Fremder im Paradies - Wolfgang Schreyer - E-Book

Fremder im Paradies E-Book

Wolfgang Schreyer

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Beschreibung

Indischer Ozean, Dezember 1972: Ein englischer Froschmann landet in geheimer Mission auf der Paradiesinsel und gerät sogleich in das Magnetfeld rivalisierender Mächte. Auf dem Grund einer historischen Bucht soll er Taucher stellen, die mit überlegener Raffinesse den Sperrkreis um eine Marineversuchsstation durchbrechen. Zwischen Korallenklippen, in Riffhöhlen und in unendlicher, von rätselhaftem Licht durchglühter Tiefe führt er einen einsamen Kampf und scheint ihn zu verlieren. An Land empfängt ihn immer wieder eine fremde, verwirrende Welt. Und auch hier, im fashionablen Halbmond-Club oder im Zentrum der Abwehrbürokratie, ist er ganz auf sich gestellt. Denn er ist kein perfekter Befehlsempfänger, sondern ein Glücksucher und Tagträumer, der auf dieser Insel sein Lebensziel zu erreichen hofft. Gelassen begegnet er Seeoffizieren, Schwammtauchern, Fernsehstars, Callgirls, Geheimdienstlern und Ärzten. Doch ihn umgibt ein undurchsichtiges Trio: sein Helfer, ein Unterwasser-Archäologe und dessen bildschöne Begleiterin. Vom Luxushotel „Stardust", das alle Wünsche erfüllt, gelangt er in sonnenzermürbte Dörfer, durch nachtschwarze Algenfelder, auf eine Millionärsjacht und in den erstaunlichen Gefechtsstand der Marinebasis Berenice, wo sich ihm die Wunder modernster Militärtechnik enthüllen. Das abenteuerliche Geschehen beruht auf Tatsachen; dieser Roman ist bis ins Detail belegt. Und bei aller Farbigkeit ist dies ein nachdenklich machendes Buch. Es rührt an Probleme der Welt von Morgen und an Schwierigkeiten, die uns heute schon innerlich bedrängen. Wolfgang Schreyer geht ganz vom Menschlichen her an sein Thema heran. Seine Darstellung seelischer Vorgänge vermag ebenso zu fesseln wie das Feuerwerk äußerer Dramatik, das er vor unseren Augen entzündet und mit sicherer Hand abbrennen lässt.

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Impressum

Wolfgang Schreyer

Fremder im Paradies

Roman

ISBN 978-3-86394-096-6 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1966 beim Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Wenn Danny Wolfe später an den Moment zurückdachte, mit dem die Geschichte für ihn begonnen hatte, erinnerte er sich dieses Eindrucks: zuwenig Sauerstoff; ein Gefühl, das ihn gewöhnlich alarmierte. Als er in jener Spätherbstnacht 1972 aus dem Flugzeug stieg, atmete er tief, um das Aroma der Insel in sich aufzunehmen. Und sogleich legte es sich ihm schwer auf die Brust, vielleicht eine Vorahnung dessen, was ihn erwartete. Über den bunten Begrenzungslichtern einer DC-9 erblickte er auf dem Dach der Abfertigungshalle die Neonschrift PHOENIX AIRPORT – PARADISE ISLAND. Neben ihm sagte die Stewardess: "Good bye, Sir."

Da war er nun, der Augenblick, von dem er tagelang geträumt hatte. Doch keine Spur von dem Duft, den er mit Paradise Island verband. Die Luft roch wie ein Badetuch, das feucht auf der Heizung gelegen hatte. Es umfing ihn von Kopf bis Fuß und trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Er lockerte den Schlips und zog sein Tweedjackett aus, was eine Stockung verursachte. Schon auf der Treppe suchte er nach jemandem, der eine Zeitung trug und die gleiche Krawatte wie er, rotgrünes Schottenkaro, das Dessin hieß "Duke of the Islands". Aber er sah nur eine schwarze Empfangsdame, die ihn in den Flughofbus nötigte.

Wolfe stellte den Koffer ab. Allmählich gelang es ihm, ganz durchzuatmen. Nach dem nasskalten Londoner Dezembernebel und dem Frühlingshauch bei der Zwischenlandung war es das dritte Klima heute. An Bord der Hawker Siddeley "Trident" hatte er kalifornisch aufbereitete Luft geatmet, während die Maschine, wie es im Reiseprospekt hieß, auf dem Strahl ihrer geräuscharmen Heckdüsen mit zweieinhalbfacher Schallgeschwindigkeit südwärts geschossen war. Alles hatte er genossen, von der Champignonsuppe bis zum Blick auf die Küste Afrikas, dessen Flüsse Lehm in den Ozean spien. Sogar der Spionagefilm hatte ihm gefallen, der in der Touristenklasse gelaufen war. In seinen dreißig Lebensjahren war Wolfe noch nie über Europa hinausgekommen, nun geschah soviel an einem Tag. Und so wie den Flug wollte er den Aufenthalt hier genießen, was auch immer dahinterstecken mochte.

Der Beamte warf einen Blick auf seinen Pass. "Danke, Sir", sagte er, "Sie sind Brite und brauchen nichts zu verzollen." Als Wolfe sich nach seinem Gepäck umdrehte, berührte ihn jemand am Arm. "Oh, Sir, Sie tragen die gleiche Krawatte." – "Duke of the Islands", antwortete er automatisch und sah in ein sonnenbraunes Gesicht, das ihm zu jung schien für das silbergraue, kurz geschnittene Haar. – "Mr. Wolfe, das hätten Sie in der Hand halten sollen", sagte der Fremde und tippte mit seiner Zeitung gegen das "Times"-Exemplar, das aus Wolfes Jackentasche lugte. "Mein Name ist Tom Clark, der Wagen steht vor der Tür."

Erst beim Einsteigen fiel Wolfe ein schwacher Akzent auf; er erinnerte ihn an den Film, den er vorhin gesehen hatte. Darin war ein Engländer feindlichen Agenten dadurch in die Hand gefallen, dass er dem falschen Mann gefolgt war. Die Erkennungszeichen hatten auch dort gestimmt. "Wohin bringen Sie mich?"

