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Alle Gesichter wandten sich zur Tür. Auch Celia hob den Kopf und blickte hin. Phipps drehte sich im Sessel herum, Fay Burnley, die mit dem Rücken zur Tür saß, ebenfalls. Ihre Gesichter waren für einen Augenblick alle starr, ohne Ausdruck, noch leer im ersten Staunen und in unsicherer Erwartung. Sie sahen aus wie unvermutet vom Blitzlicht eines Fotographen festgehaltene Menschen.
Freddie sprang gleich auf und ging mit schnellen Bewegungen hinaus, um zu öffnen. Aller Augen folgten ihr, der schlanken jungen Frau, wie sie in stolzer Haltung dahinschritt...
Der Roman In der Nacht vor Neujahr von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1949; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1959.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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F. R. LOCKRIDGE
In der Nacht vor Neujahr
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
IN DER NACHT VOR NEUJAHR
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Alle Gesichter wandten sich zur Tür. Auch Celia hob den Kopf und blickte hin. Phipps drehte sich im Sessel herum, Fay Burnley, die mit dem Rücken zur Tür saß, ebenfalls. Ihre Gesichter waren für einen Augenblick alle starr, ohne Ausdruck, noch leer im ersten Staunen und in unsicherer Erwartung. Sie sahen aus wie unvermutet vom Blitzlicht eines Fotographen festgehaltene Menschen.
Freddie sprang gleich auf und ging mit schnellen Bewegungen hinaus, um zu öffnen. Aller Augen folgten ihr, der schlanken jungen Frau, wie sie in stolzer Haltung dahinschritt...
Der Roman In der Nacht vor Neujahr von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1949; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1959.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Ich habe doch wirklich keinen Grund, besorgt zu sein, redete sich Freddie Haven ein. Lohnt nicht, darüber nachzudenken; ich bin doch kein Backfisch mehr; warum gleich schwarzsehen. Nur weil es sich um diesen Mann handelt? Ich bin doch ein erwachsener Mensch – war doch schon mal verheiratet! – Ja, Jade, Ihr erster Mann, dessen Augen so fröhlich waren und in dessen Stimme immer ein zuversichtliches Lachen mitschwang, der aus dem Krieg nicht zurückgekommen war! Dies ist jetzt nicht dasselbe, kann es gar nicht sein, sagte sie sich. – Nein, es waren die Gefühle gereifter Menschen: ehrliche Sympathie, gleiche Interessen; Zuneigung, aber nicht Verliebtsein! Nicht fieberndes Verlangen, unsinnige Angst und süßer Glückstaumel.
Freddie Haven betrachtete sich im Spiegel ihres Frisiertisches. Sie griff nach der silbergefassten Bürste und strich über ihr tief rotes Haar. Freddie war gewohnt, dass es bewundert wurde und jedem gefiel. Es haftete einen Augenblick an der Bürste und fiel dann in weichen Wellen herab, lag glatt um ihren Kopf, die Enden als Locken untergeschoben. Du siehst gut aus, Freddie, sagte sie sich. Eine hübsche junge Frau bist du, mit der Bruce Ehre einlegen kann.
Selbst wenn es Bruce gewesen war, überlegte sie, wird die Sache schon eine plausible Erklärung finden. Er hatte eben seine Pläne geändert, das war alles. Hatte aus irgendeinem Grund einen früheren Zug von Washington genommen. Hunderterlei konnte ihn dazu bewogen haben, und er war nicht verpflichtet, sie über seine verschiedenen Pläne zu informieren, sofern diese nicht sie beide betrafen. Gegen zehn Uhr wollte er auf ihrem Gesellschaftsabend erscheinen, hatte er ihr versprochen. Es hatte sich bestimmt nichts geändert, was von Bedeutung war, sonst hätte er ihr Nachricht gegeben.
Sie versuchte das, was sie gesehen hatte, nüchtern zu durchdenken. Sie war im Wagen von Tante Flora heimgefahren, nach dem Tee im Hause ihrer Tante auf dem Gelände der Marinewerft. Der Wagen hatte den East River überquert und war über den Foley Square und durch die Lafayette Street gefahren, in schnellem Tempo, da nur wenig Verkehr herrschte. Sie hatte warm in ihrem Pelz im Fond des großen Wagens gesessen und uninteressiert auf die fast menschenleeren Bürgersteige geblickt, hatte kaum achtgegeben, in welcher Gegend sie sich befanden. Und dann hatte sie diesen großen Mann gesehen, der Bruce Kirkhill so verblüffend ähnlich sah. Nur ganz flüchtig hatte sie ihn gesehen, während der Wagen vor einer Verkehrsampel hielt. Und gerade in diesem Moment wechselte das Licht auf Grün, und der Wagen brauste weiter.
Ein großer Mensch war es gewesen, ebenso groß wie Bruce Kirkhill, mit offenem Mantel, der im Wind flatterte. Ihr fiel ein, dass sie gerade dadurch aufmerksam geworden war und plötzlich auf ihn achtete, während sie andere Männer, die sie unterwegs schon gesehen haben mochte, doch gar nicht beachtet hatte. Es war ein kalter Tag, nachmittags war es noch kälter geworden. Sie hatte die scharfe Kälte sehr empfunden, als sie aus Tante Floras Haus trat und durchs Werftgelände zum Wagen gegangen war. Aber dieser Mann war gegen die Kälte so gleichgültig gewesen, dass er sich nicht einmal die Mühe machte, seinen Mantel zuzuknöpfen.
