DER ÜBEREILTE MORD - EIN FALL FÜR MR. UND MRS. NORTH - F. R. Lockridge - E-Book

DER ÜBEREILTE MORD - EIN FALL FÜR MR. UND MRS. NORTH E-Book

F. R. Lockridge

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Beschreibung

Ein kluger Geschäftsmann würde nie auf die Idee kommen, in dem unscheinbaren Viertel von Greenwich Village, das als West Kepp Street bekannt ist, eine Tierhandlung zu eröffnen, aber J. K. Halder ist keineswegs darauf angewiesen, Geld zu verdienen: Der millionenschwere Tierliebhaber betreibt den Laden als Hobby. Er hat gerade den Laden für den Tag geöffnet, als sein letzter Kunde eintritt. Halder kennt den Besucher vom Sehen, und er weiß auch, dass nichts, was er sagen kann, sein Leben retten wird. Es gibt Dutzende von Zeugen für den Mord, aber zum Glück für den Mörder reden Tiere nicht. Um diesen ungewöhnlichen Mord aufzuklären, bedarf es eines besonderen Detektivs – und wer könnte ein besonderer Detektiv als Pamela North sein? Sie und ihr Mann lieben Tiere fast so sehr wie Halder, und sie werden alles tun, um seinen Tod zu rächen... Der Roman DER ÜBEREILTE MORD von F. R. Lockridge (* 26. September 1898 in St. Joseph, Missouri; † 19. Juni 1982 in Tyron, North Carolina) erschien erstmals im Jahr 1950; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1960 (unter dem Titel MORGEN VORMITTAG KOMME ICH). Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

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F. R. LOCKRIDGE

 

 

DER ÜBEREILTE MORD

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

DER ÜBEREILTE MORD 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Impressum

 

Copyright © by F. R. Lockridge.

Published by arrangement with the Estate of Richard Orson Lockridge.

Originaltitel: Murder In A Hurry.

Übersetzung: Dr. Arno Dohm und Christian Dörge.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg

Cover: Copyright © by Christian Dörge.

 

Verlag:

Signum-Verlag

Winthirstraße 11

80639 München

www.signum-literatur.com

[email protected]

Das Buch

 

 

Ein kluger Geschäftsmann würde nie auf die Idee kommen, in dem unscheinbaren Viertel von Greenwich Village, das als West Kepp Street bekannt ist, eine Tierhandlung zu eröffnen, aber J. K. Halder ist keineswegs darauf angewiesen, Geld zu verdienen: Der millionenschwere Tierliebhaber betreibt den Laden als Hobby. Er hat gerade den Laden für den Tag geöffnet, als sein letzter Kunde eintritt. Halder kennt den Besucher vom Sehen, und er weiß auch, dass nichts, was er sagen kann, sein Leben retten wird. Es gibt Dutzende von Zeugen für den Mord, aber zum Glück für den Mörder reden Tiere nicht.

Um diesen ungewöhnlichen Mord aufzuklären, bedarf es eines besonderen Detektivs – und wer könnte ein besonderer Detektiv als Pamela North sein? Sie und ihr Mann lieben Tiere fast so sehr wie Halder, und sie werden alles tun, um seinen Tod zu rächen... 

 

Der Roman Der übereilte Mord von F. R. Lockridge (* 26. September 1898 in St. Joseph, Missouri; † 19. Juni 1982 in Tyron, North Carolina) erschien erstmals im Jahr 1950; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1960 (unter dem Titel Morgen Vormittag komme ich).  

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur. 

DER ÜBEREILTE MORD

 

  Erstes Kapitel

 

 

Montag, 23. Mai, 22.15 bis 23.50 Uhr

 

Eine bedeutungslose Straße ist es, weder lang noch breit, und dementsprechend bescheiden. Und als ob sie unbedingt noch verkürzt werden müsste, krümmt sie sich in der Mitte, indem sie aus ungefähr südwestlicher Richtung nahezu nach Nordwesten umknickt. Wer in der Innenstadt von New York wohnt, der weiß, dass es dort mehr als nur eine merkwürdige Straße gibt, aber nach Ansicht vieler Leute ist die Kepp Street die kurioseste von ihnen. Die Menschen, die in dieser Straße wohnen, sprechen seltsam liebevoll und zugleich entschuldigend von ihr: es sei die ulkigste kleine Straße in New York und die am schwersten auffindbare.

Schwer zu finden ist sie bestimmt. Sogar Taxichauffeure, die sich doch genau auskennen, werden unsicher, sobald ein Fahrgast in die Kepp Street will. Sie müssen dann Kollegen oder Verkehrsschutzleute tragen, wo diese Straße eigentlich liegt. Selten bekommen sie zufriedenstellende Auskunft, auch in unmittelbarer Nähe kaum. Gewiss, sagen die Leute, gehört hätten sie wohl von ihr, sie könne gar nicht weit sein, wahrscheinlich dort drüben – oder nein: ein Stück nach der anderen Seite. Meistens aber erklären sie dem Fragenden, er meine sicher die Gay Street, die auch stark gekrümmt ist und sozusagen vom Nirgends ins Nichts verläuft.

Anwohner der Kepp Street geben infolgedessen den Taxifahrern oder ihren Bekannten, die sie nach Hause bringen wollen, nie genau das Ziel an. Vielmehr bezeichnen sie ein leichter zu findendes – einen markanten Punkt in der Nachbarschaft – und versprechen, von dort aus die Führung zu übernehmen. Erwarten sie Gäste, so vereinbaren sie mit ihnen gewöhnlich als Treffpunkt die nächste Untergrundbahnstation und führen sie nachher weiter. Es geht ihnen wie den Leuten in einem weglosen Vorort, wenn sie ihren Besuch an der gewissen weißen Scheune empfangen wollen, die angeblich nicht zu übersehen ist und rechts liegen soll, kurz bevor der Fremde an die vielen Gabelungen gelangen würde, deren Verlauf ihm vorher zu beschreiben ganz aussichtslos ist.