"Nach Tyana, Sir." Clark ließ den Motor an. "Es dauert leider eine Stunde, wegen der Straßenkontrollen. Danach werden Sie sich im 'Stardust' ausschlafen, dem besten Hotel der Hauptstadt." Wolfe sagte: "Das ist großzügig von der Royal Navy, finden Sie nicht?" Auf unbestimmte Art erleichterte es ihn, dass es Straßenkontrollen gab. – "Na, Sie sind doch nicht irgendwer", sagte Clark, bog in eine vierspurige Überlandstraße ein und gab Gas. Ein Schild huschte vorbei: Tyana – 50 miles.

Die Reifen rauschten. Das Land zu beiden Seiten war merkwürdig kahl. Tropische Vegetation, wie Wolfe sie erwartet hatte, war nirgends zu entdecken. Im Scheinwerferlicht sah es aus, als seien die Felder nicht einmal bestellt. Der Verkehr floss spärlich, man fuhr links wie zu Hause. Dann und wann erblickte er Hütten aus erdfarbenem Material, ungebrannten Ziegeln wohl.

Er fragte: "Wer hat mich eigentlich angefordert?" – "Das Marineamt Tyana, Sir." – "Ja, aber wer da?" – "Soviel ich weiß, Commander Scott." – "Und welches Ressort leitet der Commander?" – "Die Testabteilung der Unterwasser-Medizin." – "Dann müssen Sie sich irren, Mr. Clark." – "Nein, Sir. Scott sucht einen Taucher für extreme Tiefen." – "Was versteht er denn darunter?" – "Ich glaube, so um dreitausend Fuß." – "Soso. Sie tauchen wohl nicht zufällig selbst?" – "Nein, Leutnant, ich spiele lieber Bridge."

Wolfe stieß ein trockenes Schnaufen aus. Die Auskünfte klangen fragwürdig. Dieser Tom Clark wusste zwar, dass er Reserveoffizier war, doch was er über das Marineamt erzählte, hörte sich idiotisch an. Er versuchte, Clark abzuschätzen: knapp mittelgroß, anscheinend muskulös, undefinierbares Alter... Sooft Wolfe später an diese erste Begegnung dachte, erinnerte er sich seines Verdachts – der phantastischen Vorstellung, einem Gegner in die Arme zu laufen. Was aber das seltsamste war, er begnügte sich mit düsteren Erwägungen; ebenso wie der andere nichts tat, um sein Misstrauen zu zerstreuen, falls er es spürte. Schweigend und sicher chauffierte Clark an Shell-Tankstellen, parkenden Kolonnen und an den Benzinfässern vorbei, die die Wachposten als Hindernis aufgestellt hatten. Die Reifen sangen, wenn er zwischen den Fässern Slalom fuhr. "Enttäuscht?", fragte er einmal. "Hier im Zentrum fehlt das Wasser, die Küstengebirge fangen es ab. Nur eine Ernte in zwei Jahren, Sir. Rauchen Sie?"

Wolfe schüttelte den Kopf. Marihuana, dachte er, damit fängst du mich nicht. Das Gedankenspiel tat ihm wohl. Er kippte den Sessel flach und beobachtete Clark; dann spähte er durch das Plastedach zum Himmel hinauf. Orion, Stier und Großer Hund mit dem Sirius, das gab es hier auch, wenngleich in ganz anderer Position. Und noch nie hatte er Sternbilder so deutlich gesehen, Silberfiguren auf schwarzem Samt. Dabei fiel ihm Claudia ein, es war ihr Vergleich gewesen. Sie hatte ihm erzählt, dass die Araber schon vor elfhundert Jahren auf Paradise Island ein Observatorium unterhalten hatten, wegen der unvergleichlich klaren Luft. Die gute Claudia; viel zu gebildet und zu zart für einen Burschen wie ihn. Wie hatte sie beim Abschied geweint! Er würde sie für Wochen oder Monate nicht sehen; vielleicht war es besser für sie. Jetzt begann ein großes Abenteuer, jeder Augenblick konnte Überraschungen bringen. Was auch mit ihm geschah, es war besser als das langweilige Leben daheim in Southampton.

Plötzlich bremste Clark so scharf, dass ein Gegenstand aus der Gepäckmulde auf Wolfes Schulter fiel. Er schnellte hoch und sah zwei Kamele, die gravitätisch und herrenlos die Fahrbahn überquerten. Clarks Gesicht offenbarte keine Spur von Unwillen; ein britischer Fahrer hätte geflucht. "Stammen Sie eigentlich von hier?", fragte Wolfe, während er den Gegenstand abtastete. Es war ein Metallkörper in einer Folie, länglich, wie eine Stange Zigaretten. – "Nein, Sir", antwortete Clark und streifte ihn mit einem Blick. "Aber ich lebe seit zehn Jahren auf der Insel."

Am nächsten Posten wurden sie gestoppt, ein Soldat leuchtete hinein. "Sie sind zu schnell gefahren!" – "Nein, Sergeant, zu tief geflogen", sagte Clark und zog einen winzigen, in Kunststoff eingesiegelten Ausweis. Dem Papier schien Zauberkraft innezuwohnen, der Sergeant grüßte und gab den Weg frei. Ich hätte aussteigen sollen, überlegte Wolfe. Ich kann es wahrscheinlich immer noch, nach fünf Meilen kommt wieder ein Kontrollpunkt... Seine Finger tasteten den Metallkörper ab, ihm war, als hielte er darin den Schlüssel zu den Geheimnissen seines Begleiters. Unter der Folie fühlte er Rippen wie bei einem Kühlergrill. Fast in jedem Kriminalfilm kam es zu solch einem zufälligen Fund. Wenn die Betroffenen merkten, dass man hinter ihre Schliche kam, gefährdete der Fund gewöhnlich den Entdecker. Behutsam zog er die Haut herunter, sie blieb irgendwo hängen. Es war eine ärgerliche Arbeit, und sie erinnerte ihn an sein letztes Beisammensein mit Claudia in dem Leihwagen, dessen Zündung schon auf der Hinfahrt versagt hatte. Claudia zog sich gern übertrieben warm an; ihre Kleidungsstücke hatten ihn oft vor Probleme gestellt.

