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Die fünfzehnjährige Liane fühlt sich sehr allein mit ihrer aufrichtigen Sehnsucht nach einer besseren Welt. Da erfährt sie von einer Gruppe anderer Mädchen, die mit dieser Sehnsucht ernst machen. Sie schließt sich ihnen an - und erlebt etwas, was sie nie für möglich gehalten hätte. Immer tiefer versteht sie, was der Name bedeutet: der Kreis der Hüterinnen ...
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Seitenzahl: 611
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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.
Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...
Niemand kann zwei Herren dienen.
- Matthäus 6,24
„Du bist verrückt, Liane! Was soll das? Das ist – das ist wirklich einfach nur verrückt!“ Ihr Vater sprach die Worte mit Nachdruck und echtem Ärger. Sie hatte ihn selten so wütend gesehen.
„Ich will es aber“, antwortete sie mit einer verzweifelten Sicherheit inmitten des schlimmen mulmigen Gefühls im Bauch, das sie immer hatte, wenn es Differenzen gab. Sie wusste nicht, woher sie den Mut nahm. Aber es gab keinen Zweifel. Sie musste das tun.
„Was willst du da?“, fragte ihr Vater vollkommen verständnislos.
„Hm? Kannst du mir das mal erklären? Was – willst – du – da?“
Sie konnte das strenge Gesicht ihres Vaters immer kaum ertragen – und jetzt am allerwenigsten. Die hochgezogenen Augenbrauen.
Den Dreitagebart. Die Falte, die auf beiden Seiten der Nase zum Mund führte. Die graugrünen Augen, die einen so fixierten... Er war Manager in irgendeiner großen Firma.
Unsicher sah sie kurz zu ihrer Mutter hinüber – aber es war ihr Vater, der jetzt eine Antwort von ihr erwartete. Sie fühlte sich ein wenig, wie wenn sie in einen Bienenschwarm geraten wäre und nun fortlaufend gestochen wurde...
„Ich will mit ihnen sprechen“, erwiderte sie noch immer sicher – und noch immer furchtbar leidend.
„Mit ihnen sprechen!“, wiederholte ihr Vater nachdrücklich. „Du willst mit ihnen sprechen. Gut – und was hast du davon? Ich meine, was willst du herausfinden? Was willst du erreichen? Willst du dich noch mehr in alles hineinsteigern?“
Ihr Vater steigerte sich in seinen Ärger hinein. Sie wusste nicht, wo das enden sollte.
„Ich meine“, fuhr er fort, „guck dich doch an. Du wirst immer dünner! Wieviel wiegst du jetzt? Körpergröße minus hundert. Das ist die Regel. Warst du da jemals auch nur annähernd dran! Nie! Und immer noch dünner! Jetzt seit zwölf Monaten vegan! Ja?
Zwölf Monate, oder? Richtig, oder? Ich kann mir ja den Mund fusslig reden. Du könntest eins dieser Models sein, klapprig bis zum Geht-nicht-mehr, wie die heute sind. Wie lang willst du das denn durchhalten? Irgendwann klappt man wirklich zusammen damit! Aber – wenn es nur das wäre! Jetzt kommt das Nächste! Jetzt kommt ... diese Geschichte! Und du lässt dich davon sofort beeinflussen! Hineinziehen! Irre machen! Ich weiß nicht, was ich sagen soll! Verrückt! Es ist einfach nur verrückt!“
Irgendwann merkte man die Bienenstiche nicht mehr. Es tat einfach nur noch generell weh. Der Bauch war nur noch mulmig, ein anderes Gefühl gab es nicht mehr.
„Es ist mir egal...“
„Egal ist gar nichts, Liane! Begreif das doch endlich! Willst du dein Leben wegwerfen? Was heißt ,egal’? Ich kann es einfach nicht fassen! Egal! Wenn es dir so egal ist, dann schlag dir das einfach aus dem Kopf. Vollständig. Weg damit!“
Ihr Vater wollte ihr die Zeitung aus der Hand reißen – sie verhinderte es, indem sie sie in Sicherheit brachte und ganz nach rechts hielt, wo ihre Mutter saß.
„Nein!“, rief sie. Dann sagte sie verzweifelt: „Mir ist nur egal, dass du es für verrückt hältst. Auch das ist mir nicht egal. Aber ich muss es machen. Ich werde es machen. Ich werde es unbedingt machen.
Ich ... ich fahre dieses Wochenende hin...“
Ihr Vater musterte sie gefährlich kalt. Es arbeitete in ihm. Sie sah, wie er ihren Entschluss verachtete – in seiner ganzen ,Sinnlosigkeit’.
„Ich hoffe“, begann er nun gefährlich leise, „ich muss nicht anfangen, mich auch noch für dich zu schämen!“
„Pascal!“, sagte ihre Mutter nun entsetzt.
„Ist doch wahr! Ich habe ja nun wirklich keine x-beliebige Stellung. Da hängt viel dran. Viele Leute gucken sehr genau, was ich mache. Und sie gucken auch, was du machst, Liane! Das mag dir nicht bewusst sein. Aber man ist hier auf dieser Welt kein Einsiedler. Es ist nicht einfach nur dein Vergnügen, liebe Tochter – vergiss das nicht!“
Nachdruck. Hochgezogene Augenbrauen. Missbilligende Falten von der Nase zum Mund... Sehr selten nannte er sie ,liebe Tochter’ – das waren immer die schlimmsten Momente, der schlimmste Vorwurf...
„Ein Vergnügen ist es nicht. Es ist das Gegenteil“, sagte sie leise.
„Wie bitte?“, wiederholte ihr Vater streng.
Er hatte es wirklich nicht gehört.
„Es ist kein Vergnügen!“, wiederholte sie deutlicher, sich gequält der Kälte ihres Vaters erwehrend.
„Was ist es dann!? Idealismus? Neugier? Bewunderung? Nicht nur die Ernährung wird völlig reduziert – auch alles andere? Bis man völlig verschwindet! Nur noch reine Liebe, ja? Luft und Liebe?
Liane – du kriegst gar nicht mit, was du da veranstaltest! Du isolierst dich völlig! Ist irgendjemand aus deiner Klasse so drauf?
Irgendjemand von deiner Schule?“
„Pascal, sie fährt nur einmal da hin! Sei doch –“
„Sie fährt nicht ,nur einmal da hin’, Larissa!“, erwiderte ihr Vater scharf. Ich kenne doch meine Tochter! Jetzt verteidige du sie noch! Du siehst es doch selbst! Du siehst doch selbst, welchen Weg sie nimmt!“
„Ja“, sagte ihre Mutter, die jetzt zum ersten Mal merklich in Erscheinung trat. „Ich sehe es selbst. Aber ich sehe auch, dass du sie nicht daran hindern kannst. Was sie sich in den Kopf gesetzt hat, wird sie tun. Wie du übrigens auch.“
Den letzten Satz hatte ihre Mutter betont gesprochen. Er erschien ihr wie ein völlig unerwarteter extra Schutzstreifen. Irgendetwas in ihr fühlte eine ungeheure Erleichterung.
Ihr Vater erhob sich ruckartig von seinem Stuhl, wütend.
„Frauen!“, sagte er wegwerfend. „Zwei Frauen in einem Haus! Und vergleichen Äpfel mit Birnen! Ich kann es nicht fassen! Aber glaubt ja nicht, dass ich diese Fahrt auch noch bezahle. Und du“, er wandte sich drohend an seine Frau, „wirst ihr auch nichts geben.
Keinen Cent! Wenn sie diese verrückte Sache unbedingt machen will, soll sie das schön von ihrem eigenen Geld bezahlen – komplett!“
Wütend und theatralisch verließ ihr Vater den gemeinsamen Frühstückstisch.
Die Geräusche im Flur ließen genau verfolgen, wie er sich anzog, um zur Arbeit zu gehen. Ohne einen nochmaligen Abschiedsgruß fiel wenig später die Tür ins Schloss. Dies war vielleicht der schlimmste Augenblick des ganzen Morgens...
„Du verstehst ihn doch, oder Liane...?“
Sie musste immer alles verstehen... Das Schlimmste war: sie konnte es auch... Sie konnte immer alle verstehen. Aber wann verstand einmal jemand sie... Ihre Mutter war für sie eingetreten, aber selbst sie verstand sie nicht wirklich...
„Ja, Mama...“, sagte sie traurig. „Ich verstehe immer alle...“
Selbst das Leid, das in diesem Satz steckte, wurde von niemandem gehört.
Ihre Mutter sah sie noch einen Moment an. Dann strich sie ihr kurz über den Kopf und sagte zufrieden:
„Schön. Na dann... Ab in die Schule...!“
Ihre Mutter erhob sich, um den Tisch abzuräumen.
„Und ... hast du genug Geld?“, erkundigte sie sich beiläufig.
„Ja...“, sagte sie leise.
„Okay.“
Sie hatte knapp neunzig Euro gespart. Davon wollte sie unter anderem Weihnachtsgeschenke für ihre Eltern, zwei Freundinnen und ihre Großeltern kaufen. Nun würde es keine Weihnachtsgeschenke geben. Sie wusste nicht, wie sie es machen sollte. Es war schon Mitte November.