Wenn die Besucher schließlich bis zur Kepp Street geleitet sind, imponiert ihnen die gar nicht. Und weil sie die dort Ansässigen nicht in ihrem Stolz kränken wollen – es gibt nichts, selbst in der Kepp Street, auf das nicht jemand stolz sein kann –, sind sie dann geneigt, zögernd zu erklären, es sei eine sehr wunderliche kleine Straße. Doch auch dieser Begriff sagt wenig Positives und nichts eigentlich Kennzeichnendes. In der Kepp Street liegen keine schiefwinkeligen kleinen Häuser mit Blumenkästen vor den Fenstern und mit roten Haustüren. Die Gebäude zu beiden Seiten der Kepp Street sind vier- bis fünfstöckige Mietshäuser, von denen die meisten noch die in älteren Bezirken typische Vortreppe haben. Man hat sie, wie erwähnt werden sollte, im Innern umgebaut, so dass aus den ungemütlichen großen Wohnungen jetzt zahlreiche ungemütliche kleine geworden sind.

Die Straße selbst ist so lächerlich schmal, dass zwei Autos kaum aneinander vorbeifahren könnten; sie ist daher Einbahnstraße. Autobesitzer, die hier wohnen, parken gewohnheitsmäßig halb auf dem Bürgersteig – was natürlich durchaus vorschriftswidrig ist, aber Polizeibeamte verirren sich selten hierher.

Alles in allem: Es wäre gewiss schwierig, in ganz New York eine Gegend zu finden, die dem kaufmännischen Unternehmungsgeist weniger Anreiz bietet als die Kepp Street. Gewiss, an ihren beiden Enden befinden sich Läden, doch die haben ihre Front nach Straßen, die man vergleichsweise Verkehrsadern nennen könnte, und präsentieren der Kepp Street nur ihre Seitenmauern. Ungefähr in der Mitte der Kepp Street jedoch, gerade da, wo sie den Bogen macht, gibt es wahrhaftig einen Laden. Er nimmt das ganze Parterre eines der vierstöckigen Gebäude ein, und man betritt ihn über drei von der Straße nach unten führende Stufen. Seit einigen Monaten steht der Laden leer, aber noch immer hängt über der Tür das Schild: Zoologische Handlung Jasper Halder. Ab und zu bleiben Neugierige, die durch die Kepp Street schlendern, stehen und spähen in das staubige Schaufenster, ohne jedoch für ihre Mühe belohnt zu werden, denn es gibt in Mr. Halders Laden keine Tiere mehr, und Mr. Halder selbst ist auch nicht mehr da. Die Tiere befinden sich anderswo, und Mr. Halder weilt nicht mehr unter den Lebenden.

 

Um 22.15 Uhr am Abend des 23. Mai lebte er noch. Er stieg am östlichen Ende der Kepp Street aus einem Taxi und. ging dann durch die Straße zu seinem Laden. Er war ein schlanker, Mann mit aufrechtem Gang, Obwohl es ein warmer Abend war, trug er über seinem Smoking einen leichten Mantel und auf dem grauhaarigen Kopf einen dazu passenden dunklen Hut. Zweiundsiebzig Jahre war er alt, jedoch hatte er sich in letzter Zeit älter gefühlt, als es seinen Jahren entsprach. Doch darüber dachte er im Augenblick nicht nach, sondern er war sehr ärgerlich über etwas ganz anderes. Während er auf seinen Laden zuschritt, schüttelte er. den Kopf und schimpfte vor sich hin. Es war niemand in der Nähe, der sein Kopfschütteln bemerkt oder sein Schimpfen gehört hätte; das sollte sich später – so, wie sich die Dinge entwickelten – als recht bedauerlich erweisen.

Als Mr. Halder die drei Stufen hinunterschritt, sprangen zwei ganz junge Cockerspaniels in ihrem Verschlag im Schaufenster freudig errege gegen die Scheibe, tappten mit den lächerlichen Pfötchen daran hin und her und rissen die rosa Mäulchen weit auf zu einem schrillen Gebell höchster Begeisterung. In der Box neben ihnen erhob sich eine langhaarige schwarze Katze, machte einen Buckel und streckte sich lässig wieder, indem sie die offenen Krallen ihrer Vorderpfoten in den Holzboden hakte. Nachdem sie so demonstriert hatte, dass sie in Form war, ging sie dicht an die Fensterscheibe, blickte zu Mr. Halder empor und riss den Rachen auf. Ob sie etwas äußerte, war durch das Glas nicht zu hören.

Mr. Halder schloss die Tür auf und trat in seinen Laden, in dem sofort ein großer Spektakel losging. Die schwarze Katze schob eine Pfote zwischen den Holzstäben ihrer Box hindurch und bemühte sich, seinen Mantel zu erreichen, während sie ihn, so laut, wie eine kleine Katze das vermag, auf sich aufmerksam zu machen bemüht war. Die jungen Hunde versuchten aus ihrem Verschlag herauszukommen, indem sie, immer wieder voll neuer Hoffnung, gegen die Stäbe sprangen; sie fielen jedes Mal zu Boden, ohne sich jedoch dadurch entmutigen zu lassen. Aus der Tiefe des Ladens ertönten noch vielerlei andere Laute.

»Guten Abend«, sagte Mr. Halder ganz ernsthaft, indem er die Lampe in der Mitte des Ladens anknipste. Der Lärm verstärkte sich. »Na, na, nur nicht so wild!«, meinte Mr. Halder, aber der Radau ließ nicht nach.

Ohne Hut oder Mantel abzulegen, begann Mr. Halder nun seinen Rundgang. Zuerst ging er zu der schwarzen Katze in der Box bei der Tür. Er hielt ihr eine Hand hin, an der sie sich sofort schnurrend rieb. »Bist ein sehr hübsches kleines Mädchen«, versicherte er ihr und trat zu den Spaniels in dem nächsten Verschlag, während ihm das Kätzchen bis zur Zwischenwand, die aus Maschendraht war, folgte. Es presste die Nase an den Draht und schnupperte bedächtig den Hundegeruch. Mr. Halder spielte einen Augenblick mit den beiden Hunden, dann ging er, von ihrem Gebell und den Blicken ihrer treuherzigen braunen Augen verfolgt, weiter.

