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"Eine Gräfin in Amerika" Altersfreigabe: ab 16 Jahre Noch kein Jahr wähnt sich Clara von Kletterwitz in Amerika in Sicherheit, da holt sie die Vergangenheit ein und die Gräfin aus Sachsen muss erneut flüchten. Den brutalen Verfolger ständig auf ihren Fersen schlägt sie sich mehr schlecht als recht durch ein riesiges und ihr unbekanntes Land. In der Fortsetzung der Geschichte "Eine sächsische Revolution" kämpft Clara um ihr Leben in einem Land, das zunehmend gespalten wird. Die Ansichten der Staaten des Nordens stehen denen des Südens grundlegend entgegen. Es ist das Jahr 1850 und am Horizont ist der zehn Jahre später beginnende Bürgerkrieg in Amerika bereits zu erahnen. Zusammen mit ihrer Freundin Maria setzt sich Clara jetzt zusätzlich zur Hilfe für die Frauen auch noch für die Rechte der Sklaven und Ureinwohner ein, was für sie nicht ungefährlich ist.
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Seitenzahl: 412
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Inhaltsverzeichnis
Eine Gräfin in Amerika
Morgennebel
Ein Gedankenzug
Dunkle Erinnerungen
Sonntagsgedanken
Auge in Auge
Nach St. Louis!
Der unwillentliche Verrat
Ein einfaches Leben
Heillose Flucht
(K)ein Déjà-vu
Gezwungener Umzug
Am Ende der Kraft
Besser als früher?
Ein Licht in der Finsternis
Leben wie bisher?
Freundinnen
In ständiger Furcht
Ein Drink zu viel!
Helfende Lügen?
Post vom Himmel!
Waschtag
Die rettende Idee!
Ein furchtbares Geburtstagsgeschenk
Wer hat die Macht?
Bar mit Billard
Die Katastrophe
Die weiße Lady
Tiefe Narben
Dämonen der Seele
Frei, oder nicht?
In Sorge um eine Freundin
Nacht auf dem Mississippi
Abschied und Neubeginn?
Irrsinn mit Methode
Eine Frage der Ehre?
Wenn es Liebe ist?
Kaffee, Kuchen und was noch?
Schmerzhafter Abschied
Unter Freunden
Zwei gute Gründe!
Die neue Route
Bohnen mit Blei!
Achtzig Meilen!
Am Abend mancher Tage
Buffalo Jane
Am Rande des Wahnsinns
Die Rolle ihres Lebens
Verfolgt und in Gefahr!
Schon wieder am Ende?
Mein ist die Rache!
Aus Liebe!
Tante und Nichte?
Eine Chance auf Leben
Waldkrieger
Auf Gottes Wegen
Am See der Adler
Das Zelt des Falken
Der erste Schnee
Wiedergefundenes Glück
Schatten der Vergangenheit
Die Furcht im Bauch
Die Mühen des Alltags
Weihnachten für alle
Wege in die Zukunft
Leises oder lautes Wasser
Neues wächst!
Ein Weg zur Gnade?
Schicksalsfragen
Am Ende wird es gut!
Nächte in Mendota
Das Licht der Welt!
Am Fluss des Lebens
Zeitliche Einordnung der Handlung
Eine Gräfin in Amerika
Noch kein Jahr wähnt sich Clara von Kletterwitz in Amerika in Sicherheit, da holt sie die Vergangenheit ein und die Gräfin aus Sachsen muss erneut flüchten. Den brutalen Verfolger ständig auf ihren Fersen schlägt sie sich mehr schlecht als recht durch ein riesiges und ihr unbekanntes Land.
In der Fortsetzung der Geschichte „Eine sächsische Revolution“ kämpft Clara um ihr Leben in einem Land, das zunehmend gespalten wird. Die Ansichten der Staaten des Nordens stehen denen des Südens grundlegend entgegen. Es ist das Jahr 1850 und am Horizont ist der zehn Jahre später beginnende Bürgerkrieg in Amerika bereits zu erahnen. Zusammen mit ihrer Freundin Maria setzt sich Clara jetzt zusätzlich zur Hilfe für die Frauen auch noch für die Rechte der Sklaven und Ureinwohner ein, was für sie nicht ungefährlich ist.
Die handelnden Figuren sind zu großen Teilen frei erfunden, aber die historischen Bezüge sind durch archäologische Ausgrabungen, Dokumente, Sagen und Überlieferungen belegt.
1. Kapitel
Morgennebel
Es war ein kühler Morgen am ersten Tag des Monats Mai an der Bucht vor New York. Das Wasser war wärmer, als die Luft darüber und daher zog der Dunst über den kleinen Weg, der zum Hafen mit dem Anleger der Einwandererschiffe hinüberführte.
Wie jeden ersten Tag eines neuen Monats hatte Clara auch an diesem ihren Mann Heinrich untergehakt und schlenderte mit ihm am Gewässer entlang. Es war noch viel zu frisch für die kurze taillierte Jacke, die sie heute gewählt hatte, aber es war ja Mai.
Gerade ging die Sonne auf, würde danach die Luft erwärmen und dadurch den Nebel verdrängen.
Seit zehn Monaten lebten sie schon in Amerika, und der goldene Gruß, den die Sonne an ihrem ersten Tag ihnen hier geschenkt hatte, der hatte sich auf die Dauer gehalten.
Allerdings musste man auch in diesem Lande, in welchem der Sage nach die Goldstücke an Bäumen wachsen würden, sich alles hart erarbeiten. Vielleicht hatte Clara diesen einen Baum auch bloß noch nicht gefunden. Trotzdem ging es ihr gut, denn sie hatte Heinrich an ihrer Seite und ihre Freundin Maria war genauso bei ihr geblieben.
Ebenfalls seit zehn Monaten erinnerte nichts mehr an die damalige Gräfin von Kletterwitz. Sie war jetzt einfach nur noch Clara Stone. Und wie sie es sich mit Maria damals auf dem Segelschiff überlegt hatte, hatte sie ein Büro eröffnet, in dem sie die Frauen der Einwanderer unterstützen und beraten konnte.
Von der See her schob sich ein neuer Segler herüber und erinnerte sie damit an die eigene Überfahrt. Wochenlang hatten sie damals im Bauch solch eines Holzkastens zusammen gehockt, nur um in dieses Land zu gelangen, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen.
Sie hatte, nachdem sie ihren Mann, Graf Peter von Kletterwitz, in Notwehr erschossen hatte, das Weite suchen müssen und Heinrich war einfach vor der Verfolgung nach der Revolution in Sachsen hierher geflohen.
Ein Jahr zuvor hatten sie noch beide in Dresden auf der Barrikade gestanden.
Lange war es her und dennoch kamen immer noch Menschen von drüben, weil sie dort deswegen verfolgt wurden.
Viele lockte aber die Suche nach dem goldenen Baum hier herüber. Clara tat es dann immer in der Seele weh, wenn sie den Ankömmlingen erklären musste, dass es hier nicht so war, wie es sich viele erträumt hatten.
Aber eines war hier viel besser: Hier war man wirklich frei und jeder konnte werden, was immer man wollte. Im alten Europa gab es solche Freiheiten nicht, da herrschte Hunger und Standesdünkel. In diesem Land konnte ein Mann, mit einer schlauen Idee, schnell sehr reich werden.
„Ich sehe, du denkst wieder an damals!“, sagte Heinrich zu ihr.
Das war, mit dem Segel vor den Augen, sicherlich auch nicht schwer zu erraten gewesen.
„Wie geht es in deinem Büro?“, fragte er nach.