Traurig ging sie in ihr Zimmer, um ihre Schultasche zu packen...
Die Landschaft zog an ihren Augen vorüber. Es war die Landschaft des Spätherbstes. Nichts Anziehendes war jetzt mehr draußen zu sehen, nichts, was den Blick festhielt, durch Farbe, durch Schönheit. Und doch sah sie gern hinaus. Sie mochte es, irgendwohin zu fahren. Und die Landschaft war immer viel friedlicher als die übrige Welt, also auch viel schöner, zu welcher Jahreszeit auch immer.
Jetzt aber zogen auch Gedanken in ihr vorüber. Verschiedenste Gedanken. Der Konflikt mit ihrem Vater. Die Missbilligung, mit der er sie dann auch heute wieder verabschiedet hatte. Weh tat das, sehr, sehr weh... Aber auch seine Bemerkungen vom Montag. Ja, sie war schlank. Und ihr Vater konnte denken, dass sie dünn war.
Vielleicht hatte sie sogar abgenommen, seit sie nichts Tierisches mehr aß. Trotzdem fanden die Jungen sie schön. Viel zu sehr. Es gab zu viele Jungen, bei denen sie das merkte. Und es gab keinen Jungen, zu dem sie sich hingezogen fühlte...
Jungen waren zu grob... Jungen aßen Fleisch. Jungen machten blöde Witze. Sie waren hässlich – innerlich, und nicht nur innerlich.
Ein paar Reihen weiter vorne saßen auch zwei solche Jungen.
Auch sie unterhielten sich viel zu laut, lachten zu laut, sprachen nur über Gewöhnliches. Warum waren Jungen so? Aber – die Mädchen waren oft auch nicht viel besser...
Sie holte die Zeitung wieder aus ihrem Rucksack. Wie oft hatte sie sich den Bericht schon angeschaut! Ein Satz ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie las ihn wiederum. ,Sie sagen, sie tun es für die ganze Menschheit.’ Es war dieser Satz, der sie nicht mehr losgelassen hatte. Und dann das Foto. Man sah sie nur klein – aber seit sie das Foto gesehen hatte, wusste sie, dass sie niemand anderen suchte. Sie war sich absolut sicher. Dieser eine Satz und das Foto.
Sie wäre um die halbe Welt gefahren, um ihnen zu begegnen...
Sie steckte die Zeitung behutsam wieder in das vordere Fach ihres Rucksackes. Die Jungen drei Reihen vor ihr alberten immer noch miteinander herum. Einsam blickte sie wieder auf die Landschaft.
Kannte irgendeiner dieser Menschen im Zug dieses Gefühl der Einsamkeit? Es war so ein Ziehen im Inneren, ein trauriges, einsames Ziehen... Allein war man ... allein mit diesem Ziehen und mit der Landschaft da draußen.
*
Liane hatte in den letzten Jahren gelernt, mit dieser Einsamkeit zu leben. Es war eine innere Empfindung, die sie wie einen stillen Begleiter in ihrer Seele trug. Es hatte begonnen, als sie zwölf Jahre alt gewesen war. Damals hatte diese Empfindung irgendwie zu ihr gefunden und ihr dann irgendwie die Treue geschworen. Sie hatte sie nie wieder verlassen... Je mehr sie zu sich selbst erwacht war, desto mehr hatte sie auch ihre Begleiterin, die Einsamkeit gespürt.
Nun war sie fünfzehn, seit dem Sommer, und auch ihre Begleiterin war gewachsen. Eigentlich war auch sie schön, nicht so grob wie die Jungen, nicht so grob wie die Mädchen, die sie nicht kannten.
Die Einsamkeit war still und ruhig, wie sie selbst. Nur war sie ihre einzige Begleiterin. Wenn man von den Mädchen absah, mit denen sie eine gewisse Freundschaft verband, obwohl sie sich von keiner verstanden fühlte, und von den Jungen, von denen sie keinen um sich haben wollte...
In ihrem Alter begannen die übrigen Mädchen längst wieder, sich für die Jungen zu interessieren. Sie begannen längst, sich zu schminken; sie alberten gemeinsam mit den Jungen; sie tippten stundenlang in ihre Handys; sie blieben abends lange weg, wenn sie durften. Mädchen waren – die meisten – nicht weniger seltsam und fremd als die Jungen. Nicht ganz so grob wie diese, aber fast.
Anders fremd. Verstehen konnte man sie – aber man fühlte auch ihnen gegenüber die ganze Einsamkeit. Obwohl es doch Mädchen waren – war man selbst ganz anders als sie...
Die Mädchen auf dem Foto dagegen... Wenn sie daran dachte, wurde das Ziehen in ihrem Bauch stärker. Aber nun war es ein Ziehen einer seltsam starken Sehnsucht, einer seltsam starken Hoffnung.
Sie musste sie sehen! Sie musste mit ihnen reden... Wenn nur die Angst nicht wäre ... auch bei ihnen wieder einsam zu bleiben. Von niemandem verstanden zu werden. Ja... Wenn sie sie nicht verstehen würden, dann würde wirklich niemand mehr sie verstehen können. Absolut niemand...
Das Städtchen lag in der Nähe von Essen. Keine besonders schöne Gegend. Sie hatte die Adresse auf ihrer Webseite gesehen. Allmählich wurde sie nervös. Es war nur noch eine halbe Stunde, bis der Zug ankommen würde. Die Einsamkeit kannte sie – das, was jetzt kommen würde, nicht. In seinem ganzen Alleinsein war man sich vertraut. Nun musste man anderen vertrauen... Aber wie – wenn man bisher immer wieder enttäuscht worden war... Hoffen, ja, hoffen konnte sie. Das tat sie immer – und jetzt mehr als jemals zuvor.
Aber gerade das machte einen ja so nervös, so hilflos nervös...
*
Vom Bahnhof konnte man entweder den Bus nehmen oder laufen.
Es waren nur zwei oder drei Stationen. Sie schaute auf das Schild an der Haltestelle – der Bus kam erst in neun Minuten. Sie entschied sich zu laufen.
Ein fremdes Städtchen... Sie lief einige schmucklose Straßen entlang. Auch hier fühlte sie sich seltsam fremd. Sie wäre ja auch nie hierhergekommen, wenn sie nicht ein ganz bestimmtes Ziel gehabt hätte.
Schließlich bog sie in die Straße ein, die auf der Webseite angegeben gewesen war. Erst jetzt, beim Laufen vom Bahnhof aus, machte sie sich Gedanken, ob sie überhaupt da wären. Sie könnten ja auch irgendwo anders ein? Gar nicht da über das Wochenende...
Aber sie hatte es nicht gewagt, vorher einen Kontakt herzustellen.
Sie musste ihnen direkt begegnen. Und zwar beim ersten Mal. Es war wichtig – es musste so sein. Aber nun wurde sie auch deswegen nervös: ob sie nicht ganz umsonst gekommen war, weil sie niemanden antreffen würde...
Als sie sich der Hausnummer näherte, sah sie vor einem Haus einen Polizisten stehen. Ihr wurde mulmig – und dies steigerte sich, als sich das Haus, vor dem er stand, tatsächlich als die gesuchte Adresse erwies.
Als der Polizist sie ansah, klopfte ihr Herz. Mit innerer Aufregung brachte sie es fertig, das Klingelschild zu studieren. Tatsächlich stand dort ihr Name.
„Wohin möchten Sie denn, junge Dame?“, fragte der Polizist, wie Polizisten fragten, wenn sie einen trotz aller Freundlichkeit ein wenig einschüchtern wollten. Bei ihr gelang dies ohne Einschränkung.
Mit ziemlicher Aufregung sah sie den Mann wieder an. Bevor sie ein Wort herausbringen konnte, fragte dieser, als wenn er genau Bescheid wüsste:
„Zu den Mädchen?“
„Ja“, gestand sie mit heftig klopfendem Herzen. „Ist ... das erlaubt?“
„Sind Sie angemeldet?“
„Nein“, sagte sie erschrocken. „Muss ... muss ich das?“
Der Polizist sah sie einen Moment an. Dann sagte er freundlich, sogar mit einem kleinen Lächeln:
„Klingen Sie einfach.“
Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Aber schon stand die nächste Hürde bevor. Was sollte sie sagen? Was würde jetzt passieren?
Sie nahm ihren Mut zusammen und klingelte.
„Ja, hallo?“, fragte eine weibliche Stimme. Sie klang nicht unfreundlich, aber schon sehr erwachsen.
„Ich...“, sie fühlte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug, „ich möchte gern zu euch – ich würde gern mit euch sprechen“, brachte sie hastig hervor. Dann fiel ihr ein, dass sie ja ihren Namen noch gar nicht gesagt hatte. „Ich heiße Liane! Ich bin extra deswegen gekommen und –“
„Ja, komm rauf...“, sagte die Stimme freundlich. „Ganz oben – im vierten Stock.“
Der Türsummer ertönte.
„Danke...“, sagte sie, nicht sicher, ob das Mädchen oder die junge Frau sie noch hörte.