An der einen Wand standen noch fünf oder sechs ähnliche Boxen. In der, die der Ladentür am nächsten stand, waren drei schon fast ausgewachsene Dackel, die sich, wild mit den Hinterteilen wackelnd, gegen die Stäbe stemmten und ihre Köpfe zum Streicheln hinhielten. Halder tat ihnen den Gefallen, streichelte sie und sprach freundlich auf sie ein. Dann ging er zur nächsten Box, in der sich eine Siamkatze befand. Sie saß in gerader Haltung da, ihren schwarzen Schwanz um das Hinterteil gelegt. Es war ein junger Kater; er sprach mit rauer, energischer Stimme mit Mr. Halder, erhob sich allmählich und rieb sich an den Stäben der Box, bis Halder ihn hinter den spitzen, schwarzbraunen Ohren kraulte.

Der dritte Verschlag war leer, im vierten lag ganz hinten eine junge Boxerhündin, die nur den Kopf hob, als Mr. Halder vor ihr stehenblieb.

»Brav, brav«, sagte er, und das Tier wimmerte leise, als es seine Stimme hörte. »Braves Mädchen, armes Mädchen«, fuhr er fort, ohne, jedoch die Hündin anzufassen. Einerlei, woran sie erkrankt war – der Tierarzt hatte noch keine genaue Diagnose stellen können –, Mr. Halder wollte auf jeden Fall eine Ansteckung der anderen Tiere vermeiden. Morgen würde man ja wissen, ob das Penicillin gewirkt hatte. Er schüttelte wieder den Kopf, ihm tat das Tier leid. Auch der nächste Verschlag war leer, damit der kranke Boxer isoliert blieb.

Im letzten lagen fünf junge Katzen, die Mr. Halder sehr sanft, eine nach der anderen, heraushob. Er untersuchte sie der Reihe nach, wobei er sie zärtlich mit dem Zeigefinger streichelte. Ach, sie wären ja noch so klein, hätten eigentlich bei ihrer Mutter sein müssen, doch die hatte sich, nachdem sie jahrelang auf der Straße vorsichtig gewesen war, in der vergangenen Woche einmal leichtsinnig benommen und lebte nun nicht mehr. Mr. Halder hoffte, die Tiere gesund erhalten zu können, bis sie halbwegs ausgewachsen waren, und wollte dann ein Heim für sie suchen. Bisher schienen sie sich recht gut zu entwickeln. Er setzte das letzte der Kätzchen wieder hinein; es krabbelte über die zusammengekuschelten Geschwister und wühlte sich müde zwischen sie.

Dann besuchte er zwei kleine Affen in einer Box im Hintergrund des Ladens und betrachtete sinnend einen zugedeckten Käfig, in dem sich ein Papagei befand. Er deckte ihn nicht auf. Manchmal hatte er schon gewünscht, es würde sich ein Käufer für den Vogel finden.

Mr. Halder ging nun in sein Zimmer, das hinter dem Laden lag. Nachdem er Mantel und Hut auf das Bett geworfen hatte, trat er an einen Kühlschrank und begann Futter für die Tiere einzuteilen. Da sie noch jung waren, mussten sie für die Nacht etwas bekommen.

Wer ihn beim Zubereiten des Futters beobachtet hätte, dem wären seine Hantierungen vielleicht übertrieben umständlich vorgekommen, und so schienen es auch die Tiere zu empfinden, denn sie machten sich laut und vernehmlich bemerkbar, nachdem sie das Geräusch der zuklappenden Kühlschranktür vernommen hatten – so, als wollten sie ihm zurufen: Mach schnell, sonst verhungern wir! 

Aber Mr. Halder – unter der hellen Lampe, die den größten Teil seines Zimmers im Schatten ließ – wärmte Milch für die kleinen Katzen, bereitete Hackfleisch für die größeren zu und mischte Hundefutter, alles ganz ohne Hast. Erst wusch er die Futternäpfe peinlich sauber, ehe er in jeden eine genau bemessene Portion tat, so exakt, als handle es sich um streng nach Vorschrift eingeteilte Diät in einer hypermodernen Klinik. Nicht einmal für sich selbst würde er – wie der alte Felix schon oft zu ihm gesagt hatte – so viel Sorgfalt aufwenden. Doch das war für ihn so selbstverständlich, dass er sich jedes Mal wunderte, Wenn Felix mit diesem Thema anfing.

Zuerst brachte er den kleinen Katzen ihre Milch, gut angewärmt, in einer großen, flachen Schüssel. Sogleich standen sie auf, ein wenig zittrig, und machten schwache Geräusche mit ihren winzigen Zungen. Vorsichtig stellte er die Schüssel mitten in ihre Box, und als sie dicht zusammengedrängt alle an derselben Stelle trinken wollten, setzte er sie so um den Rand herum, dass jede bequem Platz hatte. Noch recht ungeschickt, stießen sie mit ihren kleinen Köpfen in die Milch und mussten niesen, wenn sie ein paar Tropfen in die Nase bekamen. Doch Halder, der sie eine Weile beobachtete, fand, es ginge schon ganz gut, und überlegte wieder, wem er sie später in Pflege geben könnte, denn es sah wirklich aus, als würden sie gesund aufwachsen. Lächelnd verließ er sie und ging, um der kranken Boxerhündin ihre Kraftbrühe vorzusetzen. Das Tier trank teilnahmslos ein wenig davon, kroch wieder in den hinteren Teil des Verschlages und legte sich hin, diesmal auf die Seite. Halder schüttelte den Kopf und schnalzte bekümmert mit der Zunge.

Er fütterte den Siamkater, die Dackel und die aufgeregten Spaniels und gab der kleinen schwarzen Katze ein wenig Fleisch. Sie setzte sich geduckt davor, blickte nach allen Seiten und schwang ihren buschigen Schwanz hin und her; sie ließ das Fleisch zunächst noch stehen und ging erst ans Fenster, um festzustellen, ob kein Feind zu sehen war. Dann näherte sie sich wieder ihrem Mahl und begann zu fressen.

