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Murphy gibt keine Ruhe. Die Mächte des Bösen gewinnen an Kraft und enthüllen Geheimnisse, die niemals für das Licht der Welt bestimmt waren. Noch während Tami und Jardeen grübeln, was hinter den Andeutungen über Daphnes Herkunft steckt, entdecken sie ein neues Mordopfer – und eine uralte Entität regt sich, die tausende Jahre verborgen gewesen war: Die Stammmutter aller mystischen Flügelkreaturen. Dies ist Teil 5 der Reihe. Der Titel des 1. Teils lautet: Die Birmingham-Akten: Golemjammer. Teil 2: Die Birmingham-Akten: Sirenengesang Teil 3: Die Birmingham-Akten: Nymphenreigen Teil 4: Die Birmingham-Akten: Trolldebatten Ca. 72.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 380 Seiten.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Murphy gibt keine Ruhe. Die Mächte des Bösen gewinnen an Kraft und enthüllen Geheimnisse, die niemals für das Licht der Welt bestimmt waren.
Noch während Tami und Jardeen grübeln, was hinter den Andeutungen über Daphnes Herkunft steckt, entdecken sie ein neues Mordopfer – und eine uralte Entität regt sich, die tausende Jahre verborgen gewesen war: Die Stammmutter aller mystischen Flügelkreaturen.
Dies ist Teil 5 der Reihe.
Der Titel des 1. Teils lautet:
Die Birmingham-Akten: Golemjammer.
Teil 2: Die Birmingham-Akten: Sirenengesang
Teil 3: Die Birmingham-Akten: Nymphenreigen
Teil 4: Die Birmingham-Akten: Trolldebatten
Ca. 72.000 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 380 Seiten.
von
Sonja Amatis
Kaffeewüsten und Schokoladenfreude
„Ich weiß nicht, wie ich dieses Weib noch einen einzigen Tag länger ertragen soll!“ John raufte sich die Haare, als wolle er unbedingt zum Glatzkopf werden. Tami beobachtete seinen Freund und Kollegen amüsiert, der gerade in den Aufenthaltsraum geplatzt war. Es war ungewöhnlich voll – durch Zufall waren sie fast vollständig und standen Schlange, um sich einen Kaffee holen zu können. Daphne befand sich gerade an der geheiligten Maschine und füllte sie neu auf, darum dauerte es etwas.
Der Herbst war im vollen Gange. Die Stürme waren dabei weniger ein Problem als die starken Temperaturschwankungen. Nachts Minusgrade, tagsüber konnte es dann richtig heiß werden. Das schlug den Menschen auf den Kreislauf wie auch auf das Gemüt. Beides sorgte für erhöhte Unfallzahlen, Überfälle und Schlägereien, nicht wenige davon mit Todesfolgen. Auch wenn es in den meisten Fällen keinerlei Mysterium gab, musste alles sorgfältig untersucht und dokumentiert werden. Dementsprechend viele Berichte gab es zu schreiben. Dazu kam die Laufarbeit, das Sprechen mit Zeugen, trauernden und schockierten Angehörigen, mit Ärzten, zufällig anwesenden Passanten, die meistens nichts wussten und nichts gesehen hatten … Hinter scheinbaren Unglücken konnten eben auch verkappte Selbstmorde oder Totschlag oder sogar geplanter Mord stecken. Es bedeutete wichtige, aber anstrengende Arbeit, jeden einzelnen Fall unvoreingenommen anzugehen, die genauen Umstände zu überprüfen, zu wissen, wann das Labor und die Pathologen gedrängelt werden mussten und wie man auch für die Angehörigen die richtigen Entscheidungen traf.
Dementsprechend überlastet waren sie alle und die Kaffeemaschine war ihr bester Freund. Juliette war derzeit die Einzige im Revier, die entspannt und ausgeschlafen wirkte. Das war kein Wunder, so als Halbdämonin besaß man nun einmal mehr Ausdauer als die armen Normalsterblichen und immer noch deutlich mehr als Tami und Jardeen mit ihren jeweiligen Mischlingsabstammungen.
Wirklich verdaut hatte Tami es noch nicht, dass Juliette die Tochter eines Nachtmahrs und mehrere hundert Jahre alt sein sollte. Für ihn war und blieb sie einfach nur … Juliette. Sie saß mit anmutig unterschlagenen Beinen an einem Tisch in der Ecke des Aufenthaltraumes, bearbeitete einen Memo-Kristall und unterhielt sich dabei angeregt mit Willarth.
Johns Ausbruch hatte die beiden innehalten lassen. Juliette musterte ihn mit unergründlicher Miene.
„Ich war selten glücklicher mit deiner Einstellungspolitik, liebste Daphne, als an dem Tag, an dem du uns Susan geschenkt hast“, sagte sie ohne das geringste Lächeln, mit dem ihre Worte gemildert werden könnten.
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Aufenthaltraumes und Susan trat ein. Ihre neueste Kollegin hatte bislang im Betrugsdezernat in irgendeinem winzigen Nest gearbeitet. Sie besaß leicht autistische Verhaltensmerkmale und sah aus wie ein zartes, sehr junges und empfindsames Elfchen. Sie verfügte allerdings über einen messerscharfen, hochanalytischen Verstand, pflegte eine etwas merkwürdige Art, Menschen und ihre Umwelt wahrzunehmen, konnte die weltbesten Schokobrownies backen und liebte es, ihren Partner John in den Wahnsinn zu treiben.
Der arme Kerl hatte bislang keineswegs ein leichtes Leben gehabt – sein letzter Partner war brutal ermordet worden, er selbst war bei einem Unfall mit Trollbeteiligung schwer verwundet zurückgeblieben und hatte sich noch immer nicht vollständig körperlich davon erholt.
Doch auf seine Fähigkeit, Frauen mit seinem jungenhaften Charme und seinem gefälligen Äußeren um den kleinen Finger wickeln zu können, hatte er sich stets verlassen dürfen. Natürlich durchschauten die Damen sein leeres Geschwätz irgendwann, aber selbst Juliette und Daphne behandelten ihn nachsichtig, als wäre er ein jüngerer Bruder. Bei Susan hingegen biss er auf Granit. Sie ließ ihm keine Chance … Und genoss das Spiel offenkundig viel zu sehr, um Gnade walten lassen zu wollen.
Sie fixierte John mit einem Blick, der bei anderen Frauen vermutlich vorwurfsvoll ausgefallen wäre, bei ihr hingegen ziemlich niedlich wirkte.
„Läufst du etwa weg?“, fragte sie und wedelte mit einer dicken Akte. „Siebenundneunzig Fehler in Orthographie und Grammatik habe ich dir gekennzeichnet. Die musst du nachbessern, bevor du den Bericht einreichen kannst. Andernfalls beschämst du dich selbst. Alternativ könntest du mit einem Protokollgolem zusammenarbeiten, aber das wolltest du ja nicht.“
„Daphne, ich flehe dich an!“, rief John theatralisch und rang mit den Händen. „Ruf sie zur Ordnung! Ich bin Polizeiermittler, kein Professor für Anglistik. Es kann nicht so schlimm sein, wenn du da noch ein kleiner Buchstabendreher irgendwo im Text ist. Du warst mit meinen Berichten doch noch jedes Mal zufrieden!“
Daphne grinste freundlich.
