DER GESICHTSLOSE FEIND - F. R. Lockridge - E-Book

DER GESICHTSLOSE FEIND E-Book

F. R. Lockridge

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

»Mein Name ist Grady«, sagte der Kleine, »und das ist Sergeant Shapiro.«

Beide blickten John Hayward an.

»Nun«, fragte Grady, »aus welchem Grunde haben Sie sie umgebracht?«

Er sprach weder theatralisch noch grob, sondern nur so, als ob die Antwort für ihn interessant sein könne, aber diese ganz gelassen gestellte Frage traf Hayward so heftig, als führe ein Blitz durch sein Gehirn. Er hatte einmal in einem Zug gestanden, als während der Verlangsamung der Fahrt vor einer Station zwischen zwei Wagen die Kupplung des Bremsschlauchs brach, und da schien es, als ob der Zug weitersauste und gleichzeitig Stillstand. John wurde, wie die übrigen im Gang stehenden Reisenden, nach vorn geschleudert, als habe sich vor ihm der Luftraum geöffnet. Er hatte, wie die anderen, wild mit den Armen gefuchtelt, um nach dem erstbesten Halt zu greifen. Und fast ebenso war ihm jetzt zumute - beinah körperlich empfand er es. Einen Augenblick vermochte er die beiden Männer gar nicht zu sehen, und in diesem Augenblick strafften sich die Sehnen seiner Hände, als müsse er sich an etwas festhalten...

 

Der Roman Der gesichtslose Feind von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1956; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1958 (unter dem Titel Nur ein Foto).

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

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F. R. LOCKRIDGE

 

 

Der gesichtslose Feind

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DER GESICHTSLOSE FEIND 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

»Mein Name ist Grady«, sagte der Kleine, »und das ist Sergeant Shapiro.«

Beide blickten John Hayward an.

»Nun«, fragte Grady, »aus welchem Grunde haben Sie sie umgebracht?«

Er sprach weder theatralisch noch grob, sondern nur so, als ob die Antwort für ihn interessant sein könne, aber diese ganz gelassen gestellte Frage traf Hayward so heftig, als führe ein Blitz durch sein Gehirn. Er hatte einmal in einem Zug gestanden, als während der Verlangsamung der Fahrt vor einer Station zwischen zwei Wagen die Kupplung des Bremsschlauchs brach, und da schien es, als ob der Zug weitersauste und gleichzeitig Stillstand. John wurde, wie die übrigen im Gang stehenden Reisenden, nach vorn geschleudert, als habe sich vor ihm der Luftraum geöffnet. Er hatte, wie die anderen, wild mit den Armen gefuchtelt, um nach dem erstbesten Halt zu greifen. Und fast ebenso war ihm jetzt zumute - beinah körperlich empfand er es. Einen Augenblick vermochte er die beiden Männer gar nicht zu sehen, und in diesem Augenblick strafften sich die Sehnen seiner Hände, als müsse er sich an etwas festhalten...

 

Der Roman Der gesichtslose Feind von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1956; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1958 (unter dem Titel Nur ein Foto).

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

 

  DER GESICHTSLOSE FEIND

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

In der ersten Morgenstunde des 24. April war John Hayward zweiunddreißig Jahre und einige Monate alt. Ein Mann von 1 Meter 80 Größe - Gewicht 72 Kilo - hellbraunes Haar mit Scheitel links, das er alle zwei Wochen schneiden ließ. Er hatte die Harvard-Universität absolviert, war Oberleutnant der Reserve beim Heer, unverheiratet, derzeit rechte Hand des Vizepräsidenten der Cotton Exchange National Bank. Sein Gesicht war sympathisch, ohne besonders auffällige Züge.

Zwanzig Minuten vor 1 Uhr an diesem Sonntagmorgen unterschied sich aber John Hayward doch von seinen Kollegen - von den übrigen, ebenso wohlbestallten jungen Bankbeamten mit guten Zukunftsaussichten und einwandfreier Vergangenheit, die in Manhattan wohnten, eines Tages aber in einem der mittelfeinen Vororte wohnen würden und noch jetzt, lange nach dem Abgang von der Universität, ihre Anzüge und Hemden bei Brooks Brothers kauften. Was ihn von denen unterschied, war sein strahlendes Gesicht, denn - er war glücklich.

Er schloss die Tür der Taxe und pfiff, ein bisschen falsch, eine Melodie aus der Operette vor sich hin, die er abends mit Barbara besucht hatte. Dem Fahrer rief er so unvermutet heiter »Gute Nacht!« zu, dass dieser durchaus nicht glückliche Mann prompt antwortete: »Nacht, Mister«, und ihm eine Weile kopfschüttelnd nachblickte. Benimmt sich ja, als hätte er gerade ’ne runde Million geerbt, dachte er.

John Hayward ging, noch leise pfeifend, über den Bürgersteig in das Appartementhaus, in dem er wohnte. In dem nur matt erleuchteten Vestibül hörte er zu pfeifen auf; man soll keinen Mitbewohner in der Nachtruhe stören, ob man ihn kennt oder nicht. Aber das Lächeln auf Haywards hübschem Gesicht blieb, denn er dachte natürlich an Barbara, die ihm seine Frage, ob sie ihn heiraten wolle, freudig mit Ja beantwortet hatte. Und das hatte sie erst vor einer Stunde getan, als sie neben ihm auf einem Sofa in der Bibliothek im Hause ihres Vaters saß, auf der 62. Straße in Manhattan-Ost.