Es musste an seinem Gang gelegen haben, dass sie gleich an Bruce dachte. Sein Gesicht hätte sie gar nicht erkennen können.
Es war doch alles recht unbestimmt. Gewiss, der Mann hatte dieselbe Größe gehabt, und sein Gang hatte sie an Bruce erinnert. Mehr aber auch nicht. Außerdem hatte sie auf die Entfernung und bei dem flüchtigen Hinschauen bemerkt, dass seine Kleidung schäbig war. Obwohl sie es sich selbst nicht erklären konnte, kam ihr mit dem Begriff schäbig zugleich auch das Wort schlenkernd in den Sinn. Sie musste lachen. Nie würde sie Bruce das erzählen – oder eines Tages vielleicht doch, damit sie zusammen darüber lachen konnten.
Sie erhob sich, trat ans Fenster und zog einen der schweren Vorhänge zurück. Sie konnte weit die Park Avenue hinunterschauen. Die Straßenlampen sahen merkwürdig verschwommen aus. Es schneite, hatte eben zu schneien begonnen.
An ihrer Schlafzimmertür klopfte es kurz und energisch. Sie lächelte, bevor sie: »Herein!«, rief. Ganz ihr Vater, dieses kurze, gebieterische Klopfen. Er war höflich – nie im Leben hätte Vizeadmiral Jonathan Satterbee auch nur im Traum daran gedacht, ein Schlafzimmer zu betreten, ohne vorher anzuklopfen. Aber es bedeutete nicht – darüber gab es gar keine Debatte –, dass er etwa bat, eintreten zu dürfen. Vielmehr kündigte es an, dass der Admiral im Begriff war einzutreten. Bei ihrem »Komm rein, Papa!« fragte sie sich, ob wohl schon jemals ein Mensch riskiert hatte, den Admiral warten zu lassen, wenn er sein Erscheinen ankündigte. Ihre Mutter bestimmt. nicht, und auch sie selbst nicht.
Vizeadmiral a. D. Jonathan Satterbee, ein großer Mann in tadellos sitzendem Smoking trat ins Zimmer.
Er musterte seine Tochter, die ihm zulächelte.
»Inspektion zur Zufriedenheit ausgefallen, Sir?«, fragte sie scherzend
Er lächelte, ganz fein nur, wie ein Mensch, der nicht gewohnt ist zu lächeln, aber seine Züge wurden doch ein wenig, weicher.
»Sehr zufrieden.«
Der Admiral nickte anerkennend.
»Aber liebster Papa, etwas Besseres weißt du mir nicht zu sagen?«
»Liebes Kind, du siehst sehr nobel aus, sehr schön. Und du weißt es auch.«
»Und das Kleid?«, fragte Freddie. »Das Kleid, Papa?«
»Sitzt sehr gut«, meinte der Admiral. »Erkälte dich nur nicht. Wo steckt Martha?«
»Auf Freiwache«, antwortete Freddie. »Sie muss nachher an der Garderobe helfen, da habe ich ihr gesagt, sie soll sich ein bisschen ausruhen. Weshalb fragst du?«
»So, nicht auf Station«, sagte der Admiral. »Du verhätschelst sie, Freddie.«
Freddie musste lachen. Der Admiral betrachtete das Thema als erledigt.
»Sitzt meine Schleife?«, fragte er und reckte sein Kinn noch etwas höher als für gewöhnlich.
Die Schleife saß tadellos; Watkins war ein Meister im Schleifenbinden. Was Papa ganz genau weiß, dachte Freddie. Trotzdem trat sie vor ihn hin und tat so, als müsse sie die Schleife noch ein wenig geradeziehen.
Zurücktretend lächelte sie zu ihrem Vater auf, der ihr leicht und zärtlich auf den Arm klopfte.
»Bist ein gut.es Kind, Winifried«, sagte er, »verwöhnst alle Leute.«
Es war ein bedeutsamer Augenblick, deshalb nannte er sie Winifried. Sie sagte nichts, legte ihm nur für einen Moment beide Hände auf die Arme, zog sie jedoch, ehe das wie eine Zärtlichkeit erschien, wieder fort.
»Übrigens«, sagte er, »ich habe noch ein junges Ehepaar eingeladen.« Er machte eine Pause. »Diesen Verleger. Der das Buch herausbringen soll. North heißt er.«
»Natürlich, Papa«, sagte Freddie.
»Glaube immer noch, der andere Plan wäre besser gewesen«, sagte der Admiral, auf seine Tochter hinabblickend. »Hätten ein anständiges Dinner geben sollen.«
»Papa«, erwiderte sie, »so was macht immer Umstände. Glaub mir, es ist schon besser so.«
Der Admiral gab ein Räuspern von sich.
Wahrscheinlich weiß er ganz genau, dass es nicht nur um die Umstände geht, dachte Freddie. Tante Flora und Onkel William, noch nicht außer Dienst; Kapitän zur See Hammond und Frau; Tante Angela; Mrs. Burton, die Admiralswitwe, deren Gatte noch ein Jahr vor seinem Ableben zum Flottenchef befördert worden war – sie alle waren sehr kultivierte und ganz prächtige Menschen, aber völlig vom Marinegeist erfüllt. Sie alle wären zum Dinner eingeladen worden, während man die übrigen – weniger bedeutenden – Gäste für später gebeten hätte. Und in so einem Rahmen wäre natürlich Bruce Kirkhill für sie als Gastgeberin wie als Verlobte ein besonderes Problem gewesen. Hätten sie ein Dinner gegeben, so wäre es nicht denkbar gewesen, ihn nicht mit dazu zu bitten. Das heißt: für sie nicht denkbar – der Admiral hätte sich in diesem Fall in einer etwas schwierigen Lage befunden. Bestimmt aber wäre die gleichzeitige Anwesenheit Senator Kirkhills und der Admiralswitwe ein Problem geworden, denn Mrs. Burton hatte für Politiker nicht gerade sehr viel übrig.