„Mein Lieber, ich hab das nie mit dir diskutiert, sondern einfach deine Fehler selbst ausgebessert. Geht schneller und an deiner Arbeit an sich ist ja nichts auszusetzen. Allerdings hast du tatsächlich eine auffallend hohe Fehlerquote und es schadet dir bestimmt nicht, wenn du jetzt eine Partnerin hast, die dir ein wenig Nachhilfeunterricht geben kann.“
„Das ist … demütigend! Und absolut nicht notwendig!“, protestierte John verzweifelt. „Doug? Hilf mir aus, Mann!“
Douglas, der aussah, als würde er jeden Moment an seinem unterdrückten Gelächter ersticken, schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
„Hör auf zu jaulen und steh’s halt durch“, sagte er. „So schlimm wird es ja hoffentlich nicht sein!“
„Leider erfüllt sich deine Hoffnung nicht“, entgegnete Susan und wedelte erneut mit der Akte. „Rhythmus schreibt man mit y, das ist richtig. Der Algorithmus hingegen wird mit einem i geschrieben. Du vertauschst auch ständig dem und den sowie einen und einem. Der Imperativ von lesen lautet lies statt les. Und der korrekte Plusquamperfekt von …“
„Gnade!“ John sah ernstlich aus, als würde er gleich zu weinen beginnen. „Sie ist gnadenloser als jeder Golem, Daphne. Tu doch was!“
„Sir, ich muss vehement protestieren“, rief Willarth sofort und sprang von seinem Stuhl hoch auf die Tischplatte, wohl um besser gesehen zu werden. „Gnadenlosigkeit liegt keineswegs in der Golemnatur. Es ist lediglich eine Programmierung, derer wir uns nicht erwehren können, sollten wir pedantisch agieren. Und es war Lessing, der sagte: Ich brauche keine Gnade, ich will Gerechtigkeit! Auch ein scheinbar simpler Bericht kann ein Akt der Gerechtigkeit sein, wenn er das natürliche Ende eines Lebens beschreibt. Die Toten verdienen es, dass für sie jedes Komma und jeder Buchstabe dorthin gesetzt wird, wo er von Rechts wegen benötigt ist.“
John starrte Willarth aus großen Augen an. Der Kleine hatte wie so oft mit seinen überschwänglichen Emotionen zu kämpfen und stand mit zitternden Lippen da, die Augen schwammen in Tränen, die Hände mit den überlangen Fingern waren zu Fäusten geballt.
Ohne ein weiteres Wort wandte sich John ab und schlich geschlagen und besiegt aus dem Raum.
„Wenn du fertig bist, habe ich was Gutes als Belohnung“, hörte Tami Susan sagen, die John auf dem Fuß folgte.
„Du wirst mich noch fett füttern, Weib!“, knurrte John, in einem Tonfall, der verriet, wie angetan er von ihrem Angebot war.
„Keine Sorge. Wir müssen heute noch ins Kirchenviertel rüber, um die Unfallaufnahme abzuschließen. Dabei laufen wir uns die überschüssigen Energien …“ Der Rest ihrer Worte war nicht mehr zu verstehen.
Sie grinsten einander stumm an. Ihr Mitleid für John hielt sich in Grenzen.
„Der Automat ist wieder bereit“, verkündete Daphne und zog sich ihre Tasse koffeinhaltiges Suchtmittel, bevor sie Douglas Platz machte, der als Nächster in der Warteschlange stand.
Die Tür öffnete sich erneut. Der Verkehr in diesem Räumchen war heute schlimmer als auf den Trollspuren zur Hauptverkehrszeit!
Jardeen war es, der hereingeschlurft kam. Er war im Archiv gewesen, um neue Rohkristalle zu holen, die sie für die Digitalisierung ihrer Berichte benötigten.
„Du siehst echt beschissen aus, Kumpel“, sagte Douglas kopfschüttelnd. „Genau wie Tami. Schreckensbleiche Zombies mit mariannengrabentiefen Augenringen. Was treibt ihr bloß die ganze Nacht, dass ihr jeden Tag grauer und zerschlagener ausseht?“ Er stutzte, bevor er abwehrend die Arme hob. „Wartet! Keine Details! Bloß keine Details!“
Jardeen grinste bloß freudlos, und auch Tami zuckte unter der plötzlichen Aufmerksamkeit seiner Kollegen mit den Schultern.
Es waren die Albträume, die ihn und Jardeen auffraßen. Sie wurden schlimmer. Keine Nacht, in der sie mal durchschlafen konnten und am Morgen erholt aufstehen durften. Mittlerweile waren sie beide am Ende ihrer Kräfte angekommen und hielten sich eher durch Willenskraft und Trotz aufrecht.
Wie lange sie unter diesen Bedingungen noch arbeitsfähig bleiben würden, war eine Frage, die sie beide nicht laut zu stellen wagten. Sie brauchten die Arbeit, um bei Verstand zu bleiben. Daheim zu hocken führte bloß dazu, dass sie unruhig wurden, zu viel grübelten, sich an Dinge erinnerten, die niemand wissen wollte …
Andererseits war es jedes Mal ein Risiko, wenn sie die Wohnung verließen. Der Murphy-Fluch wurde ebenfalls beständig stärker, genau wie die Albträume. In den letzten Wochen waren sie mehr als einmal in merkwürdige Gefahrensituationen geraten. Dass sie dabei weder verletzt noch umgebracht wurden, lag an ihrer extremen Vorsicht, Willarth und Brobro, ihr allerbester Trollkumpel. Ohne Brobro gäbe es sie schon lange nicht mehr, so viel stand fest.
Doch egal wie groß die Gefahren auch sein mochten, sie wollten sich nicht geschlagen geben. Hier auf dem Revier konnten sie enorm wichtige Arbeit leisten und waren von Freunden umgeben. Freunde, die verstanden, in welcher Zwangslage sie sich befanden. Nicht zuletzt war es eine gute Idee, in der Nähe von Douglas und Juliette zu sein, wenn Ärger drohte.
Im Moment war es allerdings Juliette, die sie mit nachtschwarz umwölkten Augen betrachtete. Vor allem Jardeen, der gerade leicht schwankend auf den Kaffeeautomaten zutorkelte.
„Daphne, du musst handeln“, murmelte sie.
„Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“, schoss Daphne zurück. „Zwei meiner besten Leute von der Arbeit abziehen, wenn wir auch mit ihnen bereits ertrinken?“
„Wir müssen nicht abgezogen werden!“, murmelte Jardeen. „Es braucht bloß ein bisschen Kaffee, dann wird alles gut.“
„Du hattest dein heutiges Höchstmaß schon, mein Lieber“, erwiderte Juliette. „Du kannst natürlich Luxusrationen für weiteren Kaffee einsetzen, aber irgendwann wird das ungesund.“
„Ich bin nicht gänzlich normalsterblich. Wahrscheinlich macht mir das also gar nicht so viel aus, dieses Übermaß an Koffein.“
„Möglich, dass es dich weniger beschädigt, als es bei einem normalen Mann der Fall wäre“, sagte Juliette. „Du bist dennoch jenseits des Punktes, wo man sich keine Sorgen machen muss. Genau wie Tami.“
Jardeen zuckte müde mit den Schultern und gab seine Nummer in die Kaffeemaschine ein. Sofort ertönte ein Missklang und eine einschmeichelnde weibliche Stimme teilte mit, dass Jardeen seine Tagesration bereits erschöpft hatte. Das wäre nicht einmal bemerkenswert, wenn es nicht erst zehn Uhr morgens wäre.