John Hayward war eigentlich nicht überrascht gewesen, denn er besaß ja Menschenkenntnis. Trotzdem staunte er selbst, wie glücklich er sich auf einmal fühlen konnte; das hätte er gar nicht in sich vermutet.

Harry, der Nachtportier, saß auf einer Bank beim Fahrstuhl und begrüßte ihn mit »Guten Abend, Mr. Hayward«, als John ihn ansprach. Er betrachtete Hayward besonders aufmerksam, dem das jedoch kaum bewusst wurde, obwohl er sonst so scharfsichtig war - was man in der Bank als Aktivum für ihn buchte.

Als er im 5. Stock, nachdem Harry ihm die Fahrstuhltür geöffnet hatte, »Gute Nacht!«, sagte, antwortete der mit ungewohnt lauter Stimme: »Gute Nacht, Mr. Hayward!«, ohne dass John dieser bei Nacht eigentlich zu laute Gruß auffiel.

Er schritt durch den Korridor nach seiner Wohnungstür - wobei er, ohne sich dessen bewusst zu sein, wieder leise pfiff -, schob den Schlüssel ins Schloss und fand auf einmal, wie aus dem Nichts aufgetaucht, zwei Männer neben sich. Einen links, einen rechts. Der eine war ziemlich klein, aber ungewöhnlich breit, der zweite größer, hager, mit einem faltigen, gleichsam hängenden Gesicht.

»Sie sind John Hayward?«, fragte der kleinere ruhig und ganz ohne Betonung. John, der sich zum Aufschließen ein wenig gebückt hatte, richtete sich hoch und blickte erst den Frager, dann dessen Begleiter an.

»Was...«, begann er.

»Kriminalpolizei«, sagte der Kleine. »Wir möchten kurz mit Ihnen sprechen.«

John Hayward schien plötzlich nicht mehr denken zu können. Er musterte wieder die beiden.

»In der »Wohnung, wenn’s Ihnen recht ist«, sagte der Kleine. Dann wartete er stumm. Hayward drehte den Schlüssel, stieß die Tür auf und trat zurück.

»Bitte nach Ihnen, Mr. Hayward«, sagte der Kleine. »Gehen Sie nur voran.«

John ging hinein, sie folgten ihm.

»Möchte gewiss unsere Dienstmarken sehen«, sagte der Kleine und hielt schon das Metallschild in der hohlen Hand. »Zeigen Sie ihm Ihre auch, Nat.«

Der Große tat es. John betrachtete beide Marken, dann wieder die Männer und schüttelte den Kopf.

»Mein Name ist Grady«, sagte der Kleine, »und das ist Sergeant Shapiro.«

Beide blickten John Hayward an.

»Nun«, fragte Grady, »aus welchem Grunde haben Sie sie umgebracht?«

Er sprach weder theatralisch noch grob, sondern nur so, als ob die Antwort für ihn interessant sein könne, aber diese ganz gelassen gestellte Frage traf Hayward so heftig, als führe ein Blitz durch sein Gehirn. Er hatte einmal in einem Zug gestanden, als während der Verlangsamung der Fahrt vor einer Station zwischen zwei Wagen die Kupplung des Bremsschlauchs brach, und da schien es, als ob der Zug weitersauste und gleichzeitig Stillstand. John wurde, wie die übrigen im Gang stehenden Reisenden, nach vorn geschleudert, als habe sich vor ihm der Luftraum geöffnet. Er hatte, wie die anderen, wild mit den Armen gefuchtelt, um nach dem erstbesten Halt zu greifen. Und fast ebenso war ihm jetzt zumute - beinah körperlich empfand er es. Einen Augenblick vermochte er die beiden Männer gar nicht zu sehen, und in diesem Augenblick strafften sich die Sehnen seiner Hände, als müsse er sich an etwas festhalten.

Und dann sah er die Männer deutlich und wusste, dass sie warteten. Er holte tief Atem, ohne sich das anmerken zu lassen, und sagte: »Ich weiß leider nicht, wovon Sie reden.« Und brachte das ganz gelassen heraus, ebenso unbetont, wie Grady gesprochen hatte. Nach dieser Antwort wirbelte er nicht mehr hilflos in einem Vakuum, sondern war wieder John Hayward, ein Mann, der Selbstbeherrschung gelernt hatte, die ein Bankbeamter haben muss. Er hatte noch etwas hinzufügen wollen, zog aber vor zu schweigen und wartete.

»Er weiß nicht, wovon wir reden«, sagte Sergeant Grady zu seinem Kollegen Shapiro. »Mir nichts, dir nichts erklärt er, dass er gar keine Ahnung hat, was wir meinen.«

Beide blickten Hayward an, der sich zwang, nichts mehr zu sagen. Es war falsch, zu schnell zu sprechen, und besser, überhaupt nicht zu sprechen. Er hatte gesagt, was hier zu sagen war, und... Aber plötzlich packte ihn eine große Angst, eine Angst, die so laut in ihm schrie, dass er nicht hören konnte, was Sergeant Shapiro, dessen Lippen sich bewegten, antwortete.

