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Als Pam und Jerry North ihr Testament aufsetzen wollen, scheint es sich lediglich um einen Routine-Besuch bei ihrem Anwalt zu handeln. Doch von Routine kann keineswegs die Rede sein, denn der Anwalt, Forbes Ingraham, wird erschossen aufgefunden. Er hatte sich mit Matthew Halpern beraten, einem Arbeiterführer, der von einer Gruppe brutaler Schläger bedrängt wurde, die ihm eine falsche Anklage anhängen wollten.
Reginald Webb, dem einzigen verbleibenden Partner der Kanzlei, wird in wenig höflicher Weise nahegelegt, Halpern als Mandanten abzulehnen.
Bill Weigands Mord-Ermittlungen konzentrieren sich derweil auf zwei weitere Mitarbeiter der Kanzlei und auf die ziemlich undurchschaubare Ex-Geliebte von Ingraham.
So treffen Mord und die Norths noch einmal aufeinander, bevor dieser dramatische Fall mit einer raffinierten Überraschung abgeschlossen wird...
Der Roman Der Schlüssel des Todes von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1960; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr (unter dem Titel Es ist alles völlig klar).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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F. R. LOCKRIDGE
Der Schlüssel des Todes
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER SCHLÜSSEL DES TODES
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Als Pam und Jerry North ihr Testament aufsetzen wollen, scheint es sich lediglich um einen Routine-Besuch bei ihrem Anwalt zu handeln. Doch von Routine kann keineswegs die Rede sein, denn der Anwalt, Forbes Ingraham, wird erschossen aufgefunden. Er hatte sich mit Matthew Halpern beraten, einem Arbeiterführer, der von einer Gruppe brutaler Schläger bedrängt wurde, die ihm eine falsche Anklage anhängen wollten.
Reginald Webb, dem einzigen verbleibenden Partner der Kanzlei, wird in wenig höflicher Weise nahegelegt, Halpern als Mandanten abzulehnen.
Bill Weigands Mord-Ermittlungen konzentrieren sich derweil auf zwei weitere Mitarbeiter der Kanzlei und auf die ziemlich undurchschaubare Ex-Geliebte von Ingraham.
So treffen Mord und die Norths noch einmal aufeinander, bevor dieser dramatische Fall mit einer raffinierten Überraschung abgeschlossen wird...
Der Roman Der Schlüssel des Todes von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1960; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr (unter dem Titel Es ist alles völlig klar).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Montag, 8. Februar, 11 Uhr bis 18.20 Uhr
Forbes Ingraham hängte den Mantel in den Wandschrank seines Büros und fuhr sich mit der Hand glättend über sein graumeliertes, jetzt feuchtes Haar. Ein heftiger Windstoß warf trommelnd den Februarregen gegen die Fenster, aber in dem geräumigen Zimmer war dieses unfreundliche Geräusch nur als sanftes Rütteln zu vernehmen.
Ingraham nahm in dem lederbezogenen Sessel hinter dem großen, polierten Schreibtisch Platz, steckte eine Zigarette in seine Zigarettenspitze und lehnte sich zurück. Eines der beiden Telefone vor ihm auf dem Schreibtisch klingelte. Er wusste, dass Mary Burton, seine Sekretärin, am Apparat war. In der Genauigkeit ihrer Zeiteinteilung war die gute alte Mary wirklich unübertrefflich. So und so viele Sekunden gab sie ihm für den Weg vom Empfangszimmer durch die Bibliothek in sein Büro; so und so viele mehr, um seinen Mantel in den Schrank zu hängen, sich hinter den Schreibtisch zu setzen und eine Zigarette anzuzünden. Man hätte meinen können, dass sie dazu eine Stoppuhr benützte. Leider war sie in anderen Dingen in letzter Zeit nicht mehr so zuverlässig. Bei allem Respekt musste man zugeben, dass ihr Gedächtnis beklagenswert nachgelassen hatte. Ingraham wiegte bedauernd seinen Kopf. Vergangene Woche hatte dies zur Folge, dass er geduldig im Pierre Grill auf einen Mandanten wartete, der inzwischen weit weniger geduldig im Hotel Roosevelt saß.