„Formulare, Formulare!“, antwortete Clara und musste fast dabei lachen.
„Drüben hatten wir keine Formblätter und waren auch nicht frei. Hier gibt es Unmengen davon, aber auch die Freiheit. Vielleicht regeln nur diverse Zettel so ein freies Zusammenleben. Und ich muss den Männern und den Frauen helfen, diese Papiere auszufüllen!“, erklärte sie.
„Da trifft es sich ganz gut, dass du so viele Sprachen sprichst!“
„Na, da sagst du was! Gestern war ein Bauer aus Griechenland bei mir. Seit Homer hat sich deren Sprache ganz schön verändert!“, entgegnete sie und musste schmunzeln.
Versonnen dachte sie wieder an diese Situation zurück. Das war schon mehr als skurril gewesen, aber sie hatten sich dann doch irgendwie verständigt. Mit Händen und Füßen, auch wenn der Bauer sie dabei etwas ungläubig angesehen hatte. Sicherlich war es für ihn das erste Mal, dass er sich von einer Frau helfen lassen musste. Aber so war das eben hier, jeder tat, was er tun konnte.
„Hilft dir Maria heute wieder?“, fragte Heinrich.
„Nein. Gundel müsste schon die Tür aufgeschlossen haben und ich gehe dann zu ihr. Heute kümmert sich Maria um ihre Tochter, die hat in der Nacht zweimal genießt!“
Das Ende des Weges kam näher und dort mussten sie sich trennen. Während Heinrich zu seiner Firma eilen würde, zog es Clara für den Rest des Tages in das kleine Büro am Hafen.
An der Weggabelung verabschiedeten sie sich mit einem Kuss und jeder beeilte sich, sein Tagwerk zu beginnen.
Über der Tür war in fünf Sprachen „Beratungsstelle für Einwanderer“ angeschrieben und davor standen schon ein paar Leute, die sich lautstark miteinander unterhielten.
Clara hörte ein breites Sächsisch. Offensichtlich kam mindestens eine von den Frauen aus Dresden. Daher begrüßte sie die Menschen auch so und die nickten ihr zu, als sie ihnen die Tür einladend offen hielt.
„Hallo Gundel!“, begrüßte Clara die junge Frau, die hinter dem Tisch stand und Papiere sortierte. Schnell warf sie einen Blick in den Raum, den die Freundin zuvor aufgeräumt hatte.
„War spät gestern Abend? Oder?“, erkundigte sich Gundel.
„Ja! Sehr spät! Es waren ein paar Frauen aus Frankreich hier. Ich habe ewig gebraucht, um ihnen etwas beizubringen.“
„Sicherlich nicht nur das. Oder?“, erwiderte Gundel und zwinkerte ihr zu.
Die junge Frau wusste nur zu gut, wie gern sich Clara immer wieder in Französisch mit jemanden unterhielt.
Hinter Clara traten noch ein paar Leute in den Raum und Clara hängte die kurze Jacke an den Nagel neben dem Tresen.
„Heute treffen sich hier ein paar Frauen aus Sachsen, um Englisch zu lernen. Also wenn ihr mögt, dann kommt doch heute Abend um sechs Uhr hier her!“, erklärte Clara den Frauen, die gerade vor ihr standen.
Zustimmendes Gemurmel war zu hören und dann begann die Beratung.
Wie immer drehte es sich um die alltäglichen Dinge des Lebens: Wo konnte man etwas kaufen, was ist das Geld wert, wo lebten schon Landsleute und wie redete man den Fleischer an, damit man eine Wurst bekam.
Dutzende Fragen folgten, die Clara lächelnd beantwortete.
Selbstbewusst agierte sie und vermittelte den Frauen damit ein Bild dessen, was man hier erreichen konnte.
Irgendwann wurde es Mittag und Maria kam in das Büro, mit ihrer Tochter Katharina im Arm und dem Henkelmann in der anderen Hand.
„Was gibt es den heute?“, fragte Gundel.
„Erbsensuppe!“, entgegnete Maria und stellte den Napf auf den Tisch. Danach packte sie zwei Löffel aus und während Gundel und Clara ihr Mahl einnahmen, übernahm Maria die Beratung der Frauen.
Sie drei waren schon ein tolles Gespann und jede konnte sich auf die andere verlassen.
Clara mochte diese Arbeit! Noch mehr mochte sie aber ihren Mann Heinrich.
2. Kapitel
Ein Gedankenzug
Schon eine ganze Weile starrte Heinrich auf das Blatt Papier, auf das er selbst den Entwurf der Lokomotive gezeichnet hatte. Etwas stimmte da nicht. Nur was war es? Vor seinem inneren Auge löste sich die Konstruktion vom Blatt und schwebte im Raum, als wäre die Lok schon fertig. Wo lag der Fehler?
Heinrich kam nicht dahinter. Er wusste nur, dass etwas nicht stimmen konnte.
Seit Monaten war er hier in dieser Firma beschäftigt. William Fargo1 hatte vor ein paar Jahren die Firma „Livingston & Fargo“ gegründet, die sich mit dem Transport von Gütern und Menschen hier in Amerika beschäftigte. Im Moment noch zum größten Teil mittels Postkutschen, doch auch hier war der Fortschritt nicht mehr aufzuhalten.
Doch die Dimensionen dieses Landes waren einfach gewaltig. Die Fahrt damals mit dem Zug von Dresden bis Magdeburg, die ihre Flucht eingeleitet hatte, war nur etwa hundert Meilen lang gewesen. Von New York bis St. Louis waren es mehr wie tausend und das war noch nicht mal die Hälfte der Ausdehnung dieses Landes. Noch niemand hatte die gewaltigen Weiten in der Mitte dieses Kontinentes richtig erforscht.
Die Bahn würde da vielleicht ein großes Stück dazu beitragen, dieses Gebiet zu erschließen.
Heinrich hob sein Gesicht zum Fenster, sah hinaus und auch sein Blick ging in den Westen.
Da Heinrich in Chemnitz an Lokomotiven mitgebaut hatte, hatte er diese Stelle bekommen, die auch noch sehr gut bezahlt war. Dort drüben in Sachsen war er nur Schmied und Mechaniker gewesen, aber hier war er Ingenieur, denn hier zählte, was man konnte und nicht, wen man als Vater hatte.
Einer der älteren Ingenieure trat zu ihm und riss ihn damit aus seinen Gedanken.
„Das sieht doch sehr gut aus!“, sagte der alte Mann.
Heinrich entgegnete ihm jedoch: „Da ist noch ein Fehler drin. Das kann so nie fahren!“
Erneut vertiefte er sich in seinen Entwurf, aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab.
Nach der Ankunft in Amerika hatte er mit Claras Hilfe schnell Englisch gelernt und jetzt saß er in diesem Büro. Hier waren Männer aus allen möglichen Ländern und sie verständigten sich alle in dieser Sprache. Gab es in Europa oft Streitigkeiten, so störte man sich hier nicht daran, dass der Mann am Nebentisch Russe oder Grieche war und ihr Chef ursprünglich aus Frankreich stammte. Hier galt nur der, der etwas leisten konnte und da war es egal, woher er einst kam.
Der Tag zog an ihm vorbei und auch der Zug in seinen Gedanken rollte schon über das Gleis, aber noch immer störte ihn etwas daran.
Viele der Loks kamen noch aus England oder wurden hier in Lizenz gefertigt, aber die meisten davon explodierten einfach auf der Fahrt. Das Problem mit dem Kessel hatte er schon damals in Chemnitz mit der „Glückauf“ gelöst, doch die gewaltigen Strecken setzten hier andere Maßstäbe an das Fahrwerk und die Zuverlässigkeit der Räder. Und gerade daran grübelte Heinrich schon den ganzen Tag.
