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Bernard Simmons, der New Yorker Staatsanwalt, rechnet nicht mit Schwierigkeiten im Mordprozess gegen J. Stanley Martin. Alle Indizien sprechen gegen den Angeklagten.
Abe Levinsky, der berühmte Verteidiger, bleibt dennoch zuversichtlich. Hat er einen Trumpf in petto?
Ehe er ihn ausspielen kann, wird Levinsky ermordet...
Der Roman Die Augen der Staatsanwältin von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1972; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1975 (unter dem Titel Trumpf in petto).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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F. R. LOCKRIDGE
Die Augen
der Staatsanwältin
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE AUGEN DER STAATSANWÄLTIN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Bernard Simmons, der New Yorker Staatsanwalt, rechnet nicht mit Schwierigkeiten im Mordprozess gegen J. Stanley Martin. Alle Indizien sprechen gegen den Angeklagten.
Abe Levinsky, der berühmte Verteidiger, bleibt dennoch zuversichtlich. Hat er einen Trumpf in petto?
Ehe er ihn ausspielen kann, wird Levinsky ermordet...
Der Roman Die Augen der Staatsanwältin von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1972; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1975 (unter dem Titel Trumpf in petto).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Es war der zweite Freitag im September, und längst schon hätte der erste Herbsthauch durch die Stadt wehen müssen. Es war nach elf Uhr abends, als Bernard Simmons in westlicher Richtung die 66. Straße hinunterschritt. Er strebte seiner Wohnung und den kühlen Segnungen der Klimaanlage entgegen - die er allerdings am Morgen auf die Bitte der Elektrizitätsgesellschaft hin abgestellt hatte, so dass er nun auf die Erfrischung würde warten müssen. Dabei überlegte er, dass New York doch ein teuflisches Klima hatte und erkannte sogleich, dass dieser Gedanke wenig originell war.
Drei Tage lang herrschte jetzt schon drückende - wie man es im Wetterbericht ausdrückte der Jahreszeit nicht gemäße - Hitze. Am Nachmittag war das Thermometer bis auf dreißig Grad geklettert. Und seit vier Tagen streikten die Taxifahrer. Der Weg von der 52. Straße über die Second Avenue hinweg bis zu jenem Block der 66. Straße, die zwischen Lexington und Park Avenue liegt, ist sehr lang. Und Bernard Simmons ging in der falschen Richtung.
»Es ist zu allem zu heiß«, hatte Nora gesagt. »Es ist zu heiß zum Leben. Und du siehst kaputt aus, Bernie.«
Bernie Simmons hatte versichert, dass er sich wohl fühlte.
»Gut«, meinte Nora, »dann bin ich eben kaputt. Das Essen war schön, und ich bin immer froh, wenn du bei mir bist. Du weißt doch, dass ich mich freue, wenn du da bist, nicht wahr? Gehe nach Hause, Bernie«.
»Und?«
»Und ich liebe dich, Bernie. Gehe nach Hause.«
Trotzdem war der Heimweg lang. Sein Hemd klebte an seinem Körper; sein Sommerjackett klebte an seinem Hemd. Nun, es war ja nur noch ein halber Block. An seinem Ende wartete ein großer, kalter Drink. Und, zu gegebener Zeit, kühlere Luft aus einer Maschine, die in ein Fenster eingepasst war. Sie hatte gesagt, Ich liebe dich, Bernie, gute letzte Worte an einem Tag, der von Worten wie vernebelt gewesen war. Es bestand doch eigentlich gar kein Grund zur Unzufriedenheit, wenn einem solche Worte noch im Ohr klangen. Es gab keinen Grund, keinen echten Grund für dieses spürbare Unbehagen. Es war nur diese verdammte, brütende Hitze. Es war nur...
Ein großer, magerer Mann bog von der Park Avenue ein und kam ihm entgegen. Der Mann ging mit leichtem, ausholendem Schritt, so als wäre es überhaupt nicht heiß. Er hat einen Gang wie jemand, den ich kenne, dachte Bernie Simmons. Ich kenne jemanden, der so...
