Die tiefste Sehnsucht - Holger Niederhausen - E-Book

Die tiefste Sehnsucht E-Book

Holger Niederhausen

0,0

Beschreibung

Was ist des Menschen tiefste Sehnsucht? Was ist sein wahres Wesen? Können wir in einer Zeit, in der das abstrakte Denken und der nüchterne Intellekt, aber auch das Bedürfnis nach Genuss und Unterhaltung immer stärker zu werden scheinen, Wege zu einem ganz anderen seelischen Erleben finden? Auf welchen Wegen kann die Seele wieder die Möglichkeit finden, reine und tiefe Gedanken, Empfindungen und Willensimpulse in sich zu erwecken? Dieses Buch möchte den Leser zu einem tieferen Erleben der eigenen Seele führen – zu einem Erleben, wo der Mensch beginnt, wirklich sich selbst zu begegnen, seine tiefste Sehnsucht zu empfinden und immer mehr das wahre Wesen des Menschen zu ahnen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 284

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also dass ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.“

1. Korintherbrief 13, 1-2.

Mit diesem Buch geht es um das Wesen des Menschen. Jeder Einzelne von uns steht innerlich und äußerlich an einem anderen Ort – und doch lebt tief innerlich in jedem Menschen eine Sehnsucht, die allen Menschen gemeinsam ist.

Was ist Ihre tiefste Sehnsucht? Fühlen Sie einmal tief in sich hinein...

Wenn Sie dies tun, werden Sie vieles finden, was Ihnen wesentlich ist. Und je ernsthafter und wahrhaftiger Sie dieser Frage nachgehen, werden Sie immer mehr fühlen, was Ihnen am wichtigsten ist, was Ihre tiefste Sehnsucht ist. Hören Sie nicht zu früh auf, nach einer Antwort zu suchen. Versuchen Sie einmal, eine ganze Zeit mit dieser Frage zu leben, vielleicht einige Tage, vielleicht sogar Wochen. Fragen Sie sich so aufrichtig wie möglich, was Ihre allertiefste Sehnsucht ist, womit sie zusammenhängt, auf was sie sich richtet...

Vielleicht sind Sie ein vielbeschäftigter Familienvater, der einen anstrengenden Beruf und zwei liebe oder weniger liebe Kinder hat; vielleicht sind Sie eine Frau, die beruflich oder als Mutter – oder beides – mitten im Leben steht. Vielleicht sind Sie auch in einer ganz anderen Situation – vielleicht sind Sie Studentin, Rentner, Hausfrau, alleinlebend, Millionärin, Nachtwächter. Was auch immer Ihre eigene Lebenssituation ist – Sie werden sich in das, wovon ich schreibe, hineinversetzen können. Sie können fühlen, was – in ähnlicher oder ganz anderer Form – auch für Sie Bedeutung hat; können Anteil nehmen an dem, was ich sage; können empfinden, worum es geht, und dem Weg der Gedanken folgen, der weiter in die Tiefe führen wird...

Dass Sie innerlich Anteil nehmen und innerlich aktiv – auch im Fühlen aktiv – mitlesen, ist wichtig, denn sonst wird jedes Buch der Welt nur zu einem bloß intellektuell verfolgten Text, der mit Ihnen selbst kaum mehr zu tun hat. Dann aber können Sie auch aus diesem Buch nichts Tieferes entnehmen, es wird in Ihnen nichts verändern, Sie werden sich nicht verändern. – Alles jedoch, woran man wahrhaft Anteil nimmt, verändert auch einen selbst. Wenn man sich auf dieses Abenteuer einlässt, wird man staunend entdecken können, welche innere Entwicklung uns Menschen möglich ist und auf welchen Wegen wir das Wesen des Menschen immer mehr finden...

Vielleicht also sind Sie ein vielbeschäftigter Familienvater... (Und wenn Sie es nicht sind: versetzen Sie sich hinein, nehmen Sie auch an dieser Situation Anteil; Sie werden sehr bald merken, was dadurch geschieht, wie regsam und lebendig das innere Erleben dadurch wird). Vielleicht haben Sie zwei Kinder und lieben sie, lieben auch Ihre Frau, auch Ihren Beruf. Vielleicht haben Sie nette Kollegen und Kolleginnen. Vielleicht aber ist auch nicht alles so schön – vielleicht haben Sie auch Ärger mit den Kindern, Streit mit der Frau, Schwierigkeiten im Beruf, eine kranke Mutter...

Je zufriedenstellender im Großen und Ganzen alles ist und geht, desto weniger Fragen stellen sich zunächst. Das Leben ist schön, erfolgreich; man hat alles, was man braucht, oder ist zumindest auf dem Wege dorthin. Man hat seine Überzeugungen, seine Lebensanschauung(en), es ist eigentlich größtenteils alles in Ordnung. Was noch?

Aber auch, wenn man viele Sorgen und manches Leid hat, kann es sein, dass man dem Leben zwar Vorwürfe macht, sich vielleicht auf der „Schattenseite des Lebens“ fühlt, aber trotz allem keine tieferen Fragen stellt. Man kann sich dann sehr leicht sagen: Ja, es gibt Menschen, die haben Zeit und Ruhe für solche „Luxus-Fragen“. Hätte ich ein paar Sorgen weniger, hätte ich diese Zeit und Ruhe auch... Nun aber muss ich sehen, wie ich überhaupt zurecht komme. In meinem Leben ist größtenteils eigentlich nichts in Ordnung – und was soll ich denn noch?