»So ist’s doch besser, Papa«, wiederholte Freddie, und wieder räusperte sich der Admiral, wenn auch nicht so kräftig. Er ist wirklich ein lieber Mensch, dachte sie.
»Ich nehme an, du hast Nachricht von Kirkhill?«, fragte der Admiral, indem er mit Nachdruck das Thema wechselte.
»Nein«, antwortete sie, »er kommt mit dem Kongress-Schnellzug und fährt dann rasch ins Waldorf, um sich umzuziehen. So ist’s abgemacht.«
Abermals räusperte sich der Admiral. Er schien noch mehr zu wollen. Dieses Zögern passte gar nicht zu ihm.
»Sonst noch etwas, Papa?«, fragte Freddie.
»Nichts«, gab er zurück. »Ich... ich Hab’ dich lieb, Freddie. Das weißt du doch, ja? Du weißt doch, was du tun willst?«
»Selbstverständlich, darüber haben wir doch schon genug geredet, Papa.«
»Nun – er ist schließlich Politiker«, sagte der Admiral.
»Aber lieber Papa, bitte! Haben wir das nicht schon gründlich besprochen? Bruce ist Senator, ein Senator der Vereinigten Staaten.«
Diesmal kam das Räuspern ein bisschen unsicherer heraus. »Und«, fuhr Freddie fort, »du magst ihn gern. Kannst es ruhig zugeben.«
Der Admiral hob die breiten Schultern ein wenig. »Hab’ nichts gegen ihn«, sagte er. »Als Mann. Scheint ganz in Ordnung zu sein. Im Krieg gute Führung.« Er lächelte schwach. »Hab’ meine festen Grundsätze, Freddie. Wahrscheinlich ist gar nichts daran.«
Das war ihr nun schleierhaft. Sie blickte ihn fragend an und dachte erstaunt, dass der letzte Satz ihm wohl gegen seinen Willen entschlüpft sein musste.
»Woran soll nichts sein?«, fragte sie. »Was meinst du damit, Papa?«
Der Admiral brummte vor sich hin, hatte sich aber gleich wieder in der Gewalt.
»Vorurteil gegen Politiker«, sagte er wie abschließend. »Wie nennen die Zivilisten das noch? Richtig: eine Allergie.«
Sie sagte nur: »Oh!«
»Und ich habe dich lieb«, wiederholte er. »Möchte nicht, dass du einen Fehlgriff tust. – Diese verdammten Japse!«
Sie wusste, was er damit meinte. Er verfluchte den Piloten, der sich vor der Insel Okinawa mit seinem Flugzeug gegen die Kommandobrücke des Zerstörers gestürzt hatte, dessen Kommandant ihr Mann, Kapitänleutnant John Haven, gewesen war.
»Das ist aus und vorüber«, sagte Freddie. »Es kommt nicht wieder.« Sie blickte zu ihm auf. »Das mit Bruce ist kein Fehlgriff, Papa.«
Wieder ein Räuspern. Der Admiral klopfte ihr auf die Schulter. Einen Augenblick dachte sie, er wolle noch mehr sagen. Sie hatte das Gefühl, dass er noch etwas über Bruce sagen wollte und es nur nicht recht herausbrachte. Eigentlich deutete nichts Bestimmtes darauf hin, und in der Tat fragte ihr Vater sie jetzt nur noch, ob sie mit ihm nach unten gehen wolle. Sie schüttelte den Kopf; der letzte Schliff fehle noch, sagte sie.
»Könnte nicht sagen, wo«, erwiderte der Admiral, indem er sie anerkennend musterte. »Ich gehe dann schon.«
Wieder klopfte er ihr zärtlich auf die Schulter. Sie fand, dass er seine Gefühle deutlicher zeigte als sonst; ihm schien jetzt besonders viel daran zu liegen, sie spüren zu lassen, wie lieb er sie hatte. Als habe er insgeheim Angst um sie. Sie schaute ihm nach, als er durch die Tür ging.
Sie fühlte, wie die frühere Unruhe sie wieder überkam. Sie wollte sie abschütteln – nur klare Tatsachen gelten lassen. Täuschende Ähnlichkeit; Täuschung in dem, was sie hinter einem Satz ihres Vaters vermutete; Täuschung, dass seine Stimme besorgter klang als sonst. Eins führte zum andern, eins steigerte das andere. Hätte sie nicht einen großen Mann, der im hässlichen Osten der Stadt seines Weges ging, einen Mann, den sie nur kurz gesehen hatte, für Bruce gehalten, dann hätte sie sich auch alles andere nicht eingebildet. Wahrscheinlich ist gar nichts dran, hatte ihr Vater gesagt und offensichtlich gezögert, als sie ihn um eine Erklärung bat. Und er hatte ihr dann eine einleuchtende Antwort gegeben.
Sie kehrte zum Frisiertisch zurück. Mehrere Minuten vermochte sie sich zu konzentrieren, doch dann beschlich sie dieses unbehagliche Gefühl einer lächerlichen Angst wieder, ohne dass sie es abwehren konnte.