Vor seinem inneren Auge sah er den Zug durch die weite Prärie rollen. Dann traf es ihn wie ein Blitz und der Fehler war gefunden! Heinrich hätte jubeln können. Schnell korrigierte er seine Zeichnung und ging damit zu dem anderen Ingenieur hinüber. Zusammen betrachteten sie den Entwurf.
„So kann es gehen!“, erklärte Heinrich und damit würde der Moment kommen, zu dem diese Lokomotive Gestalt annehmen konnte. In den nächsten Tagen würden alle Ingenieure noch einmal kontrollieren, ob er etwas vergessen hatte, doch es sah wohl so aus, dass die Konstruktion das halten würde, was sich Heinrich von ihr versprach.
Eine Belobigung des Chefs und eine Prämie waren ihm damit sicher. Der ältere Mann schlug ihm schon mal anerkennend auf die Schulter.
Freudestrahlend und pfeifend ging Heinrich am Abend nach Hause zu seiner Frau.
Sicherlich hätte er sich auch eine größere Wohnung leisten können, doch dieses Appartement war genau das gewesen, was sie zu viert haben wollten. Und es war auch nicht so schlecht, dass er die Hälfte seines Monatslohnes sparen konnte.
Mit dem Geld hätte er vielleicht in ein paar Jahren die Möglichkeit, selbst eine Firma zu gründen. Wie Pilze im Herbst, so schossen hier die Unternehmen praktisch über Nacht aus dem Boden. Jeder, der eine gute Idee hatte, konnte damit hier ein reicher Mann werden.
Es war das Land der unbegrenzten Möglichkeiten!
Und die Schilder an den Geschäften zeigten dies eindeutig.
In der Abenddämmerung dieses lauen Maitages schlenderte Heinrich durch die Gassen.
In einem Laden kaufte er eine gute Flasche Rotwein und etwas Tabak aus Virginia. Einst hatte ihn dieser Tabak in Magdeburg auf die Idee gebracht, hierher auszuwandern. Und er erinnerte sich auch wieder an die Schokolade, die Clara dort so gern gegessen hatte.
Er kaufte eine Tafel und schob sie sich als Überraschung in die Jackentasche. Schmunzelnd stellte er sich schon diese kindliche Freude vor, die Clara beim Genuss dieses Naschwerks gewiss haben würde.
Am Haus angekommen, blickte er noch einmal nach oben. Die Sonne versank im Westen und gab dem Himmel abermals diesen goldenen Glanz, den er auch bei ihrer Ankunft hier gehabt hatte.
Das Glück lag im Westen!
Dorthin würden irgendwann mal, in ein paar Jahren, seine Züge fahren. Die Strecke und die Gleise mussten noch gebaut werden, doch das war nur eine Frage der Zeit.
„Nach Westen!“, war auch der Ruf, den viele der Neuankömmlinge hier benutzten, denen Clara half.
Heinrich stieg die Treppe hinauf.
Die knarrenden Stufen waren ihm nach den paar Monaten schon so vertraut und Amerika war seine Heimat geworden.
Das hier war sein Leben, Clara war sein Lebensinhalt!
Und sie öffnete ihm auch freudestrahlend die Tür und fiel ihm um den Hals. Offensichtlich hatte sie ihn schon erwartet. Jetzt konnte er es nicht mehr erwarten, ihre strahlenden Augen zu sehen, wenn er ihr sein Geschenk überreichte.
Lächelnd zog er die Tafel aus der Jackentasche und gab sie seiner Frau.
Clara fetzte die Packung regelrecht auf und schob sich das erste Stück gleich im Flur in den Mund.
„Mein Zug ist fertig!“, erklärte Heinrich triumphierend. Dabei störte es ihn natürlich nicht, dass diese Lokomotive im Moment nur auf dem Papier und in seine Gedanken fuhr.
1 William George Fargo (20.5.1818 - 3.8.1881) - ein Wegbereiter des Post-, Bahn- und Transportwesens in Nordamerika.
3. Kapitel
Dunkle Erinnerungen
Maria stand im Flur der Wohnung, die sie mit Clara, Heinrich, Gundel und ihrer Tochter Katharina in New York bewohnte, vor dem Spiegel und bürstete sich ihr langes schwarzes Haar.
Sie kämpfte dabei mit den Tränen, denn es war an diesem Tag genau ein Jahr her, dass Fritz, ihr Freund und Vater ihrer Tochter, in Dresden beim Maiaufstand erschossen worden war. Fritz hatte seine Tochter nie kennenlernen dürfen. Er hatte noch nicht einmal gewusst, dass sie überhaupt mit ihr schwanger gewesen war. Das hatte sie selbst erst auf der Fahrt über den Atlantik bemerkt.
Gerade erinnerte sie Katharina wieder lautstark daran, dass sie sich beeilen musste, denn es war schon fast Mittag. Eigentlich hätte sie sich an diesem Tag gern irgendwo verkrochen, doch sie hatte Gundel versprochen, sie im Büro abzulösen.
Es war Dienstag, der 7. Mai 1850 und noch immer lag Clara im Bett. Wie jeden Montag hatte die Freundin am Abend zuvor wieder einen Sprachkurs für die Auswanderer gegeben und war erst spät in der Nacht in die Wohnung geschlichen, doch jetzt half alles warten nichts mehr. Sie musste Clara wecken, damit die Freundin auf die Tochter aufpassen konnte.
Bei ihrem Weg in das Schlafzimmer von Clara und Heinrich fiel ihr neuerdings ein, wie sie einst bei Claras Familie ihre Anstellung erhalten hatte. Damals, als Clara noch die Tochter eines reichen Textilunternehmers aus Chemnitz gewesen war und sie nur die unbedeutende Magd, aber schon damals war eine Freundschaft entstanden, die auch drei Jahre später immer noch hielt.
Leise schob sie die Tür auf und trat in den Raum.
Clara hatte die Vorhänge zugezogen und schnarchte leise.
Maria trat an das Fenster, zog die Übergardinen zur Seite und ließ das helle Tageslicht in den Raum hineinfluten. Reichte das Licht schon, um die Freundin damit zu wecken? Offensichtlich nicht, denn trotz der Sonne auf der Nase schnarchte Clara weiter.
„Gräfin von Kletterwitz!“, rief Maria.
Wie immer zuckte Clara erschrocken hoch.
„Du schon wieder. Mit so was macht man keine Scherze!“, entgegnete Clara und gähnte laut.
„Ich muss dann los, um Gundel abzulösen. Die geht doch dann in ihre Nähstube!“, erklärte Maria.
„Ach so! Bringst du mir Katharina? Da können wir hier noch etwas zusammen dösen!“, antwortete Clara und legte sich wieder zurück.
Schnell hatte Maria die Tochter geholt und zu Clara ins Bett gelegt.
„Ist heute nicht der siebente?“, fragte Clara.
Maria nickte.
„Es tut mir leid!“, stieß Clara aus und sprang aus dem Bett.
Gegenseitig sich umarmend standen sie einen Moment mitten im Raum, bevor sich Maria aus der Umklammerung lösen konnte.
„Bis heute Abend!“, erwiderte sie und eilte hinaus, damit Clara ihre Tränen nicht sah.
Der Weg bis zu ihrem Geschäftsraum im Hafen war nicht weit und wenig später schob sie die Tür auf.
Für einen Dienstag war hier überraschend wenig los. Nur eine Frau stand am Tisch und ließ sich von Gundel beraten. Geduldig wartete Maria, bis die Frau ging, dann umarmte sie Gundel und hängte ihre Jacke an den Haken neben der Informationstafel.
