Die Angst geht um in Locquirec - Michel Courat - E-Book

Die Angst geht um in Locquirec E-Book

Michel Courat

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Beschreibung

In einer friedlichen Kleinstadt treibt ein Serienmörder sein Unwesen. Wer kann ihn aufhalten?

Erster Juli. In dem kleinen Badeort Locquirec im Finistère wird die Stimmung immer drückender. Seit April häufen sich die tragischen Vorfälle, und die angesehenen Persönlichkeiten der Stadt sterben weg wie die Fliegen. Die Polizei geht von Unfällen aus, doch ein geheimnisvolles Pärchen im grauen Clio weiß genau: Das sind Morde. Sorgfältig geplant. Der Sommer in Locquirec verspricht heiß zu werden, und zwar nicht nur aufgrund der Wetterlage …

Tauchen Sie mit Laure Saint-Donges erstem Band ein in ihre fesselnden Ermittlungen an der bretonischen Küste!

Nach der Reihe, die Jean-Luc Bannalec inspiriert hat – den „deutschen Romanschriftsteller, dessen Abenteuer eines bretonischen Polizisten sich millionenfach verkaufen […]“ (Télérama)

AUSZUG

Trotz zahlreicher Anrufe gelingt es der bedauernswerten Martine Guennec nicht, ihren Ehemann zu erreichen. In der Notrufzentrale wird der Notstand Nummer 1 ausgerufen. Bereits drei Notfälle im Bezirk von Doktor Guennec und niemand ist da, um sie zu versorgen. Da gibt es nur eine Lösung: Man benachrichtigt einen Mediziner, der als Notdienst bereitsteht, falls irgendetwas schief läuft. Und der Gewinner ist ... Doktor Le Cueff aus Plougat-Guérand. Er gewinnt eine schlaflose Restnacht auf dem Lande.
Das ist kein Trost für Madame Guennec. Der Notfallzentrale ist damit geholfen, aber ihr doch nicht! In den 23 Jahren, die sie nun verheiratet sind, hat Daniel ihr noch nie einen solchen Streich gespielt. Und weil er nicht der Typ Mann ist, der sich nachts zu einer Geliebten schleicht, und schon gar nicht, wenn er Bereitschaft hat, bleiben nur noch sehr beunruhigende Vermutungen übrig: Krankheit, ein körperlicher Angriff, ein Verkehrsunfall... Bei anderen Gründen für sein Fortbleiben hätte er sie längst angerufen. Es sei denn, er hätte ein Handyproblem, wie Gérard ihr eingeredet hat. Hoffentlich ist es das, hoffentlich...

ÜBER DEN AUTOR

Michel Courat fühlt sich schon immer mit der Bretagne und vor allem der Region Trégor fest verbunden. Hier war er fünfzehn Jahre lang als Tierarzt tätig, bevor er sich dem Tierschutz verschrieb und neun Jahre im britischen Cornwall verbrachte. Von 2008 bis 2016 arbeitete er in Brüssel als Experte für Tierwohl für eine europäische NGO. Obwohl er mittlerweile in Locquirec seinen Ruhestand genießt, steht Michel Courat regelmäßig der Organisation OABA (Hilfe für Schlachttiere) mit Rat und Tat zur Seite.

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Berichterstattung

Titelseite

Der vorliegende Roman dient einzig dem Zweck der Unterhaltung. Sämtliche Ereignisse, sowie die Aussagen, Gefühle und das Verhalten der Protagonisten sind frei erfunden. Sie stehen in keinerlei Bezug zur Realität und wurden lediglich für die Romanhandlung erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen oder real existierenden Ereignissen wäre reiner Zufall

I

Nicht viel los um die Mittagszeit an der Station Montparnasse Bienvenue, Linie 6 der Pariser Metro. Von den zahlreichen Pendlern lässt sich mitten am Tag kaum einer sehen, und im Februar zieht der anliegende Bahnhof nur wenige Krabbensucher an, die sich im Sommer von hier in die Bretagne aufmachen. Auf dem Bahnsteig in Richtung Nation, Paris-Reiseführer in der Hand, digitalen Fotoapparat um den Hals, versucht eine Gruppe japanischer Touristen den Ausgang zur Tour Montparnasse zu finden, der allen Freunden der Höhenangst und des Asbestbetons so lieb und teuer ist.

Eine tüchtige Hausfrau, offensichtlich noch keine fünfzig Jahre alt, erwartet ihre Metro, eine Plastiktüte von C&A zwischen den Füßen, die Nase in das Fernsehprogramm des heutigen Abends gesteckt.

Ein bisschen abseits hält sich ein Paar alter Leute, oh Verzeihung, ein Paar Senioren, die beruflich nicht mehr aktiv sind, wie es jetzt bei uns in Frankreich politisch korrekt heißt, zärtlich bei der Hand. Neben ihnen steht eine Halogenleuchte aus einem Ramschladen. Eine ungeübte und nicht eingewiesene Praktikantin trägt sicherlich die Schuld an deren schlampiger Verpackung.

Die Ohren von ihrem MP3-Player zugedröhnt, wirft eine ausladende kreolische Mama einen stumpfen Blick auf die riesigen Werbeplakate auf der anderen Seite der Schienen. Einige Meter von ihr entfernt gönnt sich ein Clochard mit verzückter Mine seinen Drei-Sterne Fuselwein, Lohn für einen Vormittag fleißigen Bettelns.

Eine Metro rollt in die Station ein, Richtung Étoile. Charles de Gaulle-Étoile, um genau zu sein. Der Zug fährt ab. Die meisten Fahrgäste hasten dem Ausgang zu oder verschwinden in den Gängen, die zu den Anschlusslinien führen. Einige andere, offensichtlich Touristen oder Tagesbesucher, scheinen sich noch orientieren zu wollen. Verloren sehen sie aus oder eher verstört. In Montparnasse, erstaunt das niemanden… Auf dem Bahnsteig Richtung Nation wartet man noch. Die Reisenden befinden sich in einem Zustand angenehmer Trägheit, analog der mittäglich verminderten Frequenz der Züge des öffentlichen Personentransports.

Niemand interessiert sich für die junge Frau, die mit zögerlichen Schritten auf den Bahnsteig tritt. Mit ihrer stark abgewetzten Jeans und der dazu passenden Jacke unterscheidet sie sich durch nichts vom Prototyp einer modisch gekleideten Frau des ausklingenden Zwanzigsten Jahrhunderts. Durch nichts, außer durch einen seltsamen und plötzlich einsetzenden Zwang, ihre Schritte bis an das äußerste Ende des Bahnsteiges zu lenken, ihre blaue Denim-Handtasche zu schultern und sich der Bahnsteigkante bis auf einen Meter zu nähern. Sie lauscht aufmerksam, während ihr Gesicht eine Mischung aus Angst und kalter Sicherheit widerspiegelt.