Wenn ich schon in Sorge bin, kann ich ebenso gut gleich Bruce anrufen, dachte sie, dann weiß ich wenigstens, dass alles in Ordnung ist. Er war gewiss schon im Hotel Waldorf angekommen, aber sicher noch nicht zu ihnen unterwegs.
Sie ging durchs Zimmer zu ihrem Schreibtisch, wo das Telefon stand, und nahm den Hörer ab. Da hörte sie die Stimme ihres Vaters, der von einem anderen Hausanschluss aus sprach, und wollte instinktiv den Hörer wieder auflegen.
»... einschließlich heute Abend«, hörte sie ihren Vater sagen. »Die Umstände haben sich geändert. Schicken Sie mir Ihre Rechnung und...«
Hier legte sie den Hörer auf; sie blieb aber nachdenklich am Telefon stehen.
»Einschließlich heute Abend.«
Ohne erklärlichen Grund bekamen diese Worte für sie ein bedrückendes Gewicht. Sie nahm noch einmal den Hörer auf.
Es sprach ein Mann, dessen Stimme sie noch nie gehört, zu haben glaubte.
»...bei Ihnen«, hörte sie ihn gerade sagen. »Was wir bisher ermittelt haben, sieht ganz danach aus, als ob doch etwas Wahres an der Sache ist. Aber die Entscheidung liegt bei Ihnen, er soll ja Ihr Schwiegersohn...«
»Genug«, unterbrach ihr Vater. »Es reicht. Habe Ihnen schon gesagt, was ich will. Erwarte sofort Ihre Rechnung.«
»Gewiss«, antwortete die fremde Stimme. »Gewiss, Admiral, wie Sie wünschen.«
»Guten Abend«, sagte ihr Vater. Sie hörte das Knacken, als er den Hörer auflegte.
Auch sie legte auf und blieb eine Weile regungslos stehen. Wie erstarrt stand sie da. Sie blickte ins Leere. Ihr Gehirn schien sich zuckend zusammenzuziehen, wie unter unverhofft fallenden Schlägen; so, als ob ein unsichtbares Wesen sie immerfort stäche.
Soll ja Ihr Schwiegersohn werden. Mitten im Satz hatte der Mann aufgehört, die befehlsgewohnte, vor Ungeduld scharfe Stimme ihres Vaters hatte ihm das Wort abgeschnitten. Bruce – es handelte sich auch hier um Bruce. Wahrscheinlich ist an der Sache gar nichts daran, hatte ihr Vater doch gesagt? Das hing bestimmt mit Bruce zusammen. Der Mann, den sie aus dem Fenster des Autos sah – nein, das konnte nicht Bruce Kirkhill gewesen sein!
Es begann etwas den Tag zu stören, den letzten Tag des Jahres. Es geschah etwas, das sie traf, das die Ruhe des Hauses störte. Der Tag war vergangen wie viele andere, mit dem Unterschied, dass er gegen Abend einem Höhepunkt zueilte: der Party, auf der sie das Neue Jahr mit Trinksprüchen begrüßen wollten, der Party, die – wenn auch inoffiziell – für sie und Bruce gegeben wurde. Die erste Party, die sie beide als zusammengehörige Menschen verleben sollten.
Vorhergegangen waren die nicht gerade strapaziösen Pflichten einer Gastgeberin, mit ausreichendem Personal, in einer Wohnung, die noch viel mehr Gästen bequem Platz geboten hätte. Vorhergegangen war der Lunch irrt Restaurant Colony mit Celia, die schöne Stunde mit diesem jungen Ding, das sich über fast alles so begeistert freuen konnte und zu ihr so bewundernd aufgeschaut hatte. Wenn sie an diese Blicke dachte, lächelte sie leise, und ihre unbestimmte Angst schwand für ein Weilchen. Jedenfalls würde es hübsch sein, Celia in der Familie zu haben, denn Celias Bewunderung für sie, die nicht sehr viel Ältere, die nun ihre Stiefmutter werden sollte, war unverkennbar echt. Man hätte sie mit ihren achtzehn Jahren, wenn sie Freddie Haven anschaute, für eine Achtjährige halten können. Manchmal war das fast peinlich. Kein Mensch, dachte Freddie, kann so prachtvoll sein, wie ich in Celias Augen bin.
Später hatten sie noch vergnügt einen Imbiss eingenommen, und dann war der Tee bei Tante Flora gewesen, der auch nicht eben unangenehm war, Tee hieß dort Sherry oder Whiskey, je nach Wahl. Man hatte über das kommende Wohltätigkeitsfest lang und breit diskutiert – nach demokratischen Gepflogenheiten. Das hieß, dass Tante Flora und die Admiralswitwe alle Vollmachten erhielten, das zu tun, was sie sowieso getan hätten, nämlich die Zügel in ihre energischen und tüchtigen Hände zu nehmen. Diese Zusammenkunft glich schließlich mehr einer Stabsoffiziersbesprechung als einer harmlosen Ausschusssitzung. Dass dabei überhaupt Vollmachten erteilt wurden, war eine nette Fiktion.