Das Telefon klingelte nur ein einziges Mal. Ingraham hob den Hörer ab und sagte mit weicher Stimme: »Ja, bitte?«
»Guten Morgen, Mr. Ingraham«, ertönte Marys Stimme vom anderen Ende der Leitung.
»Guten Morgen, Mary. War das Wetter in Staten Island auch so unangenehm?«, fragte Ingraham freundlich.
»Oh ja! Und erst auf der Fähre!«
Fünf Tage jeder Woche, ausgenommen einen Monat im Sommer und zwei Wochen im Winter, war Forbes Ingraham auf das genaueste über die Wetterlage von Staten Island informiert, obwohl es kaum etwas gab, was ihn weniger interessiert hätte.
»Was liegt heute vor, Mary?«, fragte er und durchforschte sein Gedächtnis, während er zuhörte. Sein Blick haftete gleichzeitig auf dem gelben Notizblock, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag.
»Mr. Halpern«, wiederholte er. »Ja, ich weiß. Ist er noch nicht da?«
Bis jetzt war Mr. Halpern noch nicht eingetroffen. Mr. Cuyler würde ihn gerne sprechen, wenn er ein paar Minuten Zeit hätte, und auch Mr. Webb wünschte etwas mit ihm durchzugehen, vorausgesetzt, dass es sich einschieben ließe. Ein Mr. Fergus war für halb zwölf angemeldet, doch wenn Mr. Halpern sich wirklich verspätete...
»Gut, Mary.«
Mittags waren die Leute von der Rundfunkgesellschaft NBC und Mr. Phelps und seine Klientin, Miss Waterhouse angesagt. Aber das würde Mr. Ingraham natürlich sowieso nicht vergessen haben.
»Miss Waterhouse, Mary?«
»Ja – oh mein Gott, Miss Masterson heißt sie, nicht wahr?«
»So kenne ich sie jedenfalls, Mary.«
Um Viertel nach eins würde ihn Mr. Fleming im Pierre Grill erwarten. »Diesmal ist es wirklich im Pierre, Mr. Ingraham. Ich habe zweimal gefragt. Es ist mir so peinlich, dass mir das neulich passiert ist, Mr. Ingraham.«
»Schon gut, Mary.«
»Mr. und Mrs. North kommen um drei Uhr und dann noch Mrs. Schaeffer um halb vier. Das dürfte für heute alles sein.«
»Ja, Mary. Ich kann mich nicht erinnern, dass nach Mrs. Schaeffer noch jemand angemeldet ist. Bitte, sagen Sie Mrs. Lynch, sie möchte mir die Post bringen.«
»Oh – ich glaube, sie ist jetzt gerade bei Mr. Webb. Soll ich Phyllis schicken?«
»Nein! Es ist mir lieber, wenn Sie mir die Post selbst bringen. Und sagen Sie Mr. Cuyler...«
»Jetzt kommt gerade Mr. Halpern.«
»Gut, dann fangen wir mit ihm an. Aber bringen Sie bitte erst die Post. Und versuchen Sie, Mr. Armstrong in Philadelphia zu erreichen. Wenn es Ihnen gelingt, legen Sie das Gespräch bitte gleich in mein Büro. Sonst noch etwas, Mary?«
Die Frage war lediglich Formsache. Wenn Mary Burton sich an noch etwas erinnern würde, hätte sie es bereits berichtet. Sie war sehr empfindlich, wenn man an ihrer Gewissenhaftigkeit zweifelte. Arme, alte Mary!
Es stellte sich heraus, dass sich nichts Dringendes unter den Briefen befand. Dann betrat Mr. Halpern das Büro.