Ein Name schrie in seinem Gehirn: Barbara! Barbara! 

»An etwas gedacht, Mr. Hayward?«, fragte Grady im selben Ton wie vorher. »Erinnern sich, ja?«

Er hatte sie vor einer Stunde verlassen, vor weniger als einer Stunde. Sie war mit ihm bis zur Tür ihres Hauses gegangen, hatte ihn geküsst und dann gesagt: Nun lauf nach Hause. Aber - nicht zu weit von mir fort. Hatte die Arme ausgebreitet, und sie hatten sich wieder geküsst, nicht so flüchtig wie vorher. Fest hatte sie ihn an sich gepresst und gesagt: Lauf niemals weit von mir fort!, und dann auf einmal hatte sie ihn von sich geschoben und ihm ins Gesicht gestarrt.

»Wer ist umgebracht worden?«, fragte John Hayward mit ganz fester Stimme. »Von wem reden Sie?«

Er merkte an ihren Gesichtern, dass sie auf diese Frage gewartet hatten, und wusste, dass sie sie erfreut zur Kenntnis nahmen.

»Von wem?«, wiederholte er.

Die Kriminalbeamten wechselten einen Blick, offenbar befriedigt, obwohl Shapiros Gesicht bekümmert wirkte.

»Das ist eine vernünftige Frage«, sagte Sergeant Grady. »Begreiflich, dass einer gern...«

»Sagen Sie’s mir!«, unterbrach ihn John Hayward. Seine Stimme klang jetzt hart und gepresst. »Wer ist denn getötet worden?«

»Vollkommen unschuldig«, sagte Grady. »Weiß nicht einmal ihren Namen. Glaubt, er sei Er sprach den Satz nicht zu Ende, schüttelte den Kopf und sagte in einem neuen, fast ärgerlichen Ton: »Nora Evans, Mr. Hayward. Was hatten Sie denn gedacht?«

Der Zug war wieder in Fahrt, die Luft wieder zu atmen.

»Von einer Nora Evans habe ich nie gehört«, entgegnete John.

Sie blickten ihn forschend an und warteten ohne Zweifel auf weitere Erklärungen. Er ließ sie warten.

»Sieht aus, als wenn er’s allen Beteiligten schwermachen will«, sagte Sergeant Grady, »finden Sie nicht auch, Nat?«

Shapiro nickte mit düsterer Miene.

»Nora Evans«, sagte Grady. »Rothaarig. Hübsch - bis ungefähr zwei, drei Uhr heute, vielmehr gestern, Nachmittag. Klar kennen Sie die, Mr. Hayward, so gut wie jeder andere sie kennen konnte.«

»Nein«, entgegnete John. Er zwang sich, weiter ohne Zorn zu sprechen. »Ich habe sie nicht gekannt.«

Grady schnalzte mit der Zunge, als sei er verwundert über unglaubliche Dummheit oder kindische Dickköpfigkeit.

»Okay«, sagte er, »wie Sie wollen, Mr. Hayward.«

Er schwieg eine Weile. Anscheinend wollte er es jetzt auf ganz andere Weise versuchen.

»Will Ihnen mal was sagen«, fing er wieder an, »wir können vielleicht Ihr Gedächtnis auffrischen. Meinen Sie nicht, dass wir das könnten, Nat?«

»Versuchen können wir’s«, erwiderte Sergeant Shapiro. »Das können wir immer.« Sein Ton klang wenig zuversichtlich.

Er ging einen Schritt auf Hayward zu und nahm dessen rechten Arm in einen eisernen Griff. Sie gingen, jeder an seiner Seite, mit ihm durch den Flur zum Fahrstuhl und fuhren hinunter.

Harry sagte erstaunt: »Ach herrje, Mr. Hayward! Die beiden...«

Grady gebot ihm, den Mund zu halten. Harry schwieg, schüttelte aber langsam den Kopf.

In der kleinen Limousine, die vor dem Hause stand, setzte sich Grady hinten neben John Hayward. Von dessen Wohnung im Bezirk Murray Hill bis zum Städtischen Leichenschauhaus im Bellevue-Krankenhaus hatten sie nicht weit zu fahren.

Für April war es verhältnismäßig warm in New York. Sogar in dieses steinerne Meer drang ein wenig von der Frische des Frühlings. Im Leichenschauhaus aber war es kalt, und es roch nach vielerlei Chemikalien.

»Evans«, sagte Grady zu dem Uniformierten im Vorraum. Der nickte nur, öffnete eine Tür und führte sie durch einen anscheinend feuchten Korridor in einen ziemlich großen Raum, in dem mehrere Metalltische standen. Auf einem lag zugedeckt eine Leiche. Das Laken schien fest an ihrem Körper zu haften. Shapiros schwere Hand steuerte John hastig bis vor diesen Tisch und brachte ihn dort beinah mit einem Ruck zum Stehen. Grady zog das Laken vom Oberkörper der Toten.

Das Mädchen war - wie er gesagt hatte - hübsch gewesen. Es hatte rotes Haar, rotbraunes vielmehr. Die Augen waren geschlossen, das Gesicht etwas verfärbt. An dem schlanken Hals waren mehrere kleine Wunden zu sehen, eigentlich nur Kratzer.