Ein undeutliches Grollen von links. Ein vages Geräusch, das die Aufmerksamkeit der anderen wartenden Reisenden noch nicht weckt. Ein gedämpftes Geräusch. Für den normalen Fahrgast nichts weiter als Reibungslärm von Gummireifen auf Metallschienen, Todesgrollen der Radtrommeln hingegen für die junge Frau mit dem seltsamen Gesichtsausdruck.

Alles geht so schnell. Sie macht nur einen Schritt nach vorn. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer Schritt für sie. Jetzt steht sie unmittelbar an der Bahnsteigkante. Ganz am Rand. Wie eine Kunstspringerin oben auf dem Sprungturm vor dem Finale. Der große Sprung… Der gelb-blaue Zug taucht aus dem Tunnel auf und sie wirft sich davor. In einem verzweifelten Reflex reißt sie noch schützend ihre Handtasche vor das Gesicht.

Der Aufprall ist brutal, dumpf, matt… schrecklich! Ihr Körper wirbelt etwa 10 Meter durch die Luft, fällt schwer auf die Schienen zurück, gleich einer alten Stoffpuppe, die von einem kleinen enttäuschten Mädchen weggeworfen wurde. Es folgt ein furchtbar schmatzendes Geräusch, ausgelöst von etlichen Tonnen auf Gummireifen laufenden Stahls, die über wenige Kilo zartes und zerbrechliches Fleisch rollen. Ein ungleicher Kampf, aus dem die Metro als Sieger hervorgeht. Ruhmlos…

Auf dem Bahnsteig hat keiner gemuckt. Niemand hat wirklich realisiert, was sich soeben zugetragen hat. Weder die Reisenden in ihrem Dämmerzustand, noch der Zugführer, dessen Gedanken dem vergangenen Wochenende nachhingen. Aus Richtung Étoile hört man allerdings Schreie des Entsetzens. Der leblos verbogene Körper der jungen Frau ruht dort, mitten auf den Schienen, nur ein paar Meter von den Fahrgästen entfernt, die bereits im Begriff sind, diesem unheilvollen Ort zu entfliehen.

*

Weniger als zehn Minuten später ist der Singsang folgender Durchsage auf allen Stationen der Linie 6 zu hören: „Wegen eines Personenunfalls ist der Betrieb zwischen den Stationen Pasteur und Denfert-Rochereau in beiden Richtungen zur Zeit nicht möglich. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Wir benachrichtigen Sie, sobald die Strecke wieder frei ist.“

„Verdammter Scheiß, können die sich nicht woanders ins Jenseits befördern?“

„Die sollen das gefälligst bei sich zu Hause tun. Immer auf die arbeitende Bevölkerung, verdammt noch mal.“

„Menschenskind, die sollen das doch am Sonntag machen, dann gehen sie keinem auf den Sack.“

Die Reaktionen der Reisenden sind heftig, ihr Mitgefühl für das Opfer hingegen eher dürftig. Nun, die Pariser betrachten das Leben und den Tod eben aus sehr eigenen Blickwinkeln…

Wie schon meine Großmutter sagte, wer zuerst kommt, mahlt zuerst! Die Rettungssanitäter sind benachrichtigt. Und in weniger Zeit als Miss France benötigt, einen halbwegs intelligenten Gesichtsausdruck hervorzubringen, sind schon zwei Ordnungshüter am Ort des Geschehens, gefolgt von zwei Rettungssanitätern.

„Brauchst dich nicht zu beeilen, Ernest, die Alte hat kein Feuer im Arsch. Jedenfalls jetzt nicht mehr.“

Sich mit derartigen Sprüchen aufmunternd, die freilich jeden guten Geschmack vermissen lassen, machen sich die beiden Sanitäter an ihre makabre Arbeit. Die beiden Schutzpolizisten, die schon Schlimmeres erlebt haben, schauen ihnen dabei zu und verfolgen belustigt deren Dialog: „Hör mal, die hier hat noch Glück gehabt! Sie ist noch in einem Stück… Die von Raspail, letzte Woche, von der haben ‘se den linken Arm im Zeitungskiosk wiedergefunden.“

„Sag nur. Da waren die Leute wohl mächtig geschockt, was?“

„Quatsch… Da war einer, der dachte, das wäre die erste Ausgabe der neuesten Atlas-Sammelzeitschrift `Bauen Sie sich ihre Idealfrau selbst zusammen, das Heft inklusive der ersten Teile für nur 10 Francs!‘“

„Sag mal, da redest du doch Scheiß, oder?“

„Was denkst du denn? Natürlich rede ich Scheiß. Und du glaubst das auch noch, Régis!“

*

Inspektor Kader ist nicht zum Lachen zumute. Seine aktuelle Devise: Schaffe, schaffe, doch die blöde Metro-Sache könnt’ ihn abhalte’ vom Schlaffe – oh, Pardon, Schlafen.

„Hatte die Tote eine Handtasche dabei? Habt ihr irgendetwas gefunden? Gibt es Zeugen?“

„Nein, Inspektor! Wie immer… Als die Leute gesehen haben, dass hier Stillstand war, sind sie alle abgehauen. Kein Zeuge. Außer dem Zugführer. Er hat gerade erst kapiert, was geschehen ist und steht noch unter Schock. Das ist sein erster Selbst-mord!“

„Selbstmord, Selbstmord… Wenn es keinen Zeugen gibt, dann kann man nicht wissen, ob sie vielleicht von jemandem gestoßen wurde…“

Die beiden Polizisten schauen sich schweigend an. In die betretene Stille hinein fährt der Inspektor sie mit kalter Stimme an: „Sehen Sie zu, wie Sie das anstellen! Entweder finden Sie mir Zeugen oder Sie überprüfen die Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras. Ich habe keine Lust, dass dies zu einer zweiten Affaire Gregory mutiert. Also, ich gebe Ihnen eine halbe Stunde um mir zu sagen, ob dies ein Selbstmord war oder nicht! Ist das klar?“

„Alles klar, Herr Inspektor.“

Unzufrieden vor sich hin brummelnd entfernen sich die beiden Polizeibeamten.

Der Inspektor blickt sich um und sucht vergeblich den Blick des abseits wartenden Zugführers. Der arme Mann sitzt etwas abseits auf einer Bank, den Kopf in den Händen vergraben, völlig niedergeschlagen. Der Inspektor bittet ihn, näher zu treten. Da spricht der Fahrer mit zitternder Stimme: „Nein! Ich kann das nicht glauben, Herr Inspektor. Zwölf Monate vor meiner Rente… Mir so etwas anzutun. Zwölf Monate vor der Rente!“

„Was haben Sie genau gesehen?“, fragt der Inspektor.