Jardeens Schultern sanken herab. Er schaffte es selbst übernächtigt und erschöpft und frustriert noch immer absolut anbetungswürdig auszusehen. Nur eben auf mitleidserregende Weise. Das war die Schattenseite des Nymphenerbes, Jardeen konnte sich nie dem Mittelpunkt der Aufmerksamkeit entziehen, weil alle Blicke unweigerlich zu ihm huschten. Für Tami war es eher praktisch, er konnte sich hinter ihm verstecken …
„Eine Wüste ist das hier“, murmelte Jardeen frustiert. „Eine Kaffeewüste! Wie soll ich denn so arbeiten?“
„Die Frage lautet eher: Wie können wir dich und Tami davon abhalten, euch zu Tode zu schuften?“, fragte Daphne. „Ich meine, was ist bloß los, Jungs? Ihr versichert ständig, dass es euch gut geht, dass ihr klarkommt. Dennoch verfallt ihr allmählich. Willarth, was ist mit den beiden?“
„Es wäre ein Loyalitätsbruch, darüber zu reden, es tut mir sehr leid“, rief Willarth erschrocken und sprang hastig auf Tamis Arm, wo er sich zu verstecken versuchte.
„Loyalität ist eine gute Sache, kann allerdings problematisch werden, wenn man darüber das große Ziel aus den Augen verliert“, sagte Juliette. „Anders gesagt: Du sollst den beiden selbstverständlich treu und loyal verbunden sein, aber nicht bis zu den Punkt, an denen es ihnen schadet, weil sie keine Hilfe bekommen können.“
„Sind wir etwa gestorben und haben es nur nicht gemerkt?“, fragte Tami und versuchte, es spöttisch klingen zu lassen. „Uns geht es soweit gut genug, danke. Wir sind nicht ganz auf der Höhe, keine Frage, aber es besteht keine akute Lebensgefahr. Oder sonst irgendeine Art von Gefahr. Bitte setz den armen Willarth nicht unter Druck, er kann nun wirklich nichts dafür.“ Willarth drohte in Tränen auszubrechen, das war an dem heftigen Zittern zu spüren. Wahrscheinlich fand er gerade auch kein passendes Zitat, um Stress abzubauen.
„Schön ruhig bleiben, Leute“, fuhr Douglas dazwischen. „Keiner will irgendwen unter Druck setzen. Schon gar nicht unseren Lieblingsgolem. Dass wir Grund zur Sorge haben, lässt sich allerdings nicht absprechen, okay?“
Bevor noch jemand etwas sagen konnte, krachte es plötzlich. Rauch stieg auf und enthüllte Isolda, die es einmal mehr geschafft hatte, pünktlich aufs Stichwort zu erscheinen.
„Guten Morgen, ihr Hübschen“, sagte sie erstaunlich friedlich und tätschelte Willarth den Kopf, der wie üblich sofort in ihre Arme springen musste. „Ich habe im Vorbeiflug einen Hauch von Unfrieden aufgefangen, kann das sein?“ Sie betrachtete jeden der Anwesenden der Reihe nach und schüttelte den Kopf, als sie Jardeen erblickte. „Ich verstehe. Seit vier Wochen haben wir uns nicht mehr gesehen, kann das sein? Oder noch etwas länger? Seitdem habt ihr zwei kräftig abgebaut, wie es scheint.“
„So schlimm ist es auch nicht!“, protestierte Jardeen. „Tami und ich sind etwas übernächtigt. Und ich stehe hier in der Kaffeewüste und Juliette meint, ich solle beim Koffein mehr Maß halten. Eigentlich ist alles prima, genau wie sonst auch!“
„Das ist ja das Problem“, murmelte Isolda und blickte forschend zwischen ihm und Tami hin und her. „Eigentlich geht es euch gut. Ihr habt Albträume, die euch nicht schlafen lassen, aber tagsüber seid ihr recht unbelastet. Normalerweise hätte sich das langsam einpendeln müssen. Ihr verdrängt eure diversen Traumata nicht offensiv, ihr nehmt keine Drogen, trinkt höchstens mal ein Bier, habt eure Arbeit, eure Freunde, euren Golem. Selbstverständlich sind Albträume zu erwarten, wenn man schlimme Dinge durchgemacht hat. Hör auf, beschämt zu schnaufen, Tami. An Albträumen ist wirklich nichts peinlich und eure Freunde dürfen das wissen. Ja, dürfen sie! Was eben nicht normal sein kann ist, dass sich keine Besserung einstellen will.“
„Ich träume hyperrealistisch“, platzte es aus Tami heraus. „Es sind keine verfremdeten, irgendwie bizarr-bunten Träume, wie ich sie früher hatte. Ich träume wirklich minutiös genau das nach, was mir seit meiner Entführung aus dem Lagerhaus, in dem Paul ermordet wurde, alles widerfahren ist. Jede Nacht.“
„Ich auch“, sagte Jardeen leise. „In erster Linie träume ich von dem Kircheneinsturz, aber auch von all den anderen Sachen, die sich seitdem ergeben haben – als mich die Sirenenkönigin ins Koma versetzt und von Tami getrennt hat, die Trollfußballspiele, die toten Nymphen, der Absturz aus dem Ballon … Jedes Detail so realistisch, als würde alles noch einmal geschehen. Nacht für Nacht für Nacht.“
Betroffen starrten Douglas und Daphne sich an. Juliette hingegen wirkte seltsam erschrocken.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich Nachtmahrenmagie dahinter vermuten“, flüsterte sie. „Die wurde verboten, Nachtmahre dürfen sich auf dieser Welt nicht mehr austoben. Es kann also nicht sein! Und dennoch klingt es genau danach.“
„Würde sich ein Nachtmahr seit Monaten von diesen zwei Jungs ernähren, wären sie längst tot“, entgegnete Isolda nachdenklich. „Magisches Erbe hin oder her, sie sind zum größeren Teil menschlich. Und auch Nymphen- beziehungsweise Sirenenmagie erschöpft sich, wenn ein Nachtmahr sie leersaugt.“
„Aber was ist dann los?“, fragte Juliette.
„Dank der beiden Murphy-Flüche: Alles, was nicht festgewachsen ist“, entgegnete Isolda grimmig. So viel Stress wie in den letzten Monaten hatte ich nicht mehr, seit der Hexenhammer in Mode gekommen war und jeder dahergelaufene Strauchdieb meinte, Hexen verbrennen zu dürfen. Da war selbstredend keine einzige echte Hexe dabei. Das hat uns trotzdem jahrzehntelang in unserer politischen Planung zurückgeworfen, denn plötzlich war jede Frau verdächtig, die es wagte, in der Öffenlichkeit kluge Dinge zu sagen oder sich Männern zu widersetzen … Lästig. Lästig!“
Sie reichte Willarth, der vollkommen eingeschüchtert wirkte, an Jardeen weiter, und begann, in einer der vielen Taschen ihres Umhangs zu wühlen.