Und nachher hatte die allmähliche Zersetzung dieses schönen Tages begonnen, als das unklare Angstgefühl sich einstellte. Es war so, dachte Freddie, wie man es zuweilen morgens für Momente erlebte: Man wachte auf, blieb ein Weilchen ganz behaglich liegen und spürte auf einmal eine Unruhe, ein ganz unklares Gefühl, das aber drohende Enttäuschungen schon ahnen ließ. Aber solche Stimmungen waren meistens ohne Bedeutung, sie verschwanden, sobald man sich an bestimmte Kleinigkeiten erinnerte – etwa nur, dass man eine Verabredung mit jemand hatte, von der man sich nichts Erfreuliches versprach, oder dass man sich etwas vorgenommen hatte, was man nun nicht mehr wollte. Ihre jetzigen Ängste waren eigentlich kaum schlimmer, doch sie bewegten sich, ohne feste Formen anzunehmen, um einen Mittelpunkt: Bruce. Um Bruce, den sie doch unmöglich so schäbig angezogen in der elenden Gegend gesehen haben konnte. Bruce, über den ihr Vater – trotz seiner halben Andeutungen – doch nicht im Ernst schlecht denken konnte...
Freddie hob den Telefonhörer wieder ab und wählte die Nummer des Hotels Waldorf. Sie bat, sie mit Senator Bruce Kirkhill zu verbinden, und wartete.
»Senator Kirkhill ist bei uns nicht eingetragen«, sagte eine jugendliche Stimme etwas affektiert.
Das konnte nicht stimmen, sondern lag an mangelnder Aufmerksamkeit des Personals, wie Freddie höflich und ohne ärgerliche Betonung beanstandete. Jedenfalls musste es ein Irrtum sein: Senator Kirkhill hatte unzweifelhaft dort ein Zimmer reservieren lassen.
Sie wurde weiterverbunden. Eine Männerstimme, weniger interesselos, sagte: »Einen Moment bitte!«
Der Mann entfernte sich und war nach zwei Minuten wieder am Apparat. Er müsse sehr bedauern, aber eingetragen habe sich Senator Kirkhill noch nicht. Ein Appartement sei allerdings für ihn reserviert, er werde erwartet. Eine Nachricht wolle man ihm selbstverständlich, sobald er eintreffe, gern übermitteln.
»Nein, danke«, sagte Freddie. »Wohnt bei Ihnen ein Mr. Phipps – Howard Phipps?«
Man sah wieder nach. Ja, Mr, Phipps wohne im Hotel. Sie möge bitte warten. Eine jugendliche Frauenstimme sagte: »Ich verbinde mit Mr. Phipps.«
»Tut mir leid«, sagte die Telefonistin nach einer Weile, »Mr. Phipps meldet sich nicht. Wollen Sie
»Danke, bemühen Sie sich nicht weiter«, antwortete Freddie und legte auf.
Nun, aus diesen Auskünften lässt sich nur schließen, dass er einen späteren Zug genommen hat, redete sie sich zu. Daran ist doch nichts Ungewöhnliches. Sicher nichts Ungewöhnliches.
Die Uhr auf ihrem Schreibtisch zeigte kurz vor zehn. Gegen zehn legte sich doch jeder als zehn Uhr aus, nur Tante Flora vielleicht nicht. Trotzdem... Sie betrachtete sich in einem hohen Spiegel, nickte und verließ das Zimmer; sie ging die Treppe hinab. Martha und das neue Hausmädchen waren in der Diele, sie saßen nebeneinander kerzengerade auf zwei Stühlen. Als Freddie kam und ihnen zulächelte, standen sie auf.
»Weitermachen«, sagte sie im Spaß.
Martha kicherte lautlos, ihre Schultern zuckten. Die Neue zeigte ihr Erstaunen mit höflicher Miene:
»Jawohl, gnä’ Frau«, sagte Martha. Während sie sich wieder hinsetzte, zupfte sie ihre Kollegin am Ärmel. »Weitermachen«, sagte sie, wieder so lautlos kichernd. »Sie sind jetzt bei der Marine.«
Freddie trat in das große Wohnzimmer, das als Gesellschaftsraum diente. Sie hatte das Gefühl, dass Martha dem neuen Hausmädchen jetzt sagte, Mrs. Haven verstünde schon Spaß, aber bei Admiral Satterbee sei Vorsicht geboten. Sie hatte nämlich schon einmal gehört, wie Martha früher zu einer Aushilfe gesagt hatte: »Der Admiral kümmert sich um nichts, doch sobald etwas nicht stimmt, merkt er’s gleich.«
Sie sagte Watkins, dem Butler, der gerade ein Serviermädchen im richtigen Polieren von Gläsern unterwies, guten Abend und ging in die Küche, wo sie die Köchin lobte, dass das kalte Büfett wunderschön angerichtet sei. Aus einer Schüssel geeister Mayonnaise fischte sie sich eine Krabbe heraus.
»Aber Miss Freddie, da ist ja nun ein Loch!«, sagte die Köchin. Freddie schob die Krabben mehr zusammen. Die Köchin war schon lange im Haus, sie konnte bisweilen, in den gebotenen Grenzen, recht streng sein, sogar mit dem Admiral. Ein Summer ertönte gedämpft.
»Da kommen Gäste, Miss Freddie«, sagte die Köchin, und Freddie ging hinaus, um sie zu begrüßen. Sie ging ziemlich schnell, und erst als sie Tante Floras Stimme hörte, wurde ihr bewusst, dass sie gehofft hatte, Bruce wäre gekommen. Sie begrüßte Tante Flora und Onkel William, ohne sich merken zu lassen, dass sie Bruce Kirkhill viel lieber gesehen hätte. Nach der Begrüßung erkundigte sie sich taktvoll, ob der Fahrer versorgt sei, denn Onkel William vergaß ihn manchmal.