„War irgendwas Besonderes?“, fragte sie, während sie sich eine Tasse Kaffee einfüllte.
„Das übliche eben!“, erzählte Gundel und holte ihren Mantel.
Maria nickte ihr zu und trat einen Schritt in Richtung Tresen, als Gundel sagte: „Da war ein Mann hier!“
„Und?“, fragte Maria, denn es war ja nicht ungewöhnlich, dass auch Männer in diese Beratungsstelle kamen.
„Er suchte nach Clara wegen einer Erbschaft! Ein Graf von Kletterwitz! Und er hat ein Foto von ihr dabei gehabt!“, erwiderte Gundel.
Vor Schreck entglitt die Tasse Marias Hand und zerplatze auf dem Fußboden in hunderte Stücke inklusive eines großen Kaffeefleckes.
„Graf von Kletterwitz? Peter?“, fragte sie erschrocken und dachte an die Schmerzen, die der Mann ihr damals mit seiner gewalttätigen Art zugefügt hatte, als sie noch seine Magd gewesen war.
„Nein! Cornelius!“, entgegnete Gundel und zog sich ihren Mantel an.
„Hast du ihm gesagt, wo Clara wohnt?“, fragte sie.
Gundel schüttelte den Kopf. „Nein! Es geht nur um eine Erbschaft. Er wohnt für ein paar Tage in einer Pension und sie soll sich bei ihm melden! Die Adresse steht da auf dem Zettel!“ Gundel zeigte auf das Papierstück und ging.
Mit zitternden Fingern hob Maria das Blatt an. Das war nicht wirklich etwas Gutes! Damals auf dem Schiff von Magdeburg nach Hamburg, mitten auf der Elbe, hatte Clara ihren Mann Peter in Notwehr erschossen und wenn jetzt sein Bruder hier auftauchte, um nach ihr zu fragen, dann bedeutete dies, dass Clara gefunden und ihre Tarnung aufgeflogen war.
Seit zehn Monaten war sie jetzt bereits Clara Stone und dennoch hatte Cornelius sie ausfindig gemacht.
Die Pension war nicht weit entfernt und Maria beschloss, den Mann zu beobachten. Vielleicht hatte sich ja auch nur irgendein Spaßvogel einen makabren Scherz erlaubt.
Sie streifte sich die gerade erst ausgezogene Jacke wieder über, ließ die Scherben und den Kaffeefleck einfach am Boden und verschloss das Büro.
Das Schild mit der Aufschrift „Geschlossen“ in sieben Sprachen hängte sie noch vor die Tür, dann eilte sie den Weg zurück.
Der Abstand von ihrer Wohnung zu der Herberge war nicht so groß, als dass es nicht hätte passieren können, dass Cornelius und Clara dort rein zufällig aufeinandertrafen.
Gegenüber des Einganges der Pension befand sich ein kleines Café und Maria setzte sich dort an einen Tisch, von dem aus sie die Tür im Blick haben konnte. Und Kaffee gab es hier auch noch.
Warum musste es ausgerechnet dieser Tag sein, an dem diese dunkle Erinnerung abermals in ihr Leben trat? Viel zu gut konnte sich Maria noch an all die Grausamkeiten erinnern, die Graf Peter ihr und Clara zugefügt hatte.
Es dauerte zwei Tassen lang, dann trat der Mann drüben aus der Tür.
Er war es! Definitiv. Die Ähnlichkeit war nicht zu verkennen. Zwar hatte er graue Schläfen und einen gepflegten Schnurrbart, aber die Kälte seiner Augen ließ sie frieren.
Der Mann trug einen guten Anzug und war etwa fünfzig Jahre alt. Er war also der ältere Bruder von Peter. Was wollte er? Sicherlich nicht eine Erbschaft auszahlen!
Jetzt musste Maria warten, bevor sie wieder gehen konnte. Zwar kannte er sie nicht, aber im Moment lähmte sie die Angst.
4. Kapitel
Sonntagsgedanken
Der Sonntag war Clara der liebste Tag in der Woche. Nachdem sie sich in der Nacht leidenschaftlich geliebt hatten, war sie danach neben Heinrich eingeschlafen und gerade weckte die Sonne des Vormittages sie, als deren Strahlen ihre Nase kitzelten.
Ausgiebig streckte sie sich und sah dem geliebten Mann von der Seite aus ins Gesicht. Er schnarchte leise und lag auf dem Rücken.
Diesen Tag in der Woche konnten sie beide so lange liegen bleiben, wie sie wollten.
Gundel war sicher schon in der Kirche, denn die Freundin war von ihnen allen die Gottesfürchtige.
Es war ja nicht so, dass Clara nicht an Gott glauben würde, aber sie hatte noch nie viel für diese Gottesdienste übrig gehabt und im warmen Bett war es einfach viel zu schön.
Ein Geräusch aus der Küche verriet ihr, dass Maria schon mit den Vorbereitungen zum Mittag beschäftigt war. Das Mahl würde es geben, wenn Gundel von der Messe zurückkommen würde.
Die Glocken der Kirche wären dann das Zeichen für Clara, sich von ihrem Nachtlager zu erheben, aber noch war Zeit.
Maria schob leise die Tür auf und schaute in das Zimmer. Mit der Tochter auf dem Arm, trat sie an das Bettgestell heran und legte ihr Katharina in den Arm.
Sie nickte der Freundin zu und fast geräuschlos ging Maria in die Küche zurück.
Clara sah in Katharinas Antlitz. Die schwarzen Löckchen umrahmte ein strahlendes Babygesicht.
So gern hätte Clara eigene Kinder gehabt, aber obwohl sie es sehr oft versuchten, hatte es bisher noch nicht geklappt. Da war es umso schöner, wenn sie mit der Tochter der Freundin im Arm noch im Bett kuscheln konnte.
Katharina gluckste vor Wonne, als Clara mit ihr zu spielen begann. So konnte ein Familienleben auch sein. Es war eben nur schade, dass es nicht ihre Tochter war. Viel zu goldig war das kleine Mädchen mit ihren vier Monaten.
Hier, in diesem Bett, hatte Maria die Tochter im Januar bekommen. Es hatte ziemlich lange gedauert, bis Katharina endlich das Licht dieses ersten Wintertages erblickt hatte.
Zusammen mit Gundel und einer Hebamme hatte sie Maria immer wieder abwechselnd betreut, während Heinrich in einer Kneipe gewesen war. Kinderkriegen war nun mal Frauensache. Was konnten die Männer da schon tun? Und Heinrich war da nicht viel anders, als alle anderen Männer auch. Trotzdem verstand sie sich gut mit ihm.
Oftmals führten sie abends lange Gespräche in der Stube über Gott und die Welt. Es reizte ihren Intellekt, mit Heinrich zu streiten und zu diskutieren. Oft führte das danach dazu, dass sie anschließend im Bett leidenschaftlich übereinander herfielen.
Am Abend zuvor hatten sie über die Sklaven des Südens gesprochen, über die sie etwas in der Zeitung gelesen hatte, aber weder sie noch Heinrich hatten jemals einen Sklaven gesehen. Hier in New York gab es nur wenige dunkelhäutige Menschen.
Clara legte sich zurück und blickte zur Decke hinauf. Eigentlich war das doch hier das Land, das allen Menschen die Freiheit versprach. Stand nicht in der Unabhängigkeitserklärung: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“
Mehr als siebzig Jahre war es schon her, dass diese Erklärung geschlossen wurde, aber war es nur eine Absichtserklärung? Warum galt dieser Grundsatz nicht auch für die Sklaven? Und für die Indianer? Waren das etwa keine Menschen? Darüber hatten sie am Abend lange hitzig diskutiert.