„Wo hab ich’s denn gleich …“ Isolada warf ein gigantisches Schlüsselbund mit mindestens fünfzig altertümlich wirkenden, teils rostigen Schlüsseln auf den Tisch. Gefolgt von einer Dschinnflasche, einer Schachtel mit Honigperlen, einem Schrumpfkopf, einem halbwegs frischen Bund Schnittlauch und einem schlafenden Däumlingswichtel. Den rüttelte sie wenig behutsam durch, bis er gähnend und sichtbar unwillig erwachte.
„Du Hallodri, wird’s bald?“, fauchte sie ungeduldig. „Ich brauche den Koboldlieferservice. Zackig. Vorgestern wäre mir genehm, also auf!“
„Reg dich ab, Schreckschraube, bin ja schon weg“, knurrte der Wichtel und verschwand gehorsam mit einem Fingerschnippen.
„Warum redest du nicht netter mit dem Kleinen?“, fragte Daphne mit gefurchter Stirn. „Vielleicht gehorcht er dir dann lieber?“
„Das ist Teil der Abmachung. Ich bin grantig zu ihm, er darf mich nach Herzenslust beleidigen. Ihn anzumotzen ist also ein respektvolles Arrangement. Solange alles seine Regeln hat, funktioniert es hervorragend. Wäre er ein hilfloser Wurzelgnom, würde ich ihn selbstverständlich mit mehr Rücksicht bedenken.“ Isolda lächelte gruselig, wie sie es gerne tat. Derweil kehrte der Wichtel mit einem Flügelkobold im Schlepptau zurück. Der zuckte zusammen, als er nacheinander Isolda, Willarth, Jardeen und Tami in Augenschein nahm.
„Ich hatte nichts mit der Sache zu tun!“, quietschte er zu Tode erschrocken.
Damit spielte er zweifellos auf Willarth‘ Entführung durch mehrere Kobolde an, die auf diese Weise Jardeen und Tami erpresst hatten, beim vorletzten Gathering teilzunehmen und sich auf ein Feld voller entfesselter Trolle und Oger zu werfen. Es war entnervend, dass sie seitdem nicht mehr in der Lage waren, normal mit Kobolden zu kommunizieren. Immerhin hatten diese Geschöpfe den gesamten Versand- und Lieferhandel unter sich, es war also ein bedenklicher Einschnitt in ihre Lebensqualität.
„Niemand hat behauptet, dass du irgendwas falsch gemacht hättest, Krummnase!“, zischte Isolda und wedelte zugleich ungeduldig mit den Händen. „Ich brauche echt-echte belgische Schokolade und Beschwörungskreide. Wenn’s geht, ein bisschen schneller. Abflug!“
Zutiefst eingeschüchtert verschwand der Kobold. Derweil schob sich Juliette näher heran.
„Planst du etwa eine Dämonenbeschwörung?“, fragte sie scharf. „Hältst du das für eine gute Idee? Ich meine, abgesehen davon, dass es noch illegaler kaum möglich ist? Was willst du damit erreichen?“
„Antworten erhalten, was sonst?“ Isolda riss dem Flügelkobold, der in diesem Moment zurückkehrte, Kreide und die Schachtel mit der Schokolade aus den Händen. „Sei unbesorgt, ich beherrsche dieses Spiel schon verdammt lange.“
„Oh, ich habe nicht die geringste Sorge, dass du mit jedem Dämon fertig wirst, den du in deine Beschwörungskreise einlädst. Aber für unsere normalsterblichen Freunde und ganz besonders für Willarth könnte das gefährlich werden.“
„Wie gesagt: Fürchte dich nicht, Kind.“ Isolda lachte meckernd, schnippte mit den Fingern und versetzte sie damit kurzerhand in Daphnes Büro. Sie selbst, Juliette, Douglas, Daphne, Jardeen, Willarth, Tami und sogar der Kobold, sie waren vollständig in den Nebenraum umgezogen.
„Darf ich bleiben?“, fragte der Kobold schüchtern. „Da ich ja keine Luxusrationen für die Ware bekomme, wäre es nett, zuschauen zu dürfen …“
„Jajaja, bleib hier, halt die Klappe und bleib vom Beschwörungskreis weg.“ Isolda ging schnaufend wie ein kaputtes Dampfschiff in die Knie und begann, einen Dämonenkreis zu zeichnen. Dabei murmelte sie recht schlicht klingende Worte, die nicht zu dem sonst üblichen unheilig und rau klingenden Hexenbeschwörungen zu passen schienen. „Es wird ein bisschen dauern“, sagte sie nach einer Weile und richtete sich zufrieden auf. „Der Dämon muss mehrere Zeitenebenen und Dimensionsverschiebungen überwinden.“
„Auf was genau müssen wir uns jetzt einstellen?“, fragte Jardeen nervös und drückte Willarth beschützend an sich.
„Auf eine hochinteressante Erfahrung.“ Isolda lächelte schmallippig. „Ich würde niemals einen Dämonenfürst aus der Hölle herbeirufen. Die haben bloß schlechte Laune, brüllen herum, wollen Seelen an sich reißen, finden es gemein von mir, wenn ich ihnen nicht gebe, was sie begehren und überhaupt, sie sind furchtbar anstrengend und antworten auch nie anständig auf eine Frage, egal welches Opfer man ihnen bringt. Also rufe ich bei solchen Gelegenheiten lieber den Meister des Wissens zu mir. Er ist ein ganz besonderer Dämon. Sehr verfressen, man sollte immer feine Schokolade vorrätig haben. Dafür beantwortet er Fragen, sofern es etwas gibt, was wir Nicht-Dämonen wissen dürfen. Anstrengend ist er trotzdem und ihr dürft ihn bitte nicht unterschätzen! Ah, da kommt er …“
Es summte merkwürdig. Dann materialisierte sich eine bizarre Gestalt im Beschwörungskreis. Sie war … klein. Kaum handtellergroß ragte der Wicht vor ihnen auf, der das seltsamste Dämonenwesen war, das Tami sich vorstellen konnte. Es ähnelte einer Art Kröte mit grauer Haut und breitem Maul, das ein rotes Mäntelchen trug.
„Holladrihihi!“, rief der Knirps, überschlug sich mehrfach und verrenkte sich, bis sein Kopf praktisch auf dem Rücken auflag. „Mann, ist das frisch und stürmisch hier! Isolda, altes Warzengestell! Bei unserer letzten Begegnung warst du deutlich hübscher!“
„Groshphank.“ Würdevoll nickte Isolda ihm zu. „Unsere alte Übereinkunft ist intakt, nicht wahr? Ich muss uns nicht noch einmal die Zeit mit einem Dämonenvertrag stehlen?“
„Alles intakt, Süße. Lass mich mal kurz in Schwingung mit deiner Welt treten. War lange nicht mehr hier.“ Die Dämonenkröte platschte sich mit beiden Pranken gegen den Kopf und summte laut. „Gebongt!“, schrie er dann fröhlich und hüpfte umher, als hätte er ein Wettrennen gewonnen. „Okay. Was kann ich für dich tun?“ Er musterte die Gruppe, die um den Kreis stand, und schüttelte grinsend den Kopf. „Also dafür, dass es in eurer komischen Welt verboten ist, dass sich Mischlinge im Staatsdienst austoben, sind hier ja gleich ein ganzer Haufen von Kuriositäten versammelt. Ein Sirenenabkömmling, ein nymphischer Generationensprung, eine Nachtmahrentochter – holla, Gnädigste! Ein menschlich-schottisches Urgestein mit beeindruckender Wandlergestalt … Ein Golem mit echter Seele … Isolda, Isolda, du solltest nicht so tun, als wären Gesetze nur für die anderen gemacht worden! Ist aber echt niedlich, der Kleine. Doch du bist tatsächlich die interessanteste Figur hier.“ Die dreifingrige Dämonenklaue wies auf Daphne. Die glotzte verblüfft auf die Mini-Kröte herab.
