MORD HAT VORRANG - EIN FALL FÜR MR. UND MRS. NORTH - F. R. Lockridge - E-Book

MORD HAT VORRANG - EIN FALL FÜR MR. UND MRS. NORTH E-Book

F. R. Lockridge

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Es war ein ganz prächtiger Morgen, von dem in die Wohnung des Ehepaares North in Manhattan freilich nicht sehr viel eindrang. Ein schmaler Keil des frühen Sonnenscheins lag auf dem Fußboden ihres Wohnzimmers, und durch die geöffneten Fenster kam frische Luft, frei von der drückenden Feuchtigkeit der Sommerhitze, durchweht vom ersten herben Hauch des Oktobers. Eine Luft, die selbst in diesem Häusermeer beinah angenehm zu atmen war...

 

Der Roman Mord hat Vorrang von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1951; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1961 (unter dem Titel Keine Fingerabdrücke).

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

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F. R. LOCKRIDGE

 

 

Mord hat Vorrang

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

MORD HAT VORRANG 

Die Hauptpersonen dieses Romans 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Es war ein ganz prächtiger Morgen, von dem in die Wohnung des Ehepaares North in Manhattan freilich nicht sehr viel eindrang. Ein schmaler Keil des frühen Sonnenscheins lag auf dem Fußboden ihres Wohnzimmers, und durch die geöffneten Fenster kam frische Luft, frei von der drückenden Feuchtigkeit der Sommerhitze, durchweht vom ersten herben Hauch des Oktobers. Eine Luft, die selbst in diesem Häusermeer beinah angenehm zu atmen war...

 

Der Roman Mord hat Vorrang von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1951; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1961 (unter dem Titel Keine Fingerabdrücke).

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

 

  MORD HAT VORRANG

 

 

 

 

 

 

  Die Hauptpersonen dieses Romans

 

 

Gerald »Jerry« North – ein New Yorker Verleger. 

Pamela »Pam« North – seine Frau. 

Captain William Weigand – Beamter im Morddezernat. 

Dorian Weigand – seine Frau. 

Sergeant Mullins – Weigands Assistent. 

Thelma, Pennina und Lucinda Whitsett – Tanten von Pamela North. 

Grace Logan – wohlhabende Witwe. 

Paul Logan – ihr Sohn. 

Rose Hickey – Gesellschafterin bei Mrs. Logan. 

Lynn Hickey – ihre Tochter. 

Barton Sandford – Biochemiker. 

Sally Sandford – seine Frau, Nichte von Mrs. Logan. 

 

Dieser Roman spielt in New York.

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Samstag, 14. Oktober, 9.11 Uhr, bis Sonntag, 11. Oktober, 11.10 Uhr 

 

Es war ein ganz prächtiger Morgen, von dem in die Wohnung des Ehepaares North in Manhattan freilich nicht sehr viel eindrang. Ein schmaler Keil des frühen Sonnenscheins lag auf dem Fußboden ihres Wohnzimmers, und durch die geöffneten Fenster kam frische Luft, frei von der drückenden Feuchtigkeit der Sommerhitze, durchweht vom ersten herben Hauch des Oktobers. Eine Luft, die selbst in diesem Häusermeer beinah angenehm zu atmen war.

Gerald North ließ seine Zeitung auf den Frühstückstisch sinken. Ein lauter Seufzer entfuhr ihm, und den vorwurfsvollen Klang, der herauszuhören war, verdienten die Neuigkeiten, die er soeben gelesen hatte, vollauf. Er atmete tief die Morgenluft ein und meinte, es gäbe voraussichtlich ein schönes Wochenende.

»Hm«, machte Pam, die die Post las. »Oh...«

»Das Wetter meinte ich«, sagte Jerry. »Schön draußen. Ich hab’ schon nachgesehen. Morgen tagsüber sonnig und warm, sagt der Wetterbericht.« Er zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief. »Sollen wir nicht mal ins Grüne fahren und zelten? Vielleicht über Nacht draußen bleiben?«, fragte er. »Die fallenden Blätter betrachten?«

»Oh, Jerry«, gab Pam zurück, »die Tanten!«

Gerald North fuhr sich mit der Rechten durchs Haar. »Doch nicht etwa Tante Flora? Die mit der Perücke?«

»Die sind in Kalifornien«, sagte Pamela. »Tante Flora mit ihrem neuen Gatten, meine ich. Nein, es handelt sich um die Tanten aus Cleveland.« Sie betrachtete ihren Mann, der gar nicht erleichtert aussah. »Vaters Schwestern. Tante Flora ist ja Mutters Schwester. Diese sind ganz anders. Alte Jungfern. Na, jedenfalls kommen sie heute Nachmittag. Sie erwarten, dass ich sie abhole und dass Hotelzimmer bereit sind und so weiter. Tante Lucy hatte vergessen, ihren Brief abzuschicken. Und jetzt schreibt sie: Thelma schrieb Euch am Montag, doch ich vergaß, den Brief einzustecken. Hoffentlich schadet das nichts. Aber nicht verraten.«

Jerry fragte, ob das etwa bedeuten solle, dass sie erst jetzt, an diesem Morgen, die Nachricht erhalten habe, dass die drei Tanten heute kämen und mit Hotelzimmern und so weiter rechneten?