Ihm blieb keine Zeit, den Gedanken zu vollenden. Ein Mann in dunkler Kleidung - ein Mann, der in der nächtlichen Straße nur ein unförmiger Schatten war - tauchte von irgendwoher auf und sprang den mageren Mann von hinten an. Ein Arm schlang sich um den Hals des mageren Mannes.
Da rannte Bernie Simmons schon vorwärts. Laut hallten seine Schritte wider.
Der magere Mann erschlaffte in der Umarmung des Angreifers. Dann sah Bernie, der noch mehr als dreißig Meter entfernt war, wie die Hand des massigen Mannes hochschwang. Sie hielt etwas, diese Hand, und sauste herunter, und was immer sie gehalten hatte, traf mit Wucht den Hinterkopf des mageren Mannes.
Der massige Mann ließ den mageren Mann los, und der magere Mann glitt an dem anderen herunter und blieb reglos auf dem Bürgersteig liegen. Der Angreifer wirbelte herum und rannte davon. Er war ein großer Mann und er rannte mit langen Schritten. Er rannte über die Park Avenue, ohne auf Autos zu achten. Ein Wagen wich ihm im letzten Moment aus. Die Reifen quietschten auf dem Asphalt. Auf dem Grünstreifen, der die Fahrbahn der Park Avenue teilt, zögerte der fliehende Mann nicht. Hupen jaulten und Reifen quietschten. Er schaffte es.
Es hatte keinen Sinn, ihn zu verfolgen. Er war ein Verbrecher, und ein brutaler dazu, und er hatte nicht bekommen, was er gewollt hatte, weil Bernie Simmons ihn gestört hatte. Neben dem Mann, der reglos auf dem Bürgersteig lag, blieb Bernie stehen und kauerte sich nieder.
»Ist Ihnen etwas passiert?«, fragte Bernie und verstummte, weil es sinnlos gewesen wäre, weiterzusprechen.
Der Mann lag mit dem Gesicht nach oben, und schon hatte sich eine Blutpfütze um seinen Kopf gebildet. Sein Hinterkopf lag flach auf dem Bürgersteig. Das Gesicht war unberührt. Nur der Hinterkopf war zerschmettert. Und das Gesicht war das von Abraham Levinsky, Rechtsanwalt.
Nicht zu fassen, dachte Bernie. Vor einer Stunde habe ich noch von ihm gesprochen. Weil ich mir Sorgen machte, was für einen Trumpf er in petto haben könnte. Und jetzt ist er tot. Ihm ist nicht mehr zu helfen. Er ist tot.
Es war mehr als eine Stunde vergangen, seit er von Abe Levinsky gesprochen hatte, seinem Gegner und Freund. Sie hatten in der erfrischenden kühlen Luft eines Restaurants beim Kaffee gesessen und Cognac dazu getrunken, und Nora Curran hatte gesagt: »Du bist ja weit weg von mir, Bernie. Irgendetwas macht dir zu schaffen. Läuft es denn nicht so, wie du es dir gewünscht hast?«
Es war der Prozess des Staates New York, vertreten durch Staatsanwalt Bernard Simmons, gegen J. Stanley Martin, vertreten durch Abraham Levinsky. Die Anklage lautete auf vorsätzlichen Mord.
»Es läuft genauso wie ich es mir wünsche«, erwiderte Bernie. »Ich - äh, ich schaue dem geschenkten Gaul nur einmal ins Maul. Entweder ist Abe auf dem absteigenden Ast, oder...« Er beendete den Satz nicht. Er schüttelte nur langsam den Kopf.
Sie wartete, lächelte, ein behutsames Lächeln. Als er sie nicht ansah, sondern mit grämlichem Ausdruck beharrlich in seine Kaffeetasse starrte, wartete sie fast eine Minute, ehe sie sagte: »Oder was, Bernie?«
»Oder er hat etwas in petto. Etwas, glaube ich, was er eben erst entdeckt hat.«
Jetzt schüttelte sie den Kopf.