„Groshphank!“, fauchte Isolda. Der Dämon fuhr leicht zusammen.
„Uups! Sorry, Hexe. Ich hatte übersehen, dass du das geheimhalten wolltest. Vergesst, dass ich irgendetwas gesagt habe.“ Er ließ sich auf den Hintern plumpsen, umfasste bei durchgestreckten Beinchen seine Zehen und blickte treuherzig zu Isolda auf. „Bin ganz brav. Welche Frage darf ich dir beantworten? Und bekomme ich dafür was Gutes?“
„Belgische Schokolade, mein Hübscher.“ Isolda winkte mit der Schachtel. „Kein Nachmacherzeug. Für diese Schokolade wurde die Muttermilch einer echten Kuh verwendet.“ Sie warf die Schachtel in den Kreis hinein, ohne die magischen Kreidelinien zu berühren. „Und nun sage mir, warum diese zwei Jungs an Albträumen leiden und was man dagegen tun kann.“
Groshphank fiel über die Schachtel her, als hätte er seit einem ganzen Äon hungern müssen. Dabei wies er mit seiner kleinen Pranke auf Tami.
„Murphy ist schuld!“, nuschelte er undeutlich. „Und ja, es ist ein Nachtmahr beteiligt. Der hat ein Schlupfloch im Höllengebot gefunden: Er lässt diese zwei Jungs leiden, raubt ihnen dabei aber keine Lebenskraft. Hat, wie gesagt, was mit Murphy zu tun. Du willst ja nicht, dass ich darüber Details ausplaudere, also bleib ich hübsch brav still. Was man dagegen tun kann, ist recht einfach: Das Schlafzimmer muss mit dämonischen Abwehrzeichen geschützt werden. Da die normale Höllensymbolik nicht funktioniert, sind ja beides Mischlinge und du willst sie nicht foltern, sondern heilen, würde ich zu nordisch-hexischer Runenmagie raten. Die macht Spaß und tut ihr Werk.“ Groshphank hüpfte im Kreis, das einem beim Zuschauen schwindelig werden konnte.
„Gibt es sonst noch etwas, was du mir sagen darfst?“, fragte Isolda.
„Eine Menge. Vieles davon weißt du selbst. Manches solltest du besser wahrhaben wollen, statt es vor dir selbst zu verleugnen. Und manches könntest du mal mit deinen armen Opfern teilen. Gerade bei Daphne wäre es unnett, noch lange zu warten. Das hat sie nicht verdient. Deine Helden könnten auch ein paar Informationen mehr verkraften, denke ich. Egal. Mehr sollte ich nicht laut aussprechen, du weißt ja, Wissen verändert den Schicksalsstrom.“
„Dann mach dich auf nach Hause, Groshphank, zu deinem Butler und deinen Menschenfreunden.“ Isolda winkte freundlich.
„Mach ich. Passt schön auf euch auf! Solch eine fiese Verwicklung von Murphy-Flüchen hab ich echt noch nicht gesehen. Bildschön. Also aus gesunder Entfernung ist das bildschön. Welch ein Glück, dass ich nicht näher dranbleiben muss … Tschüssi!“
Es puffte leise, dann war der seltsame Dämon fort. Ein Dämon, der sich nicht davor scheute, sich mit einem tschüssi zu verabschieden.
„Das war der beste und prächtigste und großartigste aller Wissensdämonen“, sagte Isolda. „Seine Worte, nicht meine. Ich werde zwei Hexenschwestern auftreiben und dazu bringen, mir beim Anbringen der Runen zu helfen. In etwa einer Stunde kannst du die beiden Jungs nach Hause zum Ausschlafen schicken, Daphne. Ab morgen werden sie dir frisch und munter zur Verfügung stehen.“
„Was meinte diese Kröte damit, dass ich das interessanteste Mischlingsexemplar in diesem Raum bin?“, fragte Daphne leise. „Ich meine, wie kann irgendjemand interessant sein, der neben Juliette steht? Und seit wann bin ich ein Mischling?“
„Was man als interessant bezeichnet, ist Geschmackssache“, erwiderte Isolda und lächelte arg gequält. „Es ist der falsche Zeitpunkt, dir mehr über deine wahre Natur zu verraten.“
„Es hängt damit zusammen, dass alle Männer sterben, die ich liebe, ja?“ Daphne war so bleich, sie schien beinahe durchsichtig zu sein.
„Ja, damit hängt es zusammen. Und nein, du bist keine Banshee. Alles Weitere wird jetzt nicht diskutiert, Liebes. Es gibt überhaupt nichts Schlimmeres, als die richtige Diskussion zur falschen Zeit zu führen. Daraus entsteht nichts als Ärger, Stress und Unglück.“
„Frei von Unglück ist niemand, sagte Sophokles“, murmelte Willarth. „Unglück verschafft einem Rechte, war die Meinung von Voltaire. Ein Unglück kommt selten allein, so jedenfalls ein Sprichwort aus Deutschland. Während Shakespeare sagte, dass dem Unglück Bekümmernis vorangeht und es ein Prüfstein der Gemüter ist. Walpole, der Earl of Orford meinte hingegen, dass ausschließlich Langeweile das Unglück derjenigen ist, die es glücklich im Leben angetroffen haben. Und für die alten Franzosen war klar, dass auch ein Unglück für irgendetwas gut sein muss.“ Er seufzte, vermutlich erleichtert, weil er nun endlich mit einer Handvoll Zitate herausplatzen durfte. Isolda streichelte ihm liebevoll über den Kopf.
„Wenn wir dich nicht hätten, das wäre das größtmögliche Unglück, das man sich vorstellen kann. Nun denn. Ich muss Runen in Gestein brennen. Bedenkt, ihr zwei, dass euch dies lediglich in eurem eigenen Schlafzimmer schützt. Wenn ihr woanders einschlaft, und sei es in der Badewanne, werden euch die Albträume finden.“
„Wenn wir von jetzt an nachts schlafen gehen können und wissen, ob grauenhafte Albträume auf uns warten werden oder nicht, ist das schon absolut großartig“, brummte Tami.
„Ihr seid nicht vor normalen Albträumen geschützt. Das ist ein Punkt, den ihr nicht unterschätzen solltet.“
„Alles ist besser, als jede Nacht jedes einzelne Detail hyperrealistisch inklusive Gerüchen, Farben und Empfindungen neu durchmachen zu müssen“, sagte Jardeen. „Ich bin froh, dass das jetzt vorbei ist.“
„Warum habt ihr nicht vorher gesagt, was los ist?“, fragte Juliette, als Isolda sich ohne weiteren Abschied oder das sonst gewohnte Zeremoniell mit Rauch und Donnerschlag davongemacht hatte.