Mr. Halder sammelte die geleerten Näpfe und Schüsseln ein und spülte sie in ganz heißem Wasser ab. Inzwischen war auch die schwarze Katze fertig. Er nahm sie aus ihrer Box und tr.ug sie in das Hinterzimmer, nachdem er bis auf eine matte Birne alles Licht im Laden ausgeschaltet hatte. In seinem Zimmer setzte er sich in einen Sessel, die kleine Katze auf den Knien. Langsam streichelte er ihr den Rücken. Als sie zufrieden knurrte, sah er aus, als hätte er das am liebsten auch getan.

Auf einmal schlug die Ladenglocke an. Die Katze auf seinen Knien fuhr hoch und krallte sich in seine Hose, um fester stehen und, wenn nötig, rasch abspringen zu können. Halder beruhigte sie, aber im Stillen schimpfte er. Er trug die Katze, im Vorbeigehen die große Lampe anknipsend, durch den Laden und setzte sie in ihre Box am Fenster zurück. Dann ging er an die Tür und schaute hinaus. Schon wollte er ablehnend den Kopf schütteln, da erkannte er den Besucher. Er schimpfte leise vor sich hin, öffnete aber die Tür ein Stück.

»Ach so, du bist’s«, sagte er. Darauf schien keine Antwort nötig zu sein, und der Besucher gab auch keine.

»Das hätte ich mir denken können«, fuhr Mr. Halder fort. In seinem Ton lag eine gewisse Verachtung. »Aber es ändert doch sowieso nichts.« Hierauf erfolgte, wie Mr. Halder auch zu erwarten schien, ebenfalls keine Antwort. »Na«, meinte er, »komm herein! Worauf wartest du denn noch?«

Der Besucher trat ein.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Dienstag, 14.00 bis 16.25 Uhr

 

Das Dumme mit der Katze, die den Namen Gin trug, war, dass sie zwar sehr entgegenkommend alle charakteristischen Haltungen einnahm, aber in keiner lange genug aushielt. Gewiss, das war mit Katzen eigentlich immer so, deshalb ließen sie sich ja so schwer zeichnen, wenn auch der Versuch viel Spaß machte.

»Gin!«, rief Lisa O’Brien plötzlich in sanftem und doch energischem Ton. Gin richtete sich auf, schaute sie an und spitzte die dunklen Ohren. Rasch, geradezu fieberhaft, bewegte sich Lisas Stift über das Zeichenblatt. Gin stand auf und wollte helfen.

»Nein«, sagte Lisa. »Ach, geh weg, Gin!«

Die Katze rieb sich an ihr, sie scheuerte ihr Kinn an einer Ecke des Zeichenblocks und schnurrte laut, entzückt über die Worte, in denen sie Freundlichkeit und Zuneigung spürte. Lisa zeichnete noch einen Augenblick nach dem Gedächtnis weiter.

Das Blatt, an dem sie arbeitete, war schon bedeckt mit Teilskizzen von der Katze Gin – wie sie sich reckte, sich putzte. Eine prächtig gelungene Skizze zeigte sie in aufrechtem Sitz, wie ein Kaninchen, während sie mit den Pfoten nach etwas über ihrem Kopf schlug, das auf dem Bild nicht zu sehen war. Den ganzen Vormittag hatte Lisa solche reizvollen schnellen Skizzen von Gin gemacht, nachdem sie fast den ganzen Abend vorher die Katze Sherry als Modell genommen hatte. Die dritte – Martini – lag unter einem Tisch, in ihren runden blauen Augen spiegelte sich unüberwindliches Misstrauen. Immerhin hatte Lisa schon eine vielversprechende Skizze angefangen, die diesen Ausdruck festhielt. Gin war entschieden von den dreien am schwersten zu zeichnen, sie machte Lisa aber auch das meiste Vergnügen. Wenn sie zu Gins langem Leib und dem spitzen Gesicht die großen Augen Martinis nahm und es ihr gelang, auch noch das Traurige und Scheue von Sherry hinzuzufügen, dann wurde es vielleicht die Gesamtkomposition, die ihr vorschwebte. Wunderbar, wenn sie das erreichen würde, wunderbar, wenn sie heute Abend beim Essen zu Brian sagen könnte, sie hätte es geschafft, wirklich und bestimmt so geschafft, wie es sein sollte! Ein wunderbarer Gedanke, Brian Erfreuliches berichten zu können.

Gin, die sich jetzt missachtet fühlte, verließ ärgerlich ihren Platz, schritt zu einem Sessel, sprang hinauf, hakte ihre Krallen in den Stoff des Schutzüberzuges und begann mit der ganzen Muskelkraft ihres sehnigen Körpers daran zu zerren. Der Stoff zerriss mit einem Geräusch, das ihr wohltat, und ermutigt packte sie mit ihren Krallen noch einmal zu. Lisa O’Brien, der ihr dunkles Haar ums Gesicht hing, saß über ihren Bloch gebeugt und zeichnete in höchstem Eifer. Das war doch ein ganz charakteristisches Katzenbild, da auf dem Sessel – wenn sie das nur richtig festhalten konnte! Eine Katze bei so einer Tätigkeit zeigte anatomisch alles im günstigsten Licht: Man konnte das Spiel der Muskeln erfassen – wie sie sich unter der täuschenden Weichheit des Fells bewegten. Das war mehr, als den meisten Katzenmalern glückte, die über das Weihe, Charmante nicht hinauskamen.

»Nicht so«, hatte Gerald North am vorigen Freitag zu ihr gesagt, als er sie zu dem Versuch ermunterte, »nicht bloß dieses Wollige der Katze. Sie verstehen mich, ja? Dies hier...« – er hatte die Zeichnungen, die sie ihm brachte, hin und her geschwenkt – »...lässt mich vermuten, dass Sie es könnten. Aber ich höre immer wieder, wie schwierig es ist.«

Sie hatte gewusst, was er meinte, und ihm erwidert, dass sie es sehr gern versuchen wollte.

Dann hatten sie über das Finanzielle gesprochen, und Gerald North Hatte ihr erklärt, in diesem Punkt nicht großzügig zu sein, jedenfalls nicht schon dieses Mal. Aber eines Tages, hatte er gesagt und dabei mehr mit sich selbst gesprochen als mit der schlanken jungen Frau, die auf dem Stuhl neben seinem Schreibtisch saß, eines Tages würde er einen ganzen Band mit ihren Skizzen veröffentlichen. Jetzt sei das jedoch noch nicht möglich, es scheitere an der Kostenfrage.

