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Einmal rund um Deutschland, immer der Grenze entlang, mal auf deutscher Seite, mal bei den Nachbarn im Ausland, nicht per Auto oder Interrail, sondern mit dem Rad, mehr als 5.000 Kilometer - eine Sehnsuchtsreise. In 64 Tagen umrundet Kai Althoetmar allein und mit wenig Geld auf einem klapprigen Trekkingrad das gesamte deutsche Grenzland, erkundet unsere neun Nachbarländer und streift durch deutsche Geschichte und Kultur. Ein Stück Zeitgeschichte, erfahren in neun Etappen über sieben Jahre hinweg, frei von starren Plänen und Gruppenzwängen, abseits der Komfort- und Wellnesszonen. Ein persönliches und berührendes Heimatbuch, voller Stories und Miniaturen, melancholisch, nachdenklich, zugleich voller Situationskomik. Ein Reisebuch, das Leser und Leserinnen mitnimmt, Deutschland und seine Ränder zu erkunden. - Auch als Taschenbuch erhältlich.
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Inhaltsverzeichnis
Deutschlandreise
Kai Althoetmar
Mit dem Rad einmal rund ums Land
Impressum:
Titel des Buches: „Deutschlandreise. Mit dem Rad einmal rund ums Land“.
Auch als Taschenbuch erhältlich.
Erscheinungsjahr: 2018.
Inhaltlich Verantwortlich:
Edition Kultour
Kai Althoetmar
Am Heiden Weyher 2
53902 Bad Münstereifel
Deutschland
Alle Texte: © Kai Althoetmar.
Titelfoto: Deutschlandkarte, © Mark_K_, CC BY 2.0 .
Verlag und Autor folgen der bewährten und bis 1996 allgemeingültigen deutschen Rechtschreibung.
Etappe 1
25.09.2002: Köln - Nideggen
Es regnet seit Stunden. Kaltes Regenwurmwetter. Das hört so schnell nicht auf. Morgens um sieben wollte ich weg, jetzt ist es 11.15 Uhr. Eine letzte Umarmung, das letzte Stück Wärme für heute, die kugelrunde Kerstin winkt, dann rollt mein Trekkingrad, dreizehn Jahre alt, bepackt mit erdbraunen Radgepäcktaschen im 1950er Jahre-Stil und einem wasserfesten Schülerrucksack vom Discounter. Ab um die Ecke, raus aus Köln-Ossendorf, Richtung belgische Grenze, kein Nachbar stellt neugierige Fragen.
Erster Halt schon nach zwei Kilometern. Köln-Bickendorf. 1970er Jahre-Wohmaschinen, „Mc Donald's-Drive-In“, Schrottautohändler. Die Ringstraße heißt Äußere Kanalstraße. Die Autos dröhnen, stinken, spritzen Dreckwasser. Am Maarweg stehe ich verloren unter einer Eisenbahnbrücke. Von Nieselregen ist jetzt keine Rede mehr. Der alte Schleusenwart dort oben läßt jetzt alles runter. Ich nehme es auf mich. Schon am Militärring schwillt der Sturzbachregen wieder zum Nieselrinnsal ab.
Am Straßenrand der kölnweiten Ringstraße pflügt eine Schafherde durch Grasstreifen, Wald und Gebüsch, quert Straße und Radweg. Rechts reiht sich ein Fußballascheplatz an den nächsten. Müngersdorf ist Kölner Fußballland, rechterhand geht es zum 1. FC Köln. Das alte Müngersdorfer Stadion ist eine Bauruine, bald soll es „Rhein-Energie-Stadion“ heißen, der örtliche Stromversorger läßt klingende Münze springen. Der Kölner Klüngel hält nicht nur im Karneval zusammen. Die luxussanierte WM-Arena heißt Wacker Burghausen und LR Ahlen willkommen. Als ich zuletzt Ende der 1980er Jahre beim FC war, traten noch Juventus Turin und Bayern München an, und als gastronomischer Höhepunkt genügte „Schlömers Bockwurst“.
Der Hausfrauenstrich auf den Militärringparkplätzen ist verwaist. Als ich vor zehn Jahren während meiner Ausbildung an der Kölner Journalistenschule jeden Tag von Köln-Nord nach Köln-Süd und wieder zurück radelte, standen hier noch leicht betagte, mollige Damen rheinischen Schlages.
Ich biege mit der Eisenbahnlinie zum Umschlagbahnhof Eifeltor Richtung Brühl ab. Wie voreilig - der Radweg endet bei einem Tierasyl. Ein paar Dutzend Hunde haben hier im Grüngürtelzwinger Gnade vor dem Tod durch Einschläferung gefunden. Nun springen sie kläffend gegen die Zäune. Entsorgte Kreaturen, neurotisch geworden, eines Tages vielleicht gut für eine Bild-Story. Zurück zum Militärring, über die Brühler Straße dann nach Brühl. Hier stehen jetzt die Ladies, jung und blondiert, vielleicht aus der Ukraine oder Bulgarien, alle mit Caravan, Marke VW, „Volkswagen“ eben.