„Nichts. Ich habe wirklich nicht die Zeit gehabt, etwas zu sehen. Es ging alles so schnell. Ich habe ein Geräusch gehört, eine dunkle Masse an der Windschutzscheibe gesehen, es gab einen starken Ruck und ich habe sofort voll gebremst. Erst später, als ich die Schreie der Passanten auf dem Bahnsteig hörte, wurde mir klar, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Das ist doch alles nicht wahr! Scheiße, ich habe einen Menschen getötet!“

Und er vergräbt erneut den Kopf in seinen Händen.

„Machen Sie sich nicht verrückt, das Ganze ist nicht Ihre Schuld.“

Den Blick weit ins Leere gerichtet erwidert ihm der verzweifelte Zugführer: „Vielleicht. Aber ich habe dennoch jemanden getötet! Und ich werde das im Kopf behalten bis ans Ende meiner Tage. Ich weiß nicht einmal, wen ich getötet habe. Wissen Sie es, Inspektor?“

„Noch nicht. Wir wissen nur, dass es sich um eine junge Frau handelt. Aber angesichts ihres Zustandes… schwer, im Augenblick mehr darüber zu sagen.“

Der Inspektor wird von einem der beiden Schutzpolizisten unterbrochen, der sich ihm aufgeregt nähert:

„Inspektor! Inspektor! Wir haben ihre Handtasche gefunden!“

„Ausgezeichnet! Die bringen Sie mir ins Kommissariat. Zum Sichten und Sortieren.“

Und so endet um 12 Uhr 23, an diesem 18. Februar 1998, die Geschichte für Morgane Le Saux, geboren in Morlaix, Finistère. Finis terra, Ende der Erde. Ende der Morgane. Ende der Geschichte…?

*

Locquirec – Finistère. Samstag, der 22. April 2006

Wie an jedem Wochenende wird Philippe Bellec auch heute recht früh wach. Mechanisch streicht seine Hand über den einladenden Oberschenkel seiner Frau Mariette, dann steht er auf. Ohne Bedauern. Im Wohnzimmer streift er sich seine Fahrradbekleidung über: Eine kurze Hose und ein Trikot in den Farben des Crédit Agricole. Der Gipfel für einen Rechtsanwalt, der sein Konto beim Crédit Mutuel unterhält. Ein kurzer Blick aus dem Fenster über den Strand von Pors ar Villec und die Bucht von Lannion, schon ist er auf dem Weg zur Garage, wo das Fahrrad auf ihn wartet. Die Sonne steckt gerade eben ihre runde Nase über die Felsen von Tédrez, als er sein Mountainbike herausholt. Für fast 400 €hat er es bei Décathlon in Morlaix gekauft. Langsam schiebt er es über den groben Kies der Einfahrt und genießt den Blick auf sein wunderschönes neues Haus aus Glas und Beton. Avantgardistischer Bau, gleich einem Ozeandampfer mit Rundfenstern und einer Dachterrasse, deren relingartige Brüstung jedem Schiff Ehre machen würde. Selbstverständlich sind auf dem Dach Sonnenkollektoren installiert. Wer hier wohnt ist cool, mit ökologisch-elitärem Flair umgeben.

In der morgendlichen Stille wirft er noch schnell einen Blick auf die Île-Verte, ein felsiges Eiland, das vor der Spitze der Halbinsel von Locquirec gelegen ist und sich jetzt noch im Halbdunkel befindet. Und schon ist er gestartet, seinen allwöchentlichen Triathlon zu absolvieren. Der Anfang kostet ihn keine Mühe, nur eben die Gefällestrecke der Nouvelle Côte hinabrollen. Er kommt am Friedhof vorbei, bevor er zum Strand Sables Blancs abbiegt. Die Luft ist ein wenig frisch, aber der Himmel ist blau, es ist windstill und alle Sorgen sind… vergessen. Es schmeckt irgendwie nach Glückseligkeit. Ruhig tritt er in die Pedale, den Tachometer und seinen Herzfrequenzmesser stets im Blick. Wenn man sich der Fünfzig nähert, sollte man anfangen, auf sich aufzupassen…

Keraël, die Abfahrt zur Moulin de la Rive und dann nach rechts, eine etwas schwierigere Strecke, die lange Steigung der Route de la Corniche, wie man sie hier nennt, immer stetig bergauf. Die Oberschenkel beginnen zu schmerzen, der Atem wird kürzer, Herzfrequenz 135, einen Gang zurückschalten und etwas langsamer fahren, es ruhig angehen lassen. Auch für ihn hat die Saison gerade erst begonnen. Die Sonne steht jetzt mit mehr Kraft über Saint-Michel-en Grève, seine Gedanken beginnen zu wandern. Sein letztes Plädoyer in der vergangenen Woche im Justizpalast von Guingamp. Bei der Gerichtssitzung, die alle nur noch „Pichelprozess“ nennen. Und warum? Sein Mandant, ein Engländer, seit drei Jahren wohnhaft in Plestin. James Winch.

Dessen Problem: Eines schönen Tages ist er mit seinem alten Golf von der Straße abgekommen und im Graben gelandet. Die Polizei hat ihn blasen lassen und ihm wegen seiner beträchtlichen Werte an Ort und Stelle den Führerschein entzogen… Und ihn für einen längeren Aufenthalt in die Ausnüchterungszelle eingewiesen. Die Gendarmen haben ihn am folgenden Morgen nach Hause gefahren. Dort ist ihm nichts Besseres in den Sinn gekommen, als sich eine Flasche Whisky zu genehmigen, in sein anderes Auto, einen Land Rover, einzusteigen und zur örtlichen Polizeistation zu fahren. Nach massiver Beschädigung der Außenmauer stieg er schwankend aus und hatte noch die Stirn, den wachhabenden Beamten zu kontaktieren und die Herausgabe seines Führerscheines zu verlangen. Philippe Bellec könnte sich noch kaputtlachen, wenn er an das Gesicht des Engländers denkt, wie er in seiner Kanzlei sitzt und jammert: „Ich bin unschuldig. Ich habe doch gar nichts getrunken.“

Wie soll man einen so aussichtslosen Fall verteidigen? Zum Glück war die Richterin eine gute Bekannte von ihm und hat sich während seines Plädoyers das Lachen verkniffen. Und er hat einen hübschen Scheck kassieren können, denn der Engländer hatte im Voraus bezahlt. Dafür könnte er sich die elektrische Rollreffanlage kaufen, mit der er schon so lange liebäugelt. In Gedanken sieht er sich schon in seinem 22-Fuß-Kleinkreuzer an den Felsen von Triagoz vor Trébeurden vorbeisegeln, auf einem kleinen Törn mit seiner Frau und den Kindern. In seinen Träumen versunken vergisst er die Steigung, seine Herzfrequenz und den Schmerz in seinen Beinen. Mit Genugtuung bemerkt er, dass die Qual ihrem Ende zugeht, nur noch hundert Meter, komm, du schaffst das, ermutigt er sich, bevor er die große Orientierungstafel erreicht, die das Ende der Steigung bedeutet und von wo die Abfahrt zum Weiler Poul Rodou beginnt. Noch ganz beeindruckt von den alpinen Anstrengungen, widmet er dem Mopedfahrer, der, seltsamerweise ohne seinen Integralhelm abzulegen, Fotos vom Meer macht, nicht die geringste Aufmerksamkeit.