Im Eingang blickte sie sich noch einmal nach dem Polizisten um, und als sie dessen Blick auffing, lächelte sie noch einmal dankbar.
Der Polizist lächelte zurück und verabschiedete sich mit einem leichten Nicken.
Sie war sehr froh, dass es solche Menschen gab. Menschen, die eigentlich freundlich waren. Sogar, wenn sie Polizist waren...
Das Herzklopfen ließ nicht nach, als sie nun den alten Treppenaufgang hinaufstieg. Das Haus war ein Altbau, und es wirkte relativ heruntergekommen. Wahrscheinlich war es auch hier die Fremdheit, die dazukam...
Kurz bevor sie den vierten Stock erreichte, hörte sie, wie sich die Tür öffnete. Dort oben gab es nur noch eine Tür, die andere schien nicht in Gebrauch. In der Türöffnung erschien jetzt eine junge blonde Frau mit etwa schulterlangem Haar, die sehr selbstbewusst wirkte, aber auch freundlich aussah. Dennoch fühlte sie sich sofort unsicher. Von dem Foto kannte sie diese Frau nicht.
„Ich...“, sagte sie zögernd, als sie oben ankam und nun vor ihr stand.
„Du bist extra wegen uns hergekommen? Von wo kommst du?“
„Ich wohne in der Nähe von Stuttgart.“
„Oh, das ist ja eine ganz schöne Strecke. Komm rein...!“
*
Unsicher trat sie ein. Die Frau machte Anstalten, den Flur entlang nach hinten gehen zu wollen.
„Soll ich ... was ausziehen?“, fragte sie unsicher.
Die Frau hielt inne und sagte lächelnd:
„Ja, ist vielleicht besser... Und überhaupt – ich bin Lisa.“
Damit streckte sie ihr mit einem warmen Lächeln die Hand hin.
Berührt gab auch sie ihr die Hand – und fühlte sich nun erst recht freundlich empfangen.
„Liane...“, sagte sie verlegen noch einmal.
Schnell zog sie ihre Schuhe aus und entledigte sich ihres Mantels.
„Wohin kann ich den...“
„Hier.“
Die Frau wies auf einige Kleiderhaken neben der Eingangstür.
„Ah ja, natürlich...“, sagte sie, leise beschämt darüber, dass sie es nicht selbst gesehen hatte.
Nun ging die junge Frau tatsächlich zielstrebig nach hinten, wo ein großer heller Raum sein Licht bis in den Flur vorauswarf.
Indem sie beide in diesen Raum eintraten, der sogar noch ein wenig größer war, als sie gedacht hatte, sagte die junge Frau, die Lisa hieß:
„Das ist Liane. Sie ist extra von Stuttgart hierhergekommen.“
Sie war überwältigt. Denn hier saßen wirklich und bei lebendigem Leibe die Mädchen, die sie auf dem Foto in klein gesehen hatte.
Aber – wie berührt war sie erst, als diese Mädchen nun alle aufstanden, um sie zu begrüßen! „Hallo, Liane...“, sagte ein sehr schönes Mädchen mit rötlichbraunem Haar. „Ich bin Marie...“
Schon gab ihr das nächste Mädchen die Hand. Dieses war sogar noch schöner. Himmelblaue Augen schauten sie an, blondes, glattes Haar, das über die Schultern fiel, gehörte zu dem vielleicht schönsten Gesicht, das sie je gesehen hatte.
„Ich bin Julia...“
Sie konnte es nicht fassen, dass alle diese Mädchen sie begrüßten – und wie warmherzig sie dies taten.
Das nächste Mädchen hatte die kürzesten Haare von allen, auch blond. Ihr Gesicht sprühte freudige Funken. Sie hatte noch nie Augen so lächeln sehen...
„Hallo, Liane – ich bin Jenny!“
„Hallo...“, sagte sie, verlegen, so viel freudige Zuneigung gar nicht erwidern zu können.
Dann kam ein Mädchen, das erst höchstens dreizehn Jahre alt sein konnte. Sie hatte sehr langes braunes Haar, schmale braune Augen und ein sehr schönes rundes Gesicht.
„Ich bin Madeleine.“
Zuletzt gab ihr ein großes, sicher auch schon siebzehn oder achtzehn Jahre altes Mädchen mit langen roten Haaren die Hand. Nun sahen sie sanfte graue Augen an, die zu einem Gesicht mit einigen vorsichtigen Sommersprossen gehörten.
„Und ich bin Anna-Lisa...“
„Komm setz dich...“, sagte dasselbe Mädchen nun, während sie mit allen anderen wieder an den Ort zurückging, wo sie gesessen hatten – und wo nun wie von selbst eine Lücke für sie blieb...
Unsicher ließ auch sie sich auf den schönen Holzboden dieses Dachzimmers nieder. Sie setzte sich neben ihre angewinkelten Beine und stützte sich auf den linken Arm. Die meisten anderen Mädchen saßen auch so. Das Mädchen mit den lachenden Augen hatte ein Bein aufgestellt. Das Mädchen, das sie zuerst begrüßt hatte, hatte sich erst einmal hingekniet...
„Ich ... hab mir eure Namen gar nicht behalten können...“, sagte sie mit einiger Scham.
„Das macht nichts!“, sagte nun das Mädchen mit den unglaublich fröhlichen Augen. „Sollen wir uns jetzt für dich noch einmal alle vorstellen?“
„Ja...“, bat sie vorsichtig. „Wenn das nicht ... zu blöd ist...“
„Liane...“, sagte das kniende Mädchen, dessen sanfte Stimme ihr sofort aufgefallen war. „Hier bei uns ist nichts zu blöd. Dies ist ein Ort ohne Angst...“
Sie war erschüttert. Sie fühlte sich mit einer Sanftheit angenommen, die sie nie zuvor erfahren hatte. Fast hatte sie das Gefühl, als wäre es ein Sturm an Sanftheit – wenn das nicht ein Widerspruch in sich war...
„Also –“, nahm das Mädchen mit dem fröhlichen Leuchten in den Augen das Wort wieder an sich, bevor sie sich von neuem verlegen fühlen konnte, „das war Marie... Neben ihr sitzt Lisa, die dich reingelassen hat. Daneben, das ist Madeleine. Unser kleines Mädchen...“
Die Sprecherin lächelte liebevoll zu dem Mädchen hinüber und dieses lächelte süß zurück, es nahm dies nicht übel.
„Neben dir, das ist Anna-Lisa. Neben mir sitzt Julia. Und ich bin Jenny...“
Dankbar sah sie Jenny an.
„Also, ich wiederhole noch einmal...“, sagte sie dann ermutigt von der Wärme, die von diesen Mädchen ausstrahlte, von allen.
„Jenny... Dann ... Julia. Marie... Lisa... Madeleine. Und ... und Anna-Lisa.“
„Großartig!“, sagte Jenny strahlend.
Auch die anderen Mädchen freuten sich sichtlich mit ihr.
„Also“, fragte Jenny nun, „warum bist du hier...?“
Sie kannte all dies nicht. Sie hatte eine solche Frage noch nie gehört, noch nie erlebt. Es war, wie wenn die Sprache selbst die Hand ausstreckte, einladend, ganz nur aus Wärme bestehend. Wärme war es, die sie einhüllte. Wärme und erwartungsvolle Zuneigung strömte ihr von diesen sechs Mädchen entgegen. Sechs Augenpaare waren mehr, als sie normalerweise ertragen konnte – aber diese Wärme...
„Ich...“, sagte sie zögernd, berührt, auch noch befangen, „ich wollte euch kennenlernen...“
„Und warum...“, fragte nun Anna-Lisa, das zweitälteste Mädchen mit den schönen, langen roten Haaren.
Es war eigentlich keine Frage. Es war eine Ermutigung... Ein sanfter Brückenschlag, der ihr mehr Mut machen sollte, ihr Herz zu öffnen...
Es war merkwürdig – in genau diesem Moment erinnerte sie sich wieder an ein Erlebnis, das sie viele Monate vergessen hatte. Sie hatte vor drei oder vier Jahren mit ihren Eltern die halben Sommerferien in Frankreich verbracht. In einem alten Antiquitätenladen, den sie in irgendeinem Städtchen auf der Durchreise besucht hatten, hatte sie sich im hinteren Teil des völlig überfüllten Raumes umgeschaut, während ihre Eltern sich weiter vorne umsahen. Der alte Ladenbesitzer machte sich auch im hinteren Teil zu schaffen.