Mr. Halpern war ein hochgewachsener Mann mit einem auffallend länglichen Gesicht. Er sah so aus, als ob er Zeit seines Lebens viel im Freien gearbeitet hätte und es vermutlich auch jetzt noch tat, obwohl er bereits in den Sechzigern sein musste. Er war mit einem blauen Anzug bekleidet, der ein bisschen zu knapp saß. Mr. Halpern hatte eine ganze Menge zu sagen. Seine Stimme klang ein wenig rasselnd. Forbes Ingraham lehnte sich in seinem Sessel zurück und hörte ihm zu. Sein breitflächiges, intelligentes Gesicht war ausdruckslos. Er rauchte, die lange Zigarettenspitze zwischen seine regelmäßigen weißen Zähne geklemmt. Hin und wieder nickte er. Nur einmal lächelte er leicht zu einer Bemerkung Halperns, nahm die Spitze aus dem Mund und sagte: »Ich denke nicht, dass es so weit kommen wird, Mr. Halpern.«
»Sie kennen diese Burschen nicht. Die sind gerissen. Wenn sie mir das nicht anhängen können
»Oh ja, ich weiß«, unterbrach ihn Ingraham. »Deshalb haben wir diesen Fall auch übernommen. Ich nehme an, Sie wissen, dass wir uns sonst nicht mit solchen Dingen befassen.«
»Ja. Ich erkenne das auch an, Mr. Ingraham. Wir alle erkennen es nun. So – hier sind die Unterlagen, die Sie haben wollten.«
Ingraham nahm das große Kuvert mit den Unterlagen an sich und sagte, dass er Mr. Halpern morgen wissen lassen werde, was er darüber denke. Dann machte er einige Notizen auf seinen Terminkalender. »Passt es morgen um dieselbe Zeit?«, fragte er. Halpern war einverstanden. Ingraham ging mit ihm in das Empfangszimmer zurück.
Nachdem Halpern gegangen war, erschien Mary Burtons Kopf in dem Schiebefenster, das in einer Wand des Empfangszimmers eingelassen war. So eingerahmt, erinnerte sie mit ihrem langen Gesicht und den regelmäßigen weißen Locken an einen der alten Stiche, auf denen englische Richter Ihrer Majestät mit gepuderten Perücken abgebildet waren.
»Oh, Mr. Ingraham!«, rief sie ihm zu. »Mr. Armstrong wird erst wieder nach dem Lunch in seinem Büro sein.« Ihre Mundwinkel bogen sich bekümmert herab. »Ich sagte, dass es wichtig ist, aber
»Nicht Ihre Schuld, Mary«, beruhigte Ingraham sie und ging den Korridor zurück, an seinem Büro vorbei, bis zur letzten Tür und öffnete sie.
»Ich sage dir noch einmal, was immer er...« Ein großer Mann stand hinter einem Schreibtisch und redete mit leidenschaftlicher Betonung auf ein schlankes, hübsches Mädchen mit silberblondem Haar ein. Er brach abrupt ab, als er Ingraham bemerkte und fuhr sich nervös mit der rechten Hand durch sein schwarzes Haar. Seine Augen erschienen in dem bleichen Gesicht fast schwarz.
»Oh!«, entschlüpfte es dem Mädchen.
»Guten Morgen, Frank. – Guten Morgen, Phyllis«, sagte Ingraham mit seiner weichen, klaren Stimme und nickte dem Mädchen zu. Ihr Blick wanderte hastig von einem Mann zum anderen, und sie errötete.
»Ich bin...«, stotterte sie.
»Das war alles, Miss Moore«, sagte der dunkelhaarige Mann schnell.
»Ja, Mr. Cuyler«, antwortete sie leise.
Ingraham öffnete ihr die Tür.
»Mary sagte mir, Sie möchten mich sprechen, Frank. Wenn es nicht zu lange dauert, stehe ich Ihnen jetzt zur Verfügung«, erklärte er, nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte.
Die Unterredung nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Ingraham verließ das kleine Büro von Francis Cuyler, einem Sozius der Firma Schaeffer, Ingraham & Webb, etwa um 11.35 Uhr. Als er den Korridor betrat, begegnete er Dorothy Lynch, die eben mit ihrem Stenogrammblock unterm Arm von Reginald Webb kam und in das Büro neben dem Empfangszimmer zurückging, das sie mit Mary Burton, Phyllis Moore und dem Lehrling Eddie Smythe teilte.