Nach einer Weile sagte Clark: "Was Sie da haben, ist eine Klimaanlage, Leutnant. Kühlt jeden mittelgroßen Raum zuverlässig und kostet keine zweihundert Pfund. Mein neuestes Muster. Ich vertrete die British Air-conditioning Company auf dieser Insel... Da vorn kommt die Hauptstadt!" Über Tyana glühte der Horizont. Eine Chaussee zweigte ab, von Peitschenlampen orangefarben angestrahlt. "Das Licht bedeutet gesperrt für Zivil", erläuterte Clark. "Das ist die Straße nach Berenice, einer Marineversuchsstation. Ich nehme an, Sir, Sie werden sie noch kennen lernen."

Das Portal des "Stardust"-Hotels bestand aus durchsichtigem Material, es schob sein gekrümmtes Maul weit über den Strandboulevard bis in den Schatten der Palmen. Clark gab den Schlüssel einem Boy, der den Wagen in die Kellergarage fuhr. Wolfe sagte: "Wie das Ansaugrohr eines Düsentriebwerks." – "Genau das ist seine Funktion", bestätigte Clark. "Ein paar solcher Aggregate treiben die Wirtschaft hier an. Paradise Island lebt zu einem Drittel vom Tourismus... Hat gelebt, sollte ich sagen." Sie näherten sich dem Empfang. "Und nun passieren wir den Schutzfilter, Leutnant, mit dem das Aggregat alles ausscheidet, was ihm schaden könnte." – "Ich kenne die Reihenfolge: ansaugen, ausfiltern, verheizen." – "Soweit wollte ich den Vergleich nicht ziehen, Sir."

Er hat zum ersten Mal gelächelt, stellte Wolfe fest. Er sah ihn von der Seite an. Clark war ein Mann in den Fünfzigern, er hatte den schlauen Blick eines Untersuchungsrichters und ein heiteres, liebenswürdiges Wesen... Wolfe überließ ihm die Formalitäten, er trat auf die Veranda hinaus. Sie war imposant und menschenleer wie die Halle. Er hörte matten Wellenschlag, ein Schauer freudiger Erwartung durchrieselte ihn. Ein Fenster stand offen, warmer Wind fächelte herein. Das Wasser war pechschwarz, unter der Strandbeleuchtung balgten sich Köter im Sand. Er holte tief Luft wie vorhin auf dem Flugfeld. Und endlich roch er etwas wie Blüten oder Harz – den Süden, das Meer.

2. Kapitel

Auf dem Türschild stand: UNTERWASSERMEDIZIN – TESTABTEILUNG. Der Wachsoldat folgte Wolfe. Es war niemand im Zimmer; mit seinen hübschen Stahlmöbeln glich es dem Sprechzimmer eines Nervenarztes. Neben der Wandkarte war ein Waschbecken mit Spiegel. Es gab einen schwenkbaren Polstersessel, einen Chefschreibtisch mit den üblichen Rufknöpfen, auch eine Klimaanlage unterm Fenster, die sicher von Clark geliefert worden war. Selbst der Lederdiwan fehlte nicht, auf dem Fregattenkapitän Scott vielleicht seine Prüfpersonen über den Tiefenrausch befragte. Aber doch nicht ihn!

Wolfe gähnte in den Spiegel. Sie hatten ihn vor Sonnenaufgang geweckt, nagelneu eingekleidet und hergeschickt, ohne ihm Zeit zum Essen zu lassen. Und nun hieß es warten... Das Spiegelbild lächelte ihm zu. Er hatte es sich angewöhnt, zu lächeln, wenn er nervös war. Er war groß, sein Haar, das er wie jeder Taucher kurz hielt, stieß an den Spiegelrand. Sein Gesicht wirkte schmal, aber kantig; das dunkelblaue Uniformtuch betonte seine Winterblässe. Alles an ihm hatte dieses Kantige, Unfertige, als wäre er nach einer jener Schablonen geschaffen worden, die Pressezeichner für die Helden ihrer Comics benutzten. Bis auf die Stirnnarbe von seinem Eisunfall hatte er kein Merkmal. Dabei sollte man ab dreißig für sein Gesicht verantwortlich sein. Aber ihm war ja ein interessantes Leben versagt geblieben, deshalb sah er so aus, als sei er eher das Werk eines derben Handwerkers als das eines Künstlers.

Er trat vor die Karte. Sie stellte die Insel dar, der Umriss glich dem eines geplatzten Eis. Im Zentrum, auf einer braunen Hochebene, erkannte Wolfe den Zivilflughafen Phoenix. Eine Straße führte ostwärts davon weg, nach Tyana, ans Meer. Nördlich der Hauptstadt war ein großer roter Fleck, die Marinebasis Berenice. Den Süden, wo das herausquellende Eiweiß eine lappige Halbinsel bildete, beherrschte ein noch größerer: der Militärflugplatz Marcus Field. An der Nordküste stand eine atomgetriebene Anlage zur Meerwasserentsalzung, die gleichfalls Sperrgebiet war. Im Westgebirge steckten unterirdische Öllager, Raketensilos, Trainingscamps, Radio- und Radarstationen. Die Insel war mit roten Flecken übersprüht wie ein scharlachkrankes Kind. "Wenn Commander Scott Mediziner ist", bemerkte Wolfe zu dem Wachsoldaten, der mit gekreuzten Armen regungslos am Türpfosten lehnte, "dann müssen das Seuchengebiete sein, und das hier ist zum Impfen." Er nahm das Modell eines Jagd-U-Bootes vom Schreibtisch und drückte die nadelartige Bugspitze gegen die Kuppe seines Daumens.

"Vorsicht, er kommt", sagte der Soldat.