»Bis heute Morgen«, erzählte Bernie, »war er ganz der alte Abe Levinsky. Was besagen will, dass er einer der zwei oder drei besten Strafverteidiger des Landes war. Der Typ, der dir mit einem Überraschungsmanöver den Teppich unter den Füßen wegzieht; der Lücken findet, von deren Existenz du überhaupt keine Ahnung hattest; der den Geschworenen Vorstellungen suggeriert, die du viel lieber gar nicht erst aufs Tapet gebracht hättest. Mit anderen Worten, er ist ein respektabler Bursche. Vor ein paar Jahren schlug er mir vor, zu ihm in die Kanzlei zu kommen. Ich blieb bei der Staatsanwaltschaft, aber ich fühlte mich geschmeichelt, Nora. Ich hätte viel vom alten Abe lernen können, und ich würde das Drei- oder Vierfache von dem verdienen, was ich jetzt verdiene.«
»Ja«, erwiderte Nora. »Das hast du mir erzählt, Bernie.«
Sie sprach sehr ruhig. Er blickte sie über den Tisch hinweg an und lächelte zärtlich und warm.
»Na schön«, sagte er. »Ich bin ein alter Angeber.«
»Nein, du bist kein Angeber, Bernie«, versetzte sie und fügte hinzu: »Erzähl weiter!«
»Heute Morgen schien er plötzlich gar nicht mehr - oh, mit Leib und Seele dabei zu sein. Er erhob zwar die üblichen Einwände, vertrat den Standpunkt, den wir wussten, dass er vertreten würde - aber es war, als spielte das alles für ihn keine Rolle mehr. Es ist schwer, diesen Eindruck zu erklären, aber ich fing allmählich an, darüber nachzudenken, was er wohl in petto haben mochte. Abe Levinsky hat nämlich immer etwas in petto. Darauf kann man sich verlassen. Seit dreißig Jahren ist er Verteidiger, und garantiert waren nicht alle seine Mandanten unschuldig. Aber insgesamt hat er höchstens vier Prozesse verloren. Und einen davon hat er in der Berufung gewonnen. Ja, er ist wirklich ein respektabler Bursche. Es kann natürlich sein, dass er ein wenig nachlässt. Er ist ja wirklich nicht mehr der jüngste. Es kann aber auch sein, dass ich mir alles einbilde, weil ich Bammel habe.«
»Das hast du nicht«, entgegnete Nora Curran. »Zigarette, Liebling?«
Er bot ihr eine Zigarette an und gab ihr Feuer.
»Es zieht sich allerdings auch entsetzlich in die Länge«, meinte sie.
Die Verhandlung gegen J. Stanley Martin, der wegen Mordes an seiner Ehefrau vor Gericht stand, lief bereits seit zehn Tagen. Und seit zehn Tagen machte der Fall im ganzen Land Schlagzeilen. Radio und Fernsehen berichteten ständig in den Nachrichten über die letzten Entwicklungen.
Janice Phillips Martin war die Enkelin von Randolph Phillips gewesen und die Tochter von Mr. und Mrs. Carrington Jerome - Wanda Phillips Jerome. Der Nachdruck lag immer auf Phillips; Geld verleiht einem Namen Nachdruck. Und Janice Phillips Jerome, die als Janice Phillips Martin in ihrer Wohnung in der Park Avenue gestorben war, hatte der sogenannten guten Gesellschaft angehört. Sie war erdrosselt worden, und nach eingehenden Ermittlungen hatte die Staatsanwaltschaft Anklage gegen ihren Ehemann J. Stanley Martin erhoben.
Martin war Teilhaber der Firma Osgood, Rositer und Martin, Börsenmakler, und niemand, auch Martin nicht, bestritt, dass das Geld seiner Frau ihn dahin gebracht hatte. Martin würde, wenn er nicht ihr Mörder war, die Phillips-Millionen erben. Diesen Aspekt hatte der Staat klar zum Ausdruck gebracht. Abraham Levinsky hatte eingewendet, dass diese Tatsache für den Fall selbst nicht von Belang wäre, doch er war mit diesem Einspruch nicht weiter gekommen, als er erwartet hatte.
Überlebende Phillips’ gab es nicht, nur einen Jerome, einen Vetter von Janice - einen gewissen Clifton Jerome.