Allerdings, so sei es, sagte Pamela.

»Hat denn die Tante Lucy noch nie was von einem Telegramm oder von einem Telefon gehört?«

»Ach, weißt du, sie ist doch die literarisch Interessierte«, klärte Pam ihn auf.

Jerry griff wieder in sein Haar und sprach etwas gereizt über Mangel an Logik. Die meisten literarisch interessierten Menschen, die er als Verleger kenne, seien mit der Telegraphie und dem Telefon vollkommen vertraut, und zwar so gut, dass sie ihre Telegramme mit Empfänger bezahlt schickten und beim Telefonieren das R-Gespräch bevorzugten.

»Sie schreibt nicht, sie liest«, sagte Pamela, »hat aber, glaube ich, früher auch kleine Gedichte gemacht. Sie ist ganz süß, Jerry. Thelma ist die Pferdenärrin. Soll ich mal das Hotel Welby anrufen?«

Jerry nickte. Ja, auf jeden Fall, sagte er, ein altjüngferlicheres Hotel als das Welby könne er ihr so leicht nicht nennen. »Besonders der kleine Salon, wo die Gäste ihren Cocktail trinken.« Er schüttelte sich unwillkürlich, als er daran dachte. Dann schnippte er mit den Fingern. »Aber jetzt sehe ich die drei wieder vor mir. Lucinda, genannt Lucy, und Thelma und – wie heißt noch die dritte?«

»Pennina«, sagte Pam, »Großvater liebte alles mit A am Ende. Sicher, weil er Abner hieß.«

»Na aber begann Jerry, fuhr jedoch klugerweise fort: »Ist schon gut. Versuch’s beim Welby.«

Pam tat das. Es schien zu klappen. »Die Damen Whitsett«, sagte sie und buchstabierte den Namen. »Drei sind’s. Mit Bad und möglichst mit Verbindungstüren, ja?« Und nach einem Weilchen: »Wunderbar! Thelma wird mit Vergnügen das Zimmer gegenüber nehmen. Ja, sie werden wohl vor sechs bei Ihnen eintreffen.« Sie nannte auch ihren eigenen Namen und hängte ein.

»Der Zug kommt um fünfzehn Uhr fünf«, sagte sie zu Jerry.

»Wir können sie zum Tee mit zu uns nehmen und sie nachher ins Welby begleiten. Wahrscheinlich wollen sie dann sowieso ein Mittagsschläfchen machen. Und Montag fahren sie nach Florida weiter.«

»Im Oktober?«, fragte Jerry.

»Wahrscheinlich dreht sich’s um ein Pferd. – Kommst du mit, Jerry?«

Er wollte energisch betonen, dass er nachmittags ein Manuskript lesen müsse. Es läge im Büro, brachte er schon weniger energisch heraus. Erst jetzt sei ihm das wieder eingefallen, ergänzte er noch bescheidener, und dann sagte er, vor ihrem forschenden Blich kapitulierend: »Na schön!«

»Wir werden aber erst im Algonquin ausgiebig essen«, meinte Pam. »Du bist wirklich ein lieber Kerl. Manche Ehemänner würden in diesem Fall die unwahrscheinlichsten Pflichten vorschützen.«

»Schon gut, Pam.« Jerry lächelte sie an. Sie stand auf, um noch Kaffee zu holen. Als sie durch den schwachen Sonnenstrahl schritt und er ihre Silhouette umleuchtet sah, lächelte er noch zufriedener. Nette Frau, dachte er, Tanten hin, Tanten her.

 

Jerry North hatte sich durch ein entsprechendes Mittagessen für das Kommende gestählt. Jetzt stand er mit Pamela hinter einer Sperrkette in der Grand Central Station, wo sie auf den Zug aus Cleveland warteten, und grübelte, ob er sich nicht etwas zu sehr gestählt habe. Es war, für Oktober, ein sehr warmer Nachmittag, und die drei Cocktails – schön, also drei, wenn er den halben, den Pam ihm noch abgetreten hatte, nicht mitzählte – drei Cocktails erhöhten entschieden das Schlummerbedürfnis. Er verlegte sein Gewicht auf den anderen Fuß und schwankte ein wenig vor Müdigkeit. Natürlich nur vor Müdigkeit, sagte er sich. Was denn sonst?

Ein Bahnbeamter machte die Türen hinter der Sperrkette auf, und Jerry und Pam sowie fünfzig bis sechzig andere Wartende konnten jetzt eine lange Rampe hinab ins Halbdunkel blicken. Ganz hinten kamen die ersten Reisenden. Ein langer Mensch mit Aktenmappe eilte weit vor den übrigen her.

»Einer muss immer vorneweg sein«, bemerkte Jerry.

»Das sind sie!«, rief Pamela.

Jerry sah die Rampe hinunter, dann schaute er Pamela fragend an.