Fregattenkapitän Scott war ein Riese von fünfzig Jahren, mit starken Brauen und dem gesunden Teint des Seeoffiziers. Er sah sofort, dass Wolfe an seinem Schreibtisch hantiert hatte, und warf ihm einen Blick zu. Seine Augäpfel schienen aus blauem Eis zu sein. Er ist genau der Marinetyp für Hollywood, dachte Wolfe und beeilte sich, ihm zu melden: "Leutnant Wolfe von der vierzehnten Froschmanngruppe." – "Aha, ein schwarzer Delphin", sagte Scott leise, fast anerkennend; die Wache schickte er mit einer Handbewegung weg. "Nehmen Sie Platz, Mr. Wolfe." Er stopfte seine Pfeife und setzte sich hinter den Schreibtisch, der leer war bis auf das Schiffsmodell, den Messinghalter für seinen Tagesplan und eine Garnitur aus schwarzem Alligatorleder. "Ich habe Sie so früh hergebeten, um mich mit Ihnen zu unterhalten, solange Sie noch frisch und völlig neu auf dieser Insel sind." Seine Stimme drang aus der Tiefe eines gewaltigen Brustkorbs. "Was möchten Sie trinken, Juice oder Kaffee?"

"Kaffee", bat Wolfe. "Wenn es sich machen lässt, Sir, mit einem Stück Brot." – "Frühstück!", rief Scott ins Interfon. "Sie sind Reservist, Leutnant?" Wolfe bejahte, ihm war, als ob die Frage einen Tadel enthielte. Der Commander saugte am Pfeifenstiel. "Und wie kommen Sie dann hierher?"

Wolfe reichte dem Commander Feuer. Das müsste er eigentlich besser wissen! Genau das ist die Frage. Es war schon sonderbar, dass man ihn als einzigen der reaktivierten Froschmänner in Zivilkleidung nach Übersee geschickt hatte. Doch obgleich er der Royal Navy sechs Jahre lang nicht mehr angehört hatte, fiel ihm rechtzeitig ein, dass nicht er es war, der hier die Fragen stellte. "Ich hatte mich nach dem Wehrdienst verpflichtet, im Falle eines nationalen Notstands freiwillig wieder einzurücken, Sir." – "Sind Sie gern gekommen?" – "Das Vaterland ruft, Commander, und seine besten Söhne eilen zu den Fahnen."

Scotts Oberlippe hob sich, offenbar ging ihm die Bemerkung gegen den Strich. Er nahm die Pfeife aus dem Mund, und Wolfe sah, dass er ungemein kräftige Zähne hatte; selbst für ein so langes Gesicht waren sie zu groß. Er hatte plötzlich das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein. Schnell durchforschte er die Reihe seiner Vorgesetzten zwischen 1961 und 1966, doch es stellte sich keine Erinnerung ein.

Die Ordonnanz brachte das Frühstück. "Hoffentlich stört es Sie nicht, wenn ich dabei rauche", sagte Scott. – "Keineswegs, Sir", versicherte Wolfe; der gebratene Schinken sandte ihm seinen Duft in die Nase. Unklar spürte er, dass es nicht völlig korrekt sein mochte, hier vor dem Fregattenkapitän zu essen. Immerhin hatte der ihn ja dazu eingeladen. Und schließlich wollte das Marineamt etwas von ihm: todsicher etwas Außergewöhnliches, während er nur Selbstverständliches verlangte wie Nahrung und Schlaf. Sie konnten von ihm kaum erstklassige Arbeit erwarten, wenn sie ihm nicht das Einfachste gaben.

Scott fragte: "Bei Beginn der Krise hier gingen Sie also noch Ihrem Zivilberuf nach?" – "Ja, Sir." – "Welcher Art war diese Tätigkeit?" – "Ich bin Industrietaucher, Sir." – "Und was machen Sie da? Hafenarbeit, den üblichen Bergungskram?" – "Alles, Sir, von Wracks bis Leichen." – "Dann sind wir ja beinahe Kollegen. Schon mal was von der Vermisstenabteilung der Marine gehört? Mein erster Fall war Crabb. Mein Gott, das ist jetzt fünfzehn Jahre her!"

Der Commander lehnte sich zurück, in sein windgegerbtes Gesicht kam ein versonnener Zug. Wolfe wurde das Gefühl nicht los, ihn von früher zu kennen. Er schob das Rührei zusammen und pickte den letzen Schinken auf, der Uniformkragen behinderte ihn beim Schlucken. "Lionel Crabb, der Froschmann ohne Kopf und Glieder", hörte er Scott plaudern. "Manch einer behauptete damals, die Russen hätten ihn geschnappt. Aber ich hab' ihn identifiziert, mit Hilfe seiner Frau. Ein sauberes Stück Arbeit, Leutnant. Später allerdings ging es abwärts mit uns. Nach dem Keeler-Skandal fielen meist zerstückelte Callgirls an, und ich hab' Schluss gemacht." – "Ich hab' eine Frau auch lieber im ganzen", sagte Wolfe. Scott verzog keine Miene. "Hier halten Sie am besten Distanz", bemerkte er; es klang wie ein Befehl.

Wolfe bestrich einen Keks mit Camembert. Über die Frauensituation auf der Insel war er schon im Bilde, die Kameraden hatten ihn gewarnt. Mach dir keine Hoffnungen, hatte Ritchie gesagt, da wird sich gar nichts tun. Die meisten Mädchen werden streng bewacht, was anderes kannst du nicht erschwingen. Dort ist es schlimmer als im Mittelmeer, die meisten sind Mohammedanerinnen, das treibt den Preis hoch für den Rest... Er fragte: "Sir, wie darf ich das verstehen?"

"Zu heiß, Leutnant", antwortete Scott, schien aber nicht gesonnen, die Sache näher zu erläutern. Und während er bärbeißig seine Pfeife leerte, begriff Wolfe, woher er ihn kannte. Ein Doppelgänger dieses Mannes war der Held eines amerikanischen Seefahrerfilms gewesen. Die Handlung spielte im 18. Jahrhundert, er entsann sich nur noch einer charakteristischen Szene: Der Scott-Darsteller hatte sich anbinden lassen und steuerte den Dreimaster mit der linken Hand durch einen Orkan; seine Rechte hing schlaff herunter. Ein blondes Geschöpf tauchte aus der Luke und warf sich ihm jammernd um den Hals. "O George, was ist denn passiert?" – "Das ist nichts", hatte der Held geknurrt und sie abgeschüttelt. "Das ist nur ein gebrochener Arm." Ein Mann dieses Kalibers saß ihm also gegenüber, ein gefährlicher Typ. Nur dürftig verbarg seine Konzilianz die erbarmungslose Härte, deren er fähig war.