Ein Kellner schenkte heißen Kaffee ein. Als er sich zurückzog, bemerkte Nora: »Der Staat hat seine Beweisaufnahme abgeschlossen. Dann ist es doch bald vorbei, Bernie?«
»Ich glaube, man wird Martin in den Zeugenstand rufen«, erwiderte Bernie Simmons. »Unschuldsbeteuerungen und langes Kreuzverhör. »Die Verteidigung war über unsere Beweisführung schon im Voraus in groben Umrissen unterrichtet. Das ist so üblich. Wir aber wissen nichts über die Beweisführung der Verteidigung. Das ist ebenfalls so üblich. Oh, ich glaube, es wird schon noch eine Weile dauern.«
Er trank einen Schluck Kaffee und zündete sich eine neue Zigarette an.
»Der Staat hat die Beweisaufnahme abgeschlossen, Bernie?«, fragte sie wieder.
»Ja, kurz vor Mittag«, antwortete Bernie. »Das Gericht legt bis vierzehn Uhr eine Pause ein, sagte Richter Donald O’Brien. Wird die Verteidigung dann bereit sein fortzufahren, Mr. Levinsky? Und Abe stand auf, und jeder - ich jedenfalls - erwartete, dass er sagen würde, Gewiss, Euer Ehren. Aber das tat er nicht. Er sagte, Euer Ehren, die Verteidigung bittet um eine Vertagung über das Wochenende. Sie wird am Montagmorgen bereit sein, die Verhandlung weiterzuführen. - Mit welcher Begründung, Herr Verteidiger?, fragte der Richter. Das Gericht möchte diesen Fall so rasch wie möglich zum Abschluss bringen.«
»Abe sagte, daran wäre der Verteidigung auch gelegen, gewisses Material jedoch, was seiner Ansicht nach neues Licht auf den Fall werfen würde, wäre vor Montagmorgen nicht verfügbar. Und dann setzte er hinzu: Blendendes Licht, Euer Ehren. Dem Richter passte das nicht recht. Ich meine, er hatte sicher nichts gegen ein verlängertes Wochenende auf dem Land, wo er dieser verdammten Hitze entfliehen kann, aber er ist ein gewissenhafter alter Knabe. Er meinte, ob die Verteidigung denn nicht wenigstens mit jenem Material anfangen könnte, das ihr zur Verfügung steht, während sie auf das blendende Licht wartete. Aber Levinsky blieb hart und sagte mehrmals, es käme einer Benachteiligung der Verteidigung gleich, wenn das Gericht auf der sofortigen Weiterführung der Verhandlung bestünde. Der Richter gab schließlich klein bei. Der Prozess wurde auf Montagmorgen zehn Uhr vertagt.«
Richter O’Brien war höchstwahrscheinlich, das nahm Bernie jedenfalls an, in sein Landhaus nach Nord-Westchester gefahren. Bernie selbst war in sein Büro zurückgekehrt, weil es da immer etwas zu tun gab. Die Geschworenen waren in ihre Hotelzimmer zurückgebracht worden. Und Abe Levinsky -
»Er hat ein Haus draußen in Long Island«, sagte Bernie mehr zu sich selbst als zu der schlanken, braunäugigen jungen Frau,
die ihm gegenüber saß. »Vielleicht ist er da hingefahren. Vielleicht steckt er aber jetzt auch die Zündschnüren zu ein paar Bomben an, die er am Montagmorgen kurz nach zehn platzen lassen will.«
Er trank seinen Kaffee aus und blickte voller Groll in die leere Tasse. Dann wanderte sein Blick zum Cognacschwenker.
»Trinken wir noch einen?«
»Nein, Bernie«, erwiderte sie und zog sich die weißen Handschuhe über. »Du bringst mich jetzt nach Hause, Liebling, und wir trinken noch ein kleines Gläschen vor dem Schlafengehen. Dann gehst du heim, weil du müde bist und dich von Mr. Levinsky hast nervös machen lassen. Und - du hast doch morgen frei?«
»Bis jetzt noch, ja«, antwortete er, »wenn nicht über Nacht wieder irgendwo die Hölle losbricht.«
Sie standen auf, und gemeinsam traten sie aus der Kühle des Restaurants in die atembeklemmende Hitze der Straße. Die wenigen hundert Meter bis zu ihrer Wohnung gingen sie zu Fuß, und sie tranken ein sehr kleines Gläschen vor dem Schlafengehen und sprachen von Dingen, die nichts mit dem Prozess gegen J. Stanley Martin zu tun hatten. Sie vereinbarten, dass er sie am folgenden Morgen gegen zehn Uhr abholen würde und meinten, dass es draußen auf dem Land gewiss kühler sein würde. Dann sagte sie, dass sie froh war, wenn er bei ihr war und dass sie ihn liebte.