»Nun?«, fragte Grady. »Was sagen Sie jetzt?«

»Nein.« Johns Stimme war fest. »Habe diese Frau nie gesehen. Ist das...?« Er zögerte. »War das Nora Evans?«

»Ganz recht«, antwortete Grady. »Zeigen Sie uns mal Ihre Hände, Mr. Hayward.«

John streckte seine Hände vor. Es waren schmale, kräftige Hände mit langen Fingern. Grady betrachtete sie.

»Wären ungefähr richtig, nach meiner Ansicht. Stimmt das nicht, Nat? Die Nägel eigentlich auch. Sind deutlich markiert bei ihr, sehen Sie das, Mr. Hayward? Nägel haben ein bisschen ins Fleisch geschnitten. Kommt ja vor, so was.«

»Ich hab’s nicht getan«, sagte John. »Sie meinen, dass sie erwürgt worden ist?«

Grady seufzte, ganz tief und lange. Schüttelte den Kopf.

»Habe sie noch nie gesehen«, erklärte John wieder.

»Schauen Sie genauer hin und länger«, sagte Grady, indem er das Laken ganz abzog.

Ja, Nora Evans’ Gesicht war hübsch gewesen, ihr Körper, jetzt ihren Blicken preisgegeben, sogar schön.

»Na, stärkt das nicht Ihr Gedächtnis?«, fragte Grady.

John wandte den Blick von der schlanken Toten und blickte Grady frei ins Gesicht.

»Nein. Habe sie nie gesehen.«

Grady, an der anderen Seite des Tisches, fixierte ihn über den weißen Leib der Ermordeten hinweg und forderte ihn auf, sie noch einmal genau zu betrachten. John Hayward tat es, und sagte - zum vierten Mal »Nein.«

»Was soll denn das nur?«, fragte ihn Grady. »Andauernd geben Sie die falsche Antwort. Weshalb sagen Sie nicht einfach, dass Sie sie nicht getötet haben?« Er blickte Shapiro an, der neben John stand. »Ist doch ein vernünftiger Ratschlag, nicht wahr, Nat? Liegt doch Sinn drin.«

Sergeant Shapiro gab keine Antwort.

»In Ordnung«, sagte Grady, »es geht ja um Ihren Kopf, Mr. Hay- ward, nicht um meinen.« Er zog das Laken wieder über den nackten Leib der toten Nora Evans. »Also gut, dann wollen wir gehen.«

Sie verließen das Leichenhaus, stiegen in den Wagen und fuhren zum zuständigen Polizeirevier. Hier brachten sie Hayward in einen mittelgroßen Raum mit einem Tisch, einigen Holzstühlen und einem hoch in der Wand angebrachten vergitterten Fenster. Sie forderten ihn auf, sich hinzusetzen, gingen hinaus und schlossen die Tür ab. Nach ein paar Minuten kam Grady zurück. Er hatte ein großes Kuvert in der Hand, das er auf den Tisch legte.

»So, hier tun Sie jetzt alles hinein, was Sie in den Taschen haben«, sagte er. »Wir bewahren es für Sie auf.«

John nahm die Sachen aus seinen Taschen: eine Brieftasche mit etwas über hundert Dollar in Scheinen, einen Ring mit fünf Schlüsseln, ungefähr neunzig Cent in Münzen, zwei U-Bahn-Karten. Aus der inneren Rocktasche einen Füllhalter und ein kleines Notizbuch, aus der vorderen Brusttasche ein glatt gefaltetes Taschentuch und aus der rechten Hüfttasche ein verknülltes.

»Die behalten Sie nur«, meinte Grady, indem er die Taschentücher zurückschob. »Könnten sich ja erkälten.«

Aus einer anderen Tasche holte Hayward noch ein fast volles Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug.

»Dürfen Sie auch behalten«, sagte Grady, »ebenso Ihre Uhr.«

Er trat hinter John und tastete ganz schnell, beinah zart, seine Kleidung ab. Zufriedengestellt, dass er keine Schusswaffe fand, sagte er: »Okay.« Mit der Erklärung, er werde John eine Empfangsbestätigung bringen, sobald das Abgelieferte registriert sei, ging er mit dem Kuvert hinaus und schloss die Tür wieder ab.

John Hayward zündete sich eine Zigarette an. Sie schmeckte nach Desinfektionsmitteln.

Er schaute auf seine Armbanduhr. Noch nicht ganz zwei. Kaum eine Stunde war vergangen, seit er den Schlüssel in seine Wohnungstür gesteckt hatte. Und vor zwei Stunden erst hatte Barbara Phillips ihm gesagt, dass sie ihn sehr gern heiraten würde. Dann hatte er eine Melodie gepfiffen, war fortgegangen, und - auf einmal war alles wie ausgelöscht. Sinnlos.

Hier lag selbstverständlich ein gewaltiger, unvertretbarer Irrtum vor, vielleicht von mehreren, denn Grady und Shapiro führten doch gewiss nur aus, was ihnen befohlen war. Also lag der Irrtum anderswo, bei einer höheren Instanz. Irgendwo und irgendwie war etwas falsch gelaufen. Da jedoch in der Welt immerhin eine gewisse Ordnung herrscht, musste sich das natürlich aufklären.