Hier haben wir zwei Extreme. Im zweiten Fall, da, wo der Mensch dem Leid und den Sorgen begegnet, ist man sich oft ein wenig mehr bewusst, dass es auch tiefere Fragen gibt, als sie sich der Mensch gewöhnlich stellt. Und dennoch wird auch hier oft vor diesen tieferen Fragen ... ausgewichen.

Man blickt also auf das Leben – es ist positiv oder negativ –, und man fragt sich: Was noch? Ist nicht alles, wie es ist, schön – oder schlimm – genug? Worum soll es denn noch gehen...?

*

Auf diese Frage: „was noch?“, „geht es denn um noch mehr?“, muss jeder Mensch selbst die Antwort finden. Wenn er sich selbst sagt: „Um mehr geht es nicht“, dann kann ihn niemand umstimmen – es sei denn, er lässt sich irgendwann umstimmen, von anderen Menschen oder vom Leben selbst.

Je mehr man auf sich selbst konzentriert ist, nur auf sein eigenes Leben und den engen Umkreis, den man zu seinem eigenen Leben zählt – Frau/Mann, Kinder, Eltern, Freunde –, desto weniger und desto schwerer wird man zu dem Erleben kommen, dass es doch um „mehr“ gehen könnte; dass das Menschsein noch etwas ganz anderes bedeuten könnte, als nur diesen sehr kleinen, eigenen Kreis von Glück zu haben – eines Glücks, das überdies sehr gefährdet ist, oft überhaupt nicht vorhanden ist, obwohl es durch Werbung, Filme und andere Medien immer wieder als verbreitetes Standardbild, sozusagen als „Mehrheits-Wirklichkeit“ verbreitet wird.

Andererseits ist wohl auch niemand so hartherzig, dass er sich nicht schon einmal Gedanken über arme Waisenkinder, verhungernde Menschen, gequälte Tiere oder andere Not gemacht hätte, die über seinen persönlichen Umkreis hinausgeht. Und wieder kann man die Frage stellen: Geht es denn um noch mehr?

Jede Antwort auf diese Frage kann für einen selbst nur dann Gewicht und Bedeutung haben, wenn man sie selbst erlebt. Aber die Frage ist: Was geschieht eigentlich, wenn die Gedanken und Gefühle über den eigenen kleinen Umkreis hinausgehen – wenn sie weit werden? Was geschieht dann mit dem Menschen?

*

Der Mensch mit einem zunächst kleinen, persönlichen Umkreis weiß nicht, was dann geschieht – und zugleich weiß er es tief innerlich doch. Denn je weiter, je tiefer und umfassender unsere Gedanken und unsere Gefühle werden, desto weiter, tiefer und umfassender wird auch unser ganzes Menschsein, unser Menschentum.

Was der Mensch sein kann, in Wirklichkeit, das ahnen wir in seltenen, besonderen Stunden... Und es lebt in uns auch eine große Sehnsucht nach diesem wahreren, weiteren Menschentum. Basiert nicht ein großer Teil der Literatur und Filmwelt auf der Idee, dass sich die Gefühle, die Gedanken, die Willensimpulse eines Menschen vertiefen können, dass sie lichtvoll und edel sein können?

Was ist die innerste Sehnsucht des erfolgreichen Geschäftsmannes? Sehnt er sich nach einer Ehefrau aus gutem Hause, die seinen eigenen Rang und Erfolg gebührend repräsentiert, eine tüchtige Gemahlin mit gehobenem Geschmack und gehobenem Anspruch, gleichsam „nach seinem Bilde“? Oder sehnt nicht selbst er sich im Innersten vielmehr nach der buchstäblich märchenhaften Jungfrau, deren äußere Schönheit nur das wahre Bild ihrer inneren Schönheit ist, weil ihr ganzes Wesen anmutig und unschuldig, rein und voller Hingabe, aber auch mutig und wahrhaftig ist...?

Und die Frauen? Sehnen sie sich nach äußerlich erfolgreichen Männern, die mit dem richtigen Job richtig viel Geld verdienen, um ihnen alles bieten zu können? Oder auch einem Mann, der ihren eigenen Karriereplänen Verständnis entgegenbringt? Oder sehnen Sie sich im Innersten nicht oft genug nach einem buchstäblich märchenhaften Ritter, dessen äußere Schönheit ein Wahrbild seiner inneren Schönheit ist, weil er in seinem ganzen Wesen ritterlich, mutig, aufrichtig und gerecht ist?

Wenn wir aber die Realität einer solchen oder ähnlichen Sehnsucht erleben, das heißt, uns klarmachen, dass solche Sehnsucht in unserem Innersten lebt, dann können wir doch auch erkennen, dass in solchen Vorstellungen etwas von demjenigen sichtbar wird, was für unser Innerstes wahres Menschentum bedeutet. Denn würden wir solche Sehnsucht haben und uns in Menschen verlieben, die dieser Sehnsucht nahekommen, wenn sich darin nicht gerade dies spiegeln würde: das wahre Geheimnis des Menschen? Tief innerlich wissen wir also um dieses Geheimnis – und sehnen uns danach.