Vor mir liegt die Hochhaussiedlung „Kölnberg“ mit ihren phallischen Bausünden, ein Monster von Wohnwabe, die letzte Stufe vor der Obdachlosigkeit. Die Verantwortlichen, die sich dieses Sozialghetto ausgedacht haben, sind noch auf freiem Fuß. Kölner SPD-Mafia. Links und rechts rauchen die Schlote von Hürth-Knapsack und Wesseling, auf dem Feld vor den Häusern der Abgehängten stakst ein Graureiher. „Aldi“ und „Plus“ haben sich wie Blutegel an das Wirtstier „Kölnberg“ geheftet. Am Hähnchen-Grill stehen keine Kunden.
Zwei Straßen weiter, im Schatten der Wolkenkratzer, entdecke ich Fachwerkhäuser. Zwei adrette Bubis in dunklen Anzügen kommen mir entgegen. Die kenne ich doch! Die sind von den Zeugen Jehovas und haben mich vor ein paar Wochen zu Jehova bringen wollen, als ich alkohollüstern vor einem Biergarten stand und auf Kerstin wartete. Ich ließ sie abblitzen.
Brühl-Ost. Industrieland, ein monströses Eisenwerk. „Aral Store“, „Sunpoint“, der nächste „Mc Donald's“. Grauer Himmel, kurze Regenpause. Auf der Straße eine Endloskarawane rollenden Blechs. Ein Estrichunternehmer hat ein Schild vor seinen Betrieb gestellt. „Wir stellen ein: - .“ Im Park des Brühler Barockschlosses mache ich Rast. Das Rad lehne ich an die Parkbank, auf der ich sitze, und schäle hartgekochte Eier. Plötzlich und völlig erwartet kommt auf einem schwarzen Kinderklapprad ein Uniformierter mit Kippe im Mund angefegt. Ob ich das Schild nicht gelesen hätte? „Fahrräder verboten!“ Das Männlein vor mir trägt ein blaßgrünes Hemd mit dem NRW-Wappen, die Tracht der Knastwärter. Warum er selbst denn hier radfahre, frage ich zurück. Er versteht keinen Spaß und droht mit der Polizei. Wer ihn denn für seine Wichtigtuerei bezahle, will ich schnell noch wissen. „Das Land - und jetzt raus hier!“
Über die B 51 durch den Staatsforst nach Weilerswist. Erftstadt-Friesheim. Vorläufiges Ende der Regenzeit. Ich mache einen Abstecher nach Niederberg. Ein Voreifel-Kuhdorf. 1988 habe ich hier auf einem alten Fachwerkhof die Sommerferien verbracht. Pfarrjugend-Sommerfreizeit. Landluft. „Thematik-Einheiten“ mit dem Diakon. Augen und Ohren hatte ich nur für Monika. Das eintönige Essen peppten wir mit „Speed“-Schokoriegeln von „Aldi“ in Euskirchen und Pommes-Majo vom Grillimbiß in Friesheim auf. Die Wiese neben dem Hof, die wir damals zum Fußballspielen sensten, ist heute eine Pferdekoppel. Ferienlager gibt es hier keine mehr. Das Haupthaus des Hofs besteht jetzt aus drei Eigentumswohungen.
An der Bushaltestelle vor dem Hof warten Jugendliche auf den Bus 807 nach Lechenich. Alles wie damals. Einen Moment schließe ich die Augen und bin wieder neunzehn. Sitze knutschend mit Monika vor dem Scheunendachboden in einem ausgebauten Autosessel, verschlinge „Speed“, verschlafe die „Thematik“-Stunde. Der Film reißt ab, Ende der Andacht. Der Tante-Emma-Laden im Ort hat zugemacht, und am Ortseingang entstehen neue Häuser. Ein Elternpaar begrüßt die Geburt seines Sohnes Ben mit einem bunt bemalten Bettlaken über der Tür. Bald können Kerstin und ich auch ein Laken aus dem Fenster hängen. Es ist 15.30 Uhr, die Sonne scheint kurz durch.
Dann wieder Regen auf offener Landstraße. Zülpich. Hier haben schon die Römer gebadet. Unter dem mittelalterlichen Stadttor stelle ich mich unter. Ein paar Plakatvisagen leisten mir Gesellschaft: Es ist Bundestagswahlkrampf. Parteien zur Qual. Andere Plakate werben für die Kirmes im Ort. Am Ortsende dann noch mehr Plakate: „Erotikmesse“ in Düren. „21 Sexshows auf drei Bühnen“. Könnte man nicht die ganzen Kirmes-Sex-Wahlwerbeveranstaltungen für die TV-Nation zu einer Zentralmesse zusammenlegen?
Die Beine werden schwer, die Landschaft hügelig. Mir fehlt die Puste. Die paar Fußballspiele in Kölns „Bunter Liga“ statten niemanden mit Kondition aus. Auf den Abfahrten bringt es mein Sattelschlepper auf 34 km/h. Die Kilometer hat der Tacho auch gezählt: 72 bis Nideggen. Der Ort ist durch und durch wanderromantisch: Burgruine mit Blick über die Eifelhöhen und ins tiefe Rurtal, romanische Basilika, alte Stadtbefestigung, Fachwerkhäuser.