Ihr sei das nicht wichtig, hatte sie geantwortet; es war ja schon großartig, dass.er ihr überhaupt eine Chance gab. Er hatte gesagt, sie habe sich dafür bei Dorian Weigand zu bedanken; sie war Dorian auch wirklich dankbar. Schließlich hatte Gerald North sie gefragt, ob sie selbst Katzen hätte oder die Möglichkeit, geeignete Modelle zu finden.

»Die werde ich schon finden«, hatte sie geantwortet. »Ich weiß, wo...«

»Wenn Sie wollen«, bot er ihr an, »können Sie als Modelle für die Siamkatzen unsere nehmen. Es sind zwar keine preisgekrönten, aber immerhin. Sie tun, weiß der Himmel, jedenfalls alles, was man von. Katzen nur erwarten kann. Jedenfalls denke ich manchmal...« Mit einem Seufzer schloss er seine Erklärungen.

Und so saß nun Lisa O’Brien im Wohnzimmer der Norths auf der Kante eines Stuhls, beugte sich über den Zeichenblock und versuchte, während ihr immer wieder das Haar ins Gesicht fiel, genügend viele Skizzen von Gin zu machen, so dass sie danach arbeiten konnte. Die Katze ließ einen Moment von dem Sesselüberzug ab, stieß einen tiefen Schrei aus, offenbar vor Wut, und flitzte durchs Zimmer, um mit Begeisterung an den Fenstervorhängen hinaufzuklettern. Als sie halb oben war, hielt sie, in den Stoff verkrallt, inne und blickte über die Schulter zurück, um festzustellen, ob sie auch ja beobachtet und bewundert würde.

»Prächtig, Gin«, sagte das Mädchen und begann, so rasch sie konnte, mit einer neuen Skizze. Wenn sie nur die Schultermuskeln richtig träfe, den unwahrscheinlich verdrehten Hals der Katze und ihren erregten Blick! Nur eine Andeutung von all dem, in wenigen sicheren Strichen! Wenn mir das gelänge, dachte sie, während ihr Stiff nur so über das Blatt flog, wäre es geradezu ein Wunder!

Und dann, noch bevor Lisa etwas hörte, hatte Gin einen scharfen Ton ausgestoßen, ganz anders als vorher, und begann am Vorhang hinunterzuklettern, wobei sie sich mit gefährlich aussehender Akrobatik immer wieder in den Stoff krallte. Offenbar hatte sie es sehr eilig. Aus einem der Nebenzimmer kam Sherry in langsamen Sprüngen, und Martini kroch, Lisa von der Seite anblickend, unter dem Tisch hervor. Alle drei Katzen versammelten sich an der Tür zum Flur und schauten gespannt zum Schloss der Wohnungstür empor, als ein Schlüssel hineingesteckt wurde. Dann blickten sie noch höher hinauf, und Sherry, die eine hellere Stimme als die beiden anderen hatte, brachte in einem langgezogenen Ton ihre unaussprechliche Sehnsucht zum Ausdruck. Die Tür ging auf, Pamela North trat ein.

»Ich bin mit einem äußerst interessanten Taxichauffeur gefahren«, sagte sie. »Brave Gin, brave Sherry, ja, und Tini ist auch brav! Artige Kinderchen.«

Sie beugte sich zu den Katzen hinab und streichelte sie. Zuerst drängte sich Gin an sie, um sich versichern zur lassen, dass sie die beste aller Katzen sei. Nach ihr schwebte Sherry herbei, wurde gestreichelt und entfernte sich wieder in einem eleganten Bogen. Martini gab unzufriedene Laute von sich, so dass Mrs. North sie tröstete: »Bist doch unsere Hauptkatze«, worauf Tini erwiderte: »Jaaa!«

»Eifersüchtig«, erklärte Pamela. »Ist sie immer, wenn man die anderen zuerst begrüßt; aber sie waren zuerst da. – Na, der Chauffeur »sagte, er hätte vor mir ein Pärchen gefahren, das anscheinend seit gestern Abend unter Alkohol stand, und die musste er zu dem Gatten der Dame bringen, weil die Gnädige ihm erklären wollte, weshalb sie nicht nach Hause gekommen war. Der Herr Gemahl saß in einer Bar, und als er mit in das Taxi stieg, hatten sie eine Flasche Schnaps und tranken alle miteinander, und der Chauffeur sagte mir, er hätte viel Mühe gehabt, sie loszuwerden, bevor es Krach gab. – Ja, brave Tini, bist wirklich unsere Hauptkatze.«

»Oh«, sagte Lisa O’Brien nur.

»Aber die Leutchen stiegen aus und begaben sich in die erstbeste Bar«, fuhr Pamela fort. »Ein enttäuschender Schluss vielleicht, aber doch interessant, finde ich. Na, bei Taxifahrern weiß man ja nie... Sind Sie gut zurechtgekommen, Lisa? Sind die Katzen brav gewesen?«

»Einige kleine Skizzen habe ich gemacht«, erwiderte Lisa. »Wollen Sie sie mal sehen?«

Pamela betrachtete die Skizzen – ein paarmal; alles Charakteristische war mit flotten Strichen festgehalten. Sie wies lachend auf das Bild, das Gin in der Haltung eines Kaninchens zeigte.

»Das habe ich noch bei keiner anderen Katze gesehen«, bemerkte sie, »höchstens in hohem Gras, wenn sie darüber schauen wollen. Aber Gin sitzt gern so und, tut dann, als hinge etwas hoch über ihr. Diese Zeichnungen sind wirklich hervorragend. Wenn ich an Jerrys Stelle wäre...«

»Ich habe Hoffnung«, entgegnete Lisa. »Furchtbar nett von Mr. North, mir eine Chance zu geben.«

»Ihm gefällt das Buch«, sagte Pam. »Auch Ihre Arbeiten, die ihm Dorian gezeigt hat, findet er gut. Warum also nicht?«

Lisa klappte die aufgeschlagenen Blätter wieder zurück, nahm das braune Papier und den Bindfaden, die hinter ihr lagen, und packte ihren Skizzenblock ein. Sie sagte, vielleicht käme sie noch einmal her, gern sogar, aber vorläufig hätte sie mit der Ausarbeitung der Skizzen genug zu tun.