*

Versuchen Sie einmal, das folgende innere Erleben so intensiv wie möglich mitzuvollziehen – so, als wenn es Ihr eigenes wäre. Es ist das Erleben einer Frau, die schon drei Jahre unschuldig im Gefängnis verbracht hat, während der Zeit des Ersten Weltkrieges:

Ach, Sonitschka, ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt; auf dem Hof, wo ich spaziere, kommen oft Wagen vom Militär, voll bepackt mit Säcken oder alten Soldatenröcken und Hemden, oft mit Blutflecken ..., die werden hier abgeladen, in die Zellen verteilt, geflickt, dann wieder aufgeladen und ans Militär abgeliefert. Neulich kam so ein Wagen, bespannt, statt mit Pferden mit Büffeln. Ich sah die Tiere zum erstenmal in der Nähe. Sie sind kräftiger und breiter gebaut als unsere Rinder, mit flachen Köpfen und flach abgebogenen Hörnern, die Schädel also unseren Schafen ähnlicher, ganz schwarz mit großen sanften Augen. Sie stammen aus Rumänien, sind Kriegstrophäen ... [...]

Vor einigen Tagen kam also ein Wagen mit Säcken hereingefahren, die Last war so hoch aufgetürmt, daß die Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten. Der begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an, derart auf die Tiere mit dem dicken Ende des Peitschenstieles loszuschlagen, daß die Aufseherin ihn empört zur Rede stellte, ob er denn kein Mitleid mit den Tieren hätte! „Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid!“ antwortete er mit bösem Lächeln und hieb noch kräftiger ein ... Die Tiere zogen schließlich an und kamen über den Berg, aber eins blutete ... Sonitschka, die Büffelhaut ist sprichwörtlich an Dicke und Zähigkeit, und die war zerrissen.

Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still erschöpft und eins, das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen, wie ein verweintes Kind. Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll ... ich stand davor und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter – es waren seine Tränen, man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte. Wie weit, wie unerreichbar, verloren die freien, saftigen, grünen Weiden Rumäniens! Wie anders schien dort die Sonne, blies der Wind, wie anders waren die schönen Laute der Vögel oder das melodische Rufen der Hirten. Und hier diese fremde, schaurige Stadt, der dumpfe Stall, das ekelerregende muffige Heu mit faulem Stroh gemischt, die fremden, furchtbaren Menschen, und – die Schläge, das Blut, das aus der frischen Wunde rinnt ...

Wir haben nicht die lebendige Realität vor Augen, nur die Schilderung – aber anhand ihrer können wir versuchen, die Begegnung mit diesem einen Tier so lebendig wie möglich mitzuerleben.

Versuchen wir, zu erleben, dass dieses arme, gequälte Tier vor uns stünde! Vor uns steht dieser große, sanfte Büffel, dessen zähe, dicke Haut von den unglaublich brutalen Peitschenhieben zerrissen ist, und unser Blick wird von den großen, schwarzen Augen getroffen, aus denen heraus uns die ganze Unschuld und das ganze Leid dieses Tieres anblickt. Niemand der hilft, nur Qual; sanfte Augen eines gequälten Tieres, und sie blicken uns an...

Würden wir von diesem Leid so tief berührt werden, wären wir zu einem so tiefen Mitleid fähig, wie es Rosa Luxemburg war?

Vielleicht machen wir die Erfahrung, dass wir gerne so viel Mitleid aufbrächten, dass die Gefühle aber nur sehr blass und armselig bleiben. Mit anderen Worten: Wiederum tragen wir in uns eine tiefe Überzeugung und ein inneres Wissen von dem, was wahrhaft menschlich wäre – doch die reale Kraft des Mitleids können wir nur sehr, sehr unvollkommen aufbringen und entfalten.

Vielleicht fühlen wir aber auch überhaupt nichts und können uns nicht einmal vorstellen, warum wir uns wegen eines Büffels solche Gedanken und Gefühle machen sollten. Dann können wir uns eine ähnliche Szene vorstellen, in der nicht nur dieser Büffel, sondern auch eine unschuldige, junge Frau leiden muss... Wahrscheinlich würden wir dann doch unmittelbar den Wunsch spüren, einschreiten und helfen zu können. Was aber würden wir empfinden, wenn uns nun der Blick dieser jungen Frau träfe und sie nicht für sich, sondern für das gequälte Tier bitten würde? Würde uns dieser Blick, verbunden mit dieser Bitte nicht zutiefst berühren? Und würde in uns dann nicht eine Sehnsucht danach erwachen, dasjenige zu kennen, was im Herzen dieser jungen Frau lebt...?

Erst, wer wirkliches Mitleiden kennt, kennt die wirkliche Liebe, denn erst im Mitleiden kommt der Mensch wahrhaft über sich hinaus.

***

Aber „muss“ der Mensch überhaupt über sich hinauskommen? Muss er überhaupt die wirkliche Liebe kennenlernen? Diese Frage ist falsch gestellt. Er muss nicht. Aber die Frage bleibt, ob es nicht immer seine tiefste Sehnsucht ist.