Die Jugendherberge ist proppenvoll. Der Herbergsvater gibt mir einen Tip: den Reiterhof „Hubertus-Mühle“ der Familie Schwoll in Nideggen-Brück, achtzehn Euro das Zimmer mit Frühstück. Es pißt wieder, ich schlingere die letzten Kilometer durch die Serpentinen des Rurtales zum Pferdehof. Andrea, die Tochter des Hauses, bringt mir ein Bier aufs Zimmer. Sie kümmert sich tagsüber um die fünfzehn Pferde, der Vater um Verwaltung und Instandhaltung des Hofs. Das Viererzimmer, Typ Schullandheim, habe ich für mich. Auf der Heizung dampfen meine nassen Socken.
26.09.2002: Nideggen - Mützenich
Frühstück im Wohnzimmer der Familie Schwoll unter Zinntellern, Bierkrügen, Pferden in Öl. Graupapagei Jacky wünscht ununterbrochen „Guten Morgen!“. Vater Schwoll schimpft über die Behörden, die nichts gegen den Müll unternehmen, den Autofahrer auf sein Grundstück werfen. „Die Straßenmeisterei pflügt den nur um.“ Im Sommer will er einen Kutschendienst von der Bahnstation in Nideggen-Brück nach Nideggen-Zentrum einrichten. Wandernde Senioren sind hier ein wichtiger Arbeitgeber.
Um zehn nehme ich die Strecke nach Schmidt in Angriff. Fünf Kilometer bei Dröppelregen bergauf. Ich schiebe, den Blick auf den Rand der Landstraße geheftet. Schmidt lasse ich links liegen. Auf fünfhundert Höhenmeter geht es. Der Wald heißt laut Karte „Der Buhlert“, einige Kreuze markieren Friedhöfe. Dauerregen. Links und rechts nur Wald, kein Unterstand, über meine rotblaue Regenjacke rinnt das Wasser, die Cordhose hat sich vollgesogen wie ein Schwamm. In einem hölzernen Busunterstand in Simmerath-Strauch wechsele ich fast alle Klamotten und verwarte Stunden. Mir ist so kalt, daß ich sechs Baumwoll-Lagen übereinander ziehe, Schlafanzugpulli inklusive - beliebter Obdachlosentrick im Winter. Danach Currywurst-Pommes in Simmerath am Einkaufszentrum. Simmerath, mon amour!
Die B 266 nach Imgenbroich ist regenfrei, dann kommt schon Monschau, vollgestopft mit Fachwerk- und Patrizierhäusern. Ich habe nur Augen für „Aldi“. Am Ortseingang leere ich vor dem Shoppingcenter eine Flasche Multivitaminsaft. Die Gasthöfe haben am Nachmittag noch zu oder sind ausgebucht. Weiter Richtung Grenze. In Mützenich, dem letzten deutschen Ort vor der belgischen Grenze, finde ich nach läppischen dreißig Kilometern Tagesleistung ein Privatzimmer bei einer rustikalen Omi mit Küchenschürze. 16,00 Euro kostet das Zimmer mit Blümchentapete und Nierentisch-Sessel inklusive Frühstück, Duschen macht 1,50 Euro extra, die gute Landluft ist gratis. Von wegen „Teuro“.
27.09.2003: Mützenich - St.Vith
Brötchen, Kaffee, Ei, Schinken in der guten Stube. Ich nehme auf der blitzblank polierten schwarze Ledergarnitur Platz. Mich interessiert immer das Bücherregal: Otti Schmitz schwört auf Konsalik und Utta Danella, dazu als Ratgeber „Zimmerpflanzen“ und das „Große Kreuzworträtsellexikon“. Sie ist ganz in ihre Morgenzeitung vertieft, also bleibt die Konversation auf ein paar Routentips beschränkt. 8.30 Uhr Abfahrt im Nebel.
Den Grenzübertritt verlege ich nach Süden. Es geht so hübsch den Berg hinunter, an Kuhwiesen, Höfen und einer Klosterruine vorbei, an Weilern mit Namen wie Weilersbroich, Platte Venn, Sonnentau, Leyloch, Richtung Kalterherberg. Manchmal sagen Ortsnamen alles.
Neblig und kalt ist der Morgen, die Kreisstraße habe ich für mich. Endlich keine Autos! Wer hat hier schon zu tun - auf der belgischen Seite ist nichts als das Venn, Hochmoorlandschaft, ein Naturschutzgebiet neben dem nächsten. Vor manchen Bauernhöfen und Vennhäusern stehen vier, fünf Meter hohe Hainbuchenhecken, die vor Wind und Schnee schützen. Kalterherberg. Vor einem Haus stellt ein Maler in einer Vitrine kleine Ölgemälde aus. Motiv: einsamer See mit Ruderboot. Mitten im Ort dieses Grenzörtchens steht ein Dom: der „Eifeldom“ von 1901. Bei Tante Emma tanke ich Apfelsaft.