Plötzlich hatte sie eine Halskette gesehen, die inmitten von allem anderen irgendwo hing. Sie trug ein vielleicht vier Fingerbreit hohes Kreuz mit blumenartig auslaufenden Enden. Was sie aber zutiefst erschütterte, war, dass durch ein kleines Fenster in dem sonst recht dunklen Raum das Licht gerade so fiel, dass die in die Mitte des Kreuzes und in das untere Ende eingelegten Verzierungen aus orangefarbenem Glas oder sogar Edelstein unendlich schön leuchteten. Sie war von diesem Leuchten so verzaubert, dass sie erst eine ganze Zeit später den Blick des alten Krämers auf sich ruhen sah – aber der Schreck darüber wich sofort einem namenlosen Erstaunen, als sie tief gütige Augen und ein Lächeln bemerkte, das ebenfalls ganz aus Wärme zu bestehen schien... Sie wechselte mit diesem alten Mann kein einziges Wort – und doch war dieses Erlebnis, das wunderschön leuchtende Kreuz und diese nicht zu beschreibende, kurze, wortlose Begegnung, dasjenige, was sie aus Frankreich wieder mit nach Deutschland nahm, als etwas, was sich am tiefsten in ihre Seele geschrieben hatte. Sehr bald nach ihrer Weiterreise bedauerte sie zutiefst, dass sie das Kreuz nicht gekauft hatte. Aber es war wie in einem Traum gewesen. Und so durfte sie nur die Erinnerung mitnehmen...
„Ich kann es nicht beschreiben...“, antwortete sie leise. „Es ist ...
eine solche Sehnsucht...“
„Wonach...“, fragte Anna-Lisa sanft weiter.
Man fühlte sich wie von der Sprache, von der Stimme gestreichelt.
Geborgen fühlte man sich...
„Nach...“
Die Sehnsucht zu antworten, ließ sie sprechen, bevor sie Worte gefunden hatte. Aber diese große andere Sehnsucht war nun in ihrem ganzen Inneren zu spüren, sogar in ihrem Körper, im Bauch, in der Brust, überall.
„Nach euch! Nach dem, was ihr macht... Nach ... nach allem!“
Sie sah, wie sich die Mädchen ansahen. Sie waren berührt. Sie verständigten sich durch winzige Blickkontakte. Jede wusste, was die anderen fühlten – das Gleiche...
„Warum, Liane...?“
Das war nun Julia, dieses wunderschöne Mädchen mit den blonden Haaren. Ihre Frage war genauso warm – und ihre himmelblauen Augen sahen sie mit tiefer Freundlichkeit an. Noch nie hatte sie dies erlebt. Einfach so sein zu dürfen, wie sie war – und nicht nur das. Sondern wirklich willkommen zu sein. Nichts anderes zu fühlen, als willkommen zu sein! Und ohne zu bemerken, wie ihre Befangenheit angesichts dessen in ein Nichts verschwand, brach es auf einmal aus ihr heraus.
„Ich bin ... ich bin so allein! Mit allem, was ich fühle, bin ich so allein! Die Welt! Die ganze Welt – alles ... ist so schlimm! Und niemand ... tut etwas! Niemand ... fühlt etwas! Alle anderen leben einfach so ... und ... es scheint sie gar nicht zu interessieren! Sie leben und unterhalten sich und gehen zur Schule und arbeiten und schauen Nachrichten und gehen ins Kino und spielen und gehen einkaufen und machen alles – aber kümmern sich gar nicht darum! Sie kümmern sich nicht darum! Es ist ihnen fast egal! Oder sogar ganz egal! Sie ... sie leiden darunter nicht! Aber ich ... ich ja! Für mich ist das alles sehr schlimm! Wie kann man allein nur fernsehen!? Das alles sehen – und zugleich wissen: das ist nur ein ganz kleiner Teil... Wie kann man das ... sehen ... und dann ertragen?
Und sogar ... sogar nichts dabei fühlen?
Und dann sagen sie: Liane, das kommt, weil du keine ,Kontakte’ hast. Kannst du auch was anderes denken? Du übertreibst einfach.
Schließ dich doch nicht so ab von allem. – Das alles sagen sie! Meine Eltern und auch Andere. Aber sie verstehen das nicht! Sie verstehen auch nicht, wie einsam ich bin. Wie sehr ich mich danach sehne, nicht allein zu sein! Mit anderen sprechen zu können.
Sie sehen das nicht – weil sie nur sehen, dass ich nicht spreche.
Aber sie sehen nicht, wie gern ich sprechen möchte! Aber ich kann es einfach nicht... Manchmal denke ich, ich kann jeden Menschen verstehen, wirklich jeden... Aber mich ... mich kann niemand verstehen. Aber sie verstehen nicht, welche Sehnsucht ich habe. Diese große, große Sehnsucht – sich gegenseitig zu verstehen. Und zu spüren, dass auch Andere ... dass ... dass es nicht falsch ist, wenn man leidet, weil so vieles so schlimm ist...!“
Sie hatte noch nie so geredet... Sie hatte sich an der Schönheit dieses Gesichtes festgehalten, an diesen warm zuhörenden Augen, an dem Wissen, dass daneben die anderen Mädchen saßen, die genauso zuhörten – und dann hatte sie einfach wie in einem Traum ihr ganzes Herz ausgeschüttet...
Nun trat der ganze Kreis allmählich wieder in ihr Bewusstsein.
Doch bevor sie von neuem Furcht haben konnte, dass auch hier das Einander-Verstehen Grenzen haben würde, Grenzen, die man in jedem Augenblick schmerzlich fühlte, sagte das Mädchen mit den himmelblauen Augen:
„Das ist niemals falsch, Liane...“
Und mit dieser unbeschreiblichen Wärme und einer schlichten, warmen Feierlichkeit fügte es hinzu:
„Willkommen bei uns... Willkommen im Kreis der Hüterinnen!“
*
Nach einem fast magischen Moment, in dem die Zeit für einen Augenblick ganz still stehenzubleiben schien, fragte sie schließlich zögernd, mit einem kaum zu beschreibenden Gefühl, in dem sich tiefste Dankbarkeit und zarte Bewunderung vollkommen durchdrangen:
„Wie kann man ... also ... wie kann man bei euch sein...? Lebt ihr hier?“
„Ja, wir leben hier“, sagte das wunderschöne Mädchen, das Julia hieß. „Wenn du das willst, kannst du das auch... Wir nehmen jeden auf, der sich uns verbunden fühlt.“
„Wirklich?“, fragte sie fast ungläubig. Doch sie spürte in sich noch so viele Fragen, die beantwortet werden wollten. Und unmittelbar schämte sie sich dessen auch...
„Aber ich...“, gestand sie mit dieser Scham, „ich hab noch ... noch Fragen...“
„Das ist doch selbstverständlich, Liane...“, sagte nun das Mädchen neben Julia, das ihr fast gegenübersaß, nein, noch immer kniete – das Mädchen mit diesem sanften Gesicht und dem schönen rötlichbraunen Haar. Ja, richtig – Marie hieß sie... „Denk immer daran – ein Ort ohne Angst... Mag es so einen sonst nirgendwo auf der Welt geben – hier ist er. Ein Ort ganz ohne Angst...“
Fast ungläubig und doch unmittelbar glaubend blickte sie in diese schönen braunen Augen, blickte die übrigen Mädchen an, die sie alle mit gleicher Wärme ansahen, jedes auf seine Art, jedes so unendlich verschieden – und doch immer diese Wärme... In der Wärme konnte die Angst nur schmelzen...
„Wie kann man dazugehören...?“, sagte sie nun voller Sehnsucht und voll zartem, wachsendem Vertrauen. „Kommt ihr von hier?
Habt ihr keine Eltern? Geht ihr ... zur Schule?“
Sie fühlte so viele Fragen – aber sie konnte sie ja nicht alle auf einmal stellen...
„Nein“, sagte das kniende Mädchen, das in seiner Art eine ganz besonders sanfte Stimme hatte. „Wir kommen nicht alle von hier.
Nur Anna-Lisa. Wir anderen sind alle hierhergezogen, um zusammen zu sein. Wir haben Eltern – aber die leben nicht hier. Nur Anna-Lisas Eltern, aber sie ist schon achtzehn geworden. Ja, wir gehen hier alle zur Schule. Außer Lisa – sie hat schon Abitur und wird jetzt Krankenschwester...“
Das Mädchen mit den relativ kurzen Haaren, das schon eine junge Frau war, sah im Grunde weder ganz so aus, als ob es in diesen Kreis gehörte, noch, als ob es eine Krankenschwester werden wollte. Und doch war offenbar beides genau so und nicht anders.
Während sie sich den anderen Mädchen tief verbunden fühlte, könnte diese Lisa auch ein solches Mädchen sein, das sich auch mit den Jungen vorhin im Zug glänzend verstanden hätte. Ihre Schönheit war viel herausfordernder. Und doch waren ihre Augen so freundlich wie die der anderen Mädchen..
„Und...“, fragte sie zögernd, „wie ist das ... mit euren Eltern? Ich meine...“
„Ob wir das dürfen?“, fragte Marie.
„Ja ... wie ist das...?“
„Jede von uns musste ihren eigenen Kampf kämpfen, um hier sein zu dürfen... Es fiel uns ja nicht einfach, unsere Eltern zu verlassen – und doch war keiner von uns etwas wichtiger als dies hier...“
Die Stimme des Mädchens wurde leise, als sie sagte:
„Meine Eltern haben geweint, als ich es ihnen sagte. Und ich habe dann auch geweint... Aber sie wussten vorher, dass ich gehen muss. Sie wussten es schon lange...
Lisas Eltern haben sie für verrückt erklärt. Lisa und ich sind zusammen hierhergekommen. Madeleine hat keine eigenen Eltern.