Heinrich hatte ihr erklärt, dass das in sehr vielen anderen Familien noch nicht mal für die Frauen galt. Sollte man da nicht in dieser Erklärung das Wort „Menschen“ durch „weiße Männer“ ersetzen?
Vermutlich gab es nicht viele Frauen, die sich über solche Dinge Gedanken machten.
Am Abend hatten Gundel und Maria jedenfalls ziemlich seltsam geschaut, während sich Heinrich mit ihr fast herumgebalgt hatte. Dafür war die Versöhnung im Bett dann auch besonders schön gewesen.
Die Kirchenglocken rissen Clara aus ihren Gedanken.
Leise erhob sie sich, Maria kam zurück in das Zimmer, um die Tochter zu holen und Clara ging an die Waschschüssel für ihre Morgenwäsche, obwohl es schon fast Mittag war.
Gähnend trat Heinrich kurz darauf an sie heran und küsste sie, dann machte sie für ihn Platz.
Während sich Clara anzog, fragte sie ihren Mann: „Können wir heute mal am East River spazieren gehen? Eine Frau hat mir am Freitag erzählt, dass sie dort den Jones’s Wood haben und ich würde gern mal wieder ein paar Bäume und etwas Grün sehen. Die Stadt ist zwar schön, aber ein Park fehlt hier irgendwie!“
„Warum nicht“, antwortete Heinrich, sich abtrocknend, und setzte hinzu: „Dann kann Maria mit ihrer Tochter mitkommen. Ein bisschen frische Luft tut auch Katharina sicher gut!“
„Vielleicht kann ich auch Gundel dazu überreden. Sonst sitzt die bloß wieder den ganzen Tag an ihren Näharbeiten. Ein Sonntag sollte doch der Erholung dienen. Selbst Gott hat da geruht. Glaube ich zumindest!“, äußerte Clara.
Noch ein Kuss ihres Mannes folgte, dann zog der Geruch des Mittagessens sie in die Küche hinüber.
Maria war eine so gute Köchin und aus dem Backofen strömte das Aroma eines frischen Apfelkuchens. Den konnten sie ja in einen Korb legen und auf dem Spaziergang unter einem Baum verspeisen.
Vorsichtig schob sich Clara an einen der Töpfe heran, denn Maria war schnell mit dem Holzlöffel, wenn jemand nachschauen wollte, was die Freundin leckeres kochte.
Da Heinrich Maria mit dem Vorschlag des Spazierganges ablenkte, konnte Clara einen Blick in den größten Topf riskieren.
Mehrere Stücke Braten schmorten darin und dufteten so herrlich.
„Rinderbraten, mit Kartoffeln und Rotkraut!“, offenbarte Maria, während sie schon mit dem Löffel ausholte.
Schnell zog Clara die Hand vom Deckel zurück.
Gundel trat in die Küche und während sich Heinrich an den Tisch setzte, waren alle Frauen damit beschäftigt, die Tafel zu decken und das Mahl aufzutragen.
Nach einem Gebet von Gundel stürzten sie sich auf Marias hervorragendes Gericht.
Alle lobten überschwänglich den Sonntagsbraten und Maria wurde ein bisschen rot bei so viel Anerkennung. Ein solch leckeres Mahl gab es eben nur zum Sonntag.
So konnte ein Tag nicht schöner aussehen und später würde es noch einen Waldspaziergang mit Apfelkuchen und Wein geben.
Herrlich war es in Amerika.
5. Kapitel
Auge in Auge
Montag war es geworden und Maria schaute zu, wie Clara durch den Arbeitsraum wirbelte. Bisher hatte Maria noch nicht den Mut gehabt, der Freundin von der drohenden Gefahr zu berichten. Oder hatte sie geglaubt, dass die Gefährdung einfach so verschwand, wenn man nicht darüber redete?
Am Abend würde Clara wieder eine Gruppe von Frauen für ihre Schulung hier haben und es würde sicher bis in die Nacht gehen. Gerade sprudelte die Freundin nur so mit ihren Einfällen heraus.
Seit Tagen dachte Maria jetzt schon darüber nach, ob sie es Clara sagen sollte, doch was konnte der Freundin schon geschehen? Peter war drüben in Europa gestorben, zwar aus Notwehr von Clara erschossen, aber wer wusste das schon? Und wer konnte sie dafür verantwortlich machen? Zumindest kein Gericht in Amerika. Und in Europa? Eigentlich auch keines.
Was also hatte Clara zu befürchten?
Dennoch war da diese Angst tief in ihr, die Maria lähmte, denn wenn Cornelius von Kletterwitz auch nur ein ganz kleines Stück so war, wie sein Bruder Peter, dann wollte Maria nicht in seine Hände fallen müssen.
Gerade waren die ersten Frauen des Tages in ihrem Büro gewesen und jetzt war ein wenig Ruhe eingetreten. In einer Stunde würde Maria wieder nach Hause gehen, um bei Gundel die Tochter in Empfang zu nehmen. Vielleicht kam ja Gundel auch mit Katharina und dem Mittag hierher.
Zumindest würde Clara dann am Nachmittag alleine im Büro sein. Das erste Mal seit Anfang Mai! Sollte sie daher einfach Clara zur Seite nehmen und es ihr sagen? Falls der Mann eventuell am Nachmittag hier erschien, dann würde der Schock für Clara, wenn sie vorbereitet war, eventuell ein wenig kleiner sein.
Noch zögerte Maria, aber als sie sich zum Fenster wandte, bemerkte sie den Mann bereits auf sich zukommen und damit auch auf Clara.
Und diesmal trug der Mann am Gürtel auffallend offen einen Colt. Würde er diesen benutzen? Möglicherweise!
Beim letzten Mal hatte er keine Waffe gehabt! Demonstrativ rückte er den Gürtel auf der Straße vor dem Haus zurecht.
Erschrocken fuhr Maria herum und sah zu Clara, die etwas in die Schreibtischschublade einräumte.
„Clara! Versteck dich! Unter dem Tisch!“, rief sie der Freundin zu, die sie daraufhin fragend anblickte, doch ihr Gesichtsausdruck reichte wohl als Erklärung, denn Clara tauchte sofort unter der Ladentheke unter. Nach vorn war sie daher vor seinem Blick beschirmt.
Maria lief geschwind nach hinten und stellte sich so, dass sie damit Clara auch noch mit ihrem Rock verdeckte. Die Freundin sah fragend nach oben, aber für Erklärungen war jetzt keine Zeit mehr, denn Cornelius von Kletterwitz schob gerade die Ladentür auf.
Die Ähnlichkeit zu ihrem alten Peiniger war so frappierend, dass Maria bei diesem Anblick fast das Blut gefror. Er trat an die Theke, griff ohne Gruß in seine Jackentasche und Maria zuckte zusammen.
Der Graf zog ein Foto aus seiner Tasche und legte es vor sie hin. „Ich suche diese Frau! Haben sie die schon mal hier gesehen?“, fragte er.
Maria sah auf das Hochzeitsfoto von Clara und Peter herunter. Was sollte sie sagen? Gundel hatte ja schon ausgesprochen, dass sie Clara kannte. Lügen würde ihr also nichts bringen, aber die Angst schnürte ihr gerade die Kehle zu.
„Das ist die Gräfin von Kletterwitz. Meine Schwägerin! Wir haben meinen Bruder, ihren Mann, aus der Elbe gefischt. Mit einem Loch im Herzen und ich würde ihr gerne die Erbschaft überreichen!“, sagte er laut und legte dabei den Colt auf den Tisch.