»Die dahinten mit dem Gepäckträger kommen«, sagte sie. »Die große ist natürlich Tante Thelma. Deine Krawatte sitzt ganz schief, Liebling.«

Jerry rückte sie zurecht und sah wieder die Rampe hinunter. Es wimmelte jetzt von Menschen; die Tanten waren untergetaucht. Sie warteten. Einige Leute waren schon bei ihnen oben, blickten rasch suchend in die Gesichter hinter der Kette und verteilten sich nach beiden Seiten auf die Ausgänge.

»Selbst wenn man weiß, dass einen niemand abholt, schaut man sich doch um, nicht wahr? Für alle Fälle«, sagte Pamela. »Auch wenn man bloß von einer Vorortstation kommt.« Sie blickte zu Jerry auf, als müsse sie sich überzeugen, dass er noch da war. Er bestätigte seine Gegenwart durch Kopfnicken.

Jetzt kamen die Reisenden in geschlossener Masse die Rampe herauf. »Da kommen sie«, sagte Pamela und begann zu winken.

Die Tanten näherten sich; als erste die lange, also Thelma, im Sportkostüm, die zweite in einem großgemusterten Kleid und kleinem blauen Hut. »Tante Pennina«, sagte Pam. Hinter Pennina, ungefähr von derselben Größe, aber beträchtlich schlanker, kam die Tante Nummer drei. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid und ein rosa Hütchen. Jerry meinte wenigstens, es müsse ein Hut sein.

»Tante Lucinda«, klärte Pam ihn auf. »Wo hat sie den nur her?«

Sie winkte wieder, und Jerry gestand sich, dass es eigentlich unmöglich, ja geradezu lachhaft war, dass er die Tanten aus Cleveland auch nur vorübergehend vergessen haben konnte. Vor allem die Tante Thelma doch nicht, deren Filzhut so sachlich streng war. Tante Thelma, die als Führerin auf die Absperrung zuschritt.

»Da am Ende geht’s raus«, sagte Pam und deutete die Richtung an, als die Tanten sich der Kette näherten.

»Unsinn«, sagte Tante Thelma, indem sie schnurstracks auf Pamela und Jerry zuging, die Kette anhob und darunter durchschlüpfte. Sie hielt sie auch für die Tanten Pennina und Lucinda hoch, die sich gehorsam bückten, und blickte dann befehlend den Gepäckträger an. Der sagte jedoch: »Nein, meine Dame«, und ging den korrekten Weg.

»Ihr Lieben, wie nett, dass ihr da seid!«, sagte Pamela.

»Ich vermute, du hast den Brief erst heute früh bekommen, Pam?«, fragte Tante Thelma. »Lucinda hatte vergessen, ihn einzuwerfen.« Sie drehte sich nach Lucinda um, die hoffnungsvoll lächelnd und nervös sagte: »Oh, Pam, liebes Kind, das musst du entschuldigen.« Dann kam sie rasch auf Pamela zu und küsste sie, blickte zu Jerry hoch, klopfte ihm auf den Arm und sagte: »Der liebe Gerald.«

»Hallo, Tante Lucinda«, sagte Jerry. »Hat ja gar nichts geschadet.«

»Selbstverständlich nicht«, bekräftigte Pamela.

»Jedenfalls sind wir hier, und das ist doch die Hauptsache, nicht wahr?«, sagte Tante Pennina gemütlich. Sie küsste auch Pamela. »So hübsch, liebes Kind«, sagte sie. »Und dein netter Mann ist auch hier.« Sie lächelte Jerry zu.

»Guten Tag, Gerald«, sagte Tante Thelma energisch. »Wo ist denn dieser Mann geblieben?«

Dieser Mann hatte den vorgeschriebenen Durchgang am Ende der Absperrung benutzt und kam gerade mit dem Gepäck auf einem Handkarren herbei. Er warf einen Blick auf Tante Thelma und ließ ihn dann sofort auf Jerry abschweifen. »Sie wünschen gewiss ein Taxi?«, fragte er.

»Ich nehme doch an...«, begann Tante Thelma.

»Ja, bitte«, sagte Jerry.

»...dass mein Neffe mit dem Wagen gekommen ist«, vollendete Tante Thelma ihren Satz.

»Nein«, sagte Jerry und hatte das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. »Das Parken ist immer so schwierig, Tante Thelma«, erklärte er und hoffte, dass sein Ton nicht wie eine demütige Entschuldigung klang. »Taxi, bitte«, sagte er dann zu dem Gepäckträger, energischer als beabsichtigt.

»Wenn Sie bereit sind, sofort«, erwiderte der Rotbemützte würdig und schob mit der Karre voran.

»Komm, Lucinda«, sagte Tante Thelma. »Und Pennina.« Sie ging hinter dem Dienstmann her, Pennina folgte ihr, dann Lucinda, die sich mit fahrigem Lächeln zu Pamela und Jerry umdrehte, ehe sie sich anschloss. Das Ehepaar North ging nebeneinander am Schluss. Tante Thelma gab, als ein Taxi gefunden und das Gepäck beim Fahrer verstaut war, dem Gepäckträger dreißig Cent und stieg zuerst ein. Der Mann blickte ihr verdutzt nach und schien etwas sagen zu wollen; Jerry gab ihm schnell einen Dollar. »Ich danke Ihnen, Sir«, sagte nun der Mann stark betont, und Jerry hoffte, dass Tante Thelma es nicht gehört hatte. Ihm war unbehaglich zumute, fast, als hätte er etwas verbrochen. Er nestelte an seiner Krawatte, stieg ein und setzte sich neben Pam auf einen der Notsitze.