Selbstverständlich kann das eigene Weltbild, können auch die eigenen Lebensenttäuschungen dazu geführt haben, dass man seine innerste Sehnsucht aufgegeben hat. Dann ist auch das wahrste, wunderbarste Bild von sich selbst, was man einmal hatte oder zumindest geahnt hatte, etwas, was tief, tief verschüttet ist. Aber gilt das unwiederbringlich? Nichts ist unwiederbringlich, alles kann wieder befreit werden, wie tief die Schuttmassen auch seien. Es bedarf dazu zunächst nur eines: auf die Stimme aufmerksam zu werden, die tief innerlich noch immer leise erklingt, ganz leise, immer überhört, ebenso unschuldig wie das sanfte Auge des gequälten Tieres...

Vielleicht spüren Sie in sich nun Gedanken wie: „Die Welt richtet sich nun einmal nicht nach den Sehnsüchten eines Menschen.“ Oder: „Naive Gedanken eines weltfremden, romantischen Idealisten.“ Oder: „Jeder Versuch einer solchen Liebe geht in der Welt sofort zugrunde.“ Oder: „Meine Liebe ist groß genug.“ Oder: „Meine Bemühungen sind mindestens so gut wie die der Anderen. Sollen die sich erst einmal anstrengen, so viel zu tun wie ich.“

Das alles sind Gedanken, wie wir sie ebenfalls sehr, sehr gut kennen – entweder in uns selbst oder an Anderen. Es sind wohlbekannte Ausreden. Gedanken all dieser Art sind gleichsam das Negativ der übertönten Stimme unseres eigenen gequälten Innern. In ihnen allen steckt so viel Rechtfertigung und auch Enttäuschung bzw. Verletzung, dass es nur einen sehr kleinen Schritt braucht, um zu erkennen, dass hinter diesen Vorstellungen und Abwiegelungen verborgen sehr wohl die Sehnsucht nach dieser wahren Liebe lebt – und natürlich nach einer Welt, in der diese Liebe leben darf und die sogar ein Spiegel dieser Liebe werden darf...

Vielleicht erschrecken wir so sehr vor unserer eigenen Sehnsucht, dass wir sie selbst tief verborgen halten. Vielleicht fürchten wir selbst uns vor derjenigen inneren Reinheit, die die wahre Liebe mit sich bringen bzw. erfordern würde... Vielleicht sinkt uns der Mut, wenn wir daran denken. Vielleicht halten wir uns für ohnehin nicht fähig oder würdig genug, eine solche wahre Liebe auch nur ansatzweise verwirklichen zu können – und flüchten uns dann in eine Entschuldigung, in der wir diese „Unmöglichkeit“ auf die ganze Welt verallgemeinern.

Es gibt einen wunderbaren Brief von Rainer Maria Rilke, und wir können wiederum versuchen, das, was Rilke darin sagt, so intensiv wie möglich zu verstehen und mitzuvollziehen. Dazu ist es wichtig, seine Worte langsam genug zu lesen und das, was sie sagen wollen, im Verstehen und Fühlen in sich lebendig zu machen:1

[...] Sie haben viele und große Traurigkeiten gehabt, die vorübergingen. Und Sie sagen, daß auch dieses Vorübergehen schwer und verstimmend für Sie war. Aber, bitte, überlegen Sie, ob diese großen Traurigkeiten nicht vielmehr mitten durch Sie durchgegangen sind? Ob nicht vieles in Ihnen sich verwandelt hat, ob Sie nicht irgendwo, an irgendeiner Stelle Ihres Wesens sich verändert haben, während Sie traurig waren? Gefährlich und schlecht sind nur jene Traurigkeiten, die man unter die Leute trägt, um sie zu übertönen; wie Krankheiten, die oberflächlich und töricht behandelt werden, treten sie nur zurück und brechen nach einer kleinen Pause um so furchtbarer aus; und sammeln sich an im Innern und sind Leben, sind ungelebtes, verschmähtes, verlorenes Leben, an dem man sterben kann. Wäre es uns möglich, weiter zu sehen, als unser Wissen reicht, und noch ein wenig über die Vorwerke unseres Ahnens hinaus, vielleicht würden wir dann unsere Traurigkeiten mit größerem Vertrauen ertragen als unsere Freuden. Denn sie sind die Augenblicke, da etwas Neues in uns eingetreten ist, etwas Unbekanntes; unsere Gefühle verstummen in scheuer Befangenheit, alles in uns tritt zurück, es entsteht eine Stille, und das Neue, das niemand kennt, steht mitten darin und schweigt.

Ich glaube, daß fast alle unsere Traurigkeiten Momente der Spannung sind, die wir als Lähmung empfinden, weil wir unsere befremdeten Gefühle nicht mehr leben hören. Weil wir mit dem Fremden, das bei uns eingetreten ist, allein sind, weil uns alles Vertraute und Gewohnte für einen Augenblick fortgenommen ist; weil wir mitten in einem Übergang stehen, wo wir nicht stehen bleiben können. [...]