Um 9.30 Uhr ist der Tour-Prolog beendet, die Grenzlandfahrt beginnt. Ein Schild erinnert an die deutsch-belgische Grenze. Niemand da außer mir. Talwärts geht es durchs autoarme Venn. Ich passiere einen Truppenübungsplatz mit Flugplatz. Belgische Rekruten üben im Küchelscheider Wald den Krieg gegen wen auch immer. Ein paar Kilometer weiter steht ein Panzer mitten im Kreisverkehr. Ein Andenken der Alliierten aus dem Zweiten Weltkrieg.
Der erste Ort: Sourbrodt, Provinz Waimes. Prompt bin ich schon im französischsprachigen Belgien. Die deutschsprachigen Enklaven liegen weiter nördlich in der Gegend um Eupen und weiter südlich um St.Vith. Sourbrodts alter Bahnhof ist verwaist.
Nach Süden! Robertville: Tavernen, Bruchsteinhäuser, „Frieterie“. Über den Lac de Robertville nehme ich die Staumauer. Die Wolkendecke hält. Burg Reinhardstein lasse ich links liegen. Die fünf Kilometer Abfahrt nach Malmédy entschädigen für die Eifelhöhen. Eupen-Malmédy - das klingt nach „von der Etsch bis an den Belt“. Reichsnostalgiker wären enttäuscht. Malmédy ist ein franko-belgisches Ardennen-Städtchen mit elftausend Einwohnern, in dem außer einem Gutteil der Tagestouristen so gut wie nichts mehr deutsch ist. 1815 bis 1920 war Malmédy noch preußisch, nach dem Ersten Weltkrieg ging Eupen-Malmédy 1920 an Belgien, Provinz Lüttich.
Im Restaurant „Petit Chef“ im Zentrum bestelle ich ein XXL-Thunfisch-Baguette mit Pommes und „Jupiler“-Bier und schaue dem Treiben im Stadtzentrum zu. Plötzlich glaube ich meinen besten Freund aus alten Tagen auf der Straße zu sehen, mit Rad und Radtasche. Wie in Zeitlupe sehe ich durch die Fensterscheibe einen Radfahrer müde vorbeifahren. Die athletische Figur, der gehetzte Blick, die blaue Baseball-Kappe, der ganze Typus, das war doch Markus! Mit Rad und Satteltasche! Verblüffung, Adrenalinstoß, Gedankengewitter. Muß der nicht seine Doktorarbeit schreiben? Radelt der jetzt auch durch Belgien? Minuten des Grübelns verstreichen, dann nehme ich die Verfolgung auf. Aber kein Markus in Sichtweite. Sollte er etwa auch gerade mit dem Rad in Malmédy angekommen sein? Wo würde er hin? Zur Touristeninformation! Aber dort ist er nicht. Auch in den Touristenrestaurants finde ich ihn nicht. Schade.
Eine halbe Stunde radele ich noch ziellos durch das Zentrum, da sehe ich das Phantom auf der anderen Straßenseite wieder: Es ist der Briefträger, mit Rad und Satteltasche, Markus ähnlich wie ein eineiiger Zwilling, nur etwas größer.
Wochen, bevor ich Vater werde, habe ich mich auf eine Fahrt durch die Vergangenheit begeben, nolens volens auch meiner eigenen, durch Höhen und Tiefen. Der Anstieg in die Bergdörfer um Malmédy ist ein einziges Kraxeln und Schieben und vertreibt die Wehmut mancher Erinnerung an diese Region. Von Bellevaux ist es wirklich eine schöne Aussicht auf die Ardennentäler. Auf den Bergkuppen durchströmt mich das Glück des Bergsteigers auf dem Gipfel. Der Kopf wird frei. Das könnte Freiheit sein. Mein Rad ist das schnellste Gefährt weit und breit, winzige Sträßlein von Kuhdorf zu Kuhdorf, die Sonne lacht. Das nächste Dorf heißt Reculémont, zu deutsch „abgelegener Berg“, das paßt. Ob ich hier länger als ein Wochenende glücklich sein könnte?
Nach ein paar Abfahrtskilometern spucken mich die Ardennen-bergdörfer unter einer Unterführung der A 27 wieder aus. Es bewölkt sich und nieselt, während ich über eine Nebenstraße nach Süden erneut deutschsprachiges Gebiet erreiche: Das Städtchen heißt Recht, die Nachbarorte heißen An der Mühle, Kaiserbaracke, Feckelsborn und Wieschen. Die eintönige 1970er Jahre-Reihenhausarchitektur spiegelt deutschen Vorortgeschmack wieder. Kilometerlang zieht sich die Abfahrt bei halsbrecherischem Tempo in Richtung Sankt Vith, dem südlichen Zentrum der Deutsch-Belgier.
Auf der Straße ist nur Deutsch zu hören, mit und ohne ostbelgischen Akzent. Die sichtbaren Unterschiede zu einer deutschen Kleinstadt muß ich suchen: Die Telefonsäulen sind türkisfarben statt mangenta, statt Kreuzungen gibt es an jeder Ecke Kreisverkehr. Die Hotels sind nicht billig. Auf zur Jugendherberge! Für 15,00 Euro bekomme ich als 33jähriger „Senior“ einen ganzen Trakt. Frühstück inklusive. Duschen auch.