»Dreißig Cent waren durchaus genug«, sagte hinter ihm energisch Tante Thelma. »Man soll die Leute nicht verwöhnen.«

»Ich begann Jerry.

»Erzählt uns was von Cleveland«, fiel Pamela schnell ein.

»Was?«, fragte Tante Thelma.

 

Die Katze Martini begrüßte sie gleich hinter der Wohnungstür und schaute aus runden blauen Augen zu ihnen empor. Es sah aus, als betrachte sie Tante Lucindas Hut mit Besorgnis.

»Ob, das hübsche Kätzchen!«, sagte Pennina. »Wie süß!«

»Katzen – hm«, meinte Tante Thelma.

»Ich denke immer, wenn ich eine sehe, an T. S. Eliots Katzenbuch«, sagte Tante Lucinda. »Ein ganz wundervoller Dichter!«

»Ich vermute, dass ihr wenigstens keinen Hund habt«, sagte Tante Thelma.

Martini wandte sich ostentativ ab und schritt davon.

»Hund ist eins der Wörter, die sie kennt«, erklärte Pamela.

»Unsinn!«, sagte Tante Thelma. »Katzen! Wo ist das Bad, Pamela?«

Der Reihe nach gingen die Tanten sich frisch machen und kamen auch der Reihe nach ins Wohnzimmer zum geeisten Tee mit Gebäck. Sie legten ihre Hüte ab, Tante Thelma zog ihre Kostümjacke an, und schon waren sie mit Pamela im Gespräch über Verwandte, denen, soweit Jerry es beurteilen konnte – der sich in einem tiefen Sessel erholte –, inzwischen nichts von besonderer Bedeutung passiert war. Er ertappte sich bei der Feststellung, dass er an den Tanten, nachdem sie einmal gelandet waren, einigen Spaß hatte.

Sie waren alle drei in den Sechzigern. Thelma mochte die älteste sein, aber das war sie vielleicht nur, weil sie das Regiment führte. Doch vom Alter abgesehen, waren sie grundverschieden.

Tante Thelma war eigentlich gar nicht besonders groß, nur im Vergleich zu den anderen und vielleicht durch ihre Haltung. Dass sie kräftig war, sah man sofort; ihr Gesicht war wetterhart, die Hände waren braun und konnten gewiss fest zupacken. Sie hatte graues, kurzgeschnittenes Haar, und ihre hellblauen Augen betrachteten die Welt gebieterisch. Jerry meinte bei sich, dass sie diesen grauen, wolligen Kostümstoff wohl deswegen bevorzugte, weil an rauem Tweed Hundehaare, wenn sie auch leicht hängenblieben, nicht zu sehen waren.

Martini kam wieder ins Zimmer, schritt direkt zu Tante Thelma und begann mit vibrierender Nase, die Ohren zurückgelegt, an ihren Schuhen zu schnuppern. Sie riecht bestimmt Hunde, dachte Jerry, Hunde und Pferde. 

»Schon gut, das genügt mir«, sagte Tante Thelma streng, aber nicht unfreundlich, zur Katze Martini, die sich hinsetzte und zu ihr hochblickte.

»Was Flora betrifft...«, fuhr Tante Thelma im Gespräch fort.

Die kleine Magere war also die Literarische-Tante Lucy dachte Jerry. Sie musste früher hübsch gewesen sein und war es in mancher Beziehung noch. Ihr kleines Gesicht zeigte lebhaftes Interesse an allem, Was vorging, ihre Blicke wanderten rasch zwischen den Anwesenden hin und her, als müsse sie sich beeilen, im Gespräch mitzukommen, und als sei diese Eile etwas bestürzend.

»Geschwätz alter Jungfern«, sagte sie. »Was musst du davon denken!« Und nach einem Weilchen setzte sie, noch lächelnd und wie beglückt, hinzu: »Die Welt der Bücher!«

»Qh ja«, sagte Jerry, »ja.« Dann war ihm, als hätte er sich zu schnell mit dem Geschwätz einverstanden erklärt, und er sagte: »Keineswegs«, ohne recht zu wissen, was er damit meinte.

Tante Lucy nickte, ihre Augen strahlten – sie wartete. Auf ein Gespräch über Bücher, dachte Jerry. Ihm wollte aber nichts Besonderes über Bücher einfallen, höchstens, dass zurzeit der Absatz schlechter war, als er es sich für seinen Verlag wünschte. Da er das aber nicht für den richtigen Gesprächsstoff hielt, lächelte er nur. Und Tante Lucy nickte ihm lächelnd zu, als hätte er tatsächlich etwas Nettes gesagt. Dann hörte sie wieder Pamela zu, die von einem gewissen Felix sprach, von dem Jerry nie gehört hatte, während Pam sich ernstlich für ihn zu interessieren und gut über ihn informiert zu sein schien.