*

IHM steht ein Lächeln ins Gesicht geschrieben. Er verstaut den Fotoapparat in einer Tasche seines Parkas und schließt das Visier des Helmes. Er ist zufrieden mit dem Verlauf der Dinge. Bellec war ziemlich pünktlich. Alles läuft wie vorgesehen. Und nun zu uns beiden, Meister Bel-leck-mich-am-Arsch, denkt er, während er dem sich entfernenden Anwalt hinterherschaut.

Dreimal in die Pedale getreten, und der Motor seiner 103 Peugeot knattert fröhlich vor sich hin, trotz der 25 Jahre, die das gute Moped auf dem Buckel hat. ER fährt langsam, achtet darauf, dass der Anwalt stets einen ordentlichen Vorsprung hat. ER braucht sich ja auch gar nicht zu beeilen, denn er kennt die Route des Anwalts längst auswendig. Immer dieselbe, jeden Morgen, vom 15. März bis zum 30. September, seit zwei Jahren. ER hat den Anwalt schon lange aus sicherer Entfernung beobachtet.

Beim Caplan, dem Bücherei-Café, das zur Gemeinde Guimaëc gehört wie das Wasser zum Meer, wird Bellec rechts die Gefällestrecke zum Strand wählen, sein Fahrrad gegen einen Felsen lehnen, einen Plastikbeutel vom Gepäckträger nehmen und über den Sand auf die berühmte Felsennase Pointe Beg an Fry zulaufen, dabei seine Arme wie Mühlenflügel bewegen und seine Beinmuskulatur hüpfend lockern. Er wird sich eine Badehose und ein Schwimmtop anziehen, bis an den Rand der Brandung traben und etwa zwei Minuten lang das Meer anschauen. Danach wird er entweder ein langes Wellenbad nehmen oder, wenn nicht genügend Brandung herrscht, vier Längen die Bucht entlang parallel zum Strand schwimmen. Auf jeden Fall wird er mindestens 15 Minuten im Wasser verbleiben. Dann, um wieder trocken zu werden, wird er sechsmal über den gesamten Strandabschnitt laufen. Das wird ihn weitere zwanzig Minuten von seinem Mountainbike fernhalten. Und weil derzeit Ebbe herrscht, wird ER mehr Zeit zur Verfügung haben, als für seine kleinen Bastelarbeiten nötig wäre.

Immer noch verhalten fahrend erreicht ER schließlich die Place Léo Ferré, an der das Caplan liegt. Es ist kaum zu erwarten, dass Lan oder Caprini, die beiden Betreiber der Ausflugsgaststätte, sich zu dieser frühen Zeit hier blicken lassen. Zu SEINER Erleichterung sind sie nicht da. Vom Campingplatz her bellt ein großer Hund, aber ER weiß, dass er nicht herauskommen wird. Es ist 08 Uhr 25. Es ist nicht seine Zeit, jedenfalls sonst nicht.

Philippe Bellec folgt seiner Routine. Er ist nun nicht mehr weit vom Wasser entfernt. Und ein paar hundert Meter vom Motorradfahrer. Dieser hat soeben sein Fahrzeug neben dem Fahrrad an einen Granitblock gelehnt. ER holt seinen Fotoapparat hervor und antizipiert zum soundsovielten Mal das kommende Geschehen. Gleich wird die Frau aus Guimaëc mit ihrem verrotteten Espace hier auftauchen und ihre sechs Spaniel-Mischlinge und den schwarzen Labrador rauslassen. Bis die alle am Strand sind, werden wohl zehn Minuten vergehen. Dann ist es 08 Uhr 40. Der Hund aus dem Haus mit den grünen Fensterläden kommt mit seinem Herrchen erst gegen 09 Uhr 05. Da bleiben mir etwa zwanzig Minuten, um dem Schwein meine Überraschung zu bereiten.

Zur besagten Zeit erfüllt die Guimaëc’sche Menagerie den Strand mit fröhlichem Gebell. Weder das Frauchen noch ihre Hunde scheinen überrascht zu sein, einen Fotografen mit Helm Bilder von Poul Rodou bei Ebbe aufnehmen zu sehen. Der Strand liegt übrigens immer noch im Schatten…

Ein Blick auf den Triathleten, einen weiteren zur Straße hin, dann holt ER blitzschnell ein kleines Werkzeugmäppchen aus seiner Parkatasche. Ein Paar Latexhandschuhe, eine Kombizange aus Titan und einen 10er Schlüssel, das ist alles, was er benötigt, um keine Spuren zu hinterlassen. ER hat sich gut in einem Sportgeschäft in Morlaix umgesehen, hat die Mutterngröße überprüft und sich mit dem Bremssystem auf das Beste vertraut gemacht. ER weiß, es wird ausreichen, die Muttern der Bremsen am Vordersowie am Hinterrad um eine halbe Umdrehung zu lösen, dann werden beim ersten starken Bremsversuch die Kabel aus ihren Halterungen springen. Und wenn du dann anhalten willst, dann kannst du nur hoffen, dass eine Steigung deine Fahrt bremst, dass irgendein Hindernis deinem Lauf Einhalt gebietet, oder dass du dem Schutzengel Josephine begegnest, gespielt von Mimie Mathy…

Nach weniger als einer Minute ist die Sache erledigt, das Mäppchen wieder verstaut und das Moped angetreten. Ohne sich noch einmal zum Strand hin umzusehen, fährt ER davon, in Richtung…

*

Philippe Bellec verlässt eiligen Schrittes das nasse Element. Ein Blick auf seinen Chronometer: 18 Minuten 32, nicht schlecht für den Anfang der Saison! Und er beginnt, die sechs Strandlängen abzulaufen. 21 Minuten 10, die alte Form kommt wieder. Ich sollte vielleicht doch meinen Glenfiddich-Konsum reduzieren. Nach dem Umkleiden und dem erholsamen Zurückschlendern zu seinem Rad fühlt er sich nun wieder fit für seine größte Herausforderung: Den Anstieg der Côte de Poul Rodou bis nach Lézingard. Zwei Kilometer stets bergan, mit zwischendurch einer kleinen scheinbaren Ebene.