28.09.2002-29.09.2002: St.Vith - Ennal
Kerstin kommt für das Wochenende nach Belgien. Um 10.30 Uhr passe ich sie am Ortseingang von Sankt-Vith ab. Die Sonne ist auch pünktlich. Wir packen das Rad ein und fahren in unserem alten Ford Fiesta nach Stavelot, zwanzig Kilometer nordwestlich von Sankt Vith. Im Zentrum reihen sich Gründerzeithäuser an mittelalterliche Fachwerkhäuser. Stavelot ist eines der frühesten Zentren der christlichen Kultur. Um 650 hat hier ein Heiliger namens Remaclus ein Benediktinerkloster gegründet. Teile der Abtei sind noch erhalten. In einer Dorfbäckerei kaufen wir handgemachte Waffeln mit Orangenfüllung und fahren zum Picknick ins Hohe Venn. Im Auto fliegt der Weg vorbei. Mir ist, als ob der Motor jeden geradelten Kilometer zunichte macht.
In Longfaye bei Robertville kommen wir bei Mireille Vandewalles Privatpension unter. Die 29jährige war gerade in Holland, um dort einen Sack Briefe aufzugeben, weil dort das Porto billiger ist. Sie fragt Kerstin zu ihrer Schwangerschaft förmlich Löcher in den Bauch. Sie hätte auch gern Kinder, aber sie glaubt es nicht mit dem Betrieb ihrer Pension vereinbaren zu können. Wir machen ihr Mut und fahren zum Abendessen nach Robertville in eine schnörkellose Taverne mit dem Namen „Le Gavroche“, der „Straßenjunge“. Kerstin hält „pâté“ für etwas Vegetarisches. Am nächsten Morgen sagt Mireille, daß sie auch ein Babybett hat. Wir versprechen wiederzukommen.
Wir fahren ins Hohe Venn nach Baraque Michel - ein an diesem Sonntag überfüllter Parkplatz mit Pommesbude auf der Landstraße zwischen Eupen und Malmédy. Links und rechts nur Moorlandschaft. Altweibersommer. Wir reihen uns in die Marschkolonnen ein. Im achten Monat schafft Kerstin noch klaglos zehn Kilometer durchs Moor.
Über Stavelot und Wanne geht die Fahrt nach Grand-Halleux. In einem Bauerndorf namens Ennal entdecken wir eine von zwei Dörflerinnen betriebene Kneipe, in der alles verhext ist. Stoffhexen, Hexenbesen, an den Wänden, an der Decke, über der Theke. Nachmittags hängen über der Theke außerdem die Männer des Dorfs ab, abends die Frauen. Kürbisse vor der Tür kündigen Helloween an. Der Kassettenrecorder spielt in einer Endlosschleife französische Chansons aus drei Jahrzehnten.
Wir bekommen ein kaltes Zimmer in einem Anbau auf dem Hof. Ein paar Hunde bellen wie verrückt, außer Kuhweiden gibt es hier eigentlich nichts. Auf der Straße fahren zwei Kleinkinder mit Affenzahn auf Dreirädern den Berg runter. Die Dachstube der Hexenkneipe wurde zum Kleinstrestaurant umgebaut. Zum „Jupiler“ gibt es grobe Bratwürste und Pommes, für Kerstin vegetarisches Pilzomelette. Die burschikose Bedienung hat mächtig einen im Tee. In jeder Stadt würde man sie feuern, hier auf dem Land nicht.
30.09.2002: Ennal - Schmitzdelt
Frühstück in der Kneipe: Croissaints, Kaffee, Käse, Marmelade, tausend Fliegen und eine verkaterte Hexe. Abschied. Das war das letzte Wochenende dieser Art zu zweit. Mich macht das melancholisch. Die Altweibersonne scheint schon früh. Ich winke vom Rad, als Kerstin hupend an mir über einen Hügel im Auto vorbeifährt. In Grand-Halleux spuckt mich die Bauernkreisstraße wieder aus, etwa fünfzehn Kilometer nordwestlich von St.Vith. Vielsalm. Stadt der Hexen. Richtung Süden rollt mein Rad über die Dörfer: Bovigny, Gouvy, Limerlé, verschlafene belgische Provinz. Der Himmel ist wolkenfrei, ein leichter Wind geht, die Kühe blicken neugierig. Indianersommerwetter. Um 12.45 Uhr bin ich in Luxemburg. Ein Grenzschild habe ich nicht gesehen.
Luxemburg ist mehrsprachig. Der erste luxemburgische Ort heißt wahlweise Hautbellain oder Oberblessingen. Weil es nach Süden bergab geht, folgt Basbellain (Niederblessingen). Hinter Troisvierges überwiegen wieder die deutschen Namen. Entlang des Flüßchens Woltz geht es gemächlich nach Clervaux (Clerf). Die Menschen hier sind freundlicher und aufmerksamer als in Köln. Der Postbeamte, bei dem ich Porto kaufe, ist zuvorkommend, die Freundlichkeit der Kellnerin nicht oder eben gut gespielt. Tagesgericht für 10,25 Euro: Erbsensuppe, Hühnerfrikassee, Pommes, Salat, ein Bier namens „Bollinger“. In der Zeitung steht: Bush droht dem Irak, Rot-grün will die Steuern erhöhen, Schalke verliert 1:2 in Bielefeld. Ist mir hier alles egal.