Mr. Michael Fergus war pünktlich gewesen. Ingraham fand ihn bereits wartend im Empfangszimmer, als er aus Cuylers Büro zurückkam. Der untersetzte Mann mit bemerkenswertem Schnurrbart und Backenbart saß sprungbereit auf der Kante des Ledersofas. Er sah wie die Karikatur eines Anarchisten vergangener Zeiten aus. Heutzutage würde man ihn wohl eher als den Prototyp des Russen bezeichnen. Mr. Fergus war aber in Ohio geboren. Er schrieb Fortsetzungsgeschichten für Magazine, in denen sanfte junge Männer sich unversehens in unerschrockene Abenteurer verwandeln und damit die Gunst und Zuneigung reizender junger Damen von erfreulichem Körperbau gewinnen. Trotz seiner äußeren Erscheinung war Mr. Fergus ein ergebener Republikaner.
»Guten Morgen, Mike«, begrüßte ihn Ingraham. Mr. Fergus sprang auf und ergriff Ingrahams Hand. Sie gingen zusammen in das geräumige Büro und setzten sich. Ingraham hob den Hörer von einem der Telefone ab und sagte: »Bitte, bringen Sie mir die Verträge von Mr. Fergus.« Er steckte eine neue Zigarette in die Spitze.
»Ich bin nicht so sicher, dass wir denen geben können, was sie wollen, Mike«, begann er. »Es sei denn, wir bringen es so weit, dass sie...«
Dorothy Lynch brachte die Verträge. Sie war von Kopf bis Fuß tadellos zurechtgemacht. Michael Fergus schwenkte freundlich seinen Bart in ihre Richtung, und sie lächelte ihm zu. Dann legte sie ein Schriftstück ordentlich vor Ingraham auf den Schreibtisch und entfernte sich wieder. »Ein kühler Typ«, bemerkte Fergus, nachdem sich die Tür wieder hinter ihr geschlossen hatte.
Ingraham, der in dem Vertrag blätterte, antwortete nur mit einem zerstreuten: »Hm.« Er bezeichnete eine Stelle auf dem Schriftstück mit dem Finger. »Hier. Das ist es, was uns Schwierigkeiten machen könnte. Ich kann nicht voraussagen, wie das Gericht es auffassen wird, wenn es so weit kommen sollte. Andererseits...«
Michael Fergus verließ kurz vor zwölf die Kanzlei. Sein Bart schien melancholisch herabgesunken zu sein. Ingraham, der ihn lächelnd beobachtete, als er ging, hatte ihn sogar in dem Verdacht, dass er in seinen Bart hineinmurmelte. Der Anwalt ließ sich mit Reginald Webb verbinden.
»Morgen, Reg! Mary sagte mir, du möchtest etwas mit mir besprechen. Ich hätte jetzt gerade fünf Minuten Zeit.«
»Nichts Wichtiges«, erklärte Webb. »Dachte, dich würde vielleicht der Entwurf für die Antwort an die Avery interessieren. Aber, wenn du beschäftigt bist...«
»Davon verstehst du mehr als ich«, fiel ihm Ingraham ins Wort. »Was hältst du davon, an dem Lunch mit Fleming teilzunehmen?«
»Nichts. Gar nichts«, wehrte Webb ab. »Wenn es sich irgendwie vermeiden lässt, Forbes. «
Ingraham schnalzte amüsiert mit der Zunge.
»Nebenbei – kommt Nan heute her?«, fragte Webb.
»Ja. Nachmittag.«
Ingraham wartete auf einen Kommentar, aber Webb ging nicht weiter darauf ein.
»Ich warte auf einen Anruf von Armstrong«, fuhr er fort. »Ich werde die nächste Stunde mit den Leuten von der NBC und den Sorgen von Miss Masterson beschäftigt sein. Übrigens hat Mary wieder einmal den Namen vergessen; sie nannte Miss Masterson Miss Waterhouse. Es wird immer schlimmer. Ich fürchte, Reg, wir müssen...« Das Klingeln des zweiten Telefons unterbrach ihn. »Willst du Armstrong sprechen, wenn er jetzt am Telefon ist?«
Er wartete nur noch Webbs zustimmende Antwort ab und wandte sich dann zu dem anderen Telefonapparat. Man berichtete ihm, dass die NBC-Leute und Miss Masterson mit ihrem Agenten warteten. Er seufzte und bat, sie hereinzuschicken.