»Es war wundervoll von Ihnen, dass Sie mir erlaubt haben »Unfug«, fiel ihr Pamela ins Wort. »Eine Ehre für unsere Katzen. Können Sie auch langhaarige als Modelle bekommen? Ich glaube, die sind schwerer zu zeichnen. Das viele Fell, meine ich.«

»Ach, hübsch kann man sie leicht zeichnen«, antwortete Lisa. »Lebensecht – das ist schwierig. Ich weiß übrigens, wo ich eine feine schwarze finde.«

 

Lisa verließ die Wohnung der Norths. Sie ging ein Stück die Straße hinab, aß im Restaurant Bigelow ein Brötchen und setzte dann ihren Weg fort. Sie war klein und zierlich, ihr Paket mit dem Zeichenmaterial war groß. Manche Leute, an denen sie vorbeikam, schauten sich nach ihr um, mit zufriedener Miene, als sei ihnen soeben etwas Erfreuliches bestätigt worden.

Lisa fand die Kepp Street ohne Schwierigkeit, da sie schon früher dort gewesen war. Sie ging zu dem Laden von J. K. Halder und stieg die kleine Treppe hinab zur Ladentür. Bevor sie die Hand auf die Klinke legte, klopfte sie leicht an die Schaufensterscheibe. Das schwarze Kätzchen stellte sich auf die Hinterbeine und boxte mit den Pfoten an das Glas. Lisa wandte sich ab und drückte die Klinke nieder. Die Tür ließ sich nicht öffnen.

Das überraschte sie, denn Mr. Halder hatte gesagt: »Nachmittags jederzeit, wir sind immer da.« Jetzt schien aber doch niemand da zu sein.

»Nanu!«, rief Lisa halblaut und drückte noch einmal auf die Klinke, wieder vergeblich. Dann hätte ich ja auch noch bei Mrs. North bleiben und von Martini noch ein Skizze machen können, dachte sie. Aber Mr. Halder war doch so nett gewesen und so bereit, ihr zu helfen, nachdem sie ihm ein paar Skizzen gezeigt hatte.

»Sie haben Tiere gern«, hatte er gesagt, und sie hatte erwidert: »Selbstverständlich.«

»Das ist durchaus nicht selbstverständlich«, hatte er dann erklärt; am letzten Samstag war es. »Die meisten meiner Bekannten...« Er hatte sich mitten im Satz unterbrochen – mit einer angeekelten Miene, als hätte sie ihn geärgert, doch gleich darauf hatte er lächelnd zu ihr gesagt: »Darüber zerbrechen Sie sich nur nicht den Kopf.«

Aber dieser plötzlich so unfreundliche, fast wütende Gesichtsausdruck hatte sie davon abgehalten, zu sagen, was sie hatte sagen wollen. Sie wollte ihm erklären, auf welche Weise sie eine langhaarige schwarze Katze gerade in seinen so versteckt liegenden Laden in dieser abgeschiedenen Straße entdeckt hatte. Nun, das konnte sie ihm auch später noch erzählen, vielleicht, wenn sie beim Zeichnen war.

Übrigens, könnte sie dann sagen, wie sie es sich im Geist schon zurechtgelegt hatte, übrigens bin ich nicht bloß zufällig hierhergekommen. Es war nämlich so... 

Diesen Entschluss, erst später davon zu sprechen, hatte sie rein gefühlsmäßig gefasst, weil sie meinte, es sei besser, wenn er sie erst kennenlernte und sie als Menschen schätzte. Wenn sie es so machte, wirkte es zwangloser. Jedenfalls hoffte sie das. Gleichzeitig aber wunderte sie sich selbst, warum es ihr so wichtig schien, ob sie sich das für einen bestimmten Zeitpunkt vornahm oder nicht. Vielleicht war sie Mr. Halder gegenüber auch nur verlegen, denn sie hatte schon mancherlei über ihn gehört, woraus sie den Schluss zog, dass er ein schwieriger Charakter sein musste.

Zum dritten Mal drückte sie auf die Klinke, dann blickte sie durch das Schaufenster. Der Laden war nur schwach beleuchtet, eine weit hinten hängende Birne schien mehr Schatten zu werfen, als Helligkeit zu verbreiten. Sie erkannte auch, woran das lag: Die Lampe war so abgeschirmt, dass ihr Schein nicht in die an der Wand stehenden Boxen fallen konnte. Aber jetzt, dachte sie, am Nachmittag? Das sieht ja so aus, als wenn... 

»Unsinn«, sagte hinter ihr eine scharfe Stimme, »natürlich geht sie auf! Treten Sie mal zur Seite.«

Rasch drehte sie sich uni, jäh aus ihren Grübeleien gerissen. Ein Mann stand auf der untersten der d rei Stufen, dicht hinter ihr. Und obgleich er höher stand als sie, trafen ihre Blicke sich in gleicher Höhe, denn er war sehr klein. Sie hielt ihn beim ersten Anblick für einen der ältesten Männer, die ihr je begegnet waren; er hatte eine Unmenge von Runzeln und Fältchen im Gesicht. Seine Augen waren von einem hellen Blau.

»Die Weiber!«, seufzte der Mann, indem er von der letzten Stufe heruntertrat. Jetzt war er kleiner als sie, wohl knapp anderthalb Meter nur groß. »Weshalb sollte denn zugeschlossen sein?«, fragte er, indem er sie ansah, als hätte sie ihm etwas Vortäuschen wollen.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie, »es scheint aber doch so.«

»Verrückter alter Kauz«, sagte der Kleine. »Hat immer Angst, jemand könnte eins seiner Tiere kaufen wollen.« Er schwieg einen Augenblick. »Haben Sie etwa die Absicht?«, fragte er dann.

