte es nachdenklich, als dächte er über einen bestimmten Punkt scharf nach. »Erinnerst du dich an die Bande, die man im Ruhrdistrikt ausräuchern musste?«, fragte er dann.

»Du meinst – Überlebende?«

»Sie wären nicht weniger gefährlich als Sicherheitstruppen oder Polizei.«

»Vielleicht ist es besser, wir verschwinden!«, meinte Ralph.

»Wenn wir schon entdeckt sind, nutzt uns das auch nichts mehr«, sagte Sven. »Wir werden eine Wache aufstellen.«

Sie betraten ihre Unterkunft. Von der gleißenden Helligkeit des sonnenübergossenen Gesteins geblendet, sahen sie zuerst nichts.

»Hallo, Carel«, sagte Sven und schaute sich um. »Wo steckst du?«

Auch Ralph sah ihn nicht. Das Gepäck lag da, wie sie es verlassen hatten. Von Carel war keine Spur zu sehen.

Ralph fühlte, wie sein rechtes Augenlid nervös zu zucken begann. Er zwang sich zur Ruhe und trat noch einmal an den Eingang. Er konnte sich davon überzeugen: Keine Spur führte weg außer jener, die sie gestern hinterlassen hatten, und den beiden frischen hin- und zurückführenden Trittfolgen von ihm und Sven.

Ein Ruf aus dem Inneren hieß ihn, zu kommen. Sven hatte einen Handscheinwerfer ergriffen und leuchtete die hinteren Partien des Raumes ab. Eine Öffnung gähnte ihnen schwarz entgegen. Stufenkanten bildeten eine sich nach abwärts verlierende Strichreihe.

»Sollen wir rufen?«, flüsterte Ralph.

»Nein!«, zischte Sven. Langsam stieg er die Stufen hinunter. Ralph hielt sich dicht hinter ihm. Nach zwanzig Schritten erreichten sie eine Plattform, die Steintreppe lief in der anderen Richtung weiter. Sie stiegen tiefer.

Es roch nach Moder, aber es war angenehm kühl. Ein kaum wahrnehmbares Geräusch ließ die Luft erzittern.

Sie erreichten eine zerbrochene Tür und traten hindurch. Ein finsterer Gang erstreckte sich nach beiden Seiten.

»Da! Hast du gehört?« Sven hatte das Licht gelöscht … In der Ferne konnten sie den Gangquerschnitt nebelhaft erleuchtet sehen … Auf Zehenspitzen schlichen sie vor. Ohne Licht. Ohne Geräusch. Aus unbestimmter Ferne hörten sie ein Plätschern.

Jetzt waren sie am Ende des Ganges angelangt und spähten um die Ecke. Hier öffnete sich ein Gewölbe, ein dünner Wasserstrahl floss von oben herab aus einer Deckenspalte in eine Wasserlache, die den hinteren Teil des Raumes erfüllte. Die Szenerie war von einem auf volle Intensität gestellten Handscheinwerfer erleuchtet. Carel stand am Rande der Wasserstelle. Er hatte sein Hemd ausgezogen, schöpfte mit den hohlen Händen und ließ sich das kühle Nass über Kopf und Brust rieseln.

»Mensch, hast du uns einen Schrecken eingejagt!«, rief Sven.

Carel drehte sich um und rief prustend: »Ein Bad gefällig? Es ist kühl und sauber!«

Sven trat hinunter zu ihm und blickte auf die dunkle, wellende Wasseroberfläche. »Du hast doch nicht getrunken?«

Carel schleuderte die Tropfen von seinen Händen.

»Na, und ob!«

Sven drehte sich zu Ralph um. »Hol den Geigerzähler!«, ordnete er an. »Nimm meinen Scheinwerfer!«

Kurz darauf hielt Ralph die Sonde des Zählers unter die Wasseroberfläche. Er blieb still.

Ralph erhob sich und blickte seine Gefährten an. Zum ersten Mal sah er Carel lachen.

Sven stand unbewegt. Er schwieg.