Es war nahezu halb zwei, bis er zu seinem Lunch im Pierre Grill kam. Kurz nach drei kehrte er in die Kanzlei von Schaeffer, Ingraham & Webb zurück, wo ihn Mr. und Mrs. North bereits erwarteten.
»So haben Sie sich nun doch dazu, entschlossen«, sagte Forbes Ingraham.
»Ja. Vor allem, weil wir nun nicht mit dem Zug, sondern mit unserem Wagen fahren. Und dann natürlich auch wegen Vetter Wilmer«, erklärte Pam.
Ingraham nickte. Er kannte Pam lange genug, um zu wissen, dass er schon zur rechten Zeit dahinterkommen werde, was sie meinte.
»Wir sind nämlich beide der Meinung, dass Blut keineswegs dicker als Wasser ist. Jedenfalls nicht Vetter Wilmers Blut«, fuhr Pam fort.
Jerry stand dabei und fuhr sich unruhig mit den Fingern durch die Haare.
»Es ist vielleicht wirklich besser«, meinte er und schaute seine Frau an.
»Aber gewiss«, stimmte Ingraham zu. »Schön, kommen Sie mit mir in...«
»Mr. Ingraham!« Mary Burtons langes, von weißen Löckchen umrahmtes Gesicht tauchte im Schiebefenster auf. »Nun sagte man mir, dass Mr. Armstrong weggegangen ist und heute nicht mehr in sein Büro zurückkommt, aber ich könnte es in seinem Club versuchen...«
»Tun Sie das, Mary«, unterbrach sie Ingraham. »Und, bitte, für die nächste halbe Stunde möchte ich nicht gestört werden – es sei denn, Sie erreichen Armstrong. Aber sonst, bitte, nichts und niemand.«
»Selbstverständlich«, erklärte Mary Burton. »Hoffentlich stimmte es, dass Sie im Pierre verabredet waren, Mr. Ingraham. Nachdem Sie gegangen waren, fing ich an, mir Sorgen zu machen, ob es nun wirklich...«
»War in Ordnung, Mary«, entgegnete Ingraham und nahm die Norths in sein Büro mit. Es war heiß hier. Er öffnete eines der Fenster einen schmalen Spalt. Zusammen mit der feuchten Kälte drang nun der Lärm des Straßenverkehrs in das Zimmer. Er setzte sich neben Jerry und Pam auf ein Ledersofa, bot Zigaretten an und bemerkte, dass er sich über ihren Entschluss freue, da es für einen Anwalt immer angenehm sei, wenn seine Klienten rechtzeitig ein Testament machten.
»Na, wie die Dinge im Augenblick; stehen, würde es wohl kaum einen Unterschied machen«, meinte Jerry ein wenig trübsinnig. »Doch Pam möchte unsere Katze versorgt wissen für den Fall, dass uns auf der Reise etwas zustößt.«
»Ja. Die Strecke zwischen Jacksonville und Miami ist nicht ungefährlich«, erklärte Pam. »Wir können in einen Lastwagen hineinfahren oder sonst irgendetwas. Jedenfalls denke ich, es ist besser, ein Testament zu machen, bevor wir nach Florida reisen. Wilmer ist der einzige Verwandte von Jerry; er würde ihn also beerben, wenn wir beide tot wären. Es sähe ihm ähnlich, dass er Martini umbringen ließe, statt für sie zu sorgen. Aber die Tanten würden gut zu ihr sein – vorausgesetzt, dass er sie ihnen überlassen würde.«
Forbes Ingraham nickte ernst. Er zog den gelben Schreibblock zu sich heran. Ein halbes Dutzend Blätter waren mit seiner ordentlichen, kleinen Handschrift bedeckt. Auf einer unbeschriebenen, neuen Seite notierte er: North. »Ich nehme an, dass Sie der Katze oder einem Testamentsvollstrecker für sie kein Bargeld hinterlassen wollen, nicht wahr?«
»Du lieber Himmel, nein!«, wehrte Pam ab.
»So wie ich es verstanden habe, wollen Sie sich gegenseitig als Erben einsetzen; nach Ihnen die Tanten – Sie müssen mir noch die Namen und Adressen geben – und was dann noch, Pam?«
»Der Fonds des Schriftstellerverbandes«, warf Jerry ein und sah Pam fragend an.