Beim Anblick der Waffe schrie Maria auf.
„Also? Haben sie diese Frau gesehen?“, fragte der Mann eindringlich weiter und schob sich den Revolver in den Gürtel zurück.
Ein „Ja!“ verließ piepsend ihren Mund.
„Fein! Wo kann ich sie finden? Ich würde ihr die Erbschaft gerne persönlich auszahlen!“, erklärte er laut.
„Ich weiß es nicht. Sie ist nur gelegentlich hier“, log Maria, aber diese Lüge war wohl so offensichtlich, dass er es sehen musste.
„Auch gut! Dann komme ich gelegentlich zurück!“, sagte er drohend.
Langsam ging der Mann zur Tür und drehte sich dort noch einmal zurück. Demonstrativ schob er den Colt im Gürtel zurecht und verließ das Büro.
Zitternd versperrte Maria der Freundin auch weiterhin den Ausweg und musste sich an der Tischkante festhalten, um nicht in den Raum zu fallen. Ihre Knie waren wie Butter und wollten wohl ihr Gewicht nicht mehr halten.
Es dauerte Minuten, bis sie sich wieder bewegen konnte und zurück zur Wand trat, gegen die sie sich zitternd lehnte.
Jetzt hätte Clara eigentlich aus ihrem Versteck hervor gekonnt, aber ihr ging es offensichtlich ähnlich. Die Furcht war deutlich in ihren Augen zu sehen.
Eine ganze Weile später kroch Clara vorsichtig auf allen Vieren unter dem Tisch hervor, erhob sich ein Stück und spähte über die Tischplatte zur Ladentür.
„Oh mein Gott! Ich muss hier fort!“, flüsterte die Freundin und stemmte sich hoch.
Maria konnte gerade noch verhindern, dass Clara panisch den Raum verließ, indem sie die Freundin von hinten umklammerte.
Sie hielten sich gegenseitig aufrecht.
„Warum? Was soll ich machen? Ich muss von hier verschwinden!“, brach es überstürzt aus Clara hervor.
Die Drohung von Cornelius war ihr nicht unbemerkt geblieben, obwohl sie ja die Waffe nicht gesehen hatte.
„Aber wohin?“, erwiderte Maria.
Claras wirrer Blick ging im Laden umher.
Jetzt durfte Maria die Freundin nicht loslassen, denn der Pier war nicht weit entfernt. Es war noch kein Jahr her, da hatten sie auf Clara gemeinsam aufpassen müssen, damit sie sich nichts antat und gerade war es wieder so weit. Das konnte Maria in den Augen der Freundin erblicken.
„Wohin?“, murmelte sie ständig und dann fixierte ihr Blick ein Blatt an der Tafel. „St. Louis!“, flüsterte Clara.
Dorthin gingen viele der Auswanderer aus den deutschen Ländern und eine ihrer Freundinnen, Alma Heller, war erst vor ein paar Monaten dorthin umgezogen. Regelmäßig erreichte sie Post von ihr, worin sie schrieb, wie herrlich es dort war.
Aber vorsichtshalber wollte Maria Clara nicht alleine nach Hause gehen lassen. Es konnte ja sein, dass Cornelius ihr irgendwo auflauerte oder Clara doch noch in die Bucht sprang.
Schnell war das Büro verschlossen, das Schild hing an der Tür und an Marias Arm ging die Freundin schwankend zurück.
Eigentlich stützten sie sich gegenseitig und Marias Blick suchte permanent nach dem Mann.
6. Kapitel
Nach St. Louis!
Diese Flucht war viel zu überstürzt gewesen, aber sie hatte Cornelius nicht in die Hände fallen wollen. Zu ihrem Glück hatte Heinrich gerade eine Prämie bekommen und damit besaß er momentan fast fünfhundert Dollar. Eine schier unglaubliche Summe.
Erst in der Kutsche war Clara wieder einigermaßen zur Ruhe gekommen. Heinrich hatte ihr erklärt, dass die Postkutsche zehn Tage bis St. Louis brauchen würde und er hatte sich auch nicht gegen diesen Aufbruch gestemmt, denn die Firma, für die er in New York gearbeitet hatte, besaß auch eine Niederlassung in St. Louis. Mit einem Schreiben würde er dort in der Werft dann Dampfmaschinen für die Schiffe konstruieren, die den Mississippi hinauf und hinab fuhren.
Warum eigentlich St. Louis?
Es war wohl eine gute Fügung, dass Clara erst ein paar Tage zuvor einen Brief von Alma Heller erhalten hatte, mit der sie auf dem Schiff gemeinsam in dieses Land gekommen war. Vor Monaten hatte sich die Frau mit ihrem Mann eine Farm am Stadtrand von St. Louis gekauft und jetzt war dieses Haus vorübergehend ihr Ziel.
Viele deutsche Einwanderer wählten momentan St. Louis als Ziel ihres Weges. Zahlreiche gingen von dort aus in den Westen, aber genauso viele blieben auch in der Stadt. Die Hälfte alles Bewohner von St. Louis waren in den letzten Jahren aus deutschen Ländern dorthin gereist und man siedelte sich eben gern da an, wo in der alten Sprache gesprochen wurde.
Seit dem Tage zuvor war Clara jetzt schon unterwegs.
Zusammen mit ihr und Heinrich saßen noch sieben andere Fahrgäste in der beengten Kabine. Acht Männer saßen noch obendrauf, in Straßenstaub eingehüllt.
Am liebsten hätte sich Clara zwar ein Pferd gegriffen und wäre die tausend Meilen geritten, doch Heinrich hatte darauf bestanden, die Kutsche zu nehmen.
Schon damals in Sachsen war er nicht der geschickteste Reiter gewesen und in ihm steckte vermutlich immer noch die Erinnerung an diesen Ritt von Chemnitz nach Dresden. Mehr als ein Jahr war das bereits her und dennoch machte Heinrich immer noch einen großen Bogen um jedes Pferd.
In aller Eile hatte Clara die Brücken hinter sich abgebrochen und die Freundinnen alleine in New York zurückgelassen. Die Furcht vor Cornelius war einfach viel zu groß gewesen und wenn Heinrich nicht erst noch die Modalitäten seiner neuen Arbeit hätte klären müssen, dann wäre sie sofort gefahren. So hatte sie noch eine gequälte Nacht in Furcht gewartet.
Derzeit jagte diese Postkutsche in einer aberwitzigen Geschwindigkeit durch das Land.
Gegen ein paar kleine Münzen hatte Heinrich für sie ein Kissen erworben, mit dem diese Fahrt ein wenig erträglicher wurde, aber es war eigentlich unzumutbar. In dem Kasten war es staubig, eng und die dürftige Federung des Gespannes übertrug jeden Stoß von der schlechten Straße in ihren Rücken.
Zehn Tage würde es dauern und sie hatte schon am zweiten Tag der Reise die Nase voll. Nur eine andere Frau saß noch mit im Wagen. Eine ältere Dame, die einen kleinen Hund auf ihrem Schoß hatte. Vermutlich eine Art von Wachhund!
Es war irgendwie bezeichnend, dass vorn, neben dem Kutscher, ein Mann mit einer geladenen doppelläufigen Flinte saß.
Und die Männer in der Kusche machten teilweise keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Glücksspieler waren wohl auch darunter, denn zwei der Männer spielten schon stundenlang am Fenster Poker. Ein anderer Fahrgast streifte gelegentlich mit der Hand ihr Knie, was wohl der Enge geschuldet, aber dennoch unangenehm war.
