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Alles kannst du im Leben erreichen, du musst es nur wollen, oder top-motiviert konsequent die gesteckten Ziele erreichen wollen. Das sind gerne gebrauchte Worthülsen von Motivations-Coaches und sogenannten Lebensberatern. Du musst nur unerschütterlich an eine Sache glauben, möchten sie uns weismachen. Mit der realen Wirklichkeit hat das selten etwas zu tun, wenngleich Selbstmotivation durchaus nützlich sein kann. Was ist aber, wenn das Schicksal die Weichen anders stellt, wenn die raue Wirklichkeit des Lebens brutal zuschlägt und am Ende kein Ausweg mehr erkennbar ist? Mit den Protagonisten dieser Fiktion hat es das Schicksal am Ende nicht gut gemeint. Die Handlung basiert auf der Grundlage eines bis heute nicht abgeschlossenen Kriminalfalles. Sämtliche Handlungsorte und alle geschilderten Ereignisse sind jedoch frei erfunden und eventuelle Übereinstimmungen wären rein zufällig.
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Seitenzahl: 182
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Hochzeit im Mai
Nachgeholte Flitterwochen
Ein Sohn wird geboren
Erste dunkle Wolken ziehen auf
Kevin kommt in die Schule
Der Eklat
Wie soll es weitergehen?
Arno kann‘s nicht lassen
Unerwarteter Zwischenfall
Erneuter Rückfall in die Krankheit
Die Lage spitzt sich zu
Die Trennung wird vollzogen
Das Verhängnis nimmt seinen Lauf
Die Suchmaschinerie setzt ein
Eine erste Spur
Ein sonnig-milder Frühlingstag lag über Weingarten, einer kleinen Stadt am Rande des Kraichgaues und im Rheintal nahe Karlsruhe. Die Kirchenglocken der katholischen Kirche St. Michael läuteten zur Hochzeit von Arno Koch und Christel, geborene Frank. Mit anwesend waren neben den Familien des Paares viele gute Freunde und Bekannte, auch einige Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen der beiden. Die standesamtliche Eheschließung hatte schon tags zuvor im schönen Ambiente und stilvollen Trauzimmer des Ettlinger Schlosses stattgefunden und dort auch ein Umtrunk in einem benachbarten Lokal in der Fußgängerzone.
Dem folgte ein ausgelassener Polterabend, den Freunde und Arbeitskollegen des Paares ausgerichteten hatten. Dutzende Luftballons schwebten gen Himmel und sollten Glück verheißen, Sekt und Zwetschgenwasser trugen zur Hebung der fröhlichen Stimmung bei. Trotz des bevorstehenden und zu erwarteten anstrengenden anderen Tages, wurde es für das Brautpaar ein langer Abend und eine kurze Nacht. „Aber egal, wir heiraten nur einmal“, meinten sie und nahmen es locker. „Schlafen können wir hinterher noch lange genug“, meinte schmunzelnd Christel und zwinkerte kokett mit den Augen.
Die kirchliche Trauung in ihrer Heimatstadt, in der beide geboren und aufgewachsen waren, fand am 18. Mai 1994 am frühen Nachmittag statt. Glücklich gaben sie sich auf die Frage des Pfarrers das Ja-Wort, streiften sich gegenseitig die Ringe über durften sich dann küssen. Vor der Kirche wurden sie von Schulkameraden überrascht, die Rosenblätter auf den Weg streuten und ihnen zum Zeichen des Glücks Reiskörner über die Köpfe warfen. Die Bergkameraden von Arno standen mit über dem Kopf gekreuzten Eispickeln Spalier. Sekt stand bereit, mit dem alle auf eine harmonische Ehe anstoßen durften und das Paar hochleben ließen. Der Sekt war auch dem Hochzeitspaar sehr willkommen, denn er regte den Kreislauf ein wenig an. Trotz Adrenalin, der Besonderheit des Ereignisses geschuldet, machten sich die Folgen des vorangegangenen Abends in der Kirche bemerkbar und unpassendes Gähnen war doch ein wenig peinlich.