Und wenn wir wieder von der Einsamkeit reden, so wird immer klarer, daß das im Grunde nichts ist, was man wählen oder lassen kann. Wir sind einsam. Man kann sich darüber täuschen und tun, als wäre es nicht so. Das ist alles. Wieviel besser ist es aber, einzusehen, daß wir es sind, ja geradezu, davon auszugehen. Da wird es freilich geschehen, daß wir schwindeln; denn alle Punkte, worauf unser Auge zu ruhen pflegte, werden uns fortgenommen, es gibt nichts Nahes mehr, und alles Ferne ist unendlich fern. Wer aus seiner Stube, fast ohne Vorbereitung und Übergang, auf die Höhe eines großen Gebirges gestellt würde, müßte Ähnliches fühlen: eine Unsicherheit ohnegleichen, ein Preisgegebensein an Namenloses würde ihn fast vernichten. [...]

Aber es ist notwendig, daß wir auch das erleben. Wir müssen unser Dasein so weit, als es irgend geht, annehmen; alles, auch das Unerhörte, muß darin möglich sein. Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlangt: mutig zu sein zu dem Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten, das uns begegnen kann. Daß die Menschen in diesem Sinne feige waren, hat dem Leben unendlichen Schaden getan; die Erlebnisse, die man „Erscheinungen“ nennt, die ganze sogenannte „Geisterwelt“, der Tod, alle diese uns so anverwandten Dinge, sind durch die tägliche Abwehr aus dem Leben so sehr hinausgedrängt worden, daß die Sinne, mit denen wir sie fassen könnten, verkümmert sind. Von Gott gar nicht zu reden.

Aber die Angst vor dem Unaufklärbaren hat nicht allein das Dasein des einzelnen ärmer gemacht, auch die Beziehungen von Mensch zu Mensch sind durch sie beschränkt, gleichsam aus dem Flußbett unendlicher Möglichkeiten herausgehoben worden auf eine brache Uferstelle, der nichts geschieht. Denn es ist nicht die Trägheit allein, welche macht, daß die menschlichen Verhältnisse sich so unsäglich eintönig und unerneut von Fall zu Fall wiederholen, es ist die Scheu vor irgendeinem neuen, nicht absehbaren Erlebnis, dem man sich nicht gewachsen glaubt.

Aber nur wer auf alles gefaßt ist, wer nichts, auch das Rätselhafteste nicht, ausschließt, wird die Beziehung zu einem andren als etwas Lebendiges leben und wird selbst sein eigenes Dasein ausschöpfen. Denn wie wir dieses Dasein des einzelnen als einen größeren oder kleineren Raum denken, so zeigt sich, daß die meisten nur eine Ecke ihres Raumes kennen lernen, einen Fensterplatz, einen Streifen, auf dem sie auf und nieder gehen. So haben sie eine gewisse Sicherheit. Und doch ist jene gefahrvolle Unsicherheit so viel menschlicher, welche die Gefangenen in den Geschichten [Edgar Allan] Poes drängt, die Formen ihrer fürchterlichen Kerker abzutasten und den unsäglichen Schrecken ihres Aufenthaltes nicht fremd zu sein. Wir aber sind nicht Gefangene. Nicht Fallen und Schlingen sind um uns aufgestellt, und es gibt nichts, was uns ängstigen oder quälen sollte. [...] Wir haben keinen Grund, gegen unsere Welt Mißtrauen zu haben, denn sie ist nicht gegen uns. Hat sie Schrecken, so sind es unsere Schrecken, hat sie Abgründe, so gehören diese Abgründe uns, sind Gefahren da, so müssen wir versuchen, sie zu lieben.

Und wenn wir nur unser Leben nach jenem Grundsatz einrichten, der uns rät, daß wir uns immer an das Schwere halten müssen, so wird das, welches uns jetzt noch als das Fremdeste erscheint, unser Vertrautestes und Treuestes werden. Wie sollten wir jener alten Mythen vergessen können, die am Anfange aller Völker stehen, der Mythen von den Drachen, die sich im äußersten Augenblick in Prinzessinnen verwandeln; vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal schön und mutig zu sehen. Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will. [...]

Die Fülle des Lebens kennen wir Menschen zunächst gar nicht mehr. Während wir älter werden – und diese Vorgänge beginnen schon in der Kindheit –, wird die Sehnsucht nach dem Wahren, dem Schönen und dem Guten – und das heißt letztlich auch: unsere eigene Fähigkeit und unser eigener Mut dazu – so oft enttäuscht, dass sie immer weiter hinabsinkt, hilflos wird und sich so das Gute in das Hässliche, das Schreckliche verwandelt und von diesem überdeckt wird...

Die Welt ist kein unfreundlicher Ort. Wie wir Menschen diese Welt jedoch gestalten, das kann aus ihr einen unfreundlichen Ort machen, in dem man sich innerlich auf Inseln flüchtet – vor sich selbst und vor den Anderen.

*

Kennt nicht jeder Mensch die Erfahrung, wie unendlich schwer es ist, gerade dasjenige, was ihm am Wichtigsten ist und was ihn am tiefsten berührt, mit anderen Menschen zu teilen? Hier beginnen die Enttäuschungen, die inneren Verletzungen, die Verhärtungen; hier beginnt die Hilflosigkeit, die zu immer neuer Einsamkeit wird. Selbst wenn nicht immer wahrhaftige Drachen erscheinen – die Prinzessinnen verschwinden dennoch... Wir verbergen unsere tiefsten, zartesten Erfahrungen tief in unserem Innern. Und am Ende vergessen wir dann oft selbst solche Empfindungen; vergessen, wie sie sich anfühlten, und sogar, dass wir sie einmal hatten...