Er ist so sehr auf diese Strecke fixiert, dass er kaum den freundschaftlichen Gruß von Lan erwidert, der gerade von dem morgendlichen Besuch bei seinen Eseln zurückkehrt. Schweißtropfen rinnen über sein Gesicht, und ständig ist er auf der Suche nach den passenden Gängen, sobald sich die Steigung verändert. Ah, endlich, das Waschhaus. Ich schaffe das. Nach einigen weiteren Minuten intensiven Schwitzens erreicht er den Gipfel, das Plateau von Lézingard. Ein Seufzer der Zufriedenheit angesichts seiner Leistung.

Der Weiler erwacht eben erst aus dem Schlaf. Der erste Rasenmäher zerreißt die ländliche Stille. Er tritt nun mühelos in die Pedale, merkt, wie seine Muskeln wieder weicher und geschmeidig werden. Schon freut er sich auf eine schöne Dusche, die hat er sich redlich verdient, sobald er wieder zu Hause sein wird. Doch zunächst der große Nervenkitzel, die Abfahrt von Lézingard mit ihrem 15-prozentigen Gefälle.

„Da muss man sich ganz auf seine Bremsen verlassen können“, sagt er halblaut zu sich selbst. Und lacht dabei. Gefühl-voll betätigt er die beiden Bremshebel, alles in Ordnung. Scheinbar, jedenfalls. Während der Abfahrt ist er vollständig auf seinen Lenker konzentriert, so dass er nicht bemerkt, dass beide Bremskabel sich bereits ein wenig gelöst haben und nur auf einen erneuten Hebeldruck warten, um vollends ihren Geist aufzugeben.“Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp, über Stock und über Steine aber brich dir…“ Brutal wird er in seinem fröhlichen Gesang unterbrochen.

„Mist, das kann nicht sein. Was ist los? Die Hinterradbremse, verdammt!“, schreit er und versucht, mit seinen Schuhen auf dem Asphalt zu bremsen. Vergebliche Mühe, es bewirkt so gut wie nichts. „Die Vorderbremse, aber vorsichtig! Wenn das Vorderrad blockiert, dann fliege ich über den Lenker.“ So gefühlvoll wie möglich betätigt er den linken Bremshebel, und ebenso gefühlvoll verlässt auch dieses Bremskabel seinen Sitz.

Sein Gehirn hat bereits begriffen, dass es nun Zeit für den Plan B wäre. Wenn es denn einen Plan B gäbe. Von Panik erfüllt, die Unterarme durchgeschüttelt von den Stößen des Lenkers, sucht der Anwalt verzweifelt nach einer gangbaren Lösung. Er rast jetzt mit 70 Stundenkilometern die Straße hinab. In wenigen Augenblicken könnten es 90 sein. Wie immer er sich entscheidet, er wird sich wehtun – sehr weh! Vom Fahrrad abspringen in Richtung Straßengraben? Mit all den dahinter liegenden Mäuerchen vor den Häusern und den Strommasten wäre das der reine Selbstmord. Sich einfach mitten auf die Straße fallen lassen? Nein! Zu gefährlich… Die einzige geringe Chance wäre, bis in die Senke durchzufahren und zu versuchen, die Rechtskurve zu schaffen, die ihn in die Steigung der Route de Morlaix führt. Nach links, auf die Route de la Corniche abzubiegen, ist wegen der rechtwinkligen Einmündung unmöglich.

Mit tauben Armen, den Mund nach Luft ringend weit geöffnet und vor Angst wie gelähmt, ist der rasende Radfahrer nur noch 50 Meter von der Kurve entfernt. Die Fliehkraft würde ihn schlimmstenfalls ein Stück nach links tragen. „Hoffentlich kommt jetzt keiner entgegen.“

Der Müllwagen ist hinter der Kurve gerade mit dem Leeren einer Tonne beschäftigt. Der Fahrer blickt sich im Spiegel nach seinem Kollegen um. Er ahnt nicht, was da auf ihn zukommt. Philippe Bellec freilich hat noch die Zeit, das massige Fahrzeug vor sich auftauchen zu sehen. Mit einem verzweifelten Lenkmanöver versucht er, eine Lücke zwischen dem LKW und dem Straßengraben zu finden. Vergeblich. Das Mountainbike zerbirst mit unsäglicher Wucht an dem stattlichen orangefarbenen Vorbau des Müllwagens. Der Kopf des Anwalts explodiert förmlich an der Windschutzscheibe und ein schlaffer Körper fliegt fünf Meter weiter, um schließlich an der Mauer eines Hauses mit rosa Fensterläden seinen finalen Schlag zu erleiden.

*

Rechtsanwalt Bellec hat offensichtlich keine Zeit mehr für sein letztes Plädoyer gehabt, um Gott die barmherzige Aufnahme seiner Seele anzutragen. Das scheint jedenfalls ER zu denken, hoch oben von seinem Beobachtungspunkt einen abfälligen Nachruf ausstoßend: „Fahr zur Hölle, du Schwein! Da hast du, was du verdienst: Einen Mülltransporter als Leichenwagen! Ja, Müll bist du, Müll!“

Er steckt das Fernglas in seinen Parka und tastet nach dem Telefon.

„Hallo!“, Eine weibliche Stimme antwortet ihm mit ängstlichem Unterton.

„Nun?“

„Geschafft.“

„Hat er ordentlich gelitten?“

„Das kannst du glauben, er hatte die ganze Abfahrt lang Zeit, sich verrecken zu sehen.“

„Das freut mich, wenn du wüsstest, wie mich das freut!“

„Ich leg’ mal lieber auf. Die Bullen werden bald hier sein.“

Sie lächelt und legt ihr Mobiltelefon aufs Bett.

Endlich…

*

Am Sonntag Morgen bringt die Tageszeitung Le Télégramme den Tod des Rechtsanwalts groß heraus: Ein Aufmacher auf der Titelseite, dreißig Zeilen im Regionalteil und eine halbe Seite im Lokalteil.

TRAGISCHER FAHRRADUNFALL IN LOCQUIREC. Der in Guingamp tätige Rechtsanwalt ist am Samstag Morgen gegen 09 Uhr 45 tödlich verunglückt. Der 49-jährige Philippe Bellec, ein hoch geschätzter Anwalt, war in Locquirec eine integre und bekannte Persönlichkeit. Als Sohn des ehemaligen Bürgermeisters nahm er aktiv am kommunalen Geschehen teil. Er war zweiter Vorsitzender des tourismusverbandes Locquirec-Guimaëc, Kassenwart des neuen Nautik-Clubs, Beisitzer im Jagdverein und allgemein sehr beliebt. Ebenso war er auch politisch tätig und sollte als Kandidat bei den Kommenden Kommunalratswahlen für die Sozialisten aufgestellt werden.