Die Hochzeitsgäste überhäuften das frisch getraute Ehepaar mit guten Wünschen und übergaben eine Menge sinnvoller und nutzloser Geschenke. Nach der feierlichen Zeremonie in der Kirche fuhren das Hochzeitpaar und die Gäste mit ihren Autos in einer langen Karawane und laut hupend hin zum Walk’schen Haus. Dort im renommierten Restaurant war ein Festessen angerichtet und eine ausgelassene Feier mit rund 100 Gästen schloss sich dem Schmaus an.
Es wurde ein schönes, rundum gelungenes Fest, an das sich die Gäste noch gerne und sehr lange erinnern werden. Ein Musiker-Trio spielte zum Tanz auf und beim dargebotenen Repertoire, blieben wahrlich keine Wünsche offen, weil die Spieler gekonnt auf die Vorschläge der Gäste eingingen. Gelungene, fernsehreife Vorträge und Sketche gestalteten den langen Abend kurzweilig und unterhaltsam. Lacher gab es, wenn das Hochzeitspaar mit eingebunden war und kniffelige Aufgaben meistern musste. Zwischendrin durften sie mit viel Hallo den Hochzeitskuchen anschneiden und verteilen, was ihnen ziemlich unprofessionell aber unter viel Gelächter auch gelang.
Beim fünfgängigen Menü im Gourmet-Restaurant fehlte es an nichts; die Speisen wurden dem guten Ruf des Hauses voll gerecht. Abgerundet wurde das üppige Menü mit Sekt und erlesenen Weinen aus der Weinheimer Winzergenossenschaft, dazu gab es Bier vom Fass, Mineralwasser und diverse andere Getränke, sowie edle Schnäpse. „Last but not least“, ein feiner Cognac durfte zum Schluss auch nicht fehlen. Für jeden war etwas dabei und die Gourmets kamen voll auf ihre Kosten. Selbst die ansonsten kritischen Gäste zeigten sich hinterher sehr zufrieden und später bestätigte der Gastvater Ernst Koch: „Die Badener sind wie die Schwaben. Deren Motto lautet: Me glaubt gar nit, was in ein neigeht, wem'r iglade isch.“ (Man glaubt gar nicht, was man essen kann, wenn man eingeladen ist). Oder andere sagen, im Blick auf die opulenten Gaumenfreuden: „Wenn d'Buggl doch bloß au no Ranze wär.“ (Wenn der Buckel doch auch noch Bauch wäre).
Taufrisch war das Hochzeitspaar in ihrer Beziehung nicht mehr; sie lebten schon drei Jahre zusammen, zeigten sich aber „verliebt wie am ersten Tag“ und schienen sich gesucht und gefunden zu haben. „Sie sind wie die Turteltauben“, hörte man im Umfeld sagen; mit ein wenig Neid in der Stimme.
Vor zwei Jahren zogen sie in das von Arno mit viel Eigenleistung und, im wahrsten Sinne des biblischen Wortes, „im Schweiße des Angesichtes“ im Neubaugebiet der Stadt errichtetes Einfamilienhaus ein. Mindestens ein Jahr lang gab es für ihn, als Bauherrn, hinterher immer noch etwas zu tun, bis einigermaßen alles so war, wie man sich das gewünscht und sie sich ihr Traumhaus vorgestellt hatten. Der Außenbereich wartete auch noch auf die Vollendung. Was die Außenanlage und Gestaltung anging, stand Arno demnach noch viel körperlich harte Arbeit bevor.
Bei diesem Tun durfte Arno regelmäßig auf die Mithilfe seiner handwerklich geschickten Freunde rechnen, die er aus den Vereinen und vom Sport kannte. Sie halfen nach Feierabend oder an den Samstagen einige Stunden mit und gaben gute Tipps mit fachmännischem Rat, so wie es eben in einer kleinen Stadt in der jeder jeden kennt, gute Sitte ist. Traditionell hilft seit eh und eh einer dem anderen und man praktiziert gute Gemeinschaft und pflegt nebenbei auch noch die Geselligkeit.
Sämtliche bisherigen Ersparnisse der beiden waren in den Bau eingeflossen und zusätzlich hatte Ernst Koch – Arnos Vater – 50‘000 Mark beigesteuert. Unter Einbeziehung aller Eigenleistungen war man in der glücklichen Lage solide und großzügig zu bauen. Die restliche Finanzierung lief über die örtliche Sparkasse.