Einige Minuten vor 2 Uhr an diesem Sonntagmorgen, dem 24. April, wusste John Hayward, dass in den Affären der Menschheit letzten Endes Ordnung herrscht. Er war nicht überzeugt davon, aber sein Gefühl sagte ihm das. Irrtümer kamen vor, gewiss, doch die wurden richtiggestellt. Dieser jedenfalls bestimmt. Sonst müsste ja die Welt in einem tollen Zustand sein, und alles verlor seinen Sinn. Und das, meinte John Hayward, könne einfach nicht passieren.

Abgesehen von ein paar Ausnahmen, Fällen, die so selten waren, dass man ihnen kaum Bedeutung beizumessen brauchte - dass jemandem von einem Dach etwas auf den Kopf fiel, war das einzige Beispiel, das ihm jetzt einfallen wollte -, geschah doch eigentlich, wie er aus seinem Bekanntenkreis wusste, völlig Unerwartetes kaum. Man konnte zwar krank werden und an der Krankheit sterben, aber das war eben der Lauf der Dinge, wenn auch kein erfreulicher. Im Krieg, den John in Korea kennengelernt hatte, kamen Männer plötzlich zu Tode, doch das gehörte mit zur Ordnung der Welt; es war abscheulich, aber doch gleichsam ein planmäßig verlaufendes Geschehen. Kurzum: Ganz Unerwartetes geschah nicht.

Zumindest war es John bisher nicht begegnet, und was jetzt hier geschah, konnte, weil es absurd war, nur von kurzer Dauer sein. In seinem bisherigen Leben war alles nach Plan vor sich gegangen, zuerst nach den Plänen seiner Eltern, später nach seinen eigenen. Er war auf die höhere Schule geschickt worden und nachher auf die Universität. Hatte in Harvard Baseball gespielt. Hatte nach dem Examen mit seinen Eltern zur Erholung einen Sommer in Europa verlebt und anschließend im Herbst die praktische Arbeit in der Bank begonnen. Und Geordneteres als eine Bank gibt es auf der Welt kaum, denn nirgends werden Irrtümer mit größerer Sorgfalt berichtigt. In einer Bank - und besonders in einer so gut geleiteten wie der Cotton Exchange National - sieht man die Entwicklung der Dinge im allgemeinen voraus. In einer Bank führt, sachlich und unweigerlich konsequent, jeder Schritt zum nächsten, und Rechenfehler unterlaufen höchstens dem Kunden.

John wunderte sich ein wenig - als er jetzt in dem Raum mit dem vergitterten Fenster darauf wartete, dass der Irrtum, der ihn hierhergebracht, entdeckt und aufgeklärt werde -, dass ihn die beruhigenden Gedanken, auf der Welt habe alles seine Ordnung, so beschäftigten, denn das Selbstverständliche vollzog sich doch ohne Worte. Und bisher hatte es sich für ihn auch ohne besonderes Nachdenken vollzogen.

Als er ein Geräusch an der Tür hörte, seufzte er leise, mit dem Gefühl der Erleichterung. Bis jetzt war ihm nicht bewusst gewesen, dass er sich bedrückt gefühlt hatte. Ärgerlich, gewiss, auch ein wenig erschüttert und als Mitmensch betrübt über das gewaltsame Ende eines jungen Mädchens.

Die Tür ging auf, vier Männer kamen herein, unter ihnen Grady. Außer ihm ein großer, breiter Mensch mit dickem rotem Gesicht und tiefliegenden, scharfen blauen Augen, ferner ein viel jüngerer mit hagerem Gesicht und auffallend scharf geschnittener Nase. Er trug einen Sportsakko und eine rotkarierte Weste. Der vierte war in Uniform.

Sofort durchfuhr John Hayward der Gedanke, dass nicht vier Männer nötig waren, um ihm zu erklären, dass jemand einen Irrtum begangen hatte.

Der Große mit dem dicken Gesicht hatte eine überraschend sanfte Stimme. »Sie hatten ja nun Zeit zum Nachdenken, Mr. Hayward«, sagte er. »Also: Weshalb haben Sie das Mädchen umgebracht?«

»Ich habe doch schon Mr. Grady erklärt...«

Der Große schüttelte den Kopf. Er wisse ja, was Hayward zu Grady gesagt habe. »Im Grunde vergeuden Sie hier nur die Zeit aller Beteiligten. Sie sind doch ein intelligenter Mensch und müssten das einsehen. - Hatte Sie betrogen, das Mädel, wie?«

»Ich habe sie nie im Leben gesehen«, entgegnete Hayward. Er fand, dass seine Stimme ruhig klang und seine Gedanken klar arbeiteten. »Zum ersten Mal in dem Leichenhaus«, ergänzte er.

»Nein«, sagte der Große. »Sie haben ein Verhältnis mit ihr gehabt. Und zwar - wie war das noch, Tom?«

Tom war der Sergeant Grady. Er zog ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin, bis er die gewünschte Seite gefunden hatte.