1957 wurde Bellec nahe Vannes geboren. Die Kindheit verbrachte er in Rennes, blieb aber immer dem Trégor/ Finistère treu, wo er stets seine Ferien verlebte. Anschließend an das Studium der Rechtswissenschaften lässt er sich im Jahre 1981 in Guingamp als Anwalt nieder. Sehr schnell…

Angewidert von der Flut an Komplimenten wirft ER die Zeitung auf den Couchtisch: „Diese Schmierfinken! Sie haben da was in seinem Lebenslauf vergessen. Aber ich nicht!“

Dennoch fährt er in seiner Lektüre fort, weil ER sich für den Stand der Ermittlungen interessiert. Zu SEINER Erleichterung haben die Polizeibeamten aus Plouégat bereits den Schluss gezogen, es handele sich hier entweder um ein technisches Problem innerhalb der Bremsanlage oder aber um ein medizinisches Problem des Toten. Keine Autopsie, keine weiterführenden Untersuchungen des total zerstörten Fahrrades. ER kann nun ruhig schlafen. Ruhig schlafen? Vielleicht doch nicht. Eine andere Aufgabe wartet noch auf ihn. Heute Abend wird die Île-Verte, die „Grüne Insel“ ihre Farbe wechseln.

*

Guimaëc, einige Tage später.

Vom Innenraum seines grauen Clios aus beobachtet ER aufmerksam die grün-weiße Vorderfront der Tierarztpraxis von Dr. Lepinson. Normalerweise kommen am Mittwoch Morgen nur selten Besucher hierher. Es ist allgemein bekannt, dass der Veterinär mittwochs von Ghislaine, einer Aushilfskraft aus Plouignou, vertreten wird. Also mittwochs keine Operationen und keine komplizierten Behandlungen. Es ist gerade Viertel vor neun, als er, begleitet von dem fröhlichen Bimmeln eines kleinen Glöckchens, die Glastür zur Praxis aufstößt.

„Guten Tag!“, ruft ER mit gespielter Freundlichkeit. Hohl hallen seine Worte in dem leeren Wartezimmer wider.

Mit forschendem Blick nach links fixiert ER unterschiedliche Tüten mit Hunde-und Katzenfutter.

Ohne Eile stellt Ghislaine ihren Becher Nescafé ab und begibt sich in den Empfangsbereich.

„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“

„Ich hätte gerne einen Beutel Wachstumsfutter für meine kleine Katze.“

„In der zwei oder fünf Kilo Packung?“

„Geben Sie mir die Fünfer, bitte. Das Tier ist ziemlich verfressen.“

„Sollen Sie haben.“

Mit sicherer Miene wendet sie sich den Regalen zu.

„Oh, tut mir leid, ich habe nur noch die zwei Kilo Packungen.“

„Nein, nein, ich hätte gern die fünf Kilo Packung. Sind Sie sicher, dass Sie keine mehr davon haben?“

„Warten Sie, ich sehe mal eben im Lager nach“, entgegnet sie, bevor sie durch eine Tür verschwindet.

Mal eben – das ist mehr als genug Zeit, um sein Vorhaben umzusetzen. Entschlossen öffnet er die Tür zum Behandlungszimmer, tritt an den OP -Tisch und öffnet dort eine Schublade mit der Aufschrift „Gift“, in der er fünf Ampullen T 61 findet, ein Mittel, das Tieren einen schnellen und schmerzfreien Tod beschert. Zwei davon reichen ihm. Ein weiterer Griff, und schon verschwinden die Ampullen nebst passenden Spritzen und Kanülen in seinem Parka. Kaum eine Minute ist vergangen, da steht er wieder im Empfangsbereich. Eine enttäuschte Ghislaine kommt aus dem Lager zurück: „Es tut mir wirklich leid, aber wir haben das nicht mehr in der fünf Kilo-Packung. Soll ich es Ihnen bestellen? Dann hätten wir es morgen gegen zehn Uhr.“

„Oh ja, tun Sie das.“

„Und auf welchen Namen?“

ER nennt ihr irgendeinen Phantasienamen, dann entfernt er sich, sehr, sehr zufrieden mit dem Verlauf seiner Arbeit. Alles läuft nach Plan! Sein Jubel ist groß.

II

Locquirec, Freitag, der 5. mai 2006, 23 Uhr 40

Die Sackgasse Impasse du Corbeau vermittelt den Eindruck einer Mini-Champs-Elysées bei Kriegsverdunklung oder totalem Stromausfall. Seit 23 Uhr 30 ist die städtische Beleuchtung ausgeschaltet und die dünne Sichel des Mondes verhüllt mittels dichter Bewölkung ihr bleiches Restlicht. Kurz gesagt: Man sieht die Hand vor Augen nicht, und das Mitführen einer eigenen Taschenlampe ist angebracht. Der letzte Hund hat längst sein Abend-Gassi absolviert, da erscheint ein grauer Renault Clio. Er fährt langsam und nur mit Standlicht.

Sie verstehen sich ohne Worte, SIE und ER, so oft haben sie ihre Rollen bereits in Vorfeld durchgespielt. Am Ende der Sackgasse wird der Wagen wenden. Sie steigt aus, Handy in der Hand. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, hätte höchstens ein hellsichtiges Kaninchen nach übermäßigem Karottengenuss die Möglichkeit, sie wahrzunehmen. ER hebt vorsichtig ein Paket aus dem Kofferraum, den er, um keinen unnötigen Lärm zu erzeugen, offen lässt. Irgendwo von der Pointe du Corbeau her lässt sich der Ruf eines Käuzchens vernehmen, den zwei Hunde aus Richtung Moguérou echoartig mit Gebell beantworten. IHN stört das nicht. Mit seinem seltsamen Paket erreicht er nach etwa 200 Metern in Richtung Sables Blancs den schicksalhaften Ort am Fuße eines Leitungsmastes. ER lässt langsam seine Last in den Straßengraben gleiten und kehrt zum Kofferraum seines Autos zurück, dem er lautlos einen dicken Zedernast entnimmt. ER hatte ihn nach einer Sturmnacht in der Nähe des Campingplatzes gefunden und in weiser Voraussicht mitgenommen. Der Ast kommt ebenfalls in den Graben. Sollte wider Erwarten doch noch jemand hier vorbeikommen, so wäre auch er vor dessen Blicken verborgen.