Eine moderne Einbauküche durfte nicht fehlen, die hatten sie gleich mit eingeplant und einbauen lassen. Für die übrige, komfortable Einrichtung brachte Christel auch noch etwas Geld mit ein. Der Dispositionskreditrahmen ihrer Konten wurde auch voll in Anspruch genommen. Auf diese Weise gelang es – mit Klimmzügen und gemeinsamer Anstrengung – sich ein schönes, wohnliches Heim einzurichten. Nachdem sie eingezogen waren, gaben sie ein großes Einweihungsfest, zu dem Arno und Christel die Familien und alle am Bau Beteiligten einluden und um sich scharen durften. Von allen Seiten wurden sie mit Glückwünschen zum gelungenen Werk überhäuft und natürlich waren beide sehr stolz auf das, was sie erreicht hatten und vorzeigen konnten.
Zum Haus gehörte ein nicht allzu großes Gartengelände, das aber ausreichend Platz zum Sitzen und Grillen bot. Eine Hälfte wird seither immer ein wenig für den Gemüseanbau genutzt. Für ihre Verhältnisse schien das Anwesen perfekt; nicht zu groß und doch mit ausreichender Bewegungsfreiheit und Komfort in einer sehr schönen Wohnlage.
Zur Hochzeit hatten sie sich wegen der zwangsläufigen Verschuldung Geschenke in Form von Geldspenden von der großen Familie, Verwandtschaft und dem Freundeskreis gewünscht und das wurde weitgehend befolgt. Auf diese Weise kam ein erkleckliches Sümmchen zusammen, die für eine Sondertilgung beim Haus diente und für den Kauf von Kleinigkeiten, die bisher bei der Einrichtung noch fehlten.
Die Kosten der Hochzeitsfeier, mit allem drum herum, hatten die beiden Elternteile je zur Hälfte übernommen, sodass dem jung vermählten Ehepaar damit keine weiteren Ausgaben entstanden waren. Sie waren somit in der komfortablen Lage vollkommen und rundum glücklich zu sein, weshalb sie auch tagelang im Honeymoon oder im siebten Himmel schwebten.
Eine Hochzeitsreise hatte man sich, im Hinblick auf die Investition in den Hausbau und die Einrichtung, gespart und gemeinsam nur eine Woche Urlaub gegönnt, den sie im gemütlichen Heim und an zwei schönen Tagen an einem Baggersee verbrachten. Zum Badeplatz konnten sie bequem mit dem Fahrrad radeln. Zwischendurch wanderten sie bei Halbtagestouren zum Michaelsberg in Untergrombach oder zum Wartturm in Weingarten und ließen es sich allgemein gut ergehen.
Der markante Michaelsberg hatte es ihnen schon seit der Jugendzeit angetan und deshalb wunderte es nicht, dass man sie in der Vergangenheit schon öfters dort oben herumstromern sah. Ein Grund dafür ist, dass es von dort aus nicht nur eine fantastischer Aussicht in das Rheintal, bis hinüber zum Pfälzer Wald und zu den Vogesen gibt, sondern es ist ein echt magischer Ort, dem eine besondere Energie zugesprochen wird. Die Siedlungsgeschichte lässt sich bis ins 5. und 4. Jahrhundert vor Christus zurückverfolgen. Anziehungspunkt für verliebte junge Leute ist der „Kindlesbrunnen“. Der Sage nach wurden alle neugeborenen Untergrombacher erst vom Klapperstorch aus diesem Brunnen geholt und selbstverständlich treiben junge Leute mit dieser Geschichte ihren Spaß. Das ist aber noch nicht alles. Ein Café mit Restaurant lädt Gäste zu Kaffee und Kuchen ein, und natürlich bekommt der durstige Wanderer auch ein Weizenbier oder findet eine Auswahl an guten badischen Weinen. Besser ist aber, man bleibt gleich zum Essen sitzen.
Gute Weitsicht bietet dem Wanderer auch der Wartturm oberhalb der Stadt, mit freier Sicht auf den Stadtkern. Besonders auffallend sind die beiden in Nachbarschaft und in schöner Eintracht stehenden Gebäude der katholischen und evangelischen Kirche; sozusagen Eingang an Eingang.