»Am 4. November war sie eingezogen. Angesehen hatte sie sich die Wohnung am... Moment mal... ja, Mitte Oktober. Zweimal sogar, das erste Mal allein. Beim zweiten Mal sind Sie ihr Begleiter gewesen, Mr. Hayward. Haben eine Anzahlung geleistet in Höhe von« - er sah wieder in sein Notizbuch - »dreihundertdreißig Dollar. Die Miete für zwei Monate im Voraus.«

John schüttelte den Kopf. »Nein. Ich weiß nicht einmal, von welcher Wohnung Sie reden. Hatte das Mädchen doch noch nie gesehen.«

Wieder am selben Punkt. Immer und immer wieder lief es darauf hinaus. Johns Stimme wurde müde, nach einer Weile kam sie ihm selbst fremd vor. Doch er blieb zähe bei seiner Behauptung. »Habe sie nie gesehen. Kenne sie nicht. Sie begehen hier einen Irrtum, müssen mich mit jemand verwechselt haben.«

Die vier waren geduldig. Das waren sie immer. Sie konnten sich unbegrenzt Zeit nehmen. Und waren ihrer Sache vollkommen sicher, wie sich eigentlich von Anfang an gezeigt hatte und auch zu spüren war in der sanften Tonart, die der große Breitschultrige anschlug, der Frank Miller hieß und Captain bei der Kriminalpolizei war. Spürbar auch in der hohen und harten Stimme des Hageren, Martinelli, der zum Büro des Staatsanwalts gehörte. Die Namen dieser Männer verankerten sich in Haywards Gedächtnis, während sie bei dem stundenlangen Verhör miteinander sprachen und, der eine wie der andere, immer wieder bedauerten, dass er so dumm und so halsstarrig fortwährend etwas leugnete, das sich glatt beweisen ließ.

Sie erklärten ihm das näher und gaben sich große Mühe dabei. Es sei doch unklug von ihm, zu bestreiten, dass er Nora Evans gekannt habe, denn er hätte doch eine Wohnung für sie gemietet, die - wie sich ergab - auf der 11. Straße in Manhattan-Ost lag, dicht an der Fifth Avenue. Allerdings erklärten sie ihm nicht ausdrücklich, was er nach ihrer Überzeugung bestimmt wusste.

»Sagen Sie nur, dass Sie sie nicht getötet haben«, legte ihm Miller in seinem milden Ton nahe, indem er sich zu ihm vorbeugte. Er saß, mit seiner massigen Gestalt nach beiden Seiten die Sitzfläche überdeckend, auf einem der steifen Holzstühle, die Beine gespreizt, die großen Hände auf seine dicken Knie gestützt. »Sie haben ein Recht, das zu sagen. Jeder Mensch hat das Recht, zu sagen, dass er keinen Mord begangen hat.«

»Ich habe sie gar nicht gekannt«, entgegnete John. »Habe sie zu ihren Lebzeiten niemals gesehen. Wie kann ich sie also getötet haben?«

»Vielleicht hatten Sie ja auch gar nicht die Absicht«, sagte Miller, noch sanfter, um ihm die Antwort leicht zu machen. »Haben vielleicht mit ihr nur allerlei Unfug getrieben, wie der Mensch das ja mal macht, nicht wahr. Und dabei nur die Hand an ihren Hals gelegt, um sie von sich zu schieben oder so. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Oder vielleicht ist sie mit einem Gegenstand in der Hand auf Sie losgegangen - ist vielleicht wütend geworden, weil Sie sie verlassen wollten -, und Sie hatten nur die Absicht, sich die Frau vom Leibe zu halten? Haben nicht daran gedacht, wie leicht und einfach man unter Umständen einen Menschen ins Jenseits befördern kann? Manchmal trifft man da die - wie heißt doch das Ding, Marty?«

»Arteria carotis - die Halsschlagader«, sagte Martinelli. »Natürlich könnte es so gewesen sein, Mr. Hayward. Und wenn’s so passiert ist, wäre es ja eigentlich nur ein unglücklicher Zufall, verstehen Sie?«-

Aber als das würden die es bestimmt nicht auslegen - weder Miller noch Martinelli, der Adlatus des Staatsanwalts. Das brauchten sie John Hayward nicht vorzumachen.

»Ich habe sie nicht gekannt«, wiederholte er, und sie schüttelten die Köpfe über seine Sturheit und fragten ihn, was das nur bedeuten solle, sich auf diese Behauptung so zu versteifen.

»Will Ihnen klarmachen, wie es gewesen sein könnte«, sagte jetzt Grady. »Möglicherweise treffe ich das Richtige. Vielleicht war, als Sie gestern Nachmittag hinkamen, Miss Evans schon tot? Es kann ja schon einer vor Ihnen dagewesen sein - vielleicht einer, der geglaubt hat, er werde von ihr betrogen. Klar, was ich meine? Und als Sie sahen, dass sie tot war, bekamen Sie panische Angst und hatten nur den Wunsch, schnell aus der Wohnung zu kommen. So könnte es doch gewesen sein.«

»Sicher«, meinte Miller, »das ist sehr einleuchtend, Grady. Und Sie...?«

»Ich bin nie in der Wohnung gewesen«, erklärte John. »Habe sie niemals betreten und das Mädchen bei Lebzeiten nie gesehen.«

Sie hörten zu, jedoch ohne Aufmerksamkeit. Ohne wirkliche Aufmerksamkeit. Ob er vielleicht etwas über einen Dritten zu sagen wisse, fragten sie. Nora Evans könne ihm doch von diesem anderen erzählt haben - von einem, den sie schon vor ihm gekannt und von dem sie sich getrennt hatte, einem, der sie vielleicht bedroht hatte - eifersüchtige Drohungen, die sie nicht ernst nahm. So was habe es schon gegeben, das müsste auch Mr. Hayward wissen. Er würde doch nicht etwa den anderen Mann decken wollen - falls da ein Dritter im Spiel war?