Wenig später wanderte Bernie Simmons in der drückenden Hitze nach Hause, und sein Hemd klebte an seinem Körper und sein Jackett an seinem Hemd.
Simmons brauchte nicht lange auf das Heulen der Sirenen zu warten, nachdem er vom Vestibül seines Apartmenthauses aus telefoniert hatte. Und kurze Zeit, nachdem er den ersten Ton der Sirenen vernommen hatte, sah er von der Park Avenue her einen Wagen mit rotem Blinklicht anfahren. Das Fahrzeug hielt am Randstein an, und Bernie ging den beiden uniformierten Beamten, die ausgestiegen waren, entgegen.
Einer der Männer kauerte neben dem Toten nieder und sagte »Heiliger Bimbam!«
Der andere Streifenbeamte trat einen Schritt näher zu Bernie hin und fragte: »Haben Sie angerufen, Mister?«
Bernie sagte ja. Er nannte dem Beamten seinen Namen und seinen Beruf und fügte hinzu: »Der Tote ist Abraham Levinsky, Wachtmeister. Er war Rechtsanwalt.«
»Aha, Sie kannten ihn?«, meinte der Streifenbeamte. »Wohnen Sie hier in der Gegend, Mr. Simmons?«
»Ein paar Häuser weiter«, antwortete Bernie. »Ich sah, wie er getötet wurde. Ich wollte dem Mann nachlaufen, der ihn getötet hat, aber er entkam.«
»Einer von diesen widerlichen jungen Bürschchen«, stellte der Beamte fest. »Wahrscheinlich aus Harlem.«
»Ich glaube nicht, dass er ein junges Bürschchen war«, widersprach Bernie. »Er war ein großer, massiger Mann. Aus Harlem kann er gewesen sein. Das weiß ich nicht. Ich konnte ihn nicht deutlich sehen. Ich sah nur, wie er Levinsky packte, ihm einen Schlag auf den Kopf versetzte und davonlief. Ich blieb stehen, weil ich hoffte, ich könnte für Levinsky vielleicht noch etwas tun. Aber es war zu spät.«
»Natürlich«, sagte der Beamte. »Und da erkannten Sie ihn, Mr. Simmons?«
»Ja, da erkannte ich ihn.«
»Wohnt er auch hier in der Gegend?«, fragte der Polizeibeamte. »Ich meine, war er vielleicht gerade auf dem Heimweg?«
»Ich glaube, er hatte ein Haus in Long Island. Wenn er in New York war, lebte er, glaube ich, in einem Hotel. Ich weiß allerdings nicht, in welchem.«
»Irgendwo in der Nähe? Im Pierre vielleicht?«
»Keine Ahnung.«
»Oder«, fuhr der Wachtmeister fort, »er wollte Sie besuchen, Mr. Simmons. War er ein Freund von Ihnen, Sir?«
»Ja«, antwortete Bernie, »er war ein Freund von mir. Ja, es wäre denkbar, dass er mich besuchen wollte. Ich erwartete ihn allerdings nicht.«
Eine Sirene heulte. Dann eine zweite. Gleich würde es hier von Polizeifahrzeugen wimmeln.
Der Wachtmeister wandte sich von Bernie ab, trat zu dem Toten und blickte auf ihn hinunter. Der andere Beamte hatte sich aufgerichtet und starrte jetzt ebenfalls auf den Toten.
»Ähnliche Figur«, stellte der Beamte fest, der zuerst neben der Leiche gekauert hatte. Beide Männer drehten sich um und musterten Bernard Simmons. »Mager und schlaksig«, sagte einer von ihnen. »Ungefähr die gleiche Größe. Und das Licht hier ist schlecht.«
Bernie Simmons hatte die Leiche von Abraham Levinsky nicht angesehen. Jetzt tat er es. Ja, er hat ungefähr meine Größe, dachte er. Und als mager und schlaksig kann man uns wohl auch bezeichnen. Ach, und vor ein paar Jahren hatte Abe noch rötliches Haar. Nicht so rot wie meines, aber rot. In den letzten Jahren ist es größtenteils grau geworden, aber einen rötlichen Schimmer hat es hier und da noch immer.