Solche gemütlichen Spaziergänge boten den beiden willkommene Abwechslung und waren ihnen Erholung und Freizeitaktivität genug. Zudem war noch Mai, „wo der Spargel sprießt“, wie man zu sagen pflegt. An den frühlingshaften Tagen stiegen die Hormone und als frisch getrautes Ehepaar durften sie ungeniert – unabhängig von der Tageszeit – die körperlichen Freuden in vollen Zügen genießen, und das taten sie mit Ausdauer und großem Vergnügen. Da spricht man nicht ohne Grund von „der schönsten Nebensache der Welt.“
Der jetzt vermählte Ehemann ließ sich als ein Typ beschreiben, der bei den Frauen gut ankam. Mit seinen 1,84 Meter gab er eine gar stattliche Erscheinung ab, war sportlich und stets drahtig gestylt. In den letzten Jahren hatte er, lange schon bevor er Christel kennenlernte und mit ihr eine Liaison einging, wechselnde Bekanntschaften mit Mädchen aus der Stadt und dem weiteren Umfeld gepflegt. Etwa Gleichaltrige aus dem Sportverein gehörten auch dazu. Diverse junge Damen lernte er zudem in Diskotheken kennen oder einfach auf irgendwelchen Festen und geselligen Ereignissen. Ein Kostverächter war er nie, nein wirklich nicht und man schätzte ihn als unterhaltsamen, witzigen Plauderer. Er konnte ausgesprochen charmant sein. Nur seine Kolleginnen am Arbeitsplatz waren ein Tabu, da wollte er aus grundsätzlicher Erwägung keinerlei Risiken eingehen.
Um es auf den Punkt zu bringen, Arno kam beim anderen Geschlecht blendend an. Alleine sein Lachen erwärmte das Herz der Frauen. Engere Verbindungen hielten aber meistens nicht sehr lange; wurden nach kurzer Zeit oder schon nach wenigen Monaten wieder gelöst. Eine feste Bindung hatte sich nie ergeben, bis er Christel kennenlernte. „Du bist ein Schwerenöter“, sagte sie ihm gleich zu Anfang. „Wie vielen Frauen hast du schon das Herz gebrochen, heh, sei ehrlich, du Lumbeseggl, du elendiger“ (durchtriebener Mensch), fügte sie süffisant lächelnd hinzu, ohne wirklich eine ehrliche Antwort zu erwarten. „Was sein muss, muss sein und ich bin kein Typ, der immer nein sagen kann“, so seine Verteidigung. „Kumm go furt, du schlimmer Socken“, erwiderte sie lachend und gab ihm einen dicken Kuss. Das war mehr Anerkennung als moralischer-spießiger Fingerzeig.
Während der Kinder- und Jugendzeit spielte Arno Koch Fußball, war Mitglied der Fußballvereinigung Weingarten 1906. Im Verein spielte er einst bei den C 1 und C 2-Junioren, bis er wegen Schule und später im Studium dafür nicht mehr genügend Zeit frei machen konnte. Später war das Interesse für den aktiven Fußball vorbei, als Zuschauer blieb er aber ein Fan des KSC und da lag es nahe, dass er sich auch manches Spiel im Wildpark-Stadion in der badischen Residenzstadt Karlsruhe begeistert ansah.
Die Fitness blieb ihm erhalten und er tat er einiges dafür. Gerne nützte er seine Freizeit und fuhr mit dem Bike kreuz und quer durch die hügelige Region der Vorbergzonen Schwarzwaldes oder er wanderte auf den endlosen Wegen im Nordschwarzwald und in der Pfalz durch Wälder oder über die Höhen und zu den beeindruckenden Sandsteinformationen und alten Burgruinen in den nördlichen Vogesen. Dreißig Kilometer und mehr am Tag zu Fuß, das waren auf einer solchen Tour keine Seltenheit. Oft war er mit Freunden und Bekannten beiderlei Geschlechts unterwegs, hatte aber auch keinerlei Probleme damit, alleine eine größere Runde zu laufen oder zu radeln. Nebenbei war er Mitglied im Alpenverein der DAV Sektion Karlsruhe und nahm zwei oder dreimal im Jahr an mehrtägigen, teils anspruchsvollen Bergtouren teil oder er traf sich mit Gleichgesinnten in der Kletterhalle und in den Fitness-Zentren.