»Sie war ein hübsches Mädel«, sagte Miller, dessen sanfte Stimme jetzt traurig klang. »Kann kaum älter als zwei- oder dreiundzwanzig gewesen sein. Habe selbst eine Tochter in dem Alter.« Er machte eine Pause. »Bringt einen auf Gedanken«, setzte er hinzu.

Aber John wiederholte ständig, was er von Anfang an gesagt hatte, und sie schüttelten weiter die Köpfe wie bisher, ohne die Geduld zu verlieren. Sie drohten ihm auch nicht, doch der Unglaube aller vier wirkte wie eine massierte Drohung. Sie rührten ihn weder an, noch setzten sie ihn grellem Licht aus, um seine Augen zu, quälen. Sie ließen ihn rauchen, soviel er wollte. Der Mund wurde ihm von den zu schnell gerauchten Zigaretten heiß und trocken, doch er rauchte, fast ohne es zu wissen, eine nach der andern. Als nach ungefähr einer Stunde sein Feuerzeug nicht mehr funktionierte, half Miller ihm mit Streichhölzern aus, und als sein Päckchen Zigaretten leer war und er es zusammengeknüllt auf den Tisch warf, nahm Miller eines aus der eigenen Tasche und legte es ihm zum Zugreifen hin.

Über eine Stunde lang hielten sie ihm pausenlos dasselbe vor: dass Nora Evans tot sei, dass sie in einer Wohnung auf der 11. Straße getötet worden, dass sie seine Freundin gewesen sei und schließlich - dass er sie getötet habe. Aber sie wären, begann John zu glauben, schon zufrieden gewesen - vorläufig zufrieden -, wenn er nur zugegeben hätte, dass er sie kannte und sie seine Freundin gewesen sei. Dass er dies nicht zugeben, sich nicht der ihm gebotenen Möglichkeiten bedienen wollte - dass ein anderer der Mörder sein müsse oder ihr Tod auf einen unglücklichen Zufall zurückzuführen war -, das machte sie stutzig. Langsam begann ihm das klarzuwerden. Er sagte fortwährend das Falsche. Das hatte ihm Grady gesagt, schon an der Leiche der Ermordeten, und Miller hatte es ihm gesagt. Ebenfalls Martinelli. Freilich ändert das nichts an ihrer Überzeugung, dachte er. Es wundert sie nur.

Nachdem es zwei Stunden so gegangen war, kam ein fünfter Mann herein. Er hieß Garfield und war Polizeileutnant.

»Hallo, Lieutenant«, sagte Miller. »Hat ’ne Weile gedauert, wie?«

Garfield, Mitte der Vierzig, hatte schwarzes Haar und schwarze Augen. Er sprach sehr schnell, aber jede Silbe scharf und deutlich.

»Sagt, er hat sie gar nicht gekannt«, berichtete ihm Miller. Garfield musterte John mit ausdrucksloser Miene. »Behauptet, nie in der Wohnung gewesen zu sein.«

Garfield holte ein Kuvert aus der Tasche und entnahm diesem ein Blatt Papier, das er vor John auf den Tisch legte. Es war ein Scheck. Ausgestellt auf die Riverside National Bank, zahlbar an Applegate & Meyer, Grundstücksverwaltungen. Betrag: 165 Dollar. Unterschrift: John Hayward.

John betrachtete den Scheck. Ihm war, als sei er leicht betäubt, als befände sich zwischen ihm und der Wirklichkeit eine Glasscheibe - eine unsichtbare und dennoch undurchdringliche Glasscheibe. Seine Gedanken schienen vergeblich gegen diese Scheibe zu stoßen.

Sie warteten.

»Sieht aus wie meine Unterschrift«, sagte John Hayward mit tonloser Stimme, die nicht zu ihm zu gehören schien. »Aber ich habe das nicht geschrieben. Habe bei dieser Bank kein Konto.« Die Glasscheibe schien sich aufzulösen. Da lag der Irrtum - sie mussten ihn doch erkennen! Vielleicht nicht vor Montag - morgen - früh, aber dann genügte ein Telefonanruf. »Nein«, würde dann der Bankdirektor ihnen Auskunft geben, »wir haben keinen Kontoinhaber dieses Namens!«

»Die Miete für den nächsten Monat«, sagte Garfield. »War heute Morgen in der Post der Firma Applegate, also konnten sie den Scheck noch nicht gutschreiben lassen.« Er blickte John an, der den Kopf schüttelte. »Mussten erst den Buchhalter ausfindig machen«, wandte Garfield sich an Miller und Martinelli, »und ihn zu uns kommen lassen.«

»Glück gehabt«, meinte Miller.

»Ja«, antwortete Garfield. »Mr. Hayward bezahlt regelmäßig, schon einige Tage vor dem Ersten.« Er ließ John nicht aus den Augen. »Die Schecks sind jedes Mal honoriert worden, Mr. Hayward, also haben Sie doch offenbar ein Konto da. Sie sind selbst Bankbeamter, daher gibt’s für Sie in diesen Dingen wohl keine Zweifel.«

John nahm den Scheck in die Hand und hielt ihn so, dass das Licht hell darauf fiel. Es war natürlich eine Fälschung, das musste doch zu erkennen sein. Doch er konnte nichts Unechtes entdecken. Wenn er es nicht gewusst hätte, würde er die Unterschrift ohne Bedenken als echt anerkannt haben.