Menschen, die innig verliebt sind, haben die tiefste Sehnsucht, einander alles sagen zu können. Manchmal haben sie auch die Fähigkeit dazu – sogar die Fähigkeit, einander wirklich tief zuzuhören; sogar die Fähigkeit, das Wesen und das Fühlen des Anderen tief zu empfinden und zu verstehen.

Aber was geschieht, wenn hier ein erster leiser Bruch eintritt? Wenn man sich in dem, was einem selbst ein tiefes Erleben war, vom Anderen einmal nicht in dieser Tiefe verstanden fühlt? Oder wenn man die leise Enttäuschung des Anderen spürt, wo es einem selbst an der Fähigkeit mangelt, das Erleben des Anderen tief teilen zu können?

Und was geschieht, wenn die unendliche Verliebtheit nachlässt – und mit ihr auch der unendliche Wille und die scheinbar unendliche Fähigkeit, alles zu verstehen und zu teilen, was den Anderen berührt? Und was ist mit all den Menschen, die einem weniger nahe stehen als dieser eine, naheste Mensch? Warum können sich selbst enge Freunde und Geschwister einander leise immer weiter entfremden, scheinbar immer unüberbrückbarer getrennt durch unsichtbare Mauern des Nicht-Verstehens? Fehlt der Wille oder fehlt die Fähigkeit – oder ist dies eins? Und warum können sich selbst enge Kollegen letztlich so fremd bleiben, dass man eigentlich nichts vom Anderen weiß, über Jahre oder sogar Jahrzehnte hinweg...?

Gibt es Wege zum anderen Menschen, zum Mitmenschen? Gibt es Wege, die diese Mauern überwinden – und Wege, die das Entstehen neuer trennender Schluchten verhindern?

Diese Frage ist eine äußerst schwerwiegende.

Es ist nicht mit sogenannten Gesprächs-Techniken getan. Man kann zum Beispiel in einem „Team“ noch so oft über „Gewaltfreie Kommunikation“ gesprochen haben oder noch so viele „Befindlichkeits-Runden“ machen und doch nicht an den Punkt kommen, wo ein Mensch wirklich dem oder den anderen Menschen sein Herz öffnet. Es kann die ganze Atmosphäre oder Situation eine solche sein, dass man dasjenige, worum es einem eigentlich geht, niemals offenbaren würde.

Man kann aber auch sehr harmonische, erfreuliche Zusammenkünfte mit der Familie oder mit Freunden erleben, in denen schöne Begegnungen, Gespräche und Aktivitäten stattfinden, und dennoch das Gefühl haben, dass man mit seinen innersten und wesentlichsten Erlebnissen einsam bleibt, sehr einsam...

*

Oft kann man erleben, dass einem – dass uns allen – die Fähigkeiten fehlen, dasjenige zu verwirklichen, wonach wir uns eigentlich sehnen.

Nehmen wir an, wir wollen einen anderen Menschen aufrichtig näher kennenlernen. Wie macht man das? Wie begegnet man einander, wie kommt man zu wirklichen Begegnungen? Wie ist es möglich, über den unverfänglichen Small Talk hinauszukommen – auch wenn dies schon vielleicht sehr schön ist – und zu jener Sphäre zu kommen, in der eine Wesensbegegnung zweier Menschen stattfinden kann?

Oder nehmen wir an, wir wollen inhaltlich etwas gestalten. Stellen wir uns zum Beispiel vor, dass wir mit Weihnachten mehr verbinden als gutes Essen und Familienzusammenkünfte, und dass unser religiöses Erleben sich auch nicht in einem Kirchenbesuch erschöpft. Wie kann man Weihnachten dann so gestalten, dass diese besondere Zeit ein Ausdruck des innersten Erlebens werden kann, ein Ausdruck dessen, was man mit ihr wirklich verbindet – und dies bis in die menschlichen Begegnungen hinein?

Wir können viele weitere Beispiele finden, die den eigenen inneren Fragen entsprechen. Immer geht es in irgendeiner Weise um die Frage: Wie kann dies gestaltet werden; wie kann dies möglich werden? Wie wird das Äußere ein Spiegel des Inneren? Wie kann das Innere Ausdruck finden?

Sehr intensiv können wir uns hier unserer Ohnmacht bewusst werden! Wenn wir die Antworten auf diese Fragen schon hätten, wenn wir die ihnen entsprechenden Fähigkeiten schon besäßen, dann würden sich die Fragen nicht stellen...

*

Indem wir uns intensiv und bewusst mit solchen Fragen beschäftigen, lernen wir viel über uns selbst. Die geschilderte Ohnmacht kann ganz verschiedene Aspekte und Facetten haben. Uns können die konkreten Ideen und Vorstellungen fehlen, was wir tun könnten, um etwas so nach außen zu tragen, wie es innerlich in uns lebt. Dann mangelt es uns an der Fähigkeit, solche Ideen und Vorstellungen zu bilden. Ebenso kann es uns aber auch an den Fähigkeiten mangeln, einmal gefasste Vorstellungen auch in die Wirklichkeit umzusetzen. Uns kann aber auch einfach der Mut fehlen – vielleicht der Mut, bestimmte Vorstellungen tatsächlich überhaupt einmal zu fassen oder bestimmte Dinge dann real zu tun und zu wagen...