Nach dem Gymnasium und dem Abitur studierte er Informatik an der „Fridericiana“ in Karlsruhe. Sie ist die älteste Technische Hochschule Deutschlands – heute KIT genannt – und wurde 1972 als erste Informatikfakultät Deutschlands gegründet. Das Studium schloss er überdurchschnittlich gut ab und da hatte er schon den Arbeitsvertrag seines jetzigen Arbeitgebers in der Tasche. Dort hatte er im Studium zwischendurch gejobbt und sein Praktikum gemacht. So ergab sich eines ins andere.
Christel war eine hübsche junge Frau, brünett und gut gebaut, hatte blaue Augen und eine schlanke, aber durchaus gut proportionierte Figur. Sie übte eine gewisse Ausstrahlung auf Arno aus und er nannte sie zärtlich Chipsi – nach einer witzigen, bayrischen Schauspielerin, die er vom Fernsehen her kannte. Sie hörte den Kosenamen gerne, und wenn sie verliebt zusammen waren, nannte sie ihn Tiger – aber englisch ausgesprochen: „Teiger“. „Teiger“ sollte sich dynamische anhören und in der Tat, Arno wirkte auf Christel sehr erotisch; er war vom ersten Augenblick des Kennenlernens ihre große Liebe und ihr Traummann.
Nach dem Studium begann Arno in einem Rechenzentrum in Karlsruhe und wurde zum anerkannten IT-Spezialisten auf seinem Gebiet. Hier war er aber gerade in dem Jahr, in dem sie heirateten, sehr stark gefordert. Die Entwicklung der Programme für Banken und anderen spezialisierten Unternehmen, verlief in jener Zeit auf diesem Gebiet geradezu atemberaubend. In kurzen Zeitabständen ergaben sich Quantensprünge bei den Speichermöglichkeiten und der Entwicklung. Da war es kaum noch möglich, mit dem Wissen auf dem neuesten Stand zu bleiben und in allem Schritt halten zu können. Halbjährlich schienen die Prozessorleistungen und Speicher-Inhalte im Quadrat zuzunehmen. Das erforderte viele Überstunden und oft musste er auch noch am Wochenende präsent sein. Häufige Geschäftsreisen innerhalb Deutschlands und gelegentlich ins Ausland gehörten selbstverständlich zum vielseitigen Job dazu.
Christel war Verkäuferin im Kaufhaus Schneider in Bruchsal und durchaus eine selbstbewusste Dame. Für Tanzen hatte sie ein Faible, womit allerdings Arno gar nichts am Hut hatte. Dagegen hatte sie mit sportlichen Aktivitäten wenig im Sinn, auch wenn sie von Natur aus nicht unsportlich schien. Da hielt sie sich aber eher an Winston Churchill, der gesagt haben soll: „No Sports.“ Dafür ging sie lieber ins Kino oder in eine Diskothek und gelegentlich in musikalische Veranstaltungen bekannter Bands, die regelmäßig in Karlsruhe oder Mannheim große Vorstellungen gaben. Sie liebte Gesang und verfügte selbst über eine schöne Stimme. Zudem konnte und liebte sie Volkslieder, interessierte sich aber trotzdem auch in gleicher Weise für die klassische Musik. Manchmal besuchte sie ein Musical oder ging in die Oper. Last but not least, jährlich sah man sie mindestens einmal bei den Darbietungen der Volksschauspiele in Ötigheim.
Nach der mittleren Reife absolvierte sie eine kaufmännische Lehre und blieb danach dem Ausbildungsbetrieb treu. Sie arbeitete weiter, da, wo sie gelernt hatte. Ihr Job war wesentlich entspannter wie der von Arno und sie hatte auch deutlich mehr Freizeit. Ihr Gehalt konnte sich daher auch keinesfalls mit dem ihres angetrauten Ehemannes messen lassen.