Sie ist in einem SOS-Kinderdorf aufgewachsen, bis sie zu uns kam.
Jennys Eltern sind fast verzweifelt – bis sie es schließlich ,verstanden’. Und Julia...“
Marie blickte einmal kurz zu dem Mädchen neben ihr, das ihren Blick friedlich erwiderte.
„Julia hatte es vielleicht am schwersten. Sie ist von ihrem Vater dafür sogar geschlagen worden – und ihre Mutter war mit allem völlig hilflos...“
„Geschlagen?“, fragte sie verwirrt.
Wie konnte ein so wunderschönes Mädchen geschlagen werden?
„Mein Vater“, sagte Julia nun sanft, „hatte schon zwei Jahre zuvor seine Arbeit verloren. Von da an wurde es immer trauriger. Meine Mutter und vor allem ich versuchten immer wieder, ihn zu trösten, zu ermutigen, ihm beizustehen. Aber ... er fühlte sich nicht mehr wie ein Mensch. Immer wenn er zu dem Amt gehen musste ... kam er gedemütigt zurück. Er machte sich selbst fertig damit – und wurde ganz bestimmt auch fertig gemacht. Er kam damit nicht zurecht.
Und nach einem Jahr begann er zu trinken. Wir wollten ihn davon abhalten, wieder abbringen – doch er ließ es nicht zu. Nichts half...
Wir waren ... wir waren einfach machtlos...
Ja ... und als ich dann erfuhr, dass Anna-Lisa diesen einzigartigen Kreis gründen wollte, da konnte ich nicht mehr... Ich wäre so gern bei meinem Papa geblieben, bei meiner Mama, aber ich musste gehen. Es war wie bei den anderen. Man weiß es einfach... Aber ...
als ich es dann meinem Papa sagte ... ja, da spielte er wirklich verrückt. Auf einmal versuchte er es mit Strenge, mit Verbot, kategorisch, völlig verwandelt. Und als ich ihm sagte, dass ich muss, dass ich einfach muss, nicht wegen ihm – da drohte er mir, und ... ja, als ich dabei blieb, da schlug er mich...“
„Und du?“, fragte sie entsetzt.
Das schöne Mädchen lächelte traurig.
„Ich ließ mich schlagen... Dreimal schlug er zu... Dann wandte er sich ab und ging weg.“
„Und dann?“
„Es war schlimm... Von da an lebte er in einer Mischung aus Vorwurf und Rückzug. Ich konnte ihm nicht erklären, dass ich es nicht wegen ihm tat – dass ich es trotz ihm tun musste... Er glaubte nicht, dass ich ihn trotz allem liebte. Dass ich meine beiden Eltern trotz allem liebe... Er verstand nicht, wie unendlich schwer es auch für mich war... Ja, auch meine Eltern verstanden mich nicht – und ich konnte ihnen nicht helfen...“
„Und jetzt?“
„Jetzt ist meine Mama so weit, dass sie sich trennt. Sie konnte einfach nichts mehr tun. Und ich auch nicht. Wir –“
Das schöne Mädchen begann zu weinen.
„Wir haben es immer wieder versucht! Aber – wir konnten – Papa – nicht helfen!“
Es schluchzte auf.
„Mein armer Papa...!“
Jenny, das sonst immer fröhliche Mädchen, legte voller Mitgefühl seinen Arm um Julia. Und auch alle anderen Mädchen waren, obwohl sie an ihrem Platz blieben, innerlich ganz bei dem weinenden Mädchen. Sie hatte so etwas noch nie erlebt – und war selbst zutiefst betroffen, fühlte selbst Tränen in sich aufsteigen...
Die Mädchen ließen der weinenden Julia alle Zeit der Welt, und Jenny strich ihr sanft über den Rücken, bis ihre Tränen wieder nachließen und schließlich versiegten.
Schließlich blickte das schöne Mädchen sie mit verweinten Augen an und sagte:
„Das ist unsere Geschichte, Liane... Jede von uns hat eine andere...
Ich ... konnte meinem Papa nicht helfen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf... Nur gehen lassen musste er mich. Auch ich muss hier sein... Und irgendetwas in ihm versteht das auch, ich weiß es.
Nur ist er mit allem so hilflos, sogar mit sich selbst. Es ist alles so traurig... Aber das ist die Welt. Und sie darf nicht so bleiben, Liane, sie wird nicht so bleiben... Deswegen sind wir da...“
Die letzten beiden Sätze dieses leidgeprüften Mädchens erhoben sich wie ein strahlend schöner, sanfter Phönix aus allem Dunkel...
Es war der Kreis der Hüterinnen... Man sah es in den Augen jedes einzelnen Mädchens. Und aus den himmelblau sanften Augen dieses Mädchens leuchtete diese Wahrheit in diesem Moment zugleich im Namen aller...
*
„Komm, Liane“, sagte nun Lisa, die Älteste, die aufstand und sie mit einer lieben Geste einlud, ihr zu folgen. „Ich zeige dir unser Reich – und dabei können wir gleich einmal einen Tee kochen.
Hast du eigentlich auch Hunger?“
„Nein – ich hab noch im Zug gegessen.“
„Gut, dann isst du einfach mit uns Abend, später.“
„Ja...“
Während sie die übrigen Mädchen in dem großen hellen Wohnraum zurückließen und Lisa offenbar den Weg zur Küche einschlug, kamen sie an weiteren Zimmern vorbei.
„Das hier sind unsere Schlaf- und Arbeitszimmer.“
Sie warf einen Blick in die kleineren Räume links und rechts. Auch sie waren schön hell. Auf dem Boden lagen jeweils zwei Matratzen, an der Wand standen Tische, darauf lagen Schulsachen und manchmal Bücher. Jedes der Zimmer war schön aufgeräumt. An der Wand hingen schöne Aquarelle mit Landschaftsbildern.
„Wer malt die Bilder?“, fragte sie bewundernd.
„Anna-Lisa...“
„Sie sind wunderschön.“
„Ja, das sind sie.“
Sie kamen in eine schön geschnittene, große Küche.
Während Lisa alles für eine große Portion Tee vorbereitete, sagte sie freundlich:
„Frag einfach, Liane. Alles, was du wissen willst...“
Wieder fühlte sie sich auf wunderbare Weise eingeladen. Wie war hier alles so besonders! Fast wurde man durch diese unglaublich warme Aufnahme wieder umgekehrt befangen. Man wusste gar nicht, wie man das alles annehmen sollte...
Zögernd fragte sie:
„Wem ... wem gehört das alles? Wie wohnt ihr hier? Du hast gesagt, Anna-Lisa kommt von hier? Gehört die Wohnung ihren Eltern?“
„Nein. Sie gehört Freunden ihrer Eltern. Der Mann war früher ihr Patenonkel. Stell dir vor, sie waren von Anna-Lisas Idee so begeistert, dass sie diese tolle Wohnung für sie freigemacht haben, als wir dazukamen!“
„Freigemacht? Und wo wohnen sie jetzt?“
„Ganz in der Nähe. Zwei Straßen weiter. Ihre neue Wohnung ist auch entsprechend. Sie sind reich. Jemand, der reich ist und trotzdem besonders...“
„Und wann kamt ihr dazu? Kamt ihr alle gleichzeitig?“
„Nein. Zuerst kam Jenny. Das war im Januar, vor ungefähr zehn Monaten also. Anna-Lisa hatte eine Webseite gemacht. Sie bestand aus einer einzigen Seite. Dort suchte sie andere Menschen für ...
nun ja, sie nannte es einen ,Orden der rettenden Liebe’. Aber es war bereits die gleiche Idee! Und im Grunde sind wir auch das – ein Orden der rettenden Liebe.
Frag mich nicht, wie Jenny die Webseite gefunden hat. Sie suchte ein bestimmtes Zitat – und das stand auch auf Anna-Lisas Seite. Es war selten, und deshalb stand ihre Seite an siebter oder achter Stelle – und Jenny hat sie gefunden. Das sind so Dinge, durch die ich immer weniger an Zufälle glaube...“
Sie holte aus dem Wandschrank Tassen heraus und stellte sie auf ein Tablett.
„Und Marie und ich, wir fanden hierher, weil Anna-Lisa dann uns fand. Marie hat ein wunderbares Buch geschrieben. Es heißt: ,Die Engel und die Rettung der Sanftheit’. Marie erlebt die Engel, Liane... Sie sind bei ihr. Durch sie, durch Marie, bin ich ein völlig anderer Mensch geworden. Du hast keine Ahnung, wie ich früher war... Und ich habe wiederum Marie durch einen unglaublichen Zufall gefunden, der auch kein Zufall war, überhaupt kein Zufall...
– Aber dann gab es einen Mann, der für Maries Buch unglaubliche Werbung machte, und noch immer! Er ist noch viel reicher als die Streichers – das kommt gleich, ich muss dazu noch mehr sagen –, er ist so reich, dass er ganzseitige Anzeigen in den Zeitungen geschaltet hat, nur um auf Maries Buch aufmerksam zu machen! Und das hat Anna-Lisa dann natürlich gefunden – und sie hat Marie geschrieben, und Marie wusste sofort, dass sie hierher wollte. Sie dachte, sie müsste alles allein machen. Aber dann war Anna-Lisa da, und Jenny, und Marie schloss sich ihnen an, obwohl auch sie schon ,berühmt’ wurde durch ihr Buch.