Sie nickte. Dann nannte sie die Namen der Tanten. Beide waren mit der Ernennung eines Testamentsvollstreckers einverstanden. Es verlief alles ziemlich reibungslos. Als Ingraham seine Notizen beendet hatte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück. Er würde das Testament aufsetzen und schreiben lassen. Morgen könnten sie dann kommen und...
Das Telefon klingelte. »Ich werde Sie später anrufen«, sagte er. Er legte auf und nahm den Hörer von dem zweiten Telefon ab. »Bitte, Mary! Ich sagte Ihnen doch ausdrücklich...«
»Wenn Sie also morgen kommen wollen, dann können Sie in Gegenwart von Zeugen das Testament unterzeichnen«, wandte er sich an Pam und Jerry. »Passt es Ihnen morgen um dieselbe Zeit?«
Am Vormittag wäre es ihm lieber, meinte Jerry. Sie einigten sich auf Mittag.
»Da Sie nun schon mal hier sind, können wir uns über diese Plagiatsklage unterhalten«, wandte sich Ingraham an Jerry. Die Kanzlei Schaeffer, Ingraham & Webb vertrat Jerry Norths Verlag in allen Rechtsstreitigkeiten. Sie redeten kurz über diesen Fall.
»Sam hatte es Ihnen vermutlich bereits mitgeteilt«, sagte Ingraham.
»Wir besprachen es noch zusammen, bevor ich ins Ausland reiste. Natürlich werden wir weiterhin die Angelegenheit überwachen.«
Sein Blick blieb nachdenklich auf der gegenüberliegenden Wand ruhen. Auf seiner breiten Stirn bildete sich eine senkrechte Falte.
»Sam Schaeffer hatte einen ausnehmend scharfen Verstand«, äußerte er, ohne seinen Blick von der Wand zu nehmen.
Als Jerry North nach einer kurzen Pause sagte, er hätte es sehr bedauert, als er davon hörte, schaute Ingraham erst ihn, dann Pam an und nickte.
»Einer von diesen sinnlosen Unfällen, die sich zu allen Zeiten ereignen; trotzdem – ist es schwer, sich damit abzufinden«, sagte er und starrte vor sich hin. »Immer noch warte ich darauf, dass sich jeden Moment die Tür öffnet...« Er wies mit der Hand auf die Tür in der Seitenwand seines Büros. »Und dass er hereinkommt und sagt: Ingraham, ich möchte gerne, dass du dir das hier ansiehst. Ein verdammt sinnloses Ende.« Ingraham schwieg eine Weile. »Ich weiß nicht, warum ich immer noch so darauf aus bin, hinter allen Ereignissen einen Sinn zu suchen.«
»Das tut jedermann«, meinte Pam. »Nur, das Leben richtet sich nicht danach.«
Auf der Straße drunten knatterten die Fehlzündungen eines Lastwagens, und irgendjemand betätigte ohrenbetäubend die Hupe eines Wagens. Ingraham griff hinter sich und schloss das Fenster. Er meinte, dass man sich bei diesem Krach kaum vorstellen könnte, dass das Haus schalldicht gebaut war. Draußen im Flur könnte man Knallfrösche abbrennen, ohne auch nur das geringste hier drinnen zu hören. Doch der Straßenverkehr, vier Stockwerke tiefer, drang so laut herauf, als ob er sich im Zimmer abwickelte.
Das Telefon klingelte leise. Ingraham hob ab und sagte nach einer Weile: »Ja. In ungefähr fünf Minuten.«
Pam und Jerry erhoben sich. Ingraham kam um seinen Schreibtisch herum und half Pam in den Mantel. Mit einem Blick aus dem Fenster bemerkte er, dass er die beiden um ihre Reise nach dem Süden beneide. Er geleitete sie zur Tür und durch die Bibliothek in das Empfangszimmer.
Eine schlanke, etwa dreißigjährige Frau saß auf dem Ledersofa, einen Nerzmantel neben sich. Sie lächelte zu Forbes Ingraham auf, als er hinter den Norths das Zimmer betrat, und drückte ihre Zigarette in einem Aschenbecher aus.