Die junge Frau hatte auch schon einige Bekanntschaften hinter sich, ging mal mit einem Kollegen aus der Firma aus, traf Männer auf regionalen Festen und bei diversen Feiern. Chipsi verfügte über eine starke Libido, und Arno war demzufolge nicht der erste Mann, den sie kennenlernte und mit dem sie ins Bett schlüpfte. Etwas Ernsthaftes war zuvor aber nie dabei gewesen. Sie liebte die Abwechslung und war nie einem One-Night-Stand abgeneigt; einem unverbindlichen sexuellen Abenteuer. Das war es auch, was anfangs auf Arno so anziehend wirkte. „Du bist ein Vamp“, scherzte er und graulte Christel zärtlich hinter dem Ohr, nachdem sie sich wieder einmal heftig amüsiert hatten. „Kriegst du eigentlich nie genug?“, fügte er später hinzu und gab ihr einen zarten Klaps auf den bludden (unbedeckten) Po. „Wenn es nicht heftiger wird, habe ich das gerne“, gab sie zu den Streicheleinheiten an ihrem Bobbes (anderes Wort für Po) zu verstehen.
Oben: Blick auf Weingartens zwei Kirchen, unten: Der Wartturm
In den Anfangsmonaten der Ehe herrschte im Hause des Kochs eitel Sonnenschein. Die Jungvermählten lebten wie die Turteltauben, genossen das Zusammensein und übten sich fleißig im ausdauernden Sex. Langeweile war ihnen ein Fremdwort, dafür durchlebten sie erfüllte Tage und intime Augenblicke. Chipsi hatte in der Tat leichte Anzeichen von Nymphomanie und Arno genoss das in diesen Jahren. „Du bist ein Vampir, Chipsi und saugst mich voll aus“, flüsterte er ihr mehr wie einmal ins Ohr. „Fress mich, mein Tiger“, gab sie zurück und küsste heftig ihren Mann. „Da erinnere ich mich an einen Witz“, scherzte sagte Arno; der geht so: „Frau Lehrerin stellte ihren Schülern die Aufgabe Namen von Blumen mit vier Silben zu benennen. ‚Vergissmeinnicht‘, wusste s'Mariele. Schöön, lobte die Frau Lehrerin. ‚Alpenveilchen‘, nannte d'Lisbeth. Schöön, antwortete die Frau Lehrerin. Geschlechtsverkehr, rief Fritzchen in die Runde. Aber Fritzchen, das ist doch keine Blume. Nein, Frau Lehrerin, aber schöön!“
Sichtlich wohl fühlten sie sich in ihrem neuen Haus und ihrer gemütlich und modern eingerichteten Wohnung. Das gemeinsame Glück schien perfekt zu sein. Schnell vergingen Wochen und Monate. Alles schien nicht nur, es war in bester Ordnung. Beide verbrachten nach der Arbeit und an den Wochenenden so viel Zeit wie möglich miteinander, gingen aus, feierten mit Freunden und zeigten sich auch nach außen hin als ein vertraut-glückliches, perfektes Paar.
Der einzige Wermutstropfen für Arno war, er kam in den ersten Ehejahren zu seinem Leidwesen nicht mehr so oft zu ausgedehnten Wanderungen und viel weniger zu seiner geliebten, anspruchsvollen und zeitaufwendigen Bergtouren. Dafür war er mehr mit seiner Frau mit den Fahrrädern unterwegs. Die flachen Wege rund um Karlsruhe und in der Rheinebene boten sich geradezu einladend dafür an. Sie befuhren unter anderem den deutsch-französischen Pamina-Radweg durch die Pfalz und ins Elsass, dann bei Seltz mit der Fähre über den Rhein oder an anderen Übergängen auf die deutsche Seite wieder zurück. Gerade für die nicht so ausdauernde Christel stellte das schon öfters eine ziemliche Herausforderung dar, wenn der Tacho nach so einem Tag 120 Tageskilometer mehr anzeigte. Natürlich wählten sie auch kürzere Strecken vor der Haustüre, fuhren nach Bruchsal und im hügeligen Kraichgau nach Bretten oder in andere Ortschaften nahe der ehemaligen Grenze zu Württemberg. Freude bereitete hinterher der obligatorische Einkehrschwung in einer der urigen Besenwirtschaften, von denen es dort in jedem Dorf oder Städtchen mehrere gibt. Irgendwo hatte immer mindestens eine geöffnet.