ER schließt vorsichtig den Kofferraum, steigt ein und fährt leise, mit geringer Drehzahl, davon. Nach einigen Minuten parkt ER das Auto in der Nouvelle Côte, unmittelbar oberhalb des Friedhofes. Ein kleiner Fußmarsch und, den wunderbaren Abkürzungsmöglichkeiten in Locquirec sei Dank, findet ER sich schon kurze Zeit darauf wieder bei IHR ein.

„Irgendetwas passiert?“, flüstert ER.

„Absolut nichts“, entgegnet sie IHM.

„Okay, dann will ich mal aufbauen. Wir liegen gut in der Zeit. Du gibst mir Zeichen, wie vereinbart?“

„Null Problemo. Und… Toi, toi, toi!“

Wortlos, ohne sich auch nur einmal umzusehen, begibt er sich erneut zu seinem abgelegten Material in der Nähe des Strommasten. Zunächst befestigt er eine Stirnlampe, deren Streuscheibe er mit Krepppapier verdunkelt hat, an seinem Kopf. Er will es nicht riskieren, durch die Bäume und Tore der umliegenden Gärten gesehen zu werden. Mit sicherer Hand greift er nach dem mitgebrachten nachtblauen Seil und geht damit vor dem Strommasten in die Knie. Aus einer Tasche seines unerschöpflichen Parkas zieht er ein Maßband hervor. Er misst 80 Zentimeter ab, um in dieser Höhe ein Ende seines Seiles mit Schlinge und Knoten am Mast zu befestigen. Danach legt er das Seil auf dem Boden ab. Fünf vor zwölf auf seiner Uhr. Bald Mitternacht, Geisterstunde, denkt er grinsend… Nun heißt es nur noch warten – und hoffen, dass nicht etwa eine Meute motorisierter Jugendlicher auf die Idee kommt, die Pointe du Corbeau bei Nacht sehen zu wollen. Oder dass am Ende doch noch ein Hund sein dringendes Bedürfnis anmeldet.

Vorsichtig bezieht ER Posten in seinem Graben, der guten Wetterfee aus dem Fernsehen dankend, dass sie in den letzten Tagen keinen Regen gemeldet hatte.

*

Patricia Le Guen bewohnt ein kleines gemütliches Haus, nicht weit vom Waschhaus Pors ar Villiec, gleich neben den Sables Blancs. An jenem Abend ist es nicht kalt und dennoch knistert ein Holzfeuer in ihrem Kamin. Man müsste wieder ein paar Scheite nachlegen, aber Patricia hat derzeit alle Hände voll zu tun. Nackt ausgestreckt liegt sie auf dem Sofa, das Gesicht ihres Geliebten zärtlich mit den Fingern liebkosend. François Lebault, der an ihrer Seite auf dem Boden kniet, küsst sinnlich ihre kleinen spitzen Brüste, während seine Hand verlangend an Patricias Schenkeln aufwärts wandert…

„Nein, sei vernünftig, François. Dafür ist es jetzt zu spät.“

„Nur ein bisschen streicheln“, quengelt er, wie ein Kind, das noch einmal auf dem Karussell fahren will.

„Nein!“ sagt sie nun wesentlich entschiedener und setzt sich hin. „Du weißt doch, dass mein Mann in einer dreiviertel Stunde hier sein wird. Und ich muss noch duschen und unser Chaos hier aufräumen.“

„Nun komm schon, meine kleine Patoune, einmal noch für ihren Fanfan“, bettelt er mit kindlich verstellter Stimme, derweil seine Hände eine sehr erwachsene Liebkosung anstreben.

Patricia Le Guen stößt seine unartige Hand heftig zurück, lächelt ihn aber an und beschwichtigt: „Hör zu, ich will es genauso gern wie du, aber du musst jetzt gehen. Sei lieb, ich bitte dich.“

Das Feuer erlischt. François Lebault seufzt. Ein letzter flüchtiger Kuss, und er sucht seine Sachen zusammen, die im ganzen Raum verstreut liegen.

„Und nächsten Freitag, darf ich wiederkommen?“, fragt er auf der Schwelle ihrer Haustür.

„Weiß ich noch nicht. Hervé hat mir noch nicht gesagt, ob er dann Spätdienst hat.“

„Rufst du mich an?“

„Sobald ich es weiß“, antwortet sie. Ein letzter Kuss und sie fügt hinzu: „Mach bitte nicht so viel Lärm, wenn du abfährst – wegen der Nachbarn.“

François Lebault tritt aus dem Haus, gerade in dem Augenblick als die Katze der Familie Le Guen ihre Chance sucht, vom Garten her kommend durch die Tür zu schlüpfen. Heftig getreten stößt sie einen nachtzerreißenden Schmerzensschrei aus und rettet sich in die Dunkelheit des Gartens.

„Da bin ich in meinem Schmerz nicht so alleine“, murmelt François und bringt ein schwaches Lächeln zustande.

Sein Motorrad erwartet ihn zwischen zwei Bäumen in der Nähe des Tores. Kein Geräusch ist zu hören, außer dem Ruf des Käuzchens von der Landspitze her. So leise wie möglich schiebt er die KTM auf den Schotterweg, der das Haus der Le Guens mit der Teerstraße verbindet. Jetzt, da er sich an die Stille gewöhnt hat, kann er die Wellen hören, wie sie sich am Strand brechen.

Im Schutze eines Baumes hat SIE die Katze jaulen hören. Auch wenn das Geräusch derzeit noch schwach ist, so hört sie doch Schritte den Schotterweg heraufkommen. Am Tage wird dieser Weg gern von Wanderern genommen, denn es handelt sich um einen Teil des „Sentier des Douaniers“, des Fernwanderweges GR 43, wie er auf Wanderkarten vermerkt ist. Allerdings um diese Zeit…

Seitdem SIE das Auto verlassen hat, hält sie ihr Mobiltelefon stets griffbereit in der Hand. Auf diesen Augenblick hat SIE lange gewartet. Ein Druck auf „Wahlwiederholung“ und die Vibrationen seines Telefons bedeuten IHM, dass der Motorradfahrer bald kommen wird.

Trotz seiner 50 Jahre springt ER behände aus dem Graben hervor, überquert mit dem freien Ende des Seiles eilends die Straße und findet dort das Loch im Zaun, das er einige Tage zuvor geschnitten hatte. Dahinter: Der Stamm einer alten Zeder. Es gelingt IHM, das freie Ende seines Seiles um die Zeder zu schlingen. Auch auf dieser Seite noch schnell die Höhe justiert, dann voll auf Spannung gezogen, zwei Knoten drauf, die Biker-Schleuder steht bereit. Erwartungsvoll versteckt er sich wieder in seinem Graben.