»Der Knabe hat’s gut«, versicherte ihr der Onkel. »Hab ihm gesagt, er könne inzwischen ins Kino gehen.« Er blickte seine Nichte strahlend an. »Du siehst prachtvoll aus, Freddie«, sagte er. »Wie geht’s Johnny Jump-up?«
Es kam ihr jedes Mal merkwürdig vor, wenn ihr Vater so genannt wurde. Angeblich hatten sie ihm im Pazifik diesen Beinamen gegeben. Johnny Springauf.« Eine Zeitlang war dort Admiral Satterbees schneller Kampfverband immer unvermutet aufgekreuzt und hatte die Japaner in Bedrängnis gebracht. Freddie hatte beim besten Willen nie recht glauben können, dass ihr Vater unter einem solchen scheinbar respektlosen Spitznamen bekannt gewesen war. Immerhin, wenn Onkel William den Namen gebrauchte, hatte sie wenigstens das Gefühl, dass er ihn in unsichtbare Anführungszeichen setzte.
Admiral Satterbee kam aus der Bibliothek und steuerte, nachdem er die Schwester seiner verstorbenen Frau und den Admiral William Fensley begrüßt hatte, seine Gästeschar in die Nähe von Watkins, der Whiskey servierte. Er zog Fensley aus der weiblichen Sphäre beiseite – zum zünftigen Gespräch über Marineprobleme.
»Dieser neue Flugzeugträger, Bill«, hörte sie ihren Vater zu Fensley sagen, »was hältst du von dem Typ?«
»Verteufelt große Zielscheibe«, sagte William Fensley, der sich nur für Schlachtschiffe erwärmen konnte. »Warte mal ab, wenn der...«
»...gewiss«, sagte Tante Flora, »es kommt immer auf die Kritiker an. Du weißt doch, meine Liebe, wie nett sich damals alles anließ, als der Frauenbund das Stück annahm, und wie nachher diese Herrschaften schrieben, das sei ja...«
Nach zehn Minuten ertönte wieder der Summer, und Freddie, die aufgefordert worden war, mitzuklagen über die schlechten Kritiken, die dem vom Frauenbund für das Wohltätigkeitsfest vorgesehenen Theaterstück zuteil geworden waren, richtete ihre zerstreuten Gedanken wieder auf ihre Pflichten und merkte, dass sie auch jetzt Bruce Kirkhills Stimme zu hören hoffte. Wieder vergeblich.
Jetzt kamen die Gäste rasch nacheinander, da Marineleute an Pünktlichkeit gewöhnt sind; die meisten gehörten zur Marine. Sie kamen und nahmen gefüllte Gläser in die Hand. Sogleich bestrebt, sich zu Cliquen zusammenzufinden, wurden sie von der Gastgeberin sanft und möglichst unauffällig anderen Gruppen zugesellt. Zu tun gab es genug, da das große Gesellschaftszimmer sich allmählich füllte. Auf viele Kleinigkeiten musste Freddie ständig achten. Als es aber schon auf elf Uhr ging, fand Freddie es immer schwieriger, sich im Plauderton aufmerksam zu unterhalten, immerfort lächelnd neue Gäste zu bewillkommnen und interessiert über alles Mögliche zu sprechen. Weil Bruce nicht – noch immer nicht – gekommen war.
Einige Minuten nach elf Uhr erschien ein ihr unbekanntes Paar in der Tür und blieb dort stehen, mit den ein wenig bestürzten und betont liebenswürdigen Mienen, die Leute, zur Schau tragen, wenn sie keinen der Anwesenden kennen und warten, dass man sich ihrer annehme. Zumindest machte der Herr, der eine Brille trug, so ein Gesicht. Er fuhr sich unbewusst ein paarmal mit den Fingern der rechten Hand in sein kurzes Haar, das er auf diese Weise schon ganz hübsch durcheinandergebracht hatte. Der Ausdruck im Gesicht der schlanken, elegant gekleideten Dame neben ihm war schwerer zu ergründen. Sie schien sich sehr für den Raum zu interessieren, gleichzeitig für alle Gäste und die ganze Szenerie, mit so frischer, ungetrübter Begeisterung, als sei ihr dergleichen ganz neu und müsse gewissermaßen in großen Portionen konsumiert werden. Dabei hatten ihre Blicke nichts Abschätzendes, vielmehr schien sie reine Freude an dem lebhaften Betrieb zu haben.
Lächelnd löste sich Freddie Haven aus der Gruppe, der sie sich gewidmet hatte, und wollte dem Paar, das auf Adoption wartete, entgegengehen. Da merkte sie, dass ihr Vater, der bei seiner Größe über fast alle Anwesenden hinwegblicken konnte, die beiden an der Tür schon entdeckt hatte und sich zu ihnen begab. Er schritt, zielbewusst wie stets, durch den Raum und forderte seine Tochter, als sie zu ihm hinüberschaute, durch eine kleine Kopfbewegung auf mitzukommen. So langten sie bei den neuen Gästen an der Tür gleichzeitig an. Der Herr lächelte ihnen entgegen.
»’n Abend, North«, sagte Admiral Satterbee, schon ein paar Schritte vor ihnen, mit einer Stimme, die den Befehlston noch immer nicht ganz verleugnen konnte. Er streckte die Hand aus. »Freut mich, dass Sie es noch einrichten konnten.«
Der Herr mit dem etwas verwirrten Haar ergriff die Hand des Admirals. Freddie hoffte, er werde nicht vor Schmerz zusammenzucken, denn des Admirals Händedruck war oft recht kräftig, und ganz besonders bei Leuten, die er noch nicht näher kannte. Das gehörte zu den Kleinigkeiten, die Freddie bei ihrem Vater immer mit Zärtlichkeit beobachtete. Dass er mit Menschen, die er wenig kannte, energisch umging, führte sie darauf zurück, dass er früher – oh, vor langer Zeit – schüchtern gewesen war. Wovon freilich jetzt nicht mehr die Rede sein konnte.