Ja, und ich, ich bin mit Marie einfach mitgekommen. Von Anfang an habe ich ihr versprochen, ihr beizustehen, bei allem. Und ich habe ihr selbst so viel zu verdanken! Aber das sind alles immer wieder neue Geschichten. Du wirst sie nach und nach erfahren. Ich wollte ja nur deine Frage halbwegs beantworten... Marie und ich kamen also im August hierher, vor drei Monaten. Da war ich gerade mit der Schule fertig. Auch das war wie ein glücklicher Zufall...
Julia kam im Oktober, vor fünf Wochen. Sie hatte die ersten Berichte über uns mitgekriegt – und vorher sogar schon eine Sendung über Marie, die sie sehr berührt hatte. Und doch wusste sie von ihrem Buch nichts.
Und Madeleine, unser ,kleines Mädchen’, kam zu uns, weil man auch im Kinderdorf über uns sprach, wegen dieser ersten Berichte, als wir erst zu viert waren. Auch sie konnte davon nicht mehr abgebracht werden. Du siehst – wir mussten uns finden, alle...“
Lisa goss das kochende Wasser in einen großen Krug und setzte den Wasserkocher wieder ab.
„Und nun kommt Anna-Lisas Patenonkel wieder ins Spiel. Er hat sozusagen eine Art stellvertretende Erziehungsberechtigung für uns übernommen. Offiziell gesehen. Für mich natürlich nicht, ich bin ja schon neunzehn. Aber für Jenny, Julia und Marie. Für deren Eltern hat er jeweils einen kleinen Vertrag unterschrieben, und sie haben ihm gewissermaßen einen Teil der Verantwortung übertragen. Es ist eigentlich sehr gut geregelt – und Jennys Eltern sind einigermaßen beruhigt gewesen. Maries Eltern sowieso – Marie hatte ja noch ganz andere Dinge vor, und dann wäre sie ganz allein gewesen! Aber für Madeleine sind Cornelius und Sieglinde – so heißen Anna-Lisas Patenonkel und seine Frau – wirklich die Pflegeeltern geworden. Das musste ganz klar geregelt werden und wurde es auch. Sie kam auch im Oktober, wenige Tage vor Julia. Das war erst ,zu Besuch’. Wirklich offiziell ist das alles erst seit letzter Woche. Das haben wir auch groß gefeiert. Na ja, was heißt groß...“
Lisa lächelte ihr zu.
„Gehen wir wieder rüber?“
„Würde ... würde dieser Cornelius dann auch für mich ... so eine...“
Lisa lächelte.
„Du brauchst keine Angst zu haben, Liane... Erstens ist er absolut nett und unkompliziert. Zweitens lässt er uns vollkommen in Ruhe.
Er kümmert sich um alles, wenn es sein muss – aber ansonsten kommt er nur einmal pro Tag nach dem Abendessen vorbei und fragt, wie es uns geht, ob wir etwas brauchen und so weiter. Es ist fantastisch. Wir sind wirklich ein Orden, Liane! Vollkommen frei... – Cornelius ist eigentlich nur dafür da, damit sich die Welt da draußen nicht wundert. Immer wenn eine komische Frage kommt, ist klar: Da ist jemand, der sich kümmert... Und, ich meine, selbst Jenny und Julia sind schon fünfzehn! Es ist doch absurd, wie man behandelt wird, solange man noch nicht erwachsen ist. Aber die Welt ist absurd – wir wollen gerade erreichen, dass die Welt erwachsen wird. Wie alt bist du, Liane?“
„Ich bin auch fünfzehn...“
„Wir sind erwachsener als alle anderen, Liane, glaub mir. Es ist wirklich unglaublich. – Aber komm, lass uns gehen. Du kannst trotzdem weiter alles fragen, was du wissen willst... Wir sind dafür da, alle deine Fragen zu beantworten...“
„Danke, Lisa... Ihr seid alle so nett...“
Wieder sah diese junge Frau sie mit großer Wärme an.
„Wir sind die Hüterinnen, Liane...“
*
Sie gingen zusammen wieder in das Wohnzimmer. Lisa nahm das Tablett mit den Tassen, und sie nahm den großen Krug.
Als alle Mädchen Tee hatten, fragte Jenny:
„Und, Liane – willst du uns weiter fragen, oder willst du von dir erzählen...?“
Wieder fühlte sie sich unsicher. Es war schwierig für sie, im Mittelpunkt zu stehen.
„Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, Liane...“, sagte nun Marie – sie kniete noch immer und hatte diese unglaublich sanfte, liebe Stimme. Alle hatten das, aber bei ihr war es besonders. „Du bist bei uns unendlich willkommen. Sag uns einfach, wenn dir etwas auf der Seele liegt...“
„Ihr seid alle so nett...“, sagte sie berührt. „Ich ... bin das gar nicht gewohnt... Und ... ich will auch nicht so im Mittelpunkt stehen...“
„Das verstehen wir...“, sagte nun Anna-Lisa. „Aber du darfst dich ganz angenommen fühlen. Und ... dann muss man eine Weile im Mittelpunkt stehen. Denn wir sind neu für dich – und du bist neu für uns. Für dich stehen wir sozusagen alle im Mittelpunkt, als viele, als fünf auf einmal. Und für uns alle stehst du im Mittelpunkt, für jede Einzelne von uns und auch für uns alle fünf. Aber wie sollen wir dich sonst aufnehmen? Wie sollst du dich sonst wirklich angenommen fühlen? Du bist im Moment Mittelpunkt – und das ist etwas sehr Schönes. Für alle von uns.“
„Danke...“, sagte sie sehr berührt. „Ihr seid so ... ganz anders als alle anderen Menschen. Es ist so wunderschön bei euch...“
Sie dachte einen Moment nach. Da war diese Frage von Jenny gewesen.
„Ja“, sagte sie dann. „Ich würde gerne noch weiter fragen...“
„Dann tu es...“, lächelte Anna-Lisa.
„Wie lebt ihr? Ich meine ... was macht ihr nach der Schule? Macht ihr alles zusammen?“
Die Mädchen sahen einander an. Dann sagte Julia:
„Ja, wir machen sehr vieles zusammen. Wir empfinden unsere Aufgabe als eine heilige. Wir versuchen auch ... immer wieder, alles so zu tun, damit es genau so sein kann. Wie lange hast du Zeit, Liane?“
„Ich – bis morgen Abend. Warum?“
„Weil ... wir die wichtigsten Dinge nicht einfach so erklären wollen. Es ist nicht etwas, was man einfach so ,sagen’ kann. Man kann es schon – aber dann ist es schon nicht mehr dasselbe. Es würde einen auch viel zu sehr ,überfallen’, wenn man es einfach so gesagt bekäme. Wenn jemand zu uns kommt, um uns kennenzulernen, und auch wir spüren, wie richtig es sich anfühlt, dann ist Eine von uns ganz für ihn da, um ihm alles in Ruhe zu beschreiben – alles, was er wissen will. Abends, beim Schlafengehen... Du siehst ja, wir schlafen zu zweit. Jetzt bist du das siebte Mädchen bei uns – und du darfst später sagen, mit welcher von uns du schlafen möchtest, damit ihr noch in Ruhe über ganz vieles sprechen könnt, allein und nah beieinander...“
„Aber...“, wandte sie befangen ein, „ist das nicht komisch ... für diese Eine? Vielleicht will sie das gar nicht...“
„Liane...“, sagte nun Jenny. „Dieses Wort gibt es bei uns nicht.
Nicht, weil es verboten wäre, sondern weil wir das nicht kennen.
Wir sind alle füreinander da. Immer. Und wir wollen das. Du kannst uns vollkommen vertrauen, Liane. Jede von uns wäre gern für dich da – das kannst du uns wirklich glauben. Und du wirst es auch merken. Merkst du es denn nicht jetzt schon?“
„Doch...“, sagte sie beschämt. „Ich kann es nur fast gar nicht glauben. Es ist so ganz anders als alles...“
„Wir sind die Hüterinnen, Liane“, sagte Jenny feierlich.
„Was bedeutet das eigentlich?“, fragte sie fast ehrfürchtig. „Was genau hütet ihr?“
„Alles“, sagte Anna-Lisa nun. „Alles, was die Menschheit nicht mehr hütet – oder vielleicht noch nie wirklich gehütet hat. Wir sind Hüterinnen der Liebe...“
„Wir sind Hüterinnen der Sanftheit“, sagte Marie.
„Wir hüten die wahren Träume und die wahren Hoffnungen der Menschen“, ergänzte nun Jenny.
„Wir hüten das Zusammenleben mit den Engeln“, sagte Lisa, indem sie kurz auf Marie blickte.
„Wir sind Hüterinnen von Glauben und Vertrauen“, sagte Madeleine, die Jüngste von allen. Auch sie wirkte schon so unglaublich reif, nicht erwachsen, eher leuchtend, mit einem ganz reinen Herzen...