Martini sprang Jerry auf den Schoß, wobei sie sich mit den Krallen, aber nur vorsichtig mit den äußersten Spitzen, am Stoff seines Anzugs festhielt. Sie musterte langsam, mit starren blauen Augen, nacheinander die Gäste. Als Jerry eine Hand auf ihren Rücken legte, wedelte sie behaglich und gelassen mit dem Schwanz.

Tante Pennina hatte runde rosa Bäckchen, ihre Gesichtshaut sah aus wie ganz weiches, sanft verknülltes Seidenpapier. Ihre kleinen, dicken Hände waren weiß und hübsch, das weiße Haar umrahmte zart ihr Gesicht. Man musste es unbegreiflich finden, dass sie nicht Großmutter war, denn sie schien wie geschaffen dafür, Enkelkinder zu verwöhnen und Zuckerplätzchen an sie zu verteilen. Sie machte den Eindruck, als sitze sie schon seit Wochen bei den Norths im Wohnzimmer oder schon immer.

»Niedliches Kätzchen, möchtest du einen Keks haben?«, fragte sie freundlich Martini, die von Jerrys Schoß wieder herabgesprungen war, und hielt ihr ein Stück Keks hin. Die Katze beroch eist eine Weile Penninas Hand, leckte an dem süßen Gebäck, um dann, als sei das ein Gebot der Höflichkeit, ein wenig daran zu knabbern.

»Pennina«, sagte Tante Thelma, »was machst du da?«

»Ich füttere das Kätzchen«, erwiderte Pennina, »ist ja ein süßes, kleines Ding.« Sie war ganz gleichmütig und auch nicht überrascht, dass Tante Thelma eine Erklärung für etwas so deutlich Sichtbares verlangte.

»Krümel – auf Pamelas schönen Teppich«, warf Thelma ihr vor.

»Das macht gar nichts«, sagte Pamela, »von Katzen sind wir das ja gewohnt. Unser Peter zerriss sie gleich in kleine Stücke. Teppiche, meine ich. – Wird denn erzählt, dass sie sich scheiden lassen wollen?«

»Nicht, dass wir wüssten«, nahm Tante Thelma den Faden wieder auf. »Aber ob man will oder nicht, man hört ja schließlich...«

»Eine sonderbare, aber so schöne Liebesgeschichte«, sagte Tante Lucinda. »Geht hin und erschießt den Senator. Dahinter steckt ja so viel...«

»Jerry!«, sagte Pamela. »Aber Jerry.« Ihr Mann schrak auf, er merkte, dass er geschlafen hatte. »Er arbeitet ja so angestrengt«, erklärte Pam. »Nicht wahr, Liebling? Gestern wieder die ganze Nacht.«

Jerry sah sie erstaunt an.

»Das Manuskript, du weißt doch. Es war sicher schon drei Uhr früh, als du...«

»Ach ja, natürlich«, sagte Jerry, »das Manuskript.«

Es sei gewiss wundervoll, Verleger zu sein, meinte Tante Lucinda.

»Nun, ja«, sagte Jerry, »und wiederum...«

»So viele Bücher!« Tante Lucindas Gesicht leuchtete förmlich bei diesem Gedanken.

Das allerdings, da habe sie recht, stimmte Jerry zu.

»Auf jeden Fall«, sagte Tante Thelma, »müssen wir jetzt gehen. Pennina, Lucinda.«

Nein, mehr geeisten Tee wollten die Tanten nicht haben, nur Pennina Wollte noch einen Keks. Im Taxi auf der Fahrt zum Hotel Welby schlug Pamela vor, spät.er gemeinsam zu Abend zu essen. Tante Pennina nickte zufrieden, Lucinda lächelte heiter, während Thelma erklärte, dazu würden sie wohl zu müde sein.

»Dann morgen«, sagte Pamela North.

»Morgen«, stimmte Tante Thelma ihr zu.

»Nur, wir müssen morgen an unsere liebe Grace denken, Thelma«, sagte. Lucinda.

»Reichlich Zeit für beides«, gab Tante Thelma zurück.

»Grace Logan«, erklärte Pennina in ihrem behaglichen, zufriedenen Ton. »Du entsinnst dich wohl, Pamela. So eine gute alte Freundin aus früheren Zeiten. Die besuchen wir auf der Durchreise jedes Mal. Ist so einsam, die liebe alte Grace.«

»Unsinn«, sagte Tante Thelma. »Ihr Sohn ist ja bei ihr, nicht wahr? Gar nicht zu reden von Mrs. Hickey und den Dienstboten.«

»Das ist nicht dasselbe, meine Liebe«, sagte Tante Lucinda. »Und gelesen hat sie ja eigentlich nie viel.«

»Ich fing Tante Thelma an, doch das Taxi hielt schon vor dem Hotel, und der Fahrer meldete die Ankunft. Jerry stieg aus und half den Tanten. Der Portier nahm das Gepäck in Empfang. Jerry wartete in der Halle, während Pamela die Tanten nach oben brachte, denn er fand es unpassend, mitzugehen und Betten zu sehen, in denen jungfräuliche Tanten schlafen sollten. Nach zehn Minuten war Pam wieder bei ihm.