»Guten Tag, Nan. – Nur eine Minute noch«, sagte Ingraham und brachte Pam und Jerry zur Tür. »Bis morgen«, wandte er sich wieder an die beiden und sah ihnen noch nach.
»So ein reizender Mann«, bemerkte Pam draußen. »Der Nerz muss ein Vermögen gekostet haben.«
Gerald North hatte nicht die Absicht, schlafende Wünsche nach Nerzmänteln zu wecken und drückte schweigend auf den Knopf für den Lift.
Es hatte zu regnen aufgehört; aber es blies immer noch ein abscheulicher Wind. Jerry hielt ein Taxi an. Sie waren schon in ihrer Wohnung angelangt, als es Pam einfiel.
»Erzähl mir nicht, dass du Margarets Cocktailparty vergessen hast, Jerry«, sagte sie gerade in dem Moment, da Jerry sich entschlossen hatte, es zu tun. »Ach, Pam! Bitte, nicht«, flehte er, wurde aber belehrt, dass sie es versprochen hatten.
»Außerdem hat es zu regnen aufgehört«, fügte Pam unerbittlich hinzu.
»Ich mag Margaret gern. Doch wir werden sie sowieso nicht zu sehen bekommen, ausgenommen bei der Begrüßung. Diese Cocktailpartys bei ihr sind wehrte sich Jerry verzweifelt.
»Wir haben es versprochen«, wiederholte Pam. »Wenn du erst dort bist, gefällt es dir dann doch«, versprach sie tröstend.
Margaret bewohnte in der Park Avenue ein weitläufiges Appartement. Sie war zwanzig Jahre lang die pflichtbewusste Ehefrau eines älteren Mannes gewesen, der sogar noch heftiger als Jerry gesellschaftliche Zusammenkünfte jeder Art verabscheute und sie unnachgiebig ablehnte. Er starb während einer Geschäftsreise in einem Hotelzimmer. Nach einer angemessenen Zeit der Trauer begann seine Frau alle ihr verloren gegangenen Partys nachzuholen. Sie war eine hübsche Blondine Mitte Vierzig. Als die Norths kurz nach sechs eintrafen, wurden sie von ihr mit »Darlings!« begrüßt, und sie versichere ihnen, dass sie alle kennen würden. Margaret schob sie sanft in einen riesigen Raum, der Jerry unwillkürlich an den New Yorker Hauptbahnhof nachmittags um fünf Uhr erinnerte – nur, dass hier niemand rannte.
Sie entdeckten kein bekanntes Gesicht. Von der Gastgeberin, die eben wieder eine Gruppe Neuankömmlinge mit »Darlings!« begrüßte, verlassen, standen Pam und Jerry mit einem steifen Party-Lächeln auf den Lippen inmitten der Menschenmenge und sahen zu, wie die anderen Cocktails tranken. In der Ferne konnten sie von Zeit zu Zeit durch die Leute hindurch einen Mann im weißen Jackett erkennen, der ein Tablett mit Gläsern herumtrug. Es sah nicht aus, als ob er sich ihnen nähern würde.
»Wir stehen auf einem toten Geleise«, sagte Jerry. »Komm, Pam.«
Langsam versuchten sie sich zu dem Mann mit dem Tablett durch die Menschenmenge hindurchzuschlängeln, erwiderten das Lächeln Unbekannter, rempelten da und dort sanft ihre Mitgäste an und mussten schließlich das Hoffnungslose ihres Beginnens einsehen.
»Es sieht so aus, als ob wir nun endgültig blockiert wären«, meinte Pam.
»Sieh mal an, die Norths leben noch«, sagte in diesem Augenblick eine weiche Stimme hinter Jerrys Rücken.
»Wie klein doch die Welt ist«, stellte Pam munter fest, als sie Forbes Ingraham erkannte.
»Es gehört zu meinem Beruf, dass ich darauf achte, meine Klienten nicht verdursten zu lassen, bevor sie ihr Testament unterzeichnet haben«, sagte Ingraham, als er ihre leeren Hände bemerkte. »Er ist dort drüben mit den Cocktails.« Mit einer Kopfbewegung bezeichnete er die Richtung.