„Ich weiß es nicht“, sagte Tami langsam. „Es war so ein Gefühl, als wäre es falsch, darüber zu reden. Ich hatte mal vor ein paar Wochen, als du uns von deiner Abstammung erzählt hast, das Empfinden gehabt, dass ich Jardeen fragen sollte, ob er ebenfalls hyperrealistisch träumt. Ich habe es nicht getan. Jedes Mal, wenn ich mich daran erinnert habe, schien es einfach der falsche Moment dafür zu sein.“
„Auch das klingt nach Nachtmahren-Magie“, entgegnete Juliette. „Die Opfer könnten eigentlich um Hilfe bitten und sich dadurch möglicherweise retten, doch ihnen fehlt die Kraft. Irgendetwas hemmt sie, sie vergessen ihr Vorhaben, sie fürchten sich davor, ausgelacht zu werden. Solche Dinge. Ich frage mich, ob es mein Vater ist, der euch das antut, oder irgendein anderer Nachtmahr. Ich hätte Groshphank gerne danach gefragt, aber ich wusste, dass er mir das nicht beantworten würde.“
„Ich habe nie begriffen, wozu diese prophetische Gabe gut sein soll, wenn man auf keinen Fall irgendetwas ausplaudern darf, um den normalen Verlauf des Schicksals nicht zu gefährden“, grollte Douglas. „Klar, ich verstehe das Ding mit sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Ich verstehe sogar das quantenmechanische Gleichnis mit Schrödingers Katze, die so lange sowohl tot als auch lebendig ist, wie man die Kiste nicht öffnet, um ihren Zustand zu überprüfen. Aber Herrgott, wozu braucht man dann das Talent der Hellsicht oder Allwissenheit, wenn man es überhaupt nicht benutzen darf? Bringt demjenigen, der es besitzt, doch ausschließlich Leid und Schmerz, oder?“
„Groshphank sah nicht aus, als würde er leiden“, murmelte Tami.
„Er ist ein Dämon. Wahrscheinlich findet er es ziemlich gut, leiden zu dürfen. Je mehr desto besser“, knurrte Douglas. „Wichtig ist, dass ihr gleich brav nach Hause geht. Ich spendier dir einen Kaffee, Jardeen, damit du bis dahin nicht aus den Latschen kippst.“
„Beschäftigt euch, wie ihr es für richtig haltet“, sagte Daphne. Noch immer war sie sehr, sehr bleich und Tami konnte es mehr als gut verstehen. Niemand wollte im höheren Lebensalter herausfinden, dass er klammheimlich Mischlingsgene besaß, die sein gesamtes Leben beeinflusst hatten. Für Jardeen war es bereits ein unterträglicher Schock gewesen, obwohl es mit seiner makellosen Schönheit und seinem Sexappeal eindeutige Hinweise gegeben hatte. Für ihn selbst war zumindest klar gewesen, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch sein musste, darum hatte es ihn weniger hart getroffen. Für Daphne hingegen … Welche Kreatur brachte den Tod über jeden, den sie liebte? Hexen möglicherweise. Wobei Daphne nichts von einer Hexe an sich hatte und Tami bis heute eher bezweifelte, dass sich Hexen auf normale Weise mit Sterblichen fortpflanzen konnten, selbst wenn sie es wollten. Banshees hatte Isolda ausgeschlossen. Und sonst? Ein großes Mysterium war das!
Jardeen war ein bisschen nervös, als sie die Wohnung betraten. Doch es war weit und breit keine Hexe mehr zu sehen. Im Schlafzimmer fanden sie hingegen rot leuchtende nordische Runen an den Wänden, der Decke und dem Boden vor. Jede war armlang, prangte genau in der Mitte der jeweiligen Wandfläche und wirkte ebenso archaisch wie beruhigend vertraut. Auf ihren Wandleramuletten waren immerhin ähnliche Runen eingraviert.
„Das sind altnordische Runen, wie sie zum Beispiel in Island in der Zeit von etwa achthundert bis tausend nach Christus verbreitet waren“, dozierte Willarth. „Es sind Buchstabenzeichen, sie können allerdings auch für jeweils ein Wort stehen, wenn man diversen Lesarten glauben mag. Das dort an der Decke hat den Buchstabenwert L. Es wird Laugr gesprochen und kann Leben bedeuten. Die Rune am Boden hat den Wert E und bedeutet Gesetz.“
„Sehr faszinierend, Willarth“, fiel Jardeen ihm ins Wort und gähnte herzhaft. Er hatte sich noch nie in seinem Leben so haltlos auf sein Bett gefreut wie jetzt. „Erzähl uns nach der Schlafpause mehr darüber. Unbedingt.“
„Es ist großartig, dass wir von Zeichen beschützt werden, die für Leben und Gesetz stehen“, murmelte Tami und kollabierte regelrecht auf die Matratze. „Ich will gerne wissen, was die anderen bedeuten. Aber erst mal …“ Der Rest des Satzes ging in einem gewaltigen Gähnen unter.
Jardeen und Tami schmiegten sich kurz aneinander, küssten sich, während Willarth sich auf seinem eigenen Kissen niederließ. Sicherlich war er gar nicht müde, dennoch legte er sich mit ihnen gemeinsam zum Schlafen nieder, wie er es immer tat.
Die sonst so gewohnte Anspannung, sobald er die Augen schließen wollte, blieb aus. Keine Angst plagte ihn vor den Träumen, die sonst unausweichlich gewesen waren. Eine gewisse Unruhe ließ sich nicht leugnen, schließlich war er daran gewöhnt, lediglich aus Erschöpfung in den Schlaf zu fallen und sich ansonsten zu quälen, weil die Träume unerträglich waren. Diese Unruhe störte ihn nicht weiter. Schlaf. Was freute er sich darauf! Und was für ein wunderbares Geschenk es doch war, keine Angst mehr leiden zu müssen! Verfluchter Murphy. Verfluchter Nachtmahr. Und wenn dieser prächtige Wissensdämon hundert Mal behauptete, der Fluch wäre ein bildschönes Ding, Jardeen wusste es besser …
Über diesen Gedanken schlief er ein und kein einziger Traum störte seine Ruhe.
Gestörte Feiern
„Lalala la-laaa.“
Jardeen beobachtete Tami, der leise vor sich hinträllernd Memo-Kristalle in die entsprechende Digitalisierungsmaschine versenkte. Berichte für die Ewigkeit vorzubereiten, war ein recht langweiliger Prozess. Hingegen seinen Liebsten fröhlich, ausgeschlafen und fit zu erleben, eine absolute Gnade. Seit drei Nächten schliefen sie albtraumfrei und es erschien ihnen noch immer wie ein Wunder. Dass ein Nachtmahr ihnen das angetan hatte, war kaum zu verstehen. Was um Himmels Willen konnte dadurch gewonnen werden, sie langsam zu zermürben?
Andererseits war es eine solch subtile Attacke gewesen, dass nicht einmal Isolda sie durchschaut hatte, bevor es fast zu spät gewesen war. Überhaupt erschien die Hexe sehr überfordert und angestrengt zu sein. Es machte Jardeen bewusst, dass Tami und er im Mittelpunkt einer Schlacht gelandet waren, bei der sie weder wussten, wer gegen wen Krieg führte, noch um welches Ziel gekämpft wurde. Dass man ihnen keine Wahl ließ, sich für eine Seite zu entscheiden oder der Angelegenheit gänzlich zu entziehen, war da beinahe schon nebensächlich. Da er wenig genug tun konnte, um sein eigenes Überleben zu garantieren, erfreute er sich lieber an Kleinigkeiten, solange es ihm noch möglich war. Beispielweise also am selbstvergessenen Gesang seines Liebsten, der ihm gerade ein hinreißendes Lächeln schenkte.