"Zu heiß", wiederholte der Commander. – "Sie meinen, Sir, medizinisch?" – "Ich meine die Sicherheitslage. Ich bin kein Arzt." Scott pochte auf den Schreibtisch. "Mit Medizin hat das hier nichts zu tun. Der Feind versucht auf jede Weise, uns hereinzulegen." – "Wer ist 'uns', Sir?" – "Die Spionageabwehr der Marineleitung Südost. Sie dürfen den Mund wieder schließen, Leutnant. Ich bin für die Sicherheit unserer Überwasser- und Unterwasserstreitkräfte verantwortlich, egal, ob auf See oder an Land. Und die Insel ist jetzt ziemlich unruhig. Wir haben Ausnahmezustand, das wird Ihnen nicht entgangen sein. Sprengstoffanschläge, Steinwürfe, durchschnittene Kabel, Attentate... Na, wenn's nur das wäre. Leider sind auch Profis am Werk. Außerdem gibt es Versuche, in den Apparat unserer Abwehr einzudringen. Und ich hab' viel zuwenig Leute. Sie kommen mir also wie gerufen."

Wolfe hustete, er hatte sich verschluckt. Jetzt hieß es Helm auf und volle Deckung. "Ich fürchte nur, Ihnen nicht wirklich nützlich zu sein, Sir", begann er und schob den Teller weg. "Ich war immer in der Heimat und weiß überhaupt nicht, was hier gespielt wird." – "Haben Sie nie von der 'weichen Welle' gehört?" – "Tut mir leid, Sir." – "Politik interessiert Sie nicht?" – "Nicht so wie Pferderennen." – "Dann sind Sie der richtige Mann", erklärte Scott dröhnend. Er hatte jetzt Whiskygläser vor sich, goss zwei Fingerbreit ein und trank Wolfe zu. "Auf Ihren neuen Job. Die Abwehr braucht Fachleute. Und zwar die besten, die es gibt." – "Ich bin in Abwehrfragen eine Null, Commander." Wolfe merkte, wie ihm der Whisky den Magen wärmte, er war dankbar für diese Stärkung. "Sir, ich weiß nicht mal, welche Sprache man hier spricht."

"Die Sprache der Kühnen, mein Freund." Scott blickte von einem Aktenstück auf, in dem er geblättert hatte, seine Stirn war umwölkt. "Ich irre mich wohl nicht, Sie sind der höchstdekorierte Kampfschwimmer Ihres Jahrgangs, Mr. Wolfe. Sie haben den Taucherstern, das Purpurherz, den Drachenfisch, das Unterwasserkreuz erster Klasse, die Siegermedaille 66, den Seewolf in Silber und den Großen Delphin. Und Sie sind dabeigeblieben, haben zehnmal mehr Erfahrung als der beste Nachwuchsmann. Sie dürften heute nicht schlechter sein, als Lionel Crabb es damals war. Deshalb brauchen wir jetzt Ihre Hilfe." Der Commander kam um den Tisch herum und tippte auf die Wandkarte. "Das ist die Marinebasis Berenice, und hier, unterhalb dieses Riffs, liegt in erheblicher Tiefe 'June', unsere wichtigste Versuchsstation für den Forschungskomplex U-Boot-Jagd. Passen Sie gut auf, ich erkläre es nicht zweimal."

"Ja, Sir." Wolfe sah auf den ersten Blick, dass Berenice weder ein Kriegshafen noch ein Versorgungsstützpunkt war; die Tiefenangaben innerhalb der Bucht lagen bei zwei bis drei Faden. Ein Teil der Bucht fiel bei Ebbe offenbar trocken. Davor war ein teuflisches Gewirr von Klippen, und jenseits des Saumriffs stürzte der Seegrund steil ab. Allenfalls Kleinkampfmittel konnten von Berenice aus operieren.

"Wie Sie sehen", fuhr der Commander fort, "liegt 'June' hart an der Grenze des Sperrgebiets. Wir durften die Sperrzonen nach dem Vertrag von neunzehnhundertsiebzig ja leider nicht mehr ausdehnen. Das macht sich nun jemand zunutze, ein Mann mit amerikanischem Pass namens Victor. Angeblich taucht er nach versunkenen Karavellen und Marmorfiguren. Nur sucht er seine Altertümer immer in der Nähe unserer Militärobjekte. Deshalb möchte ich, dass Sie ein Auge auf ihn haben."

"Was sagt das US-Konsulat zu ihm, Sir?"

"Wir haben es nicht gefragt. Seine Papiere sind in bester Ordnung, Mr. Wolfe."

"Und die amerikanische Abwehr, hat die ihn überprüft?"

"Ein Spion vertritt recht selten das Land, aus dem er zu kommen vorgibt." Scott unterdrückte ein Lächeln. "Selbst wenn Victor Amerikaner ist, wissen wir noch immer nicht, für wen er arbeitet."

Wolfe nickte; das war logisch, es klang auch vertraut. Mehr denn je fühlte er sich an die Fernsehfilme erinnert, die er daheim fast täglich sah. Die Sache begann ihn zu reizen. "Vielleicht steht er in russischen Diensten", äußerte er. "Unsere U-Boot-Abwehr ist ein Hauptproblem der Sowjets."

"Ich nehme eher an, die Franzosen bezahlen ihn", sagte der Commander und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. "Doch was raten wir herum? Sie, Leutnant, sollen es herausbekommen."

"Ich werde mein Bestes tun, Sir."

"All right." Scott hatte plötzlich einen Revers in der Hand. "Sie bestätigen mir hier durch Ihre Unterschrift, dass Sie den Auftrag freiwillig übernehmen und darüber strengstes Stillschweigen bewahren... Danke. Victor wohnt im 'Stardust', genau wie Sie. Schließen Sie mit ihm Bekanntschaft. Aber Vorsicht! Wir hatten schon zwei Mann gegen ihn angesetzt, und die sind spurlos verschwunden."