Über dem Stadtzentrum liegt das Clerfer Schloß. Vor dem Schloß stehen ein Panzer und ein Artilleriegeschütz aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein Museum, das „Musée de la Bataille des Ardennes“, erinnert an die Ardennenoffensive von Dezember 1944. Das ganze Museum, unterhalten vom Verein „Cercle d'Etudes sur la Bataille des Ardennes“, ist ein Tribut an die Alliierten. Schaufensterpuppen in Kriegsuniformen, Abzeichen, Waffenarsenale, Zeitungsartikel, Flugblätter, Fotos, Cola-Fläschchen und „Lucky Strikes“ von damals.
Ein Faltblättchen des Museums berichtet über das letzte große Aufbäumen der Hitler-Streitkräfte: „Am 16. Dezember 1944, um 5.30 Uhr, setzte schlagartig ein mörderisches Artilleriefeuer aus dem Westwall ein und belegte während einiger Stunden die amerikanischen Stützpunkte zwischen Echternach im Süden und Monschau im Norden mit einem Hagel von Geschossen aller Kaliber. Die Winterschlacht in den Ardennen, auch ‘Ardennenoffensive’ genannt, hatte begonnen. Sie sollte zu einer der blutigen Schlachten des Zweiten Weltkrieges werden, denn sie war die Verzweiflungstat eines schwer angeschlagenen Gegners, der noch einmal alle Kräfte zusammenraffte, um den Sieg zu erringen. Über Luxemburg, besonders über den Norden des Landes, brach eine der schwersten Katastrophen seiner Geschichte herein.“
Weiter lese ich: „In der Nacht vom 17. auf den 18.12.1944 wurde Clerf eingenommen; am folgenden Tage ging das Clerfer Schloß in Flammen auf. Am 19.12.1944 wurde Wiltz aufgegeben; zwei deutsche Panzerarmeen stürmten in Richtung Maas. Die Übermacht der Angreifer war erdrückend. Und dennoch: Die US-Soldaten hielten St.Vith bis zum 21. Dezember 1944. Die Verteidiger von Bastnach, seit dem 21.12.1944 völlig eingekesselt, leisteten heroischen Widerstand. Am 24. Dezember kam die deutsche Offensive bei Celles (Belgien) zum Erliegen. Am 26. Dezember durchbrachen die ersten Panzer der 3. US-Armee unter General Patton den Ring um Bastnach. Die Offensive war fehlgeschlagen.“
In dem Flugblatt heißt es weiter: „Erst nach Neujahr hatte Hitler den Befehl zum Rückzug gegeben. Aber dieser Rückzug vollzog sich äußerst langsam und unter schweren Verlusten auf beiden Seiten. Während auf dem gesamten übrigen Kampfgebiet die Fronten beweglich waren und die Deutschen langsam zurückwichen, verkrallten sie sich auf den Öslinger Höhen längs der Straße Wiltz-Bastnach in den hartgefrorenen Boden und gaben keinen Zoll Erde ohne zähesten Kampf preis. Gegen diese Straße setzten die Ameri-kaner die stärkste Artilleriekonzentration des ganzen 2. Weltkrieges ein, hier erlitten sie ihre schwersten Verluste der ganzen Offensive. Die Bevölkerung der Höhendörfer Tarchamps, Doncols, Berlé, Nothum, Goesdorf, Dahl und Nocher lagen in einem Feuerhagel von über zwei Wochen, die weiten Wälder wurden zerfetzt, die Bauernhöfe fast alle ohne Ausnahme zerschossen oder verbrannt. Als letzte luxemburgische Ortschaft wurde Vianden am 12. Februar 1945 befreit.“
Ab Clerf muß ich strampeln, über Kilometer zieht sich die Straße hoch nach Marnach hin. Auf der anschließenden Serpentinenabfahrt nach Dasburg-Pont bremse ich fast ununterbrochen, komme trotzdem erst im Tal zu stehen. Das Flüßchen Our ist Grenzfluß, trennt Dasburg-Pont vom deutschen Dasburg.
Der Abend kommt, Gästezimmer und Hotels nicht. Auf dem Campingplatz in Kohnenhof bei Obereisenbach entdecke ich ein paar Blockhütten. Der Verwalter ist für einen Deal außerhalb der Geschäftsbücher und der Bürozeit zu haben: Für 25,00 statt 35,00 Euro vermietet er mir eine kalte Blockhüttenstube mit Küchenzeile, Tisch, vier Betten und mobilem Gasofen. Die Verwalterfrau zündet die Flamme über dem wummernden Gerät an, das rasch die einziehende Kälte in der Hütte vertreibt. Um zwei Uhr nachts mache ich aus Angst vor einem „lautlosen Gastod auf dem Campingplatz“ den wackeligen Ofen aus. Den Rest der Nacht friere ich erbärmlich.