Ihre kurze Idylle wurde von lautem Poltern vor ihrer Tür unterbrochen. Irritiert eilte Jardeen mit Tami auf den Fersen hinaus …
… und sah John, der fluchend am Boden kauerte und versuchte, einen riesigen Stapel Akten zusammenzuklauben, der ihm offenbar aus den Händen geglitten war. Formulare und Tatortfotos verteilten sich überall.
Jardeen und Tami knieten sich nieder und auch Willarth half fleißig mit, die Unterlagen aufzusammeln und möglichst richtig zuzuordnen.
„Alles klar bei dir?“, fragte Tami vorsichtig.
„Ich geh mir selbst auf den Keks“, brummte John. „Susan hat ja recht damit, dass ich meine Berichte schlampig schreibe. War mir bloß nie bewusst, ich dachte, ich mach da einen guten Job. Ich komme auch gerade nicht wirklich damit klar, wie viele Fehler sie mir aufzeigt. Also wollte ich meine alten Berichte von diesem Jahr durchgehen und schauen, ob ich mich da ebenfalls blöd angestellt habe. Susan ist gerade mit einer Zeugenaufnahme beschäftigt, ich dachte, der Moment ist günstig. Hab mir bloß mehr aufgeladen, als ich tragen konnte.“ Er ließ seufzend die Arme hängen und starrte trübsinnig auf die vielen Papiere. „Ich bin vielleicht nicht der ehrgeizigste Typ, der hier herumläuft. Es macht mich trotzdem fertig, wenn ich als Idiot dastehe, der keine fünf Sätze gerade schreiben kann.“
„Milne, der Erfinder von Winnie Puuh sagte: Man muss einfach jemanden respektieren, der Dienstag buchstabieren kann, auch wenn es nicht ganz richtig ist. Aber Buchstabieren ist nicht alles. Es gibt Tage, an denen es einfach nicht zählt, ob man Dienstage richtig buchstabieren kann“, sagte Willarth und lächelte aufmunternd. John lächelte müde zurück.
„Leider zählt es eine Menge, ob ich buchstabieren kann, und das muss mehr als bloß das Wörtchen Dienstag sein … Susan meint es nicht mal böse. Sie weiß glaub ich gar nicht, wie man bösartig sein kann. Das macht es allerdings noch schlimmer. Ich kann nicht auf sie schimpfen, auch wenn sie eine recht anstrengende Art hat, ihre wohlmeinende Kritik zu verteilen.“
Wie aufs Stichwort kam Susan um die Ecke und stockte erschrocken im Schritt.
„Oje“, meinte sie trocken und hockte sich nieder, um mit anzupacken. Johns Mienenspiel zeugte von Verzweiflung.
In diesem Moment ploppte eine Botenfee aus dem Nichts.
„Nachricht von Virginia Lavender an John O’Shea“, sagte sie. „Möchten Sie einen privaten Ort dafür aufsuchen, Sir?“
Das war normalerweise ein Zeichen, dass der Inhalt der Nachricht nicht für die Allgemeinheit geeignet war. John zuckte jedoch mit den Schultern. „Meine Freundin schickt mir schon lange keine peinlichen Botschaften mit Sexinhalten mehr. Lass es raus. Hab ich irgendein wichtiges Datum vergessen?“
„Nein, Sir.“ Die Fee räusperte sich und blickte auf das umstehende Publikum. Jardeen und Tami schauten sich an und richteten sich auf, um für einen sofortigen Rückzug bereit zu sein. Doch da legte die Fee bereits los:
„John, ich mache Schluss. Du arbeitest ständig, und wenn du nicht arbeitest, denkst du entweder an deine Fälle, deine Kollegen oder deine Sportübertragungen. Eigentlich wollte ich dich schon vor Monaten verlassen, aber ich hatte Mitleid nach deinem Unfall. Jetzt ist Schluss. Es ist … krank, dieses ständige Denken an Tote, Unfallopfer und Mörder. Immer geht es um den Tod! Du bist sehr, sehr krank, John. Denk mal darüber nach. Ich jedenfalls will mit jemandem zusammen sein, der sich für das Leben interessiert. Hoffentlich geht es dir irgendwann besser. Ich bete, dass du diese Fixierung auf den Tod überwinden kannst. Hab ein gesundes Leben.“ Die Fee räusperte sich erneut. „Ende der Botschaft.“
John saß sehr still am Boden, die Hände voll mit Fotos von toten Menschen, umgeben von Berichten darüber, wie genau diese Menschen zu Tode gekommen waren. Mindestens eine ganze Minute lang rührte sich niemand.
Dann tappste Willarth auf ihn zu und streichelte über Johns Schulter. „Liebe bringt Freude zuerst, doch am Ende nur Leiden im Herzen, sagte der große Ovid“, murmelte er in tröstendem Tonfall. John blickte ihn aus großen Augen an, ohne ein Wort zu sagen. Tami trat vor und reichte der Fee Honigperlen, die sich artig dafür bedankte und verschwand.
Susan hockte sich derweil neben John und knuffte ihn leicht gegen den Arm.
„Ich bin echt furchtbar bei solchen Sachen“, sagte sie leise. „Was kann ich tun oder sagen, damit es dir besser geht?“
John atmete mehrmals tief durch. „Ich würde gerne etwas hören, wo du die Worte Ich habe noch einen Brownie für dich und Lust auf eine Tasse Tee einbaust“, entgegnete er dann. „Ansonsten brauch ich gerade keinen weiteren Trostversuch. Das war jetzt so dermaßen unerwartet …“ Er schüttelte den Kopf, schien unter Schock zu stehen. „Heute Morgen hat sie mir einen schönen Tag gewünscht. Und einen Kuss gegeben. Gestern Abend haben wir darüber gesprochen, was wir nächste Woche an Essensbestellungen aufgeben müssen. Ich verstehe das gerade alles nicht …“
„Ich hab noch Brownies, auf denen dein Name steht“, sagte Susan sanft. „Und ich glaube, ich wollte gerade für Tee sorgen. Wenn du soweit bist, komm einfach ins Büro.“ Sie versetzte ihm einen herzhaften Klaps auf den Rücken, stand auf und eilte in den Aufenthaltsraum hinüber, zweifellos, um Tee aufzusetzen.
Jardeen half John beim Aufstehen. Er wusste nicht, was er sagen sollte, darum nickte er bloß. John nickte zurück. Tami übernahm ihn und half, dass der arme Kerl den Weg in sein Büro fand.