Ein zweiter Streifenwagen hielt hinter dem ersten. Dann ein dritter, und danach folgte eine schwarze Limousine. Die Männer, die aus der Limousine stiegen, waren nicht in Uniform. Der Mann, der zuerst ausstieg, war groß und dunkel. Der zweite hatte eckige Schultern und ein kantiges Gesicht.
»Er ist tot, Sir«, sagte einer der Streifenbeamten, die zuerst zur Stelle gewesen waren.
»Das sehe ich«, sagte Lieutenant Stein vom Morddezernat. Er blickte auf die Leiche auf dem Bürgersteig und brummte: »Da soll doch...!« Dann blickte er Bernie Simmons an. »Levinsky, nicht wahr?«, fragte er. »Abe Levinsky?«
»Ja, Johnny«, antwortete Simmons. »Es ist Abe Levinsky.«
»Sie erleben wirklich die tollsten Sachen«, stellte Stein über die Leiche eines der besten Strafverteidiger der Vereinigten Staaten hinweg fest.
»Das kann man wohl sagen, Johnny«, erwiderte Simmons. »Sie waren schnell hier.«
»Nachtschicht«, antwortete Stein. »Die Meldung kam durch, und Ihr Name wurde genannt. Da sind Paul und ich gleich losgefahren.«
»Hallo, Paul«, sagte Bernie zu dem vierschrötigen Mann, und Paul Lane, Wachtmeister, sagte »Guten Abend, Herr Staatsanwalt.«
»Die anderen kommen gleich«, bemerkte Stein, und gleichzeitig schrillte in der Ferne eine Sirene. »Das werden sie sein.«
»Oder der Krankenwagen«, meinte Lane.
»Richtig. Also, Bernie, erzählen Sie.«
»Gern«, antwortete Bernie. »Aber gehen wir doch in meine Wohnung. Da können wir uns setzen, und kühler ist es dort auch.«
»Gut«, stimmte Stein zu und wandte sich an Lane. »Veranlassen Sie alles, Paul.«
»Okay«, antwortete Lane.
Stein und Bernard Simmons entfernten sich von dem Toten und der wachsenden Menschengruppe um ihn herum. Sie fuhren mit dem Aufzug hinauf zu Bernies Wohnung im dritten Stock eines nicht mehr ganz modernen Mietshauses. Bernie sperrte die Tür auf, und im Wohnzimmer war es so heiß wie auf der Straße und, wenn möglich, noch muffiger. Bernie schaltete die Klimaanlage ein, und der erste Hauch kühlerer Luft strömte ins Zimmer.
»Möchten Sie etwas trinken, Johnny?«, fragte Bernie Simmons.
»Nein, danke«, erwiderte Stein. »Das heißt, ich möchte schon, aber lieber nicht. Aber tun Sie sich keinen Zwang an, Bernie.«
Simmons stellte sein Glas auf einen kleinen Tisch neben einem Sessel und ließ sich in dem Sessel nieder. Stein setzte sich ebenfalls.
»Also, Bernie?«, sagte er.
»Ich war auf dem Heimweg«, begann Bernie. »Ich kam von der Lexington Avenue.«
Er berichtete Stein, was sich abgespielt hatte.
»Sie konnten den Mann nicht deutlich sehen?«, fragte Stein.