»Nein«, entgegnete sie, »ich... ich wollte nur mit Mr. Halder sprechen, doch er scheint nicht da zu sein.«

»Nicht da? Unsinn, Mädchen! Natürlich ist er da. Wo sollte er denn sonst sein?«

»Hören Sie doch mal zu«, sagte Lisa O’Brien, in dem Versuch, die Kluft zu überbrücken, die in dem Altersunterschied von wohl mehr als fünfzig Jahren bestand. »Ich kenne Mr. Halder kaum, aber er hat mich aufgefordert herzukommen, wann ich Lust hätte.« Die blauen Augen musterten sie weiter eindringlich. »Um eine Katze zu zeichnen.« Beinahe hätte sie, ohne zu wissen, warum, hinzugefügt: »Bitte.«

»Lächerlich«, sagte der Alte. »Machen Sie Platz!«

Sie trat zur Seite. Der Mann drückte heftig die Klinke nieder. Als die Tür nicht aufging, rüttelte er wütend an der Klinke. Dann drehte er sich zu Lisa um und sagte: »Da haben Sie’s – ein verrückter alter Kauz. Werde ich ihm ins Gesicht sagen.«

Hierauf gab es wohl kaum eine Antwort.

»Eine Katze wollen Sie zeichnen? Wozu denn das?«, fragte der Alte mürrisch.

»Für ein Buch«, erwiderte sie. »Ein Buch über Katzen.«

»Bücher!«, rief er. »Unfug! Schon mal was von Schach gehört?«

»Ja«, antwortete Lisa, die sich vorkam, als schwimme sie unter Wasser.

»Sie sind hübsch«, fuhr der Alte fort. »Ihre Zeit mit Büchern zu verplempern! Katzen zeichnen! Keinen Freund, wie?«

»Bitte«, sagte Lisa sich aufraffend. »Mr. Halder ist wohl wirklich nicht da. Sehr nett von Ihnen, soviel Anteil an mir zu nehmen, aber ich möchte jetzt.

»Unsinn«, meinte der Alte erneut; »lasse Sie rein. Werden ja nicht die Tiere vergiften, was?«

Er klopfte die Taschen seines dunklen Anzugs ab, und fand in einer, was er suchte: einen Schlüssel. Er schloss die Tür auf und ging sofort in den Laden hinein.

»Na«, sagte er über die Schulter und ohne stehenzubleiben, »kommen Sie nur, worauf warten Sie denn noch, Mädchen?«

Lisa O’Brien folgte ihm. Der Mann war irgendwo im Dunkel. Auf einmal ging das Licht an. Er kam zu ihr zurück, blickte sie einen Moment an und lächelte plötzlich.

»Bin ein alter Mann, Mädchen. Könnte Ihr Großvater sein. Ihr Urgroßvater. Nehmen Sie mich so, wie ich bin. – Aber wo mag der alte Kauz stecken?«

Er spähte in die Box der schwarzen Katze, als erwarte er, dass Mr. Halder mit darin säße. »Wo steckt er, Elektra?«, fragte er das Tier ganz sachlich. »Wo ist der alte Herr? Schläft wohl einen Rausch aus, wie?« Die kleine Katze schaute zu ihm hoch, öffnete ihr rosa Mäulchen und gab einen ganz schwachen Laut von sich. Im Nebenkäfig fingen die Spaniels laut zu bellen an. Der kleine Mann horchte auf, trat vor ihre Box und betrachtete sie.

»Ihr habt ja kein Wasser«, sagte er.

Es klang fast so, als seien sie selbst daran schuld: Durch wildes Bellen schienen sie kundtun zu wollen, dass sie Durst hatten.

Er wandte sich wieder ab und ging mit schnellen Schritten zu der Tür am Ende des Ladens, so schnell, dass es aussah, als trabte er.

Das Zimmer, in dem Mr, Halder wohnte, war leer. Sein Bett war gemacht, wenn auch nur oberflächlich. Der Alte ging zu einem Regal neben dem Kühlschrank und betrachtete die Schüsseln, die dort standen. Sie glänzten vor Sauberkeit.

Lisa war dem Mann bis an die Tür gefolgt; sie stand auf der Schwelle und beobachtete ihn. Als er sich jetzt umdrehte und auf sie zukam, trat sie beiseite, um ihn vorbeizulassen. Die Falten in seinem Gesicht kamen ihr jetzt noch tiefer vor als zuerst. Sie merkte, dass er ganz verstört, sogar ein wenig ängstlich war.

»Jasper!«, rief er mit hoher, brüchiger Stimme in den Laden. »Jasper!«

Es kam keine Antwort. Und schon nach wenigen Minuten hatten sie festgestellt, warum Mr. Halder in seinem schwarzen Anzug und weißen Oberhemd lag – auf der Seite, die Knie an die Brust gezogen – in einer der Boxen. Ein junger Hund in der Box daneben lag, so weit wie möglich von ihm entfernt, zitternd in einer Ecke.

Als Lisa unwillkürlich vor der Box zurückschrak, in der Mr. Halder so grotesk zusammengedrückt lag, fing der alte Mann neben ihr plötzlich an zu weinen. Er weinte laut schluchzend wie ein Kind. Lisa wandte sich ihm zu, ihr war, als müsse sie ein Kind trösten. Es entsetzte sie und erfüllte sie mit Besorgnis, wie sehr sich sein faltiges Gesicht verändert hatte, aus dem in wenigen Sekunden alles Leben gewichen zu sein schien. Die blauen Augen, die sie so scharf angeblickt hatten, waren jetzt seltsam leer, sie sahen aus wie erblindet, als hätten die Tränen ihre Sehkraft zerstört. Seine runzligen Wangen, die vorher noch Farbe gehabt hatten, waren jetzt gelblich weiß. Unsicher, wie ein Blinder, tastete er um sich. Lisa sprang hinzu, um ihn zu stützen, doch er machte ein paar unbestimmte abwehrende Bewegungen. An der Wand sah sie einen Stuhl; sie holte ihn rasch und stellte ihn neben den Alten. Er setzte sich, noch immer unsicher, drehte sich auf dem Stuhl halb herum, legte die Arme auf die Rückenlehne und den Kopf auf die Arme.