Die Nacht waren sie in der Postkutsche geblieben und hatten sich nach dem ersten Morgengrauen in einer Station gewaschen. Danach hatte sich das Gefährt wieder in Bewegung gesetzt. Nachts hier zu fahren war wohl ziemlich riskant bei diesen Wegen, aber sonst würde es ja noch länger dauern, doch so richtig hatte Clara in der ersten Nacht aber auch nicht schlafen können. Zu sehr hatte sie die Fahrt umhergeworfen.
Vier schnelle Pferde zogen sie nach Westen und gelegentlich hielt die Kutsche an Poststationen, um die Pferde zu wechseln, sowie Briefe ein und auszuladen. Die Passagiere vertraten sich in dieser Zeit die schmerzenden Glieder oder gingen auf die Latrine.
Das Trompetensignal von vorn verkündete die Ankunft einer neuen Stadt und damit etwas Zeit, um etwas zu essen und zu trinken.
In irgendeiner namenlosen Stadt hielt die Kutsche vor dem Post Office und alle Reisenden strömten aus der Kabine.
Während Clara zur Latrine ging, besorgte Heinrich etwas zu essen für den weiteren Weg.
Clara trat zusammen mit der anderen Frau in die Poststation und dort hielten sie sich wechselseitig die Tür des Aborts zu, damit keiner der Männer zu ihr hineinkommen konnte.
Auch der kleine Hund musste noch sein Geschäft verrichten, dann bekam er einen Napf voller Wasser und Clara kam mit der Frau ins Gespräch. Margot würde schon in Louisville aussteigen und daher würde Clara dann die Hälfte des Weges als einzige Frau im Wagen sitzen, falls nicht doch noch unterwegs eine Frau wieder zustieg.
Vermutlich reisten die meisten Familien allerdings mit den Planwagen in den Westen und es gab nicht so viele Frauen, die ihr Leben der schaukelnden Postkutsche anvertrauten.
Je weiter der Weg sie von Cornelius trennte, desto selbstsicherer wurde Clara auch wieder. Die Angst vor dem Mann blieb hinter ihr zurück, aber das hatte sie damals auch von Peter gedacht.
Gegenwärtig hatte das Schicksal sie eingeholt oder zumindest fast.
Würde Cornelius weiter nach ihr suchen? Dann wäre St. Louis vielleicht die falsche Wahl gewesen, denn wenn der Mann ein bisschen nachdenken würde, dann war er wieder auf ihrer Spur. Allerdings konnte Clara unter den tausenden von Einwanderern leichter untertauchen.
Zumindest war das ihre Hoffnung.
Heinrich kam mit zwei belegten Broten zurück und unterbrach ihre Unterredung mit Margot und auch das Hornsignal verkündete wenig später, dass eine neue holprige Strecke vor ihr lag.
Ihr mit Schinken belegtes Sandwich war die optimale Mahlzeit in diesem Wagen. Es war das erste Essen nach Stunden der Fahrt!
Clara setzte sich in der Kutsche auf ihr Kissen, biss genüsslich in das belegte Brot hinein und wurde dabei argwöhnisch von dem kleinen Hund beobachtete. Offensichtlich hatte auch er Hunger.
Margot setzte sich jetzt ihr gegenüber und damit hatte der Hund die optimale Entfernung, um sich einen Bissen schnappen zu können. Daher dauerte es auch nicht lange, bis er ein Stück Schinken ergaunern konnte.
Das Lachen über den Vorfall verdrängte noch zusätzlich die Angst und den Schmerz der Fahrt.
7. Kapitel
Der unwillentliche Verrat
Maria lehnte an der Rückwand des Büros neben der Tür zu der Abstellkammer. Dort hatte sie gerade ihre Tochter zum Schlafen auf ein Kissen gelegt. Vor drei Tagen hatte Clara die Kutsche in Richtung Westen bestiegen und da die Fahrt bis St. Louis zehn Tage dauern würde, wie ihr Heinrich bei der Abfahrt gesagt hatte, hatten die beiden momentan noch nicht mal ein Drittel der Strecke geschafft.
Heute war Freitag und die betriebsame Geschäftigkeit der Frauen ließ etwas nach. Jede eilte gerade davon, um für das bevorstehende Wochenende noch den Einkauf vorzunehmen.
Gundel war ebenfalls unterwegs und würde dann später in der Wohnung die Suppe ansetzen.
Cornelius war zum Glück nicht wieder aufgetaucht.
Und wie als hätte sie den Mann mit ihren Gedanken gerufen, schob der Graf die Tür auf und trat an die Ladentheke.
Abermals war Maria wie gelähmt, denn diese Ähnlichkeit zu ihrem damaligen Peiniger machte ihr auch bei diesem Treffen Angst! Noch viel zu gut waren die Schmerzen in ihrer Erinnerung vorhanden, die ihr Graf Peter in Chemnitz zugefügt hatte.
War Graf Cornelius anders? Seine Augen jedenfalls waren kalt und schienen sie durchdringen zu wollen. Der Mann nagelte sie praktisch mit seinem Blick an die Wand hinter ihr.
Langsam kam er näher, umrundete den Tisch und trat direkt vor sie hin.
„Wo ist meine Schwägerin? Sie decken die Frau doch! Sie ist eine Mörderin und muss ihre gerechte Strafe finden!“, zischte der Mann sie an.
Das Grinsen des ersten Treffens war gewichen und erneut trug er einen Gurt mit einem großen Colt, der mit dem Griff auf seiner Hüfte ruhte.
„Ich weiß nicht, wo Clara ist!“, stotterte Maria.
„Ach so! Ich hatte ihren Vornamen gar nicht erwähnt! Wo ist diese Hure? Raus mit der Sprache!“, brüllte der Graf sie an.
„Ich habe sie schon ein paar Tage nicht mehr gesehen!“, brachte Maria mühsam heraus.
„Sie lügen mich doch an!“, entgegnete der Mann lauernd.
Noch bevor sie etwas sagen konnte, hatte er seine Hand an ihrem Halse und drückte langsam zu. Nach Luft schnappend schlug sie um sich, doch der Mann wich ihren Schlägen aus.
Zappelnd hing sie wie eine Puppe in seinem Griff, dann ließ der Graf sie kurz los, um seine Frage zu wiederholen.
Erneut sagte Maria: „Ich weiß nicht, wo Clara ist!“
Sie wusste nicht, wo sie die Kraft zum Widerstand hernahm.
Ohne ein weiteres Wort an sie zu verlieren, schleuderte sie der Graf durch die angelehnte Tür in die Abstellkammer hinein. Zum Glück lag Katharina nicht in ihrem Weg, denn im Flug hätte sie der Tochter wohl kaum ausweichen können.
Krachend prallte Maria mit dem Rücken gegen die hintere Wand des Raumes und der Graf setzte ihr sofort nach. In der schummrigen Kammer war er ihr so nah, dass sie den Rauch der zuvor von ihm gerauchten Zigarre in seinem Atem riechen konnte.
„Wo ist diese Hure?“, fragte er abermals eindringlich.
Maria bekam kein Wort heraus, die Angst lähmte sie.
„So etwas verstocktes!“, zischte der Mann und das hätte in dieser Art auch von seinem Bruder kommen können.
Bevor sie auch nur einen Gedanken fassen konnte, hatte sie der Graf auf den Boden geschleudert, ihr das Kleid hochgeschoben, hatte sich auf sie geworfen und versuchte in ihren Schoß zu gelangen.
Der Schmerz dieser Gewalt riss sie aus ihrer Starre, aber ihr Strampeln störte den Mann nicht.