Der erfolgreiche, welterfahrene Geschäftsmann hat vielleicht keinen Mangel an Mut, eine Frau anzusprechen, die er gerne kennenlernen würde. Viel wahrscheinlicher ist es, dass ihm die innere Zartheit fehlt, dieser Frau dann auch wirklich zu begegnen. Oder vielleicht fehlen ihm die Worte, um sie erleben zu lassen, dass es ihm nicht um eine „Eroberung“ geht, sondern um eine wirkliche Begegnung...

Ein anderer Mensch hat vielleicht sogar sehr viel Feingefühl und Fähigkeit, mitzuempfinden und zuzuhören – wesentliche Bedingungen für jede wirkliche Begegnung –, doch fehlt ihm dafür der Mut, Situationen zu schaffen und zu gestalten, in denen diese Fähigkeiten überhaupt erst realisiert werden können, beginnend mit dem Mut, einem Menschen nahezutreten und ihn anzusprechen, eine Begegnung zu beginnen.

Ein anderer Mensch hat vielleicht sowohl große Offenheit und tiefes Interesse gegenüber anderen Menschen als auch den Mut, sie anzusprechen, aber es mangelt ihm an Phantasie und Geistesgegenwart, mit verschiedenen Situationen, die sich in solchen Begegnungen ergeben können, umzugehen.

Immer wieder geht es also um Fähigkeiten, die für eine wirkliche Begegnung zwischen Menschen wichtig sind, die aber auf ganz verschiedenen Gebieten da sein bzw. fehlen können.

*

Im Großen stehen wir in der Welt vor ganz ähnlichen Fragen und ähnlichen Ohnmachten. Auch hier kann eine Gesellschaft und können ihre – im mehrfachen Sinne – entscheidenden Mitglieder unfähig sein, bestimmten Menschen(gruppen) und ihren Bedürfnissen zu begegnen. Das können die arbeitslosen Menschen sein, die Jugendlichen, junge Familien, alleinerziehende Mütter (oder Väter), die alten Menschen, die Kinder, die Selbstständigen, die Niedriglohnarbeiter und so weiter. Die Unfähigkeit kann auch hier einerseits im Verständnis der Situation und der Nöte der Menschen liegen; andererseits in der Frage der richtigen, menschlichen Gestaltung der Verhältnisse; oder aber wiederum in einem Mangel an (politischem, gesellschaftlichem, sozialem) Mut...

Und ziehen wir die Kreise noch größer, stehen wir weltweit wiederum vor ganz ähnlichen Fragen – sei es in der Begegnung verschiedener Staaten und Nationen (und ihrer Vertreter), sei es in der Begegnung verschiedener Kulturen, Ethnien, Religionen.

Die Frage nach dem Wesen des Menschlichen stellt sich auf jeder Ebene immer wieder neu. – Wir wollen aber dennoch wieder auf die Ebene des unmittelbar Zwischenmenschlichen zurückkehren, weil sich die Frage hier entscheidet. Auch gesellschaftlich und politisch handeln und begegnen sich letztlich immer einzelne Menschen. Oder anders gesagt: Gerade da, wo einzelne Menschen ganz aus sich heraus zu handeln beginnen, können sie auch im Großen unendlich viel erreichen. Man denke nur an den Kniefall Willy Brandts vor dem Ehrenmal des Warschauer Ghettos, man denke an Martin Luther King, an Mahatma Gandhi, an unzählige andere große Menschen und ihre Taten, die die Welt veränderten.

Und umgekehrt können alle Versuche, die Welt im Großen zu verändern, nur scheitern oder auf tönernen Füßen stehen, wenn es nicht im einzelnen Menschen gelingt, das wahrhaft Menschliche zu finden und immer mehr zu vertiefen. Dies können wir uns nicht deutlich genug bewusst machen. Man muss hier nicht erst an die Schrecken des „Kommunismus“ denken. Es reicht, sich aufrichtig darauf zu besinnen, wie viele oft furchtbare Streitereien es innerhalb zivilgesellschaftlicher Bewegungen, Genossenschaften, alternativer Projekte und so weiter gibt. Ziele können sehr idealistisch sein, doch die Praxis entspricht den Idealen oft ganz und gar nicht. Selbst zwischen denen, die sich „gemeinsam“ für dieselbe „gute Sache“ einsetzen, findet wirkliche, wahrhaftige Begegnung sehr oft nicht statt...

Es geht nicht darum, an die Stelle von Diskurs- und Konfliktfähigkeit eine falsche Harmonie zu setzen. Das, was hier gemeint ist, ist viel tiefgreifender. Es geht um die Frage, auf welchem Wege wahre Harmonie möglich werden kann. Auf welchem Wege kommen wir über bloße Diskurse und über die unendliche Wiederkehr der Konflikte der Vorstellungen, Meinungen, Theorien und Ansätze hinaus – hin zu etwas ganz Anderem, zu etwas, das unserer eigentlichen Sehnsucht immer näher kommt?

„Eine andere Welt ist möglich“, so lautet ein Slogan von Attac. Doch dieses „Andere“ beginnt immer im einzelnen Menschen – und wenn es sich dort nicht offenbart, wird die Welt niemals zu einer grundlegend menschlichen Gestalt finden. Erst muss es der Mensch selbst sein, der wahrhaft Mensch wird...