»Ist Ihnen wieder besser?«, fragte sie hastig, voller Angst und Schrecken. Ach, dachte sie, er wird hier vor meinen Augen sterben, hier auf dem Stuhl! Und sie fühlte, ganz verzweifelt, dass sie etwas tun, dass sie ihm zu Hilfe kommen müsste. So schrecklich jung noch und unerfahren, ließ« sie ihn in den Tod hinübergleiten, ohne es verhindern zu können. Verzweifelt blickte sie sich im Laden um; sie wollte etwas finden, um dem alten Mann zu helfen, wusste aber in der ersten schrecklichen Ungewissheit nicht, was sie eigentlich suchte. Und dann fiel £»ihr ein: ein Anregungsmittel, Cognac vielleicht. Da war doch das Hinterzimmer. »Warten Sie, ich hole Ihnen etwas!«, rief sie, und sie glaubte zu sehen, dass er mit dem Kopf, der noch immer auf den Armen lag, nickte. Sie eilte in Mr. Halders Zimmer.

Ein Glas fand sie schnell in einem der Schränke, doch mit der Flasche dauerte es länger. Sie musste Türen öffnen, Schubfächer aufziehen – angetrieben von der Verzweiflung, die ihr Eile gebot, größte Eile. Und dann war es Whisky, nicht Cognac, aber sie lief mit Flasche und Glas, zurück in den Laden, in dem der kleine alte Mann zu sterben schien. Sie stieß die Tür auf, wollte etwas sagen, als sie in den Raum trat, doch das Wort blieb ihr im Halse stecken. Der Stuhl war leer! Jetzt ist es geschehen, dachte sie. Doch dann sah sie, dass der Alte nicht vom Stuhl auf den Fußboden gerutscht, sondern überhaupt nicht zu sehen war. Flasche und Glas noch in den Händen, durchsuchte sie schnell den Laden und schaute, als sie es nicht mehr vermeiden konnte, auch in die Box, in der – so grässlich verkrampft – der tote Mr. Halder lag. Aber es war keine zweite Leiche da. Rasch wandte sie sich ab. Während die Angst von ihr wich, fühlte sie Empörung, beinahe Wut in sich aufsteigen. Er hatte sie genarrt! So etwas – war einfach auf gestanden und fortgegangen!

Sie stellte Flasche und Glas auf den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, ging an die Ladentür, öffnete sie, hielt sie hinter sich auf und blickte nach beiden Seiten die Straße entlang. Doch der alte Mann war nirgends zu sehen. Sie trat in den Laden zurück und schloss die Tür. Ja, es war nicht zu bezweifeln: Der Alte war einfach aufgestanden und weggegangen. Vielleicht hatte er das von Anfang an beabsichtigt? Er hatte sie allein in dem Raum mit den Tieren zurückgelassen, zusammen mit dem grotesk verrenkten Leichnam von Mr. J. K. Halder.

»Na schön«, sagte Lisa O’Brien laut; sie fand, dass ihre Summe fast wieder normal klang. Im ersten Moment war sie in Versuchung, es ebenso zu machen wie der alte Mann. Wie einfach wäre es, die Zeichenmappe zu nehmen, durch die Ladentür auf die Kepp Street hinauszugehen und das, was da lag, von anderen entdecken zu lassen. Doch sie schüttelte bei dem Gedanken gleich den Kopf. Selbst, wenn es nicht um Brian ginge... Das war es! Zu allererst musste sie es Brian berichten. Der Arme, dachte sie. Die ganze Zeit hätte ich an Brian denken sollen, anstatt mich um diesen unbekannten Alten zu sorgen!

Das Telefon stand auf dem Schreibtisch hinten in einem Winkel des Ladens. Sie wählte eine Nummer, die ihr vertraut war, obwohl sie sie bisher selten benutzt hatte. Vertraut, weil diese Nummer für sie in gewisser Weise zu Brian gehörte.

»Mr. Brian Halder, bitte«, sagte sie zu der Telefonistin. »Ist Mr. Halder da? Hier Miss O’Brien«, sprach sie weiter, als sich jemand anders meldete. Und dann erklang seine Stimme, zunächst ganz unpersönlich, aber als er die ihre erkannte, wurde sie herzlich und heiter.

»Lisa – hallo!«

»Brian«, sagte sie und hätte, als sie seine Stimme vernahm, beinahe geweint. »Brian, etwas Furchtbares, etwas...«

»Lisa, was ist geschehen?«, unterbrach er sie erschrocken und besorgt.

»Es ist... es handelt sich um deinen Vater, Brian«, fuhr sie fort. »Ich bin in seinem Laden. Er ist... er...«

Es war zu schwer auszusprechen.

»Was denn? Sag es doch, Lisa«, drängte er.

»Er ist tot, Brian. Ach, ich habe ja solche Angst! Brian, es ist so sonderbar, so schrecklich. Er muss... er muss in eine... in eine der Boxen gefallen sein und...«

»Halt!«, rief Brian Halder. »Du bist dort, sagtest du? Im Laden?«

»Ja, du hast richtig gehört. Ich wollte hier eine Katze zeichnen, und da... da fand ich ihn, Brian.«

»Moment mal«, meinte er. »Wer ist sonst noch dort? Hast du... hast du es schon jemand erzählt?«

»Ein kleiner alter Mann war da – ein merkwürdiger Mensch –, aber der ist jetzt fort.«

»Bist du denn sicher, dass er tot ist?«

»Oh, ja! Ich bin – Leider bin ich ganz sicher, Brian.«

»Lass mich mal nachdenken«, sagte er. »Wir müssen jetzt – Du sagst, er läge in einer der Boxen?«

Aus seiner Stimme klang Unglauben und noch etwas anderes, etwas Unbestimmbares.

»Ja«, erwiderte sie, »gewissermaßen ganz zusammengeknickt. Er muss wohl hineingefallen sein.«

Ihnen Moment hörte sie nichts, dann begann Brian – langsam – wieder zu sprechen.

»Ich begreife nicht...« Er schwieg wieder.

»Warte dort«, sagte er nach einer Weile, »ich komme hin. Kannst du das – bloß warten? Du sagtest, es sei sonst niemand dagewesen, nicht wahr?

---ENDE DER LESEPROBE---