01.10.2002: Schmitzdelt - Kanzem
Vor meiner Trapperhütte steht verführerisch ein Apfelbaum. Die Äpfel hängen zu hoch für mich. Mein Wurfgeschoß, ein nasses Handtuch, verheddert sich bald im Geäst, statt Äpfel von den Ästen zu lösen. Im Gasthaus tischt die Verwalterfrau das Frühstück auf, während die Glotze läuft. „Frühstücksfernsehen“ auf RTL-Niederlande. Radio Tele Luxemburg kehrt wie ein Bumerang nach Luxemburg heim, vom Herzogtum als Radio für Grenzdebile ausgesandt, in Deutschland ein Quotenkönig in der Bildersprache des Rammeln-Töten-Lallens, in die Niederlande gegenwehrlos eingefallen. Nicht nur die Schweinepest überquert Grenzen. Auf der Speisekarte findet sich ein Lammgericht mit dem Namen „Das Schweigen der Lämmer, Teil II“. Wo nur kann man das „Schweigen der Fernseher“ bestellen?
Im Tal liegt noch kalter Nebel. Die Our windet sich, ich folge ihr. Obereisenbach, Untereisenbach, gegenüber auf der deutschen Seite liegt Übereisenbach. Endlich ein langer Fluß, der mir die Ardennen flach hält. In Stolzembourg steht ein Gedenkstein am Ufer. Am 11. September 1944 drangen von hier aus im Zweiten Weltkrieg erstmals sechs alliierte Soldaten nach Deutschland ein. Der amerikanische Spähtrupp rückte damals bis zu den Anhöhen oberhalb von Keppeshausen vor. Die Soldaten beobachteten die Westwallstellungen der Wehrmacht und zogen dann wieder ab. Ein kleiner Spaziergang mit großer Symbolwirkung: Die Alliierten hatten erstmals deutschen Boden betreten. Die Nachricht ging um die Welt.
10.45 Uhr. Vianden. Die mittelalterliche Burg, die Uferpromenade, die Gassen, die Restaurants und Cafés, die Souvenirläden, die Tal-Lage im Deutsch-Luxemburgischen Naturpark machen aus dem Städtchen ein Rüdesheim an der Our. Ich quere den Fluß, eine Viertelstunde später bin ich wieder in Deutschland. Über Roth nehme ich den Aufstieg nach Körperich, nach drei weiteren Kilometern bin ich in Nieders-gegen. Ich kurve durch das Kaff und finde ein rosarotes Herrenhaus in einer Parkanlage. Das muß es gewesen sein. Mitte der 1980er Jahre war ich hier im Schullandheim. Erinnerungen an ein pädagogisches Desaster: In Körperich hinterließen wir Achtklässler in einem Lebensmittelladen Lücken in den Süßwarenregalen, die vermutlich erst die nächste Inventur an den Tag brachte. Die beiden gutmeinenden Lehrer bekamen von der Klauerei, dem Saufen und Rauchen nichts mit.
Den „Rewe“-Laden finde ich nicht mehr. Das Altweiberherbstwetter lacht mir. In Wallendorf führt eine Brücke zurück nach Luxemburg. Hier mündet die Our in die Sauer, französisch Sûre. Die Sauer ist ein Nebenfluß der Mosel und entspringt im belgischen Teil der Ardennen. Bis zur Mündung nach Wasserbillig wird sie mich begleiten. Bis Echternach ist der Radweg frei von jeder Ortschaft.
Echternach ist wieder so ein Postkartenstädtchen. Kantonshauptstadt, franko-luxemburgischer Charme, Cafés, Hotels, Zigarettenläden, Postkartenständer, Fachwerk, ein großer Marktplatz, eine frühromanische Basilika mit Abtei. Ich steige in die Krypta der Basilika hinab, Fahrstuhl in die Karolingerzeit. Hier liegt das Grab des Heiligen Willibrord, des Abteigründers und angelsächsischen Missionars, der 739 in Echternach starb. Jeden Pfingstdienstag hüpfen Wallfahrer bei der Echternacher Springprozession von der Basilika aus durch die Innenstadt zurück zur Krypta, um Willibrord zu gedenken. „Die Teilnehmer bewegen sich unter Musikbegleitung in Viererreihen jeweils in drei großen Sprüngen vorwärts und zwei Sprüngen rückwärts“, steht im Lexikon. Fast wie im richtigen Leben. 1987 war ich als junger Hüpfer auch dabei, ein Kaplan hatte für die Pfarrjugend von Köln-Pesch den Busausflug organisiert. 1988 kam ich mit meiner Freundin Monika nochmals nach Echternach: billig Zigaretten kaufen.
Das Rad rollt durch die Nachmittagssonne. In Wasserbillig, wo die Sauer in die Mosel mündet, nehme ich die Fähre Santa Maria, die mich ans deutsche Ufer bringt. Oberbillig, für 1,20 Euro. Entlang der Mosel führt der Radweg nach Konz. Noch eine Mündung: Die Saar endet hier. Für mich nicht, denn ich fahre saaraufwärts, Richtung Süden.