Sie klopfte ihm auf den Arm und sagte, er sei zu den Tanten sehr nett gewesen. Und Jerry entschuldigte sich für sein plötzliches Einschlafen.

»Das machte gar nichts«, sagte sie, »es ist kaum aufgefallen.« Er hielt es für richtiger, darauf nicht weiter einzugehen. Stau dessen fragte er, wer denn dieser Felix sei.

»Felix?«, wiederholte Pamela. »Ach so – Felix.«

»Ja.«

»So eine Art Vetter zweiten Grades, oder wie man das nennt«, sagte Pamela. »Warum fragst du?«

Jerry wusste nicht, warum. Es hätte ihn nur gewundert, weil sie bisher nie von ihm gesprochen habe, sagte er.

»Um Himmels willen, ich habe seit Jahren nicht an ihn gedacht«, sagte Pamela. »Würde ihn gar nicht erkennen, wenn er käme. Er ist bloß ein Verwandter, so wie jeder Mensch Verwandte hat. Lass uns zum Plaza fahren. Um zu feiern.«

»Wie bitte?«

»Jerry! Dazu brauchen wir doch keinen besonderen Anlass.« Sie machte eine Pause. »Ich denke, dass ich keine altjüngferliche Tante bin, das genügt schon. Wäre doch schrecklich langweilig.« Sie begaben sich zur Bar im Eichenzimmer des berühmten Hotels Plaza. Für den Anfang sei das sehr nett, bemerkte Pam.

 

Am nächsten Morgen schliefen die Norths lange, und erst nach fünfzehn Uhr rief Pamela bei den Tanten im Welby an, um endgültig die Verabredung zum Dinner zu treffen, doch die Tanten waren nicht in ihren Zimmern zu erreichen.

»Natürlich«, sagte Pam, als sie einhängte, »das hatte ich vergessen. Sie wollten ja zu Mrs. – wie heißt sie noch, Jerry? Die alte Freundin?«

Jerry konnte sich nicht auf den Namen besinnen und gab sich auch keine Mühe damit. Worauf Pam meinte, das sei ja auch unwichtig. Absolut unwichtig.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Sonntag, 14.40 bis 19.10 Uhr 

 

Grace Logan sagte in herzlichem Ton: »Aber selbstverständlich, das müsst ihr. Je früher, desto besser.« Dann legte sie den Hörer auf, blieb noch ein Weilchen in dem in Elfenbein und Weiß gehaltenen Zimmer sitzen und blickte auf das elfenbeinfarbene Telefon. Sie rieb sich mit ihren schlanken Fingern sanft die Stirn. Es war eine vertraute Geste, die aber längst nicht mehr den gleichen Zweck hatte wie früher, als sie, wenn auch mit nur geringer Hoffnung, versucht hatte, durch Massage die Falten auf der Stirn zu glätten, die der Mensch mit den Jahren bekommt, wenn er vor, Staunen über die Welt die Brauen hebt oder sie, bedrängt und bedrückt, scharf zusammenzieht. Und wer in wenigen Monaten seinen dreiundsechzigsten Geburtstag erleben soll, hat Zeit, gehabt, der Welt viele Gesichter zu schneiden.

Grace Logan sah immerhin noch um Jahre jünger aus, als sie sich in den letzten Wochen gefühlt hatte. Sie war mittelgroß und schlank, ihr Körper hatte noch beinah die feingerundeten Formen der Jugend. Ihr schwarzes Kleid war raffiniert gearbeitet, geschickte Hände hatten ihr reinweißes Haar so frisiert, dass es sich wirkungsvoll von den gepflegten dunklen Augenbrauen abhob. Und geübte Hände – hier ihre eigenen – hatten mit Rot die Lippen verschönt, die noch weich und ohne die harten Linien des Alters waren. Man konnte Grace Logan leicht für zehn, zwölf Jahre jünger halten, als sie war, wie man sie mit Fünfzig für eine jugendliche Vierzigerin gehalten hatte. Das hatte Paul ihr oft gesagt.

Und als er sehr krank war und sie beide wussten, dass er sterben würde, hatte er ihr gesagt, sie habe ihm ihre schönsten Jahre geschenkt. Sie dachte jetzt, während ihr Thelma Whitsetts herrische Stimme noch in den Ohren klang, an Paul, der nun schon fünf Jahre tot war, und dachte an die arme Thelma, aber dass doch niemand schuld gewesen war, weder Paul noch sie selbst, und auch Thelma nicht. Sie fühlte sich so vereinsamt und wünschte, Paul sei jetzt da, denn sie brauchte ihn. Doch dann nahm Grace Logan, die so vieles zu überlegen hatte, sich zusammen und widmete sich den nächstliegenden Dingen. Sie ging zwei Treppen hinab, um Hilda zu sagen, dass am frühen Nachmittag drei Gäste zum Tee kämen. Als sie sagte: »Die Damen Whitsett«, meinte Hilda, die hätten sich in diesem Jahr wohl verfrüht.