*

Die Frage nach dem Menschlichen – und nach einer menschlichen Gestaltung auch der gesellschaftlichen Verhältnisse in jedem Bereich – berührt ganz unmittelbar auch die Frage nach dem Menschenbild.

In der heutigen Zeit existieren die unterschiedlichsten Auffassungen, was der Mensch sei. Ist der Mensch ein intelligentes Tier? Ist er ein Geschöpf Gottes? Ist er Teil eines Universums, das letztlich nur aus Atomen besteht? Ist er Teil einer Welt, in der die höchste Realität etwas Göttliches ist? Welches Menschenbild steht hinter den Hartz-IV-Gesetzen? Hinter der Werbung? Hinter unserem Wirtschaftssystem? Hinter unserem Schulsystem? Was ist der Mensch? Welche Menschenbilder kämpfen heute miteinander, welche überwiegen wann und wo – und ist uns dies überhaupt bewusst? Am Menschenbild entscheidet sich bereits unendlich viel...

Wie äußert sich bei einem Menschen das Bedürfnis, eine junge, sympathische Frau kennenzulernen, wenn dieser Mensch, dieser Mann, ein Menschenbild hat, wonach der Mensch ein höheres Tier ist, das von Erbgut und Umwelt bestimmt ist, dessen Verhalten von neuronalen Impulsen und Hormonen bestimmt wird? Gibt es für diesen Mann überhaupt den Begriff der Sehnsucht? Ist diese etwas Reales? Fühlt er so etwas wie Sehnsucht, während sein Denken von Begriffen geprägt ist, die seinen eigenen seelischen Empfindungen widersprechen? Sieht er sich selbst als Produkt von Erbfaktoren, Umwelteinflüssen und neuro-hormonaler Determination? Und wenn er sich in eine junge Frau verliebt – sieht er sie ebenfalls als ein höheres Tier, dessen Verhalten und Wesen von äußeren und inneren Prozessen determiniert ist? Worauf bezieht sich dann seine Sehnsucht? Ist es die Sehnsucht eines Tier-Menschen nach einem Tier-Menschen? Und seine Liebe das Produkt bestimmter Makromoleküle, die den einen Organismus zu dem anderen hinziehen?

Wir sehen, wie zutiefst wichtig die Frage nach dem Menschenbild ist...

Schon hier können wir jedoch erleben, dass die Vorstellungen, die man sich über das Wesen des Menschen macht, der real erlebten und empfundenen Wirklichkeit völlig widersprechen können. Denn es wird wohl kaum einen derart materialistisch gesinnten Mann geben, der seine eigenen Gefühle – wenn er welche hat – absolut leugnen und missachten würde.

Der naturwissenschaftlich geschulte Mann kann sehr genau wissen, dass Triebe und Hormone sehr wohl eine Rolle spielen können; man kann die rein körperlich sexuell wirkenden Kräfte sehr genau unterscheiden lernen. Aber wenn nicht einfach nur – oder vielleicht überhaupt nicht – triebgebundene Empfindungen erregt werden, sondern wenn wirkliche Gefühle aufsteigen; wenn dieser Mann sich nicht einfach instinkt- und triebmäßig zu einem weiblichen Exemplar seiner Gattung mit sexuell starken Schlüsselreizen hingezogen fühlt, sondern wenn er Zuneigung empfindet, Interesse empfindet, einen individuellen, einmaligen Menschen wahrnimmt und diesen kennenlernen möchte – dann ist mehr und anderes wirksam, wesentlich mehr und etwas ganz anderes...

Insofern rein sexuelle Triebkräfte wirksam sind, befinden wir uns auf der Ebene der körperlichen Prozesse, die wir mit den Tieren gemeinsam haben (physisch, chemisch, biologisch). Insofern ein Mensch Sympathie und Antipathie empfindet, haben wir bereits das Reich des Seelischen betreten. Was hier wirkt, sind nicht leibliche Prozesse, es sind seelische Prozesse. Damit ist nicht gesagt, dass diese seelischen Empfindungen nicht sehr wohl immer noch (oder wiederum) leibliche Prozesse nach sich ziehen können – die seelischen Empfindungen selbst jedoch bilden ein eigenes, neues Reich. Von Freund zu Freund zum Beispiel kann man Sympathie empfinden, ohne dass irgendwelche sexual-hormonellen Vorgänge mitspielen.

Und wenn man über die bloße Sympathie noch hinausgeht und das Individuelle, Einzigartige eines anderen Menschen wahrzunehmen und wirklich zu erleben beginnt – nicht nur seinem Äußeren nach, sondern auch seinem ganzen Wesen nach –, so betreten wir ein Reich, das über das nur Seelische nochmals hinausgeht. Dort, wo das Wesen eines Menschen erlebbar wird, berühren wir das Geistige, die Sphäre des Ewigen.

*

Es kommt nicht darauf an, mit dieser Differenzierung der Wirklichkeit in körperliche, seelische und geistige Aspekte oder mit den Begriffen Seelisches und Geistiges, Seele und Geist, sogleich einverstanden zu sein. Wichtig ist zunächst nur, die verschiedenen Phänomene in ihrer starken Unterschiedlichkeit immer mehr wahrzunehmen und erleben zu lernen.