Am frühen Abend erreiche ich das Saardorf Kanzem. Auf diesen Winzerort war ich gespannt. Kerstin hat hier ihre ersten Lebensjahre verbracht, bevor ihre Familie 1970 nach Köln-Pesch zog - in die Häuserreihe, in der auch ich aufwuchs. Eine halbe Stunde fahre ich im Dorf auf und ab, lasse immer wieder die Pfarrkirche und die Höfe der Weinbauern passieren, bis ich ein Privatzimmer finde. Das Erscheinen eines Fremden im Ort scheint die Vermieterin zu erstaunen. Im Hintergrund tosen Enkelkinder. 87 Kilometer liegen seit dem Morgen hinter mir. Ausgerechnet heute hat das Gasthaus an der alten Fähre zu. Durch die Dunkelheit steuere ich gepäckfrei eine Kneipe im Nachbarort Wawern an. Jägerschnitzel und zwei „Bitburger“. Im TV kicken sich die Bayern aus der Champions-League. Alle Bürgersteige sind hochgeklappt.
Am nächsten Morgen ändere ich spontan die Richtung. Eigentlich wollte ich ins Elsaß, vielleicht nach Basel. Die Mosel mit ihren Weinhängen, die „römische Weinstraße“, die „Zwiebelkuchen mit Federweißer“-Schilder haben mich vom Weg abgebracht. Über Trier, Leiwen, Bernkastel-Kues, Traben-Trarbach folge ich der schlingernden Mosel auf Radwegen noch zwei Tage. In Bullay, der ersten Bahnhofsstadt seit Trier, lade ich das Rad nach 480 Kilometern in den Zug nach Köln. Es regnet wieder. Der Herbst sagt sich an. Simon auch.
Etappe 2
15.04.2003: Trier - Zerf
Weil ich meine Deutschland-Rundfahrt in Etappen zerteile, verdient die Bahn jedes mal neu. Start ist, wo ich aufgehört habe. Der südlichste Punkt, den ich im Herbst 2002 erreicht hatte, war Kanzem an der Saar. Den Start für die zweite Etappe verlege ich zehn Kilometer nach Norden. Trier-Hauptbahnhof.
Um 9.20 Uhr ist der Himmel über Köln wolkenfrei. Kerstin und Simon, unser fünf Monate alter Sohn, winken mir nach, die Hand von Simon wird gewunken. Zum Kölner Hauptbahnhof sind es fünf abgasverseuchte Kilometer. Am Fahrkartenschalter hat sich das Wappentier der Bahn gebildet: eine Schlange. Hier lebt die DDR weiter. Die Bahn fährt lieber Milliardendefizite ein, als mit mehr Verkäufern die Nachfrage zu bedienen. Gemächlich schlingert der Regio-Bummelzug durch die halbe Eifel. Nettersheim, Blankenheim, die Kyll, alles Sonntagswanderziele. Täler, Tunnel, kupferbraune Gründerzeitbahnhöfe mit Türmchen und Wetterhahn. Der Schaffner trägt Räuberzivil, der Radwaggon ist an diesem Dienstag voller Räder. Es ist Sommer im Frühjahr.
Um 13.40 Uhr hat der Zug ausgebummelt. Petri-Rock und Römerspuren bin ich in Trier schon im vorigen Herbst gefolgt. Auf dem Weg vom Trier Bahnhof zur Mosel nehmen mir zwei Auto-Rowdies die Vorfahrt. Fahrer und Beifahrer johlen. Meine Vollbremsung wäre eine brauchbare Szene für „Der siebte Sinn“. Am Straßenrand werben Plakate für eine „Erotikmesse“. Wie lange braucht die Spaßgesellschaft noch, bis es mehr Erotikmessen als Heilige Messen im Land gibt?
Hinter Trier-Feyen lauert der Ernst der Topografie, hier beginnt oder endet der Hunsrück. Zum Einstieg nach unsportlichen Winter-monaten eine Bergetappe: die B268 Richtung Saarbrücken. Anhänger des PS-Fetischs toben sich hier aus, „Wildschweinpest“ warnt ein Schild - so kann man es auch nennen. Beginnend bei 134 Metern über dem Meeresspiegel geht es nach Pelligen auf 430 Meter, zum Dreikopf auf 500 Meter. Schieben, Durst, keine Kondition. Ich biege von der Rennstrecke östlich nach Lampaden ab. Auf dem Dreikopf-Sattel bevölkern weiße Giganten die Äcker, jeder um die fünfzig Meter groß. Wie außerirdische metallene Riesenheuschrecken, wie kranartige Monsterhubschrauber, zum Abheben ins Irgendwo bereit, muten die Windräder mit ihren unbemannten Cockpits in der menschenleeren Gegend an.
Um 16.15 Uhr erreiche ich das Hunsrück-Dorf Lampaden. Der Tante-Emma-Laden gehört zur Kette „...nah und gut“. Die 0,75-Liter-Flasche „Granini Aprikose“ kostet hier nur 0,59 Euro, da können die Gebrüder Aldi daheimbleiben. Ein Schild weist mir den Weg in die Vergangen-heit, ins Jahr 1987: „Haus Elisabeth“.