»Oktober«, klärte Grace Logan ihre Köchin auf, die das nicht bestreiten konnte und nach kurzem Nachdenken sagte: »So regelmäßig, beinah wie die Zugvögel, finden Sie nicht auch?«

Grace Logan nickte lächelnd, sie stellte sich die drei Whitsetts als Zugvögel vor, wie sie Mitte oder Ende Oktober auf ihrem Weg nach Süden in New York kurz rasteten und Ende März auf dem Weg nach Cleveland noch einmal. An diesem Phantasiebild würde Lucy ihren Spaß haben, dachte Grace. Penny vielleicht auch, aber Thelma fände das bestimmt nicht spaßig.

Während sie in ihrem gepflegten, kleinen. Haus wieder eine Treppe hinaufging, zu dem im ersten Stock nach vorne gelegenen Wohnzimmer, grübelte sie, worüber sie sich mit den Whitsetts wohl unterhalten würde. Gewiss über die alten Tage – die Zeiten, da sie miteinander aufgewachsen waren, zusammen auf den breiten, durch keinen Zaun getrennten Rasenflächen zwischen den beiden weitläufig gebauten Häusern ihrer Eltern gespielt hatten und zusammen zur Schule gegangen waren. So lange her ist das nun, schrecklich lange, dachte sie. Und als sie dann durchs Zimmer ging, mit dem zärtlichen Blick, den Frauen für Räume haben, die ihnen gefallen, erschienen wieder die Sorgenfalten auf ihrer Stirn, und unbewusst versuchte sie wieder, sie mit den Fingerspitzen zu glätten. Es gibt so viel Unrecht, und man hat so viel Kummer, und die Menschen sind so gedankenlos, grübelte sie. Sie helfen einem so wenig, versuchen es kaum. Wie Rose heute Morgen – nach vier Jahren. 

Und mich nennen sie selbstsüchtig, sann sie weiter und setzte sich rasch hin in dem so wohlgeordneten, menschenleeren Zimmer. Und fortzugehen, wenn ich sie gerade am nötigsten brauche! Fortzugehen und – daran musste sie gegen ihren Willen nun wieder denken – und mich mit diesen Zweifeln an dem Jungen allein zu lassen! 

Grace Logan, die sich im Leben so gut gehalten hatte, wies die Zweifel von sich. Alles, was sie für ihren Sohn Paul getan hatte, war zu seinem Besten gewesen, und getan hatte sie es, weil sie ihn liebte und er ihr ein und alles war. Lynn war es, die ihre Mutter hart machte, und Härte steckte an. Rose war doch eigentlich so zart und verständnisvoll. Alles Geschehene hatte bewiesen – falls da überhaupt Beweise nötig waren –, dass sie mit ihrem Standpunkt recht gehabt hatte. Aber dadurch war sie nun so allein in ihrem Haus.

Wäre nicht die andere Geschichte gewesen – diese verwirrende, undurchsichtige Sache –, dann hätte sie wohl die Geduld gehabt, Rose zur Einsicht zu bringen. Aber in ihrer Besorgnis vermochte sie nicht geduldig zu sein, das war das Schlimme.

Sie hörte Schritte auf der Treppe und ging an die Tür, um ihre Gäste zu begrüßen, denen Mary, das Hausmädchen, unten im Flur die Mäntel abgenommen hatte, um sie in den Schrank zu hängen.

Als erste kam Thelma die Treppe herauf, hinter ihr Penny und dann, wie immer mit der Wohlwollen verkündenden Miene, Lucy, die sich diesmal selbst übertroffen hatte. Was für ein Hut!

»Meine Lieben!«, sagte Grace, klopfte Thelma auf den Arm, legte einen Arm um Pennys Taille und griff mit der wieder freien anderen Hand nach der zuletzt kommenden Lucy. »Wie nett, euch wiederzusehen, ihr Lieben.«

»Oh, du hast das Zimmer neu machen lassen«, sagte Thelma, die gleich Umschau hielt.

»Und so schön!«, rief Lucinda.

»Ich hatte diesen Raum schon immer so gern«, sagte Penny, die gemütlich Platz nahm. »So anheimelnd für New York.«

»Was sie macht, macht sie immer so schön«, sagte Lucinda »Schon, als wir noch ganz kleine Mädchen waren. Erinnert ihr euch, zu Hause...«

Und schon hatten sie ihre Unterhaltung. Sogar Thelma wurde weicher im warmen Bad der Erinnerungen. Sie sprach von einem Pony, um das sie Grace so beneidet hatte. Pennina entsann sich der Picknicks auf dem Rasen bei ihren Elternhäusern und sprach von einem jungen namens Harry, den die anderen nicht mehr im Gedächtnis hatten. »Er fand dich wundervoll«, sagte sie zu Grace, »und ich wollte gern, dass er mich wundervoll fände.« Sie lächelte behaglich in der Erinnerung an jene Zeit.

»Das letzte Mal aber nicht«, sagte Thelma ziemlich frostig, und Grace klingelte ein bisschen überstürzt nach dem Tee.

»Ich möchte gern mal die Toilette in deinem Badezimmer benutzen, wenn ich darf«, sagte Thelma Whitsett.