„Ich konnte die blöde Zicke sowieso nicht leiden“, erklang Douglas‘ Stimme, sobald Tami und John außer Hörweite waren. Douglas stand mit verschränkten Armen in der Tür seines eigenen Büros. Er war der Einzige von ihrem Team, der Virginia jemals persönlich getroffen hatte, soweit Jardeen wusste. „Die ist echt schön, aber meine Güte, dermaßen auf dem Esoterik-Trip. John liebt sie. Von ganzem Herzen. Das wird richtig hart für ihn. Dass sie so feige ist, über Botenfee Schluss zu machen, passt zu ihr. Die weiß genau, dass John geheult hätte, wenn sie es ihm persönlich sagt. Und dann wäre sie eingeknickt. Die wollte garantiert schon seit Ewigkeiten abhauen und hat einfach nicht den Arsch in der Hose gehabt, es durchzuziehen.“
„Feigheit ist die Mutter aller Grausamkeit, sagte Seigneur de Montaigne“, murmelte Willarth. „Ich finde es traurig, wenn jemand aus Feigheit dort bleibt, wo er nicht sein will. Es wäre für Mr. O’Shea so viel gnädiger gewesen, wenn sie ehrlich hätte sein können.“
„Wenn die Menschheit ehrlich und mutig wäre, hätten wir nur noch Unfälle zur Bearbeitung“, sagte Susan, die mit zwei Tassen Tee an ihnen vorbeilief.
„Amen, Schwester“, murmelte Douglas. „Wenigstens ist der Junge bei ihr in guten Händen. Mit ihren Brownies kann sie Tote wieder auferstehen lassen. Ich schau dann nachher mal nach ihm, wenn er Gelegenheit hatte, sich zu sammeln. Und ich warne Daphne vor, dass die beiden für heute komplett ausfallen. Kümmert ihr euch um dieses Chaos?“
„Machen wir“, sagte Tami. „Celestral ist noch mit Akim und Filo unterwegs?“
„So isses. Die Kleinen machen sich langsam, meint sie. Die können wir bald auf ihren ersten echten Mordfall ansetzen.“ Celestral und Douglas hatten die beiden jüngsten Ermittler im Team unter ihre Flügel genommen, damit sie möglichst schnell voll einsatzfähig wurden. Es hatte sie durchaus aufgehalten, zumal das Team geschrumpft war und Susan auch erst einmal angelernt werden musste. Doch es zahlte sich langfristig aus, darum hatten sie sich für diesen Weg entschieden, obwohl es für sie alle großen Stress bedeutete.
Douglas ließ die Nackenwirbel knacken, bevor er sich zu Daphnes Büro aufmachte. Tami und Jardeen sortierten sich weiter durch die verstreuten Unterlagen.
„Heute Abend ist es soweit, hm?“, sagte Jardeen leise. Er wusste, dass sein Partner nicht gerne daran erinnert werden wollte … Sie waren für heute Abend zu einer Party bei Tamis Familie eingeladen. Dessen Adoptiveltern hatten sich gleich zwei neue Kinder ausgesucht, denen sie ein Zuhause geben wollten. Vierjährige Zwillingsjungen, deren Vater unbekannt war. Die Mutter hingegen war überfordert und psychisch nicht geeignet, sich um die Kinder zu kümmern. Im Klartext: Sie hatte die Jungen mehr als einmal krankenhausreif geprügelt.
Es hatte offenbar lange gedauert, bis Tamis Familie die Adoption durchbringen konnten. Eigentlich sollte die Feier schon um vierzehn Uhr beginnen, aber es hatte sich um drei Stunden nach hinten verschoben, damit Cayrill, Tamis Adoptivschwester, ebenfalls dabei sein konnte.
Tami blickte ihn nur leiderfüllt an. Er hatte keinen Bedarf an weiteren Adoptivgeschwistern. Natürlich gönnte er es den Kindern, dass sie von nun an in einer stabilen Familie leben und auf bestmögliche Weise gefördert werden würden. Dass sie Eltern bekamen, die sich zu jeder Zeit Arme und Beine für sie ausreißen würden. Das war wunderbar und die Jungen hatten diese Chance verdient. Es musste trotzdem nichts mit Tami zu tun haben. Er wurde in diesem Szenario nicht benötigt, war zu sehr mit sich selbst und dieser Murphy-Sache beschäftigt, um sich für zwei Kleinkinder zu begeistern, die von heute an seine Brüder sein sollten. Damals hatten seine Eltern ihn gerettet. Heute wäre er glücklich, wenn sie vergessen würden, dass es ihn überhaupt gab. Sie waren liebenswert. Und unendlich anstrengend.
„Wer zeitig feiern will, muss fleißig arbeiten“, sagte Willarth und lächelte strahlend, während er eine weitere ordentlich gefüllte Akte schließen konnte. „Manchmal ist es allerdings auch vollkommen in Ordnung, gar nichts zu tun. Ich glaube, Mr. Jardeen, Mr. Ellian, dass eine Pause eine gute Idee sein könnte. Eine Pause, in der wir diese vielen Akten zu Mr. O’Shea bringen und ihm sagen, dass wir an ihn denken.“
„Ich weiß nicht. Vielleicht will er lieber allein sein?“, fragte Jardeen unsicher. „Ich bin nicht gut mit Leuten, die Liebeskummer haben. Jemand, der gerade erfahren hat, dass sein Ehepartner oder ein Familienmitglied gestorben ist, zieht sich in der Regel eher zurück. Ich stelle mir das zumindest ähnlich vor.“
Tami zuckte ratlos mit den Schultern. Liebeskummer gehörte offenbar auch nicht zu seiner Expertise.
„Warum fragen wir ihn nicht?“ Willarth kletterte an Jardeens Bein hoch und setzte sich auf seine Schulter. Er holte tief Luft – und stockte. „Ich hätte beinahe etwas aus den Leiden des jungen Werthers zitiert, Mr. Jardeen“, sagte er kleinlaut. „Ich weiß, dass Sie diese Geschichte gar nicht schätzen. Wenn es stimmt, was Mr. Douglas sagte, eben dass Mr. O’Shea diese Frau sehr geliebt hat, dann wird er möglicherweise schlimme Schmerzen leiden. Es sollten ihm Freunde beistehen und zeigen, dass er keineswegs allein ist.“
„Er wird uns schon rausschmeißen, wenn wir ihm zu viel sind“, murmelte Tami.
Gemeinsam packten sie sich jeweils einen großen Stapel an Akten auf und klopften an die Tür des Büros, das sich Susan und John teilten. Sie war es, die ihnen öffnete. John stand am Fenster, mit der Teetasse in der Hand, aus der er nicht zu trinken schien. Er wirkte seltsam verloren und weit, weit entfernt, auf eine Weise, wie Jardeen ihn noch nicht erlebt hatte. John war normalerweise ein lauter Typ, durchaus charmant, manchmal ein wenig arrogant. Es tat ihm leid, ihn so angeschlagen zu erleben.
„Können wir etwas tun?“, fragte Tami und lehnte sich einige Schritte entfernt an die Wand.
„Keine Ahnung“, sagte John tonlos.
„Wir könnten eine Botenfee in deine Wohnung schicken, ob diese ausgeräumt ist. Und vielleicht wäre es klug, wenn du dir heute Nacht eine andere Bleibe suchst“, sagte Jardeen. „Du kannst gerne bei uns auf die Couch. Oder du gehst zu Douglas, wie es dir lieber ist. Auf jeden Fall wäre es nicht klug, allein in deiner Bude zu hocken.“ Er dachte an den Moment zurück, als das Meer ihn ausgespuckt, oder vielmehr, die Sirenenkönigin ihn fortgebracht hatte. Ohne Douglas hätte er möglicherweise den Verstand verloren und in Tamis Wohnung hätte er es im Leben nicht allein ausgehalten. Schnell verdrängte er diese Erinnerungen, die intensiven Gefühle, die hochzuwallen drohten.