Er war viel zu stark, drückte ihr mit den Knien die Beine auseinander und presste sie zugleich zu Boden. Seinen Gürtel mit der Waffe hatte er hinter sich liegen. Unerreichbar weit von ihr entfernt!
Verzweifelt schlug sie mit ihren Fäusten auf seinen Rücken, was aber nur dazu führte, dass er ihre Hände schnappte und diese mit den Handgelenken auf den Fußboden drückte.
„Wo! Ist! Gräfin! Clara!“, stieß er aus und stieß es gleichzeitig gewaltsam in ihren Leib.
Der Schmerz dieser Schändung war unbeschreiblich und dennoch schwieg Maria. Es war abzusehen, dass die Gewalt schnell enden würde und schon schoss er keuchend seinen Samen in ihren verletzten Schoß.
Schnaufend erhob sich der Graf und schloss sich die Hose. Er sah auf sie herab, während er sich den Gürtel wieder umlegte.
Gerade wurde Katharina unruhig und ein hämisches Grinsen schob sich auf das Gesicht des Mannes. Er zog die Waffe und hob das Kind an.
„Wo ist diese elende Hure?“, presste er drohend hervor.
Marias Blick sauste unwillkürlich zu dem Plakat an der Wand des Büros.
Der Graf fuhr herum und erkannte das Ziel ihrer Kopfbewegung.
„Das wollte ich doch nur wissen!“, erklärte der Mann triumphierend, legte das Kind zurück und schob sich den Revolver in sein Holster.
Ohne einen weiteren Blick zu ihr ging er pfeifend aus dem Büro.
„St. Louis“, stand an der Wand, als wäre es mit Feuer dorthin geschrieben.
Mühsam kam Maria auf die Beine. Sie hatte Clara verraten! Die Schändung war Nebensache, der Verrat an der Freundin schmerzte viel mehr und sie hatte keine Möglichkeit Clara vor der drohenden Todesgefahr zu warnen.
Schwankend stand Maria an der Tür und der Schmerz wurde übermächtig. Vor dem Kissen mit Katharina brach sie in die Knie und Tränen strömten ihr über die Wangen.
Lange hockte sie so in der Kammer.
Irgendwann erschien Gundel und half ihr auf, aber Maria wollte der Freundin den Verrat nicht gestehen.
„Ich bin gestürzt!“, log sie und setzte sich an der Wand des Büros auf einen Hocker.
Mit Katharina auf dem schmerzenden Schoß versuchte sie der Tochter ein Schlaflied zu singen, doch der Text fiel ihr nicht ein. Sie summte einfach das Lied und immer noch hing das verräterische Plakat dort.
Selbstverständlich würde der Graf der Freundin folgen.
Sie hatte schon geahnt, dass er über Leichen ging, um sein Ziel zu erreichen, jetzt wusste sie es.
Maria schämte sich dafür, dass sie Clara so schmählich verraten hatte. Für immer würde sie diese Gewissheit tief in ihrem Inneren verschließen.
Erneut stieg ihr eine Träne auf, lief die Nase entlang und tropfte von deren Spitze auf Katharinas Kopf. Hätte der Graf der Tochter wirklich etwas angetan? Sicherlich, denn er war völlig skrupellos! Cornelius war genauso grausam, wie es Peter immer zu ihr und Clara gewesen war.
„Schaffst du das alleine? Ich muss mich ausruhen gehen!“, sagte Maria zu ihrer Freundin und wartete nicht auf deren Antwort.
Schwankend ging sie zu ihrer Wohnung zurück und der Verrat brannte in ihrer Seele!
8. Kapitel
Ein einfaches Leben
Ein neuer Sonntag war gerade angebrochen und Clara lag in einem fremden Bett. Zwei Tage zuvor waren sie endlich in St. Louis angekommen. Wie erhofft hatten Alma und ihr Mann Gustav sie freudig in ihrem Hause aufgenommen.
Den ganzen Sonnabend hatte Clara versucht, den Staub aus den Kleidern zu bekommen. Nie wieder würde sie solch eine dreckige Postkutsche besteigen! Dann schon lieber tausend Meilen im Sattel, als solch ein Martyrium.
Immer noch spürte sie jeden Knochen im Leib.
Eine Weile war sie schon wach und sah an die gegenüber liegende Wand, an die der erste Schein der aufgehenden Sonne fiel.
Es war eine kleine Farm am Stadtrand von St. Louis, aber nach den Häusern und deren Bewohnern hätte es auch eine kleine Ortschaft irgendwo in Sachsen sein können. Als sie am Tage zuvor die Wäsche auf die Leine gehängt hatte, hatte sie eine der Nachbarinnen im breitesten sächsischen Dialekt begrüßt. So sprachen die Leute nur in Dresden und über die Heimatstadt der Frau kamen sie schnell in ein Gespräch.
Draußen schlug irgendwo eine Tür zu. Vermutlich lief Gustav gerade in den Stall hinüber. Bauernleben begann früh am Tage, hier wie überall.
Alma würde ihrem Mann sicher in wenigen Minuten folgen. Nur Clara konnte noch im Bett bleiben und sich an Heinrich ankuscheln.
Bereits am Freitagabend hatte Heinrich in der Werft vorgesprochen und mit dem Empfehlungsschreiben von Herrn Fargo war es auch kein Problem gewesen, dort sofort eine Anstellung zu erhalten. Damit war das Finanzielle erst mal gesichert und als Nächstes blieb, ein Haus für sie zu finden.
Das Geld, das Heinrich mit hierher gebracht hatte, das hatte er auf dem Weg zur Werft in einer Bank deponiert. Nur einen kleinen Teil hatte er hier behalten, um damit einzukaufen und bei den Hellers dieses Zimmer zu bezahlen.
Ihr Blick fiel auf das Säckchen, das Heinrich am Abend neben das Bett gelegt hatte. Der kleine Teil darin war immer noch mehr, als diese Farm in einem halben Jahr abwarf.
Clara war die wohlhabende Frau eines reichen Mannes, aber was sollte sie tun? Nur faul im Bett zu liegen war zwar zuweilen auch schön, aber sie wollte etwas Nützliches tun. Das Büro in New York hatte ihr immer den Kontakt zu den Frauen gesichert und jetzt war sie hier in St. Louis.
Vielleicht konnte sie mit Almas Hilfe die Frauenrunden wieder aufnehmen. Diese Stadt war der Ausgangspunkt für viele in den Westen und dort musste man Englisch sprechen können. Hier half auch deutsch, dort draußen, in der Prärie, eher nicht.
Alma verließ singend das Haus und Clara stemmte sich im Bett hoch. Es war Sonntag und die meisten der Frauen würden sicher in die Kirche gehen. Da konnte sie dann die ersten Kontakte knüpfen, aber zuvor kam die morgendliche Körperpflege.
Barfuß ging Clara in die Küche hinüber und holte die Schüssel. Alma hatte schon Waschwasser auf dem Herd stehen, das sie sich anschließend in die Kammer holte.
Sich im Sonnenlicht waschend gingen ihre Gedanken wieder zurück zu der Reise in der Kutsche, denn der Straßenstaub war immer noch in jeder Pore.
Es war eine Höllenfahrt gewesen!
Nach Louisville und nachdem Margot mit ihrem Hund den Wagen verlassen hatte, war Clara mit acht Männern in dem Kasten gewesen. Es hatte gestunken, wie in einem Iltisbau! Drei Tage hatte sie kein Auge zubekommen, bevor die Müdigkeit sie dann überfallen hatte. Und dennoch hatte sie jeden Stein auf der Straße gespürt.