Es ist ganz typisch für Thelma, dass sie nicht geziert von Händewaschen spricht, dachte Grace, als sie ihr antwortete: »Selbstverständlich, du weißt ja, wo es ist.« Eigentlich war dieses Vermeiden von Umschreibungen, besonders bei Dingen von größerer Bedeutung, eine überraschend angenehme Eigenschaft Thelmas, fand Grace, als sie die älteste der Schwestern Whitsett jetzt kerzengerade und zielbewusst das Zimmer verlassen sah. Bei ihr jedenfalls wusste man, woran man war.

»Ist die gute Mrs. Hickey zurzeit nicht hier?«, fragte Lucy, um eine Gesprächspause zu füllen.

»Leider nicht«, antwortete Grace. »Sie würde liebend gern...« Hier stockte sie. Doch das Aufschieben unangenehmer Dinge hatte ja doch keinen Sinn. »Rose hat mich leider verlassen«, gab sie zu, »um bei ihrer Tochter zu wohnen. Bei Lynn, ihr wisst ja.« Ihre Stimme klang ein wenig härter, als sie Lynn Hickey erwähnte. »Ich vermute, Rose hatte das Gefühl...« Sie hielt wieder kopfschüttelnd inne. »Ich weiß wirklich nicht,

was sie sich gedacht hat«, fuhr sie fort, indem sie nun doch die wahre Erklärung hinausschob. »Vielleicht fühlte sie sich hier fast wie in einem Käfig.«

»Ein sehr angenehmer Käfig, muss ich schon sagen«, meinte Pennina Whitsett. Mary kam gerade mit dem Tee herein und stellte das Service auf einen Tisch neben Mrs. Logan ab. »Sehr«, wiederholte Pennina, indem sie erfreut die feinen, dünnen Sandwiches, eine Serviette, die vermutlich warme Biskuits verdeckte, und einen Schokoladenkuchen betrachtete.

Es fiel Grace auf, dass Mary wieder die Vitaminkapseln vergessen hatte. Oder fand sie die Teegesellschaft so würdevoll, dass sie meinte, eine Ausnahme vom Alltäglichen machen zu müssen?

»Sieht alles hübsch aus«, lobte sie Mary und fügte hinzu: »Aber holen Sie mir doch bitte meine. Kapseln. Im Arzneischränkchen im Badezimmer, Sie wissen ja.«

Natürlich wusste Mary das – es war nur Gedankenlosigkeit von ihr. Grace seufzte, und ihr fiel etwas ein. »Sobald Miss Whitsett zurück ist«, sagte sie, doch das war unnötig, denn Thelma Whitsett kam eben wieder herein. Mary warf einen letzten prüfenden Blick auf den Teetisch und ging hinaus.

»Meine Güte, was du alles auftischst«, sagte Thelma Whitsett. Und mit einem warnenden Blick auf Pennina: »Vergiss nicht, Pennina!«

Grace Logan schenkte Tee ein. Mary kam mit einer kleinen braunen Flasche wieder, stellte sie in ihre Nähe und reichte dann den Gästen die gestickten Servietten, die Kuchenteller, die Sandwiches, Biskuits und die Tassen mit Tee. Das Gespräch flaute ab.

Grace aß nur ein paar Bissen von den belegten Brötchen und trank Tee. Sie war nur selten hungrig, doch als sie Pennina ohne unnötige Umstände und mit viel Appetit essen sah, wünschte sie sich auch einmal einen gesunden Hunger. Vielleicht brachten ihn die Vitaminkapseln? Zum mindesten war es ihr Zweck. Sie zündete sich eine Zigarette an, um die vorgeschriebene Viertelstunde zwischen dem Essen und dem Einnehmen der sogenannten konzentrierten Gesundheit auszufüllen.

»Mrs. Hickey hat unsere liebe Grace verlassen«, sagte Lucy zu Thelma, die das nicht mitgehört hatte. Die von Grace angebotene Zigarette lehnte sie freundlich ab. »Nein, Kind, das tue ich nie. Bedaure.«

»Verlassen?«, sagte Thelma. »Warum denn?«

»Sie wollte bei ihrer Tochter wohnen«, erwiderte Grace. »Ich fürchte, ich bin ihr allmählich zu langweilig geworden.«

»Dann hat sie aber lange gebraucht, um das festzustellen«, sagte Thelma. »Sie war doch schon seit Pauls Tod bei dir, nicht wahr? Fünf Jahre?«

Thelma entsann sich also, wann Paul gestorben war. Wie mochte ihr damals zumute gewesen sein, fragte sich Grace und antwortete ihr, ganz so lange sei Rose Hickey nicht bei ihr gewesen, sondern erst ein Jahr später als Gesellschafterin zu ihr gezogen.

»Also dann vier Jahre«, sagte Thelma, »und merken hätte sie das doch wohl in den ersten fünf Minuten können.«

»Ich bin fest davon überzeugt, dass Grace keinem Menschen langweilig werden kann«, sagte Pennina, an ihrem Kuchen kauend.

»Unsinn. Jeder kann einem andern langweilig werden.« Thelma machte eine Pause. »Von Grace nehme ich das ja gar nicht an. Es muss da noch ein anderer Grund vorliegen. Streit gehabt?«, fragte sie Grace.