„Wir hüten“, sagte nun Julia als Letzte, „auch das Leid der Menschen. Wir sind Hüterinnen des Leides – und des Mitleides...“
„Das Heilige“, sagte Marie, „Liane – wir hüten das Heilige... Das, was nie verlorengehen darf...“
„Die Hüterinnen...“, wiederholte sie leise, nun wirklich ehrfürchtig.
„Der Kreis der Hüterinnen...“
„Ja“, sagte Julia. „Wir tun alles dafür, um es sein zu können. Und wir sind es. Aber jetzt erzähle uns bitte auch von dir, Liane. Wir wollen dich auch so gerne kennenlernen. Und so wirst du dich zugleich immer mehr aufgenommen fühlen. Denn wir nehmen dich an, wie du bist. Erzähle einfach, wer du bist ... wie du bist und was dich hierhergeführt hat. Beginne, Liane, unsere Schwester bist du schon jetzt...“
Und überwältigt von der Wärme dieser Mädchen erzählte sie. Sie erzählte von ihrer Einsamkeit – ihrer Einsamkeit während all der Jahre, an die sie sich erinnern konnte. Von ihrer Liebe zur Natur.
Von der Sehnsucht nach anderen Menschen, die fühlten, was sie fühlte – und von ihren immer neuen Enttäuschungen, weil sie diese Menschen niemals fand, immer wieder nicht...
Sie erzählte von ihren Erlebnissen mit Gleichaltrigen, die genauso befremdend waren wie alle anderen. Von dem Interesse so manches Jungen an ihr – und von dem schlimmen Gefühl, dass es immer nur deswegen war, weil diese Jungen sie ,schön’ fanden, ohne das zu verstehen, was sie innerlich fühlte. Sie wäre vor all diesen Jungen am liebsten davongelaufen, aber das konnte sie nicht. Sie konnte es nur aushalten, dass sie inmitten all dieser Jungen und auch Mädchen ganz allein war.
Sie hatte noch nie so erzählt – und sie hatte auch gar nicht gewusst, dass sie so lange erzählen konnte. In jeder anderen Situation wäre es ihr schon unangenehm gewesen, auch nur ein paar Minuten etwas erzählen zu sollen. Nun erzählte sie ohne Ende, sie merkte es sogar, aber es machte nichts aus; sie fühlte sich ganz und gar angenommen – und so erzählte sie ihre ganze Seele...
Und zuletzt erzählte sie, wie sie von ihnen, den Hüterinnen, erfahren hatte und wie sehr ihr dies wie eine Erlösung erschienen war, der Beginn einer unendlichen Sehnsucht – und wie sie nicht anders gekonnt hatte, als hierher zu kommen, hierher, wo sie jetzt war...
*
Die weiteren Stunden waren wie im Fluge vergangen. Sie hatte sich von den Hüterinnen so herzlich aufgenommen gefühlt, dass es ihr wie ein Traum vorgekommen war. Noch wusste sie nichts von dem Zusammenleben, und doch hatte sie schon so viel erlebt, dass ihr Wunsch, sich ihnen anzuschließen, unendlich groß geworden war. Da sie aber Angst vor diesem Schritt hatte, gegenüber ihren Eltern, und dies gestanden hatte, erfuhr sie noch einmal viel von den Hintergründen der anderen Mädchen, die ihr damit Mut machen wollten – und ihr gleichzeitig ihr eigenes Wesen schenkten.
Es gab hier nichts anderes als tiefes Vertrauen, Jede vertraute Jeder, auch ihr vertraute jedes einzelne dieser Mädchen.
So fühlte sie sich bereits unsagbar erfüllt, als schließlich um acht Uhr Jenny zu ihr sagte:
„Jetzt ziehen wir uns zurück, Liane. Hast du eine von uns erwählt, mit der du heute Nacht schlafen möchtest? Sie wird dir noch mehr von uns erzählen...“
Die Erinnerung daran bereitete ihr wieder etwas Herzklopfen.
„Ist denn ... niemand dann ... ich meine...“
„Nein“, sagte Jenny lächelnd. „Keine Angst. Wirklich, Liane. Das gibt es bei uns nicht...“
„Ja“, erwiderte sie zögernd. „Gut... Ich ... ich würde dann gerne zusammen mit ... Julia schlafen...“
Sie hatte alle Mädchen unendlich tief in ihr Herz geschlossen. Aber dieses eine, das so wunderschön war und genau so, wie sie immer eine Schwester hätte haben wollen – was ihr auch vielleicht erst heute, jetzt, so klar wie noch nie wurde –, dieses eine Mädchen war unter all diesen besonderen Mädchen jenes eine, dem sie bis ans Ende der Welt gefolgt wäre...
Und wie pochte ihr Herz, als diese Julia ihr ein herzliches Lächeln schenkte.
„Gut...“, sagte sie warm.
Sie waren die ersten, die sich im Bad fertigmachen durften, zuerst Julia, dann sie. Während die anderen Mädchen ihr eine gute Nacht wünschten, folgte sie Julia mit einiger innerer Aufregung in eines der Zimmer.
„Mit wem schläfst du denn sonst...“, fragte sie befangen, noch immer sich leise auch wie ein Eindringling fühlend.
„Das erzähle ich dir gleich“, erwiderte Julia warm. „Lass uns erst einmal ins Bett gehen. Warte kurz...“
Sie ging an den Schreibtisch, entzündete ein Teelicht und stellte es zwischen die zwei Matratzen, die am Boden nur diese wenigen Zentimeter entfernt beieinander lagen.
„Kannst du das Licht ausmachen?“
„Ja.“
Sie ging die wenigen Schritte zur Tür und machte das Licht aus.
„Dann können wir uns jetzt umziehen, Liane...“
„Ja...“
Wieder machte es sie befangen, sich neben und zusammen mit diesem bildhübschen Mädchen umzuziehen, und doch hatte das Ganze in der nur von dem kleinen Flämmchen erhellten Dunkelheit einen eigenartigen Zauber.
Dann legten sie sich unter ihre Bettdecken und lagen einander schließlich gegenüber. Wie schön dieses Mädchen war! Was für schöne blaue Augen sie hatte, was für einen schönen Mund, und wie sehr dieses schulterlange blonde Haar – das sogar noch blonder war als ihr eigenes – zu ihr passte...
Wie erschauerte sie fast, als sie erkannte, dass sie diese Augen nun für sich hatte – und sie sie so warm anschauten! Julia lächelte.
„Also...“, sagte sie warm, wie vor einer langen Erzählung, ja, wie vor dem Beginn einer besonderen Einweihung...
Alles – das Kerzenlicht, die Dunkelheit, dieses wunderschöne Gesicht mit seinen blauen Augen, das sie sich längst immer mehr als Schwester wünschte, und der gedämpfte Tonfall des Mädchens –, dies alles übte einen unendlichen Zauber aus. Sie war so glücklich, und ihr Herz klopfte, selig, aber auch aufgeregt...
Und lächelnd fuhr das schöne Mädchen fort, und sie brauchten wirklich fast nur zu flüstern...
„Wir schlafen nicht immer gleich. Wir schlafen jeden Tag neu.
Marie, die heute mit mir geschlafen hätte, hat vorhin, als du deine Zähne geputzt hast, dieses Bett frisch für dich gemacht und schläft heute allein im Wohnzimmer. Bisher waren wir sechs – heute sind wir sieben! Wir schlafen immer zu zweit, aber es sind nie dieselben. Ich kann es nicht so gut erklären, Liane. Aber worum es geht, ist: Wir sind die Hüterinnen... Marie hat vorhin gesagt, dass wir das Heilige hüten. Anna-Lisa hat gesagt, dass wir die Liebe hüten. Aber ,hüten’ bedeutet etwas. Es geschieht nicht einfach so. Hüten ist eine ,Arbeit’, wenn auch eine unendlich schöne. Ich habe vorhin gesagt, wir tun alles dafür – alles, was wir können. Wir bemühen uns, herauszufinden, was wir alles tun können, um das Heiligste zu hüten...“
Die blauen Augen sahen sie an. Dann sprach Julia weiter.
„Und das ist Eines, was wir herausgefunden haben. Dass das Band der Liebe untereinander wächst, wenn man so zusammen ist wie jetzt... So nah... Und zu zweit, nur zwei... Aber dann, am nächsten Abend, wieder nur zwei, aber zwei Andere...
Wir arbeiten daran, dass wir alle uns unendlich viel bedeuten. Dass das gehütet wird. Es ist heilig, Liane... Es ist eine heilige Arbeit, und es ist überhaupt keine Arbeit, wie soll man es nennen?“
Sie verstand sofort, was Julia meinte. Schon diese ersten Sätze waren für sie eine unendliche Offenbarung. Sie hatte so etwas noch nie erlebt. Wie konnten diese Mädchen so etwas Heiliges versuchen? Wie hatten sie dies alles entdeckt? Ihr schwindelte vor der Reife dieser Mädchen. Heilige Hüterinnen...