»Ganz und gar nicht. Ich sah eigentlich nur eine Gestalt. Groß und massig. Dunkle Kleidung, glaube ich. Moment mal - ja, er trug einen Hut, tief in die Stirn gezogen. Er lief schnell und leicht. Wie ein Mann in guter Kondition. Er hatte ein Heidenglück, dass er über die Park Avenue hinüberkam, ohne angefahren zu werden.«
»Wir wollen hoffen, dass er nicht weiter solches Glück entwickelt«, meinte Stein. »Er machte keinen Versuch, Levinskys Taschen auszuleeren?«
»Er hielt Abe an sich gepresst. Mit dem linken Arm umklammerte er seinen Hals. Er hätte mit der anderen Hand nach Abes Brieftasche greifen können, wenn Abe sie in der Hüfttasche zu tragen pflegte. Aber seine rechte Hand war nicht frei. Er hatte eine Waffe, mit der er Abe niederschlug.«
»Er hat Sie kommen sehen«, stellte Stein fest. »Er ließ Levinsky los und rannte davon. Er kam nicht mehr dazu, Levinsky zu berauben. Denn dass es ein Raubüberfall war, dürfte wohl feststehen.«
Darauf war eine Antwort nicht nötig. Stein erwartete auch keine.
»Und«, fuhr Stein fort, »es wird wohl nur Zufall gewesen sein, dass es wenige Schritte von Ihrer Wohnung entfernt geschah. Ein komischer Zufall allerdings, meinen Sie nicht? Ein schwüler Abend für einen Verdauungsspaziergang. Und spät. Welche Zeit war es ungefähr?«
»Viertel nach elf, halb zwölf, würde ich sagen.«
»Andererseits«, meinte Stein, »kann er natürlich vorgehabt haben, Sie zu besuchen. Haben Sie auch schon an diese Möglichkeit gedacht, Bernie?«
»Da wären wir den Zufall los«, meinte Bernie. »Möglich ist es. Ich weiß allerdings nicht, weshalb er mich hätte besuchen wollen. Erwartet habe ich ihn jedenfalls nicht. Ich wollte noch etwas Kaltes trinken und zu Bett gehen. Ich weiß wirklich nicht, weshalb Abe mich hätte besuchen sollen. Wie er überhaupt damit rechnen konnte, mich hier anzutreffen. Höchstens...«
Er verstummte und trank aus seinem Glas. Stein drängte ihn nicht.
»Heute bei Gericht«, bemerkte Bernie. »Sie wissen, dass er Martin verteidigte.«
»Sie werden wohl vergesslich, Bernie«, sagte Stein. »Liegt wahrscheinlich an der Hitze. Letzte Woche haben Sie mich zwei Stunden ausgequetscht. Und dann hat mich Levinsky noch einmal zwei Stunden ins Kreuzverhör genommen.«
»Schon gut«, versetzte Simmons. »Vielleicht liegt es wirklich an der Hitze.«
»Und«, fuhr Stein fort, »ich war derjenige, der Martin festnagelte. Daran werden Sie sich doch erinnern. Und Sie waren dann derjenige, der Anklage erhob. Erinnern Sie sich, Herr Staatsanwalt?«
»Ja, ja«, erwiderte Bernie. »So erbarmungslos brauchen Sie es mir nun auch nicht unter die Nase zu reiben.«
»Okay«, sagte Stein, und dann: »Ich glaube, jetzt werde ich doch weich und trinke einen kleinen.«
Simmons forderte ihn auf, sich zu bedienen. Mit dem Glas kam Stein zurück und setzte sich wieder in seinen Sessel.
»Sie wollten mir etwas über Levinsky erzählen«, bemerkte er. »Sie sagten Heute bei Gericht...«.
»Wir schlossen die Beweisführung kurz vor Mittag ab«, erklärte Bernie. »Vor der Mittagspause bat Abe um eine Vertagung bis zum Montag. Er sagte, dann könnte er Beweise beibringen, die neues Licht auf den Fall werfen würden - blendendes Lichts wie er sich ausdrückte. O’Brien ordnete daraufhin die Vertagung an. Es blieb ihm nichts anderes übrig.«
»Sollten wir etwas übersehen haben?«
»Möglich ist es«, erwiderte Bernie Simmons. »Und Abe hatte es als letzten Trumpf in petto gehalten.« Er schwieg einen Moment. »Heute Morgen schon begann ich, ein wenig nervös zu werden. Abe erschien mir einfach zu selbstsicher. Er war bei weitem nicht so scharf wie sonst. Und bei Levinsky, Johnny, muss man immer darauf gefasst sein, dass er plötzlich mit einem Knalleffekt auf wartet.«