Wolfe berührte seine Uniform. "Das blaue Tuch wird ihn misstrauisch machen, Commander."

"Nicht, solange Sie darauf verzichten, Ihre sieben Orden anzuheften. Ihre beiden Vorgänger waren in Zivil, gehen wir einmal anders vor!" Scott blätterte Pfundnoten auf den Tisch. "Je sparsamer Sie leben, Leutnant, desto glaubwürdiger sind Sie. Am besten, Sie spielen einen Urlauber, der seine Zeit lieber hier verbringt als in der kalten Heimat."

"Falls ich ihm unter Wasser folge, wer ist mein Partner?"

"Victor! Geben Sie sich als Sporttaucher aus und versuchen Sie, sich ihm anzuschließen."

"Sir, ich bekomme keinen Partner? Wir arbeiten zu Hause nie allein, das verbietet schon die Sicherheitsvorschrift."

"Was halten Sie für wichtiger, Leutnant, Ihre persönliche Sicherheit oder die Sicherheit Ihres Landes?", fragte Scott sanft, wobei er sich erhob. "Wenn ihm zwei Mann nachstellen, weiß er gleich Bescheid. An Land sollen Sie natürlich einen Assistenten haben. Sie betreten nämlich dieses Haus ab sofort nur noch auf ausdrücklichen Befehl. Ihre Berichte wird ein Mr. Coplon an mich weiterleiten, der Ihnen auch sonst behilflich ist."

"Danke, Sir."

Wolfe steckte das Geld ein und stand auf.

"Wer ist dieser Mann?"

"Kein Engländer, aber absolut zuverlässig. Polnischer Emigrant, lebt seit fünfundzwanzig Jahren im Westen. Einer der vielen kleinen Helfer, ohne die wir nicht auskommen... Also Augen auf, mein Junge, dass Sie mir nicht in eine Falle gehen!"

Die letzten Worte erinnerten Wolfe an die Fahrt vom Flugplatz nach Tyana. "Commander", antwortete er und fühlte, dass dieser Satz ihm einen guten Abgang verschaffte, "die meisten Fallen bestehen in unserer Einbildung."

"Im Hotel treffen Sie Coplon, alles Weitere erfahren Sie von dem." Scott entließ ihn mit einer Handbewegung. "Übrigens, sein Deckname ist Clark."

3. Kapitel

Im automatisierten Breakfast-room des "Stardust" saß Danny Wolfe neben dem Speiseband, das in immer gleichem Rhythmus zehn Gedecke anbot. Er hatte bei seiner Rückkehr Coplon in der Halle vorgefunden und ersucht, ihm das Haus zu zeigen. Wenn die See vor Berenice auch das Feld war, auf dem er Victor stellen sollte, so war dieses Hotel doch eine Nebenfront. Nun machten sie im Frühstückssaal halt, einer Glaskanzel, die zwanzig Fuß über der Brandung schwebte. Lampen, Hocker und Löffel, jeder Metallgegenstand funkelte rötlich wie in der Morgensonne. Aus den Kupferplatten der Decke quoll Musik. Cliff Richard sang "Fall in Love with You".

"Sehr nett", sagte Wolfe, "alles sehr solide..." Er fragte sich, weshalb er so großspurig redete. Wollte er zeigen, dass es ihn nicht einschüchterte? Irgendwie musste man sich wohl gegen diese unwirkliche Umgebung wehren. Doch es war zwecklos, so zu tun, als sei er es gewohnt, an einem solchen Ort zu speisen. Coplon, der ihm jetzt die Lage auf der Insel beschrieb, täuschte er damit nicht.

Sie warteten auf Victor. Ein Taucher frühstückte niemals spät; die Helligkeit im Wasser hing vom Sonnenstand ab, auf der ganzen Welt nutzten Taucher die Mittagszeit... Wolfe hörte Coplon nur halb zu. Schon vorhin bei der Besichtigung hatte er an Claudia denken müssen. Wie entzückt wäre sie gewesen, hätte er sie jemals in solch ein Haus geführt! Sie waren immer in billigen Hotels abgestiegen, in denen es nach Bratenfett und Auspuff gerochen hatte. Einmal war die Polizei geräuschvoll in ihr Zimmer eingedrungen, auf der Jagd nach kleinen Strolchen. Und ein Beamter hatte Claudia zugerufen: "Los, Fräulein, ziehen Sie sich an." Sie hatte hinterher geweint, es war ihm schwergefallen, sie wieder zu einem Ausflug zu überreden. Wenn man im Industrierevier lebte, musste man reich sein, um etwas von der Liebe zu haben. In einem Hotel dieses Ranges gab es keine Razzien, dafür fehlte ihm nun jemand wie Claudia. Was nützte der Luxus ohne ein Mädchen? Da wird sich gar nichts tun, hatte Ritchie gesagt, und Scott: Zu heiß, Leutnant, halten Sie Distanz!... Die wirklich guten Dinge waren im Leben nie beisammen.

Er fragte: "Stimmt es, dass man hier die Frauen einsperrt?"

"Nicht ganz", antwortete Coplon. "Die wenigsten Männer können sich einen Harem leisten. Und verschleiert geht man nur noch in der Stadt, wo die Frau nicht arbeitet – in den Wohnvierteln der Reichen."

"Hat man irgendwo die Chance, jemanden kennen zu lernen?"

"Ein einheimisches Mädchen? Das können Sie jederzeit im Hotel haben, Leutnant, von drei Pfund an aufwärts. Außerhalb enden solche Geschichten sehr oft tragisch."

"Für den Mann?"

"Für das Mädchen, Sir. Auf dem Land wird ein Mädchen, das vor der Ehe seine Jungfräulichkeit verliert, meist von ihrem Bruder getötet."

"Das ist doch aber Mord!"

"Gegen Jahrtausende alte Sitten kommt die Regierung schwer an. Das Innenministerium veröffentlicht seit einiger Zeit die Namen des Täters und seiner Familie, um abzuschrecken. Manchmal auch den des Verehrers."

"Was hat denn der damit zu tun?"

"Die Sache passiert in der Regel nur, wenn er aus irgendeinem Grund – weil er abgewiesen wurde oder sich sonst wie rächen will – den Mund nicht hält. Dann wird die Schande mit Blut getilgt. Er kommt also auch in die Zeitung... außer wenn er Engländer ist. Natürlich sieht der Hohe Kommissar solche Fälle nicht gern; man schickt diese Leute nach Hause."

Immer und überall wurden Hürden errichtet vor der besten Sache der Welt! Von der Kupferdecke rann ein hämmernder Rhythmus. Die aggressiven Gitarrenschläge stießen Wolfe tief zurück in seinen Erinnerungen, bis in die Lederjackenzeit: kreischende Mädchen im Mascot-Tanzpalast, Bill Haley mit "See You Later, Alligator", geschwungene Gummiknüppel im Halbdunkel... Undeutlich hörte er Coplon sagen: "Die Insel ist so schon ein Pulverfass. Man vergisst, was Großbritannien hundert Jahre lang für sie getan hat. Asphaltstraßen, Farbfernsehen, Schnupfenimpfung – all das zählt nicht mehr. Es sind Schlagworte im Umlauf wie Ausplünderung und Neokolonialismus, Sir. Es klingt wie vor fünfzehn Jahren."

"Soviel ich weiß", sagte Wolfe, "haben sie hier eine gewählte Regierung und den höchsten Lebensstandard von allen Inseln des Indischen Ozeans. Ist es denn für ein so kleines Land nicht praktisch, die Außenpolitik und Verteidigung einer Großmacht zu überlassen?"

"Gewiss, Sir. Das sagt auch der Hohe Kommissar."

"Trotzdem will man völlige Unabhängigkeit?"

"Es ist das letzte Land, Leutnant, das sie noch nicht hat."

"Na, ich hab' das Gefühl, nächstens sagt sich auch noch Schottland von uns los."

Coplon lächelte höflich. "Hinzu kommen noch die Machenschaften der Franzosen. Seit den letzten Manövern stehen ihre Raketeneinheiten an der Küste, gegenüber Afrika. Glauben Sie, Sir, die sind da vergessen worden?"

"Was haben die Franzosen denn davon?"

"Feuerschutz für ihre Ölfirmen. Hält die jungen Staaten auf dem Kontinent von gewissen unvernünftigen Schritten ab."

"Sie meinen, das alles wird uns zuviel?"

"Leutnant, die Welt ist klein geworden. Hier tritt sich halb Europa auf die Füße... Sehen Sie dort den Herrn mit der jungen Dame? Das ist Ray Victor. Schauen Sie nicht so hin."

Wolfe war überrascht. Er hatte einen Sportstyp erwartet, einen hageren Ganoven, dem man sein Treiben ansah. Stattdessen erblickte er einen Mann von Mitte Vierzig, so wuchtig und ehrbar wie Commander Scott, anscheinend etwas fett. Victors Gestalt verdeckte seine Begleiterin, er kam mit federnden Schritten näher, ein Lächeln auf den Lippen. Seine sparsamen, eigentümlich berechneten Bewegungen erinnerten an eine Robbe. Er tat sichtlich viel für seine Erscheinung; die engen Hosen, der freche Schlips, das lustig getupfte Jackett bezeugten es. Auch der Haarschnitt sollte über sein Alter hinwegtäuschen. Diese Maßnahmen wurden verständlich, als Victor sich setzte. Die Dame neben ihm war eine schwarzhaarige Schönheit von Anfang Zwanzig. Sie trug einen schillernden Rock über der leichten indischen Hose, die an den Knöcheln geschlossen war; um ihre Schultern lag eine Seidenstola. "Wer ist denn das?"

"Eine Journalistin aus den Vereinigten Staaten", antwortete Coplon. "Sie ist erst vor kurzem aufgetaucht."

"In dem Aufzug?"

"Das ist die Tracht der einheimischen Studentinnen, Sir. Wer weiß, wozu sie die ausprobiert."

Wolfe starrte hinüber. "Für mich bitte nur Tee", hörte er die Amerikanerin sagen, und Victor bediente sie vom Band. – "Sie scheint auf ihre Figur zu achten", sagte Coplon. – "Darauf achte ich auch schon die ganze Zeit", antwortete er. "Arbeitet sie für Victor?"

"Nein, Sir, das haben wir überprüft. Er ist viel länger hier als sie. Wie finden Sie ihn?"

"Zu alt für sie." Wolfe schlug die "Paradise Mail" auf, um seine Neugier zu bemänteln. Etwas zwang ihn, immer wieder hinzusehen. Die fremdartige Dame nippte von ihrem Tee, und Victor sprach auf sie ein. Kein Zweifel, dieser Mann war ernst zu nehmen. Ihn hinderte kein Spionageauftrag, er hatte sich ein Mädchen aufgepickt, um das man ihn beneiden musste. "Kennen Sie ihren Namen?"

"Gewiss, Sir. Anja Conway. Und was sagen Sie zu ihm?"

"Anja? Das könnte passen."

"Ich meine, wie Ihnen Victor gefällt."

"Glauben Sie, er heißt wirklich so?" Wolfe spähte über den Zeitungsrand. "Ich halte ihn für einen östlichen Typ. Sehen Sie mal seine Hosen an. Das war die Mode von neunundsechzig. Der Osten ist damit noch immer hinter uns her."

"Ich bin nicht sicher", sagte Coplon, "ob der Commander Ihre Beweisführung gelten lässt."

In diesem Augenblick vernahm Wolfe ein feines Zischen. Es stieg aus dem Murmeln der Brandung hoch, bis an die Decke – ihm war, als klirrten die Kupferplatten mit. Ein Hauch von Nervosität wehte durch den Saal.

"Eine harmlose Schutzmaßnahme", erklärte Coplon. "Die Studentendemonstration wird aufgelöst. Das 10. Husarenregiment bläst Schlafgas ab vor der Universität; einen neuen Typ, der erotische Träume erzeugt. Das ist ein Bestandteil der 'weichen Welle', Sir."

"Oh", machte Wolfe. Coplon benutzte einen Ausdruck, den auch Scott gebraucht hatte und den er nicht verstand.

"Der Gastyp ist von der Imperial Chemical eigens für Paradise Island entwickelt worden", erläuterte Coplon. "Man kann sich doch international keinen Lärm mehr leisten in einem Überseegebiet. Die Londoner Regierung legt Wert darauf, dass hier kein Blut mehr fließt."

Wolfe spähte zu Miss Conway hinüber, er fragte: "Was treibt sie denn den ganzen Tag?"

"Die britische Regierung?"

"Dieses Mädchen da."

"Miss Conway? Sie reist umher und verfasst Aufstandsberichte."

"Ich könnte mir vorstellen, mit ihr wär' was anzufangen."

Coplon drückte seine Zigarette aus. "Für gute Informationen tut eine Korrespondentin manchmal viel."

"Ich zahle nicht dafür, Mr. Clark!"

"Verzeihung, Leutnant, wenn Sie mir den Hinweis gestatten: Wir sollten uns doch mehr um ihn kümmern."

"All right. Ich nehme Ihnen Kritik nicht übel."

"Danke, Sir."

"Gut, also Victor! Glauben Sie zum Beispiel, dass er mit ihr schläft?"

Coplon runzelte die Stirn. "Möchten Sie etwa über sie an ihn heran?"

"Versuchsweise. Er ist doch offenbar vernarrt in sie."

"Sobald Sie eine Frau einschalten, Leutnant, gerät Ihnen ein Fall leicht außer Kontrolle."

Wolfe spürte Coplons Widerstand und beschloss, ihn zu brechen. Wenn zwei Männer etwas unternehmen, entschied es sich stets in der ersten Stunde, wer von ihnen der Boss war... Als er die Zeitung sinken ließ, sah er, dass Victor aufgestanden war und sich verbeugte. "Folgen Sie ihm", befahl er. "Stellen Sie fest, was er tut."

"Ich lasse Sie ungern allein", sagte Coplon. Wahrscheinlich fand er, Wolfe rolle das Knäuel vom falschen Ende her auf; oder er fühlte sich abgeschoben. Unter Wolfes Blick jedoch glitt er gehorsam vom Hocker und entfernte sich.

Wie Miss Conway ansprechen? Wolfe trat an die Panoramawand, er trommelte gegen das Glas. Es gab keine Tischtelefone wie im Mascot-Palast von Southampton. Vor dem Riff lief jemand Wasserski, durch die reflektierende Scheibe sah es aus, als flitze er auf die Amerikanerin los. Am Strand war das Wasser smaragdgrün, Fischerkähne und Sportboote lagen vor Anker. Die Barriere schützte sie vor Wellenschlag, eine Kette zerfressener Felsen, an die der Ozean brandete. Hinter der Schaumlinie färbte das Meer sich azurblau, dort fiel der Grund steil ab wie vor Berenice... Er kehrte an seinen Tisch zurück und schrieb auf eine Serviette: "Miss Conway, hier ist eine Nachricht für Sie." Er wartete, bis sie ihn bemerkte, dann schob er die Botschaft auf das glitzernde Band.

Die Serviette wanderte langsam auf Victors Begleiterin zu. Wolfe hielt den Atem an. Sein Tun war kaum gerechtfertigt, Coplon und Scott hatten ihn gewarnt. Ihm war unbehaglich, doch nicht wegen dieser beiden, sondern weil er an Claudia dachte. Vor fünfzehn Stunden hatte er sie zum Abschied geküsst – war es denn richtig, sich so schnell einer anderen zuzuwenden, wenn auch nur in Gedanken? War es denn klug, jede Frau auf das Maß an Glück abzuschätzen, das sie bringen mochte, nur damit einem nichts entging, damit man am Ende nichts ausgelassen hatte? Miss Conway wenigstens machte es ihm nicht leicht, sie übersah die Serviette. Immerhin hatte der Kontaktversuch sie nervös gemacht, sie versuchte zu rauchen, fand aber ihr Feuerzeug nicht. Und es gab keinen Kellner, der ihr hätte helfen können.

Wolfe sprang auf, über das Band hinweg gab er ihr Feuer. "Ich heiße Danny Wolfe und bin Presseoffizier", sagte er. "Wie ich eben erfahre, sind Sie aus derselben Branche. Vielleicht kann ich etwas für Sie tun?"

Miss Conway blickte hoch. "Sie sind Seeoffizier?"

"Zur Informationsabteilung kommandiert", log er und verstummte. Diese Augen! Alles an ihr war üppig: der Mund, das Haar, die Brüste. Unter der Stola trug sie eine hochgeschlossene Bluse mit tiefem Rückenausschnitt. Wenn Wolfe später an diese Begegnung zurückdachte, erinnerte er sich kaum einer Einzelheit. Vielmehr hörte er dann den Summchor, der über Paul Ankas Stimme schwebte und sich in jenem Moment traumhaft emporschwang. Und manchmal ergriff ihn wieder ein Gefühl von Vorfreude, von Erwartung, das er noch nie verspürt hatte.

"Informationsabteilung der Royal Navy?" Das Zischen war da, es mischte sich von neuem in den Summchor, wie um den Zauber zu brechen. Er nickte und sah, dass sie einen Stenogrammblock zurechtschob. Zwischen ihrer Erscheinung und dieser Geschäftigkeit war ein unbegreiflicher Gegensatz. Sie fragte: "Wie sieht Ihre Abteilung die gegenwärtige Lage?"

"Rosig", versicherte Wolfe über die wandernden Tabletts hinweg und wurde gewahr, dass ihm die Worte nur so zuflossen. Er war plötzlich fähig, über Dinge zu sprechen, von denen er kaum etwas wusste. "Miss Conway", sagte er, "das Volk hier ist im Begriff, seine Unabhängigkeit zu ertrotzen. Es will sich in das Abenteuer der Souveränität stürzen wie ein Mädchen in die Arme des ersten Liebhabers. Mit unserer Taktik der weichen Welle schützen wir es vor seinem eigenen Temperament und setzen dabei neuerdings Schlafgas ein."

Miss Conway legte den Bleistift hin. "Ich wusste gleich, Leutnant, dass