»Darlings! Ihr habt ja nichts zu trinken«, rief Margaret, die eben wieder neben ihnen auftauchte. »Ich werde das sofort ändern!« Und damit entschwand sie schon wieder.
»Das sind Pam und Jerry North«, stellte Forbes Ingraham vor und zog eine schlanke Frau zwischen zwei männlichen Rücken durch. Sie hatte glänzendes braunes Haar, das von einer kühnen weißen Strähne durchzogen war.
»Mrs. James«, sagte Forbes. »Phoebe James.«
»Darlings!«, rief Margaret im Vorbeisegeln. »Ich habe dafür gesorgt, dass euch jemand etwas zu trinken bringt.« Sie strahlte die Norths an, strahlte Forbes Ingraham und Phoebe James an und tauchte wieder unter.
Doch diesmal brach tatsächlich der Mann im weißen Jackett zu ihnen durch. Pam und Jerry bedienten sich mit Martinis, und Forbes Ingraham vertauschte sein leeres Whiskeyglas gegen ein volles. Phoebe James, deren letzter historischer Roman einen ungewöhnlichen Erfolg erreicht und sie für Monate an die Spitze der Bestseller gebracht hatte, schüttelte dankend den Kopf.
Jerry hob befriedigt sein Glas zum Mund; ein Ellenbogen stieß ihn von hinten an. »Oh! Verzeihung«, murmelte jemand und verschwand. Die Hälfte des Martinis ergoss sich über seinen Ärmel. Es war unter diesen Umständen kein Trost, zu entdecken, dass der Drink gerade richtig gekühlt war.
»Jerry! Wie kannst du so etwas sagen!«, tadelte ihn Pam. Jerry trank den verbliebenen Rest in seinem Glas aus. Er trank zu hastig und verschluckte sich.
Dienstag, 1235 Uhr bis 14.55 Uhr
Pamela North faltete ihre Hände im Schoß, um zu verbergen, dass sie zitterten. Jerry, der neben ihr stand, legte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter.
»Glaubst du wirklich, es ist notwendig, dass wir dir das alles erzählen, Bill?«, fragte Pam.
»Ich weiß es nicht, Pam«, antwortete Bill Weigand.
»Aber, es – es ist doch heute passiert.«
»Richtig. Doch von solchen Dingen kann man nie sagen, wann sie angefangen haben. Es mag gestern gewesen sein oder vor einer Woche oder vor einem Monat«, erklärte Bill.
Sie saßen in dem kleinen Büro neben einem großen Fenster, das auf den Hof hinausging. Der Wind, womöglich noch abscheulicher als gestern Nacht, fegte durch den Hof, fing sich, wirbelte fauchend bei dem »Versuch, der Falle zu entfliehen, und rüttelte wütend an dem Fenster.
»Also gut«, begann Pam, »wir vier, Jerry und ich, Forbes und Mrs. James...«
Sie hatten beschlossen, sich aus dem Zentrum der Cocktailparty herauszuwinden und eine stillere Ecke zu suchen. Das war gar nicht so einfach gewesen, aber schließlich hatten sie es doch geschafft. Auf dem mühsamen Weg durch die Menschenmenge hatten sie Bekannte getroffen oder über die Köpfe Fremder hinweg begrüßt.
»Mr. Ingraham auch?«
Ja, Ingraham auch. Phoebe James hatte natürlich die meisten Leute gekannt. Sie schien ein Mensch zu sein, der genau wusste, von wem sie bemerkt werden wollte. Trotzdem waren die zwei Paare mehr oder weniger zusammengeblieben und hatten schließlich eine friedliche Ecke am Rande der Party gefunden.
»Habt ihr dort dann Ingrahams Teilhaber Reginald Webb getroffen? Und Mrs. Schaeffer? Wart ihr mit ihnen zusammen, als Mr. Ingraham zum Telefon gerufen wurde?«
»War etwas Besonderes mit dem Telefonanruf?«
»Ich weiß es nicht«, erklärte Bill. »Webb scheint es so empfunden zu haben. Er meinte, Ingraham habe einen überraschten Eindruck gemacht. Ist euch das auch aufgefallen?«
»Nein. Eigentlich nicht so sehr wie vorher. Was dachtest du, Jerry?«, wandte sich Pam an ihren Mann.