4

Auch Sven und Ralph reinigten und erfrischten sich, aber sie tranken nicht. Sie hatten noch genügend Tee in ihren Feldflaschen, und wenn das Wasser auch nicht radioaktiv war, so war deshalb seine Genießbarkeit noch lange nicht erwiesen.

Als sie in das Lager zurückgekehrt waren, sagte Sven: »Wir sitzen alle im gleichen Boot. Wenn einem von uns etwas zustößt, ist unser ganzes Unternehmen gefährdet.«

Als keiner antwortete, wandte er sich an Carel: »Das Wasser hätte verseucht sein können.«

Als dieser wieder nicht reagierte, fragte Sven eine Spur schärfer: »Was hast du dazu zu sagen?«

Carel schnitt ein Gesicht, als hätte ihn etwas Widerwärtiges berührt.

»Wenn hier etwas rein ist, dann ist es fließendes Wasser! Es kam aus dem Erdinnern – zweifellos eine der Quellen, die durch die Zerstörungen verschüttet wurden und sich einen neuen Weg gesucht haben. Es war keine Gefahr dabei.«

Sven erwiderte nichts darauf. Er wandte sich an Ralph: »Erzähl ihm, was wir festgestellt haben!«

Während Ralph der Aufforderung folgte, ließ Sven kein Auge von Carel. Dann sagte er: »Du weißt, was das für Leute sind. Du warst schon einmal hier, Carel!«

Carel lachte kurz auf.

»Na schön. Warum auch nicht. Aber was geht’s dich an? Unser Vorleben ist Privatsache – darüber wird nicht gesprochen.«

»Das ist keine Privatsache«, entgegnete Sven. »Es ist von größter Bedeutung für uns.«

»Wenn es keine Privatsache wäre, hätte man es dir gesagt – wer ich bin, was ich bisher getan habe …«

Sven sah ihn noch immer scharf an.

»Man hat es mir gesagt.«

»Dann weiß ich nicht, was du willst!«, sagte Carel.

»Jeder hat die Pflicht, sein ganzes Können und Wissen einzusetzen. Wenn du also eine Wasserstelle kennst, dann hast du uns das mitzuteilen, statt allein hinunterzuschleichen!«

»Ich habe sie nicht gekannt. Ich bin zwar einmal in der Gegend gewesen, aber nicht gerade hier. Als ich die Stiege bemerkte, sah ich mich um und fand das Wasser. Und da kamt ihr schon. Das war alles.«

»Du weißt, dass es hier Menschen gibt. Warum hast du es uns nicht mitgeteilt?«

Carel zuckte die Schultern.

»Damals, vor zwei Jahren, trieb sich hier eine Bande herum. Während der Ausbildung hörte ich, dass die Gegend gesäubert worden sei. Damit war die Sache erledigt.«

Sven lehnte sich an die Wand zurück und sagte in seinem gewohnten, schleppenden Ton: »Wir sind in einer außergewöhnlichen Situation – da gelten nicht mehr alle gewöhnlichen Regeln. Vor allem müssen wir einander vertrauen können. Wir dürfen nicht wie Fremde nebeneinander herlaufen.« Er machte eine kurze Pause. »Ich bin Schwede. Siebenundzwanzig Jahre alt. Bisher zweimal eingesetzt – in Karelien. Vor vier Wochen wurde ich Colonel. Aber das wisst ihr ja.«

»Ich bin im Distrikt Toulouse geboren«, sagte Ralph. »Dreiundzwanzig Jahre alt. Die gewöhnliche Ausbildung. Das ist mein erster Einsatz.«

Die beiden blickten Carel an.

»Ich sehe nicht ein, was das für einen Sinn haben soll«, sagte Carel. Er stützte das Kinn in die Hand. »Na, schön. Ich stamme aus Neu-Brünn. In Deutschland bin ich aufgewachsen. Ausbildung als Sprengstoffspezialist. Drei Jahre bei der Raketentruppe. War schon einmal hier – wir sprengten Hilderhall, das Atomzentrum. Das wär’s.«

»Ich hoffe, das hilft uns weiter«, sagte Sven. Er stand auf. »Es ist besser, wir sind auf der Hut. Ich übernehme die erste Wache.« Er sah müde aus, als er ins Freie trat.