»Es ist eine Fälschung«, erklärte er. »Sehr gut gemacht, aber ich habe das nicht geschrieben.«

Und jetzt wusste er: Das Ganze war kein simpler Irrtum. Es war eine vorbereitete Sache, eine Falle, die man ihm gestellt hatte.

Sie schüttelten die Köpfe, schienen ihn zu bemitleiden. Gaben sich nicht einmal die Mühe, ihm zu antworten. Garfield nahm den Scheck wieder an sich, tat ihn in den Umschlag und schob ihn in die Tasche.

»Weshalb haben Sie sie umgebracht, Mr. Hayward?«, fragte Miller, wieder in seinem sanften Ton. »Weil sie Ihnen im Wege war? Wegen Miss Phillips? Oder weil

Er hielt inne. John hörte nicht zu. Es war eine Falle, die ihm jemand gestellt hatte, die ein Mörder ihm gestellt hatte. Kunstvoll konstruiert von...? In seinem Kopf wirbelten die Gedanken. Von wem? Von einem, der die Falle, ohne ein bestimmtes Opfer zu erwarten, aufs Geratewohl so hingesetzt hatte, dass irgendjemand in sie hineinstolpern musste? Aber nein, so einfach konnte die Sache nicht liegen. War es einer, der ihn hasste? Der sogar fertigbrachte, ein Mädchen zu töten, um die Falle seines Hasses zuschnappen zu lassen?

»Hören Sie zu, Mr. Hayward«, sagte Miller sanft und ohne die Stimme zu heben. »War es wegen Barbara Phillips? Weil Miss Evans gedroht hat, alles zu erzählen, falls Sie sie im Stich lassen sollten? Das heißt: es Miss Phillips zu erzählen? Und weil es dadurch zum Bruch zwischen Ihnen und Miss Phillips gekommen wäre? Wenn sie erfuhr, dass Sie diese Geliebte aushielten, während Sie...«

»Nein«, erwiderte John. »Ich habe Miss Evans nicht ausgehalten. Habe sie überhaupt nie...?«

»Wieder die falsche Platte«, fiel ihm Miller ins Wort. »Immerfort sagen Sie das Falsche.« Aber auch jetzt noch war er ganz geduldig. »Sie sind doch mit Miss Phillips häufig zusammen gewesen, soweit wir festgestellt haben. Sie beide sind...«

Zum ersten Mal unterbrach ihn jetzt John. »Waren Sie etwa bei ihr? Haben sie belästigt? Auch ihren Vater?«

Miller warf Lieutenant Garfield einen Blick zu.

»Noch nicht«, sagte Garfield. »Das würde Ihnen gewiss nicht gefallen, Mr. Hayward, wie? Wo Mr. Phillips einen so hohen Posten bei der Bank hat, einen Posten, der ihm gestattet, Sie zu fördern. Oder auch das Gegenteil.« Er machte eine Pause, ehe er hinzufügte: »Hätte fördern können, meine ich.«

»Und«, ergänzte Miller, »wo die Phillips doch so reich sind!« John schüttelte nur den Kopf. Das alles stimmte durchaus. Martin Phillips war Erster Vizepräsident des Bankkonzerns und sehr vermögend. Das hatte freilich mit ihm und Barbara nichts zu tun. Aber es wäre ihm unmöglich gewesen, das Miller und Garfield näher zu erklären, damit der Mann in Uniform, der Polizeistenograf, alles notierte.

»Sie hatten doch die Absicht, Miss Phillips zu heiraten?«, fragte Miller.

John antwortete in ruhigem Ton: »Ja, ich werde Miss Phillips heiraten.«

Er meinte zu erkennen, dass sie wieder stutzig wurden, diesmal durch den Wechsel der Zeitform in seinem Satz. Weil sie doch überzeugt waren, dass er ein junges Mädchen getötet hatte und infolgedessen zum Heiraten nicht kommen würde. Sie war doch noch komplizierter - die Falle, in die er gegangen war, als er, ein bisschen falsch, die Melodie aus der Operette pfiff, die er mit Barbara gesehen hatte. Es musste mehr dahinterstecken.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Und es steckte mehr dahinter. Jetzt kam die Geschichte mit den zwei weißen Hemden.

Es waren ganz gewöhnliche Hemden, gute Stoffqualität, mit Kragenspitzen von mäßiger Länge. Gekauft bei Brooks Brothers. Sie zeigten ihm die Hemden eine Stunde nachdem sie ihm den Scheck von der Riverside-Bank vorgelegt hatten.

In dem jetzt von Zigarettenqualm erfüllten Raum war es heiß geworden. John fing an zu husten, denn inmitten der Qualmwolken reizte der Rauch, den er heiß in die Lungen sog, seine Kehle noch mehr. Sie warteten stumm, während er hustete. Auf ein Kopfnicken von Miller ging der Uniformierte hinaus und kam mit einem Krug Wasser und mehreren Gläsern wieder. Das Wasser, aus der Leitung, war lauwarm, doch John trank es durstig.