Dort sitzt man eng zusammen, schlozzt (trinkt) einheimischen Wein oder ein Schorle vom Haus, vespert deftige Gerichte aus eigener Herstellung und verwöhnt seinen Gaumen. Da wird geratscht und getratscht, da hat man Spaß, es werden Witze erzählt und sich gegenseitig gerne auf den Arm genommen. Die Badener lieben es, die Schwaben aufs Korn zu nehmen und über sie zu frozzeln. Ein Lieblingswitz von Arno, den er gerne zum Besten gab: „Ein Ehepaar aus Norddeutschland läuft bei Tübingen durch einen Wingert (Weinberg). Kommt der Gôg (mundartlich-schwäbische Bezeichnung für einen Winzer oder Wengerder aus Tübingen) vorbei und der schreit sie lauthals an: Wenn'er nit mochet, dass'r us mim Wingert nus kommt, schlag‘i ihna d'Haxe ab, dass'r uf‘de Stumpe hoimlaufe könnt. (Wenn ihr nicht aus meinem Weinberg geht, schlage ich euch die Beine ab, dann könnt ihr auf den Stümpfen heim laufen). Entschuldigung, taten erschrocken die Norddeutschen: Wir wussten nicht, dass wir hier nicht laufen dürfen. Antwortet der Wengerder: Deshalb sag'i ihna des au im Guede.“ (Deshalb sag ich es ihnen auch im Guten – oder freundlich).
Schallendes Gelächter in der geselligen Runde quittierte den Vortrag und eine Runde Williams wurde spendiert. „Ja, ja, so sind sie halt die Schwaben, haben eine derbe Sprache, aber ein weiches Herz. Die muss einer erst verstehen“, warf einer ein. Die Heimfahrt fiel nach solchen Unterbrechungen ziemlich schwer, denn der Alkohol lähmte massiv die Beine und es dauerte zwei, drei Kilometer, bis der richtige Rhythmus wieder gefunden war.
Um mit den Freunden beider Seiten in Kontakt zu bleiben, luden die Kochs im Sommer mehrfach den engeren Kreis zu einem Grillfest in den Garten ihres Hauses ein und sie hatten durchweg immer Glück mit dem Wetter. Laue Sommerabende trugen zum guten Gelingen dieser Feste bei. „Ihr habt es wirklich schön und gemütlich. So ein Haus wünsche ich mir auch. Ihr seid zu beneiden.“ Solches Lob hörten sie gerne und es machte sie stolz.
Solche Events wurden zu feuchtfröhlichen Abenden oder besser, sie dauerten bis in den frühen Morgen und man schmiedete für die nächsten Jahre Pläne für gemeinsame Freizeitgestaltungen und Vorhaben, wie es immer so ist, wenn reichlich Alkohol fließt. Die Geburtstage feierten sie auch gemeinsam im engeren Kreis. Die Eltern von Christel und Arno weilten gerne an den Wochenenden oder Sonntagen bei ihnen und das Weihnachtsfest feierte man sowieso traditionell zusammen, abwechselnd bei der einen oder bei der anderen Familie. So gesehen kam in dieser Zeit nie Langeweile auf und immer war Leben in der Bude.
Das Weihnachtsfest wurde in der Familie Koch vom Ablauf seit jeher wie ein liebgewonnenes Ritual gepflegt, und nun waren eben, neben der Schwiegertochter, auch Maria und Robert Frank, ihre Eltern, oder „Gegenschwieger“, wie man hier sagt, auch mit dabei. Der Heilige Abend begann am Nachmittag mit Kaffee und Kuchen. Das ging fließend, bei Kerzenschein und flackernden Licht im Kamin, zur obligatorischen Geschenküberreichung über, dann wurden weihnachtliche Lieder mit Inbrunst gesungen, wobei das Traditionslied: „Stille Nacht, heilige Nacht“ nie fehlen durfte und auch nicht „Ihr Kinderlein kommet…“. Nicht alle erwiesen sich als stimm- und tonsicher, was der Freude und Begeisterung aber keinen Abbruch tat.