Mr. North zuckte aber nicht zusammen. Er zog seine Hand zurück, gab ein paar höfliche Worte von sich und sagte: »Pam, das ist Admiral Satterbee. Meine Frau, Admiral.«
»Freut mich sehr«, sagte Pamela North mit klarer, heller Stimme, als wenn jetzt Seite gepfiffen werden müsste wie auf den Kriegsschiffen, wenn ein Offizier an Bord kam.
Der große, schlanke Herr neben ihr fasste wieder in seine Haare und sagte: »Aber Pam!«
»Ach, ich musste gerade an das feierliche Anbordpfeifen denken«, erwiderte sie.
»Oh!«, sagte Admiral Satterbee. »Ach ja. Ja, natürlich.« Freddie war zu ihnen getreten, und ihr Vater sagte: »Mrs. North – stelle Ihnen meine Tochter vor. – Freddie, das sind Mrs. und Mr. North. North wird mein Buch herausbringen.«
»Miss Satterbee«, sagte Mr. North, während seine Frau lächelte und Freddie eine eigenartig beunruhigende Freude empfand, sie stärker empfand, als der Ausdruck in dem hübschen, lebhaften Gesicht dieser schlanken jungen Frau es rechtfertigte. Jedenfalls spürte Freddie – um erklären zu können, wie das kam –, dass diese Frau ganz offen Gefallen an ihr fand und es gern zeigen wollte. Also musste sie wohl noch besser aussehen, als sie selbst gehofft hatte? Aber gleichzeitig hätte sie das Gefühl, dass jene ihr überlegen war.
Kopfschüttelnd erklärte sie, ihr Papa vergäße so vieles und ginge nie in Einzelheiten. »Ich heiße nämlich Mrs. Haven.« Sie freue sich sehr, dass sie ihrer Einladung hatten Folge leisten können. Waren ihnen die Gäste alle bekannt?
Pamela North blickte mit großen Augen um sich.
»Oh nein«, sagte sie, »eigentlich niemand.« Sie machte eine kleine Pause. »Aber das ist unwichtig, weil wir sowieso beinah gleich wieder gehen müssen.«
Freddie erklärte, sie würde das sehr bedauern, und Admiral Satterbee sagte: »Unsinn! Kommen Sie einen trinken, North.«
Mr. North ging folgsam mit, seine Frau blickte die Gastgeberin an.
»Bitte bemühen Sie sich um uns nicht weiter«, sagte sie, »wir müssen wirklich gleich wieder gehen, weil wir noch eine Verabredung haben. Aber Jerry meinte...«
Sie hielt inne. Freddie Haven wartete, was noch kommen würde. Dann lächelte sie. »Nun, sagen Sie’s ruhig.« Ihr war, als sei sie mit dieser Mrs. North schon länger bekannt als nur ein paar Minuten.
»Oh«, ergänzte Pamela, »er meinte, ich sollte mir mal einen richtigen Admiral ansehen, das würde vielleicht erzieherisch auf mich wirken.« Sie sagte das ganz ohne Verlegenheit. »Als Autoren sind Admirale ja selten«, fügte sie noch hinzu. »Das heißt, früher, heute kann man das eigentlich nicht behaupten.«
»Wirklich? Erzieherisch, meinte er?«, fragte Freddie.
»Sollte es sein, ja. Hatte er früher dasselbe Haar wie Sie?«, fragte Pam.
»Ja«, erwiderte Freddie, »das Satterbee-Haar.«
»Nun könnten Sie mich ja irgendwo zwischen die Gäste platzieren«, sagte Pamela. »Muss nicht unbedingt bei einem Admiral öder so sein. Nur, weil Sie sich anderweitig um Ihre Gäste kümmern müssen.«
Das ließe sich nicht leugnen, gab Freddie Haven lächelnd zu und meinte, Mrs. North würde es vielleicht Freude machen, sich mit der um die Seniorin, die Admiralswitwe, gescharten Gruppe zu unterhalten. Ach, dachte sie, diese Mrs. North wird fast überall das Angenehme zu genießen wissen. Sie brachte sie zu der erwähnten Gruppe und freute sich – als sie nach ein paar Minuten üblicher Höflichkeitsfloskeln weiterging – über Mrs. Norths interessierte Miene, während ihr bewusst war, dass sie selbst bei der kurzen Unterhaltung ihre Befürchtungen vergessen hatte. Und als sich jetzt das Gefühl der Besorgnis wieder meldete, empfand sie es zunächst weniger schwer, nicht eigentlich mehr als Angst.
Es war schon nach elf Uhr, und Bruce Kirkhill war noch nicht erschienen.
Sie hörte eine bekannte Stimme in der Diele, entfernte sich von den Gästen, mit denen sie sprach, fast ohne Entschuldigung und ging dem Ankommenden entgegen.
»Howard!«, rief sie. »Howard, ist etwas passiert?«
Der Mann, mit dem sie sprach, war nicht größer als sie. Er hatte ein offenes, eckiges Gesicht und weit auseinanderstehende Augen. Jetzt blickte er Freddie lächelnd an, schüttelte den Kopf und zog die glatten Augenbrauen hoch.
»Passiert?«, fragte er. »Wie meinen Sie das, Freddie?«
Seine tiefe Stimme hatte Wohlklang, sie schien für seinen Körper fast zu kräftig, aber Freddie dachte jetzt nicht darüber nach, wie oft ihr das schon aufgefallen war.