„Ich weiß auch nicht...“, flüsterte sie zaghaft, als sei sie wirklich gefragt worden.
„Aber du verstehst, was ich meine?“, fragte Julia leise.
„Ja...“
„Ja...“, sagte nun auch Julia. „Wir wussten alle, dass du unendlich zu uns gehörst...“
Was sie im Herzen fühlte, war fast übergroß.
„Woher ... wusstet ihr das?“
„Man fühlt es einfach. Es ist so deutlich... Du gehörst einfach zu uns. Es gibt nicht das Kleinste, was dagegen steht... Du bist eine von uns...“
„Ich wäre es so gern...“
„Nein, Liane – du bist es, und du wirst es...“
Unendlich dankbar sah sie dieses wunderschöne Mädchen an. Wie glücklich konnte man sein?
„Ich erzähle dir weiter, ja...?“, flüsterte Julia behutsam.
Unendliches Glück strömte friedvoll durch ihren Körper. Selig nickte sie...
„Ich bin erst seit fünf Wochen hier, seit Mitte Oktober. Aber fünf Wochen, Liane, fünf Wochen... Sie haben mein Leben verändert, jeder einzelne Tag hier. Es ist so einzigartig, so unbeschreiblich.
Ich habe etwas gefunden, was ich immer gesucht habe. Man kann es nicht einmal beschreiben, es gibt kein Wort dafür... Aber – man kann es fühlen.“
Voller Vertrauen sah dieses wunderschöne Mädchen sie an. Wie konnte ein Mädchen nur so schön sein? Sie war die wunderschönste ältere Schwester, die sie sich wünschen konnte. Dabei konnte sie nur wenige Monate älter sein – und doch bewunderte sie sie unendlich, mit tiefer Liebe.
„Man kann fühlen, was hier passiert...“, wiederholte Julia. „Wochenlang tat es einfach weh – vor Schönheit! So sehr fühlte man, dass hier das war, was man immer gesucht hatte. Man hatte es kaum gewusst, aber – aber jetzt weiß man es.
Immer habe ich das gesucht. Warum verstehen sich die Menschen so wenig? Warum tun sie sich so vieles an? Warum ist alles so, wie es ist? All diese Fragen hatte ich, und auch das tat weh. Aber auch das wusste ich erst hier wirklich – dass ich all diese Fragen so sehr hatte. Man merkt eigentlich erst an der Erlösung ganz, woran man so lange gelitten hat...
Aber ich wollte sagen, was man fühlt... Man kann es eben nur fühlen, Liane! Und doch möchte man es so gerne ausdrücken, in Worte fassen... Aber eben das hier – dass wir so jetzt hier daliegen und uns alles erzählen können und uns ganz vertrauen und auch fühlen, dass wir uns vertrauen können –, das ist es, das alles. Es geht noch viel weiter, so weit...“
Und mit diesen wunderschönen, reinen blauen Augen sagte Julia nun:
„In Wirklichkeit verdanken wir so vieles davon Marie. Sie hat uns so viel beigebracht – und tut es immer weiter...“
Sie war irritiert. Diese schönste und reinste der Hüterinnen wies auf das andere Mädchen hin? Natürlich, von ihr ging etwas Besonderes aus. Die Wärme, mit der sie gesprochen hatte... Und was war mit den Engeln? Mit ihr war ein Geheimnis verbunden...
„Ja...“, flüsterte Julia noch einmal andächtig. „Wir verdanken das alles eigentlich Marie... Sie ist eigentlich unsere Lehrerin...“
In ihr sträubte sich etwas gegen dieses Wort. Sie wollte keine Lehrerin haben. Aber das schöne Mädchen, das ihr so nah gegenüberlag, schien ihre Gedanken zu erraten. Leise besorgt, und doch zugleich unendlich mild sagte sie:
„Du darfst nicht schlecht davon denken, Liane. Das ist dann meine Schuld. Ich bin dann ... ganz unfähig, es zu erklären... Aber es ist wirklich so. Wenn du sie kennenlernst, wirst du nichts anderes mehr wollen, als von ihr zu lernen. Dass wir jetzt so beieinander liegen dürfen, das ist auch durch sie. Wie kann man denn nur auf eine so wunderschöne Idee kommen? Man muss sich trauen, auf so etwas zu kommen! Aber ich muss es doch noch sagen, bevor ich abschweife. Das, was man so sehr fühlt, Liane... Was ist denn das...?“
Wieder hatte sie kurz das Gefühl, dass sie die Frage beantworten sollte. Aber das sollte sie gar nicht. Sie sollte nur mitfühlen... Immer lieber wurde ihr die Art dieses Mädchens, sie fühlte sich so sehr zu ihr hingezogen, so sehr mit ihr verbunden, es war so schön...
„Es ist Liebe, Liane. Aber wer versteht das? Marie sagt immer: das Liebhaben. Ist das nicht ein wunderschönes Wort? Und sie sagt auch, es ist das Geheimnis der Sanftheit... Aber ich will nicht zu viel sagen. Ich kann es gar nicht so gut wie sie. Und man soll auch nicht einfach darüber reden. Man soll es ja gerade fühlen. Wenn man es fühlt, dann weiß man es auch... Aber das meine ich, Liane – das ist es, was so weh tut. Weil es so wunderschön ist. Weil man es jetzt nicht mehr suchen muss. Weil es jetzt da ist, mitten unter uns ist es da...
Das Liebhaben... Das Wunder... Es ist ein Wunder...“
Die blauen Augen sahen sie auf einmal etwas unsicher an.
„Erzähle ich ... kannst du ... kannst du verstehen, was ich sage?“
Die Unsicherheit des von ihr so verehrten Mädchens ließ sie leise erschrecken.
„Doch...“, stotterte sie, selbst verwirrt über die Fülle der in ihr lebenden Gefühle.
Es war alles so neu – und doch hatte sie alles so sehr so ähnlich gefühlt wie dieses Mädchen. Es war, wie wenn dieses wie eine große Schwester auch alles so erlebt hatte... Und nun war für sie alles neu, und Julia war schon fünf Monate weiter, war dennoch die Schönste und Zarteste der Hüterinnen...
„Du brauchst keine Angst zu haben, Liane...“, sagte Julia nun mit unendlicher Wärme. „Du kannst auch immer erzählen, wie es dir gerade geht. Auch wenn du vorhin schon so viel von dir erzählt hast, was sehr, sehr schön war. Du bist kein Gast und sollst keiner sein. Du sollst auch nie denken, dass das, was du zu sagen hast, nicht so wichtig wäre. Ich kenne diese Angst. Was man kennt, bemerkt man auch bei anderen. Wir brauchen diese Angst hier nicht, Liane... Wir können uns alle völlig vertrauen – und wir können uns alles anvertrauen. Und das sollen wir auch. Denn das ist das Geheimnis. Sich ganz einander anzuvertrauen.
Marie hilft uns immer wieder, in dieses Erleben zu kommen. Und sie kommt dann auch oft auf die Worte, die seltsamen, wunderschönen Zusammenhänge der Worte. Anvertrauen... Was für ein schönes Wort! Aber man muss sich trauen... Und dann entsteht etwas... Früher traute man sich – und war dann verheiratet! Trauung. Vertrauen... Anvertrauen... Was für schöne Worte! Und ich glaube, auch Treue kommt daher... Kannst du das Geheimnis nicht fühlen, Liane...? Das ist das Geheimnis... Das ist das Geheimnis der Sanftheit, des Liebhabens. Dieses wunderschöne Sich-Anvertrauen... Und diese Treue ... damit auch der Andere sich traut...
Ach, ich weiß nicht, ob du mich verstehen kannst!“
Sie war so überglücklich über all das Kostbare, das ihr hier begegnete, dass sie ohne jede Überlegung nur aus dem Herzen heraus sofort sagte:
„Doch! Doch, Julia! Ich verstehe dich... Es ist schön alles... Ich ...
ich bin so glücklich, hier sein zu dürfen. Ich bin auch ... so glücklich, dass ich jetzt mit dir hier sein darf...“
Die wunderschöne Hüterin lächelte bezaubernd. Wie konnte ein solches Mädchen keinen Freund haben? Aber diese Frage gehörte jetzt nicht hierher, sie war nur wie von selbst aufgestiegen...
„Ja, ich auch. Es ist eine schöne Ehre, mit jemandem wie dir die erste Nacht verbringen zu dürfen...“
„Was? Nein, andersrum!“
Julia lächelte.
„Es schließt sich doch gar nicht aus, Liane... Das gerade ist es doch... Dass das, was wir hier lernen, weil es in uns entsteht, immer alles einschließt. Gegenseitig ist. Ehre ist etwas ganz Besonderes. Aber für die Liebe ist alles immer wieder etwas Besonderes. Gerade das wollen wir den Menschen bringen... Aber zuvor müssen wir es bis in alle Tiefe selbst lernen. Keine Angst zu haben, sondern nur reine Liebe. Keine Angst, nur reines Vertrauen, reines Anvertrauen...
Es ist alles besonders, Liane... Und das zu sehen, bedeutet, eine Hüterin zu werden...“
Die wunderschönen blauen Augen sahen sie an.