*

Derzeit schiebt der Biker noch. Schiebt und träumt. In Gedanken befindet er sich immer noch bei seiner Geliebten und genießt die Erinnerung an ihre sinnlichen Spiele. Schon hat er die Teerstraße erreicht und kann also sein Motorrad besteigen. Den Helm lasse ich weg – ich brauche frische Luft! Ein Tritt auf den Kick-Starter und die KTM schnurrt aus verhaltener Kraft.

„Komm, mein Moped, bring mich nach Hause“, raunt er der Maschine zu.

Nach der ersten 90 Grad Kurve, die er mit angepasster Geschwindigkeit nimmt, kommt eine kurze Gerade. Eigentlich zu kurz für hohe Geschwindigkeiten, wenn man verantwortungsbewusst und nüchtern unterwegs ist. Aber nach ein paar Gläsern Wein und drei Cognacs hält man sich leicht für Rocco Sifredi. Im dritten Gang sind 80 Stundenkilometer schnell erreicht. Und das dunkelblaue Seil bleibt dem Auge verborgen…

Von 80 auf quasi Null im Bruchteil einer Sekunde. Der Körper des Motorradfahrers hebt sich aus dem Sattel, wird von furchtbaren Kräften durch die Luft geschleudert, um etwa 10 Meter weiter aufzuschlagen. François Lebault bleibt nicht die Zeit, das Geschehen zu begreifen. Sein Salto Mortale endet mit dem klatschenden Geräusch zerberstenden Fleisches, als sei er aus der 4. Etage eines Hauses auf den Boden gefallen. Schrecklich anzuhören, aber nicht sehr laut. Kein Hund schlägt deswegen in der Umgebung an. Und auch das plötzlich verwaiste Motorrad verursacht im Fallen kaum mehr Lärm als ein vom Sturm umgestürzter metallener Mülleimer.

ER ist aus seinem Versteck hervorgesprungen. Ein kurzer Moment nur, dann hat er die Kordel über seinen Arm aufgerollt. Den mitgebrachten dicken Zedernast legt er einen halben Meter vor das Vorderrad der KTM. Leicht schräg. ER zögert. Sich umgehend aus dem Staub zu machen wäre jetzt klug, aber er möchte wissen, ob sein Opfer auch wirklich tot ist. Die Neugier ist stärker. Schnellen Schrittes nähert ER sich der dunklen unförmigen Masse auf dem Asphalt. Auf halbem Wege bleibt er stehen, dreht sich um und denkt Mach’ jetzt bloß keinen Fehler und lass’ dich hier erwischen! Ist doch egal, ob er tot ist. Nach so einem Satz werden die Folgeschäden dafür sorgen, dass er keine Freude mehr an seinem Leben haben wird.

Etwa drei Minuten später treffen sich ER und SIE am Ende der nachtschlafenden Sackgasse. Da ER nicht redet, fragt SIE: „Was ist?“

„Ist alles gut.“

„Ist er tot?“

„Ich bin nicht sicher. Hatte keine Zeit zum Nachschauen. Wir müssen hier weg, komm, los.“

*

Am Steuer seines Twingo sitzt ein ahnungsloser Hervé Le Guen. Er ahnt nicht, dass ihm seine Frau seit mehr als einem Jahr Hörner aufsetzt, wie soll er da erst ahnen, dass er einen menschlichen Körper auf der Impasse du Corbeau finden wird? Und das mitten in der Nacht, 00 Uhr 40, um genau zu sein. Als er das dunkle Etwas dort liegen sieht, hält er es zunächst für eine vom Wind zufällig dort hin gewehte Plane. Er nimmt etwas Gas weg, um nicht so schnell darüber zu fahren. Erst kurz vor dem Hindernis erkennt er im Licht der Scheinwerfer: „Verdammt, das ist ein Typ.“

Er macht eine Vollbremsung und springt aus dem Wagen, eine große metallene Taschenlampe in der Hand. Einige Jahre in der Armee und zwanzig Jahre Dienst als Kontrolleur bei der Eisenbahn haben ihn einiges gelehrt. Sehr vorsichtig nähert er sich dem ausgestreckten Körper. Wenn das ein Simulant ist und hier seine Komplizen im Gebüsch lauern, dann bin ich geliefert, denkt er. Und wie um sich Mut zuzusprechen, fügt er mit leiser Stimme hinzu: „Und mein längstes Wort wird Uiuiuiuiuiui sein, mit zwölf Buchstaben.“

Um sich abzusichern und zu verstehen, was hier los ist, leuchtet er zunächst einmal die nähere Umgebung ab. Keine Wegelagerer in Sicht, weder im Gebüsch, noch im Graben. Okay. Er versucht, die Straße in weiterer Entfernung zu sichten, als er ein schwaches Stöhnen von dem ausgestreckten Etwas vernimmt. Rasch kniet er neben dem Verletzten nieder, der unverständliche Laute von sich gibt: „Aaa… ver… stan…“

„Können Sie mich hören?“

„Aaa… erstan…“

„Tut mir leid, ich kann Sie nicht verstehen. Bitte ruhig liegen bleiben“, fügt er hinzu, ohne sich über den Unsinn seiner Aufforderung im Klaren zu sein, „ich rufe Hilfe.“

Dies tut er unverzüglich mit Hilfe seines Mobiltelefons, welches sich noch im Wagen befindet. Schnell ist der Notruf abgesetzt und er beeilt sich, dem Verletzten weiter Beistand zu leisten. Obwohl selbst ausgebildeter und geprüfter Erstretter, fühlt er sich angesichts der Verletzungen des Mannes machtlos. Blut läuft ihm aus dem Hinterkopf und die in ungewöhnlichen Winkeln positionierten Extremitäten lassen auf zahlreiche Frakturen schließen. Primo non nocere, vor allem keinen weiteren Schaden zufügen, erinnert er sich an das erste Rettungsprinzip. Den Mann zu bewegen kommt nicht in Frage. Das Einzige wäre, ihn warm zu halten. Da er keine Decke im Auto hat, muss er sich eine von den Anrainern der Straße besorgen. Sich nachts eine Haustür öffnen zu lassen unter der Behauptung, es sei ein Unfall passiert, ist nicht gerade ein Geschenk. Und das nicht nur in Locquirec. Beim sechsten Haus wird endlich ein Fensterladen halb geöffnet. Nach einiger Überzeugungsarbeit kehrt Hervé Le Guen, eine dicke Wolldecke in der Hand, zu dem Verletzten zurück. Der schon kein Verletzter mehr ist.

Ein nicht mehr reanimierbarer warm gehaltener Körper wird von den Rettungssanitätern ins Krankenhaus von Morlaix transportiert.

*