»Bruce ist noch nicht hier«, sagte sie, »auch nicht im Hotel.«
Über sein Gesicht flog ein Schatten, als sei er bestürzt, aber nur für einen Moment.
»Eine Nachlässigkeit«, erklärte er. »Selbstverständlich ist er im Hotel. Ich Er hielt inne.
»Haben Sie ihn dort gesehen?«, fragte Freddie.
Er schüttelte langsam den Kopf.
»Nein, gesehen habe ich ihn nicht«, antwortete er. »Bin nämlich erst heute Morgen angekommen. Habe mich überzeugt, dass die Zimmer reserviert sind, und meins gleich in Benutzung genommen. Erst nach zehn kam ich wieder ins Waldorf, zog mich um, und da bin ich. Glaubte, ihn hier schon anzutreffen.«
»Ich mache mir Sorgen«, sagte Freddie. »Das sieht ihm gar nicht ähnlich, er hat nicht einmal angerufen.«
»Aber liebes Kind, was soll unserm Chef wohl passieren? Natürlich kann er auch in Washington noch aufgehalten worden sein.«
»Und telegraphiert nicht? Oder telefoniert?«
»Na«, sagte er, »passiert wird ihm schon nichts sein.« Er lächelte. »Der Chef weiß immer seinen Mann zu stehen, das müssten Sie ja wissen, Freddie.«
»Gewiss, ja«, sagte sie, doch aus ihrem Ton klang deutlich die Sorge, die nicht schwinden wollte.
»Werde nochmals im Hotel nachfragen«, sagte er und lächelte, um zu zeigen, wie unbegründet ihre Unruhe sei. »Vielleicht war er müde und ist eingeschlafen.«
Freddie Haven führte ihn zu dem Apparat im Arbeitszimmer des Admirals und blieb neben ihm stehen, als er das Hotel anrief und nach Senator Bruce Kirkhill fragte. Jan sagte ihm etwas, und er erwiderte: »Unsinn, selbstverständlich hat er Zimmer bei Ihnen. Geben Sie mir mal den Geschäftsführer. Hier spricht der Sekretär des Senators, Howard Phipps. Es ist wichtig.«
Er drehte sich lächelnd zu Freddie um.
»Muss denen ein bisschen mit Titeln imponieren«, sagte er. »Falls – Wie bitte? – Oh...«
Er sprach jetzt schnell und energisch, doch bald war seine Verwunderung am Klang der Stimme zu hören. Abschließend sagte er: »Bitten Sie ihn, mich anzurufen, und zwar« – er blickte auf das kleine Schild am Telefon und nannte die Nummer – »Wohnung von Vizeadmiral Satterbee.«
Als er auflegte, war sein Gesicht für einen Augenblick ernst, aber im Nu wurde es wieder ganz heiter.
»Nicht da«, sagte er. »Hat sich noch nicht eingetragen. Aber seien Sie. unbesorgt, dem Chef passiert nichts. Weiß der Kuckuck, vielleicht ist er gerade eben gekommen und sucht Sie schon da draußen.« Er machte eine Kopfbewegung zum Gesellschaftszimmer. »Kommen Sie, sonst denkt er womöglich noch, Sie wollten ihn versetzen.«
Doch Bruce Kirkhill war nicht im Gesellschaftszimmer Es ging auf elf Uhr dreißig, das alte Jahr lief ab, und für Freddie ging das Fest zur Neige. Freilich waren die Gäste noch alle da, und noch war es ihr Fest. Als lächelnde Gastgeberin ging sie fortwährend von einem zum andern, aber müde war ihr Mund, der lächeln musste, müde war die Stimme, die den frohen Ton nicht mehr fand, und müde waren ihre Gedanken. Angestrengt lauschte sie, ob nicht in der Diele die vertraute Stimme erklang. Neue Gäste kamen nur noch vereinzelt.
»Zu schade!«, sagte Mrs. North. »Es war reizend bei Ihnen, doch wir müssen jetzt leider...« Sie hielt inne, setzte aber gleich hinzu: »Sie haben Kummer, Mrs. Haven, stimmt’s? Es ist doch nichts passiert?«
»Ich begann Freddie und hätte beinahe alles erzählt, da Pamela die Frage so schlicht und freundlich stellte, doch dann schüttelte sie nur lächelnd den Kopf.
»Verzeihen Sie, sicher wird alles in Ordnung sein«, sagte Pamela. »Jerry behauptet immer, ich...« Jetzt brach auch sie ihren Satz kopfschüttelnd ab. »Eine reizende Party«, fuhr sie nach kurzer Pause fort. »Wir verlassen Sie höchst ungern, aber leider...« Auch diesen Satz ließ sie unvollendet und lächelte. Jerry und der Admiral waren dazugekommen. Der Admiral warf Freddie einen schnellen, bekümmerten Blick zu. Sie sah es und machte eine beruhigende Kopfbewegung, sagte Mrs. und Mr. North die netten Worte, die von einer Gastgeberin erwartet werden, und merkte plötzlich, dass sie alles ganz aufrichtig meinte. Gern hätte sie diese liebenswürdige, schlanke Frau, die im Gespräch immer um einen Gedanken voraus war und mit so unverhohlener Freude ihr Interesse zu zeigen wusste, dabehalten, doch sie geleitete das Ehepaar durch die Diele und verabschiedete sich von ihnen an der Tür.
Das alte Jahr hatte nur noch eine Lebensdauer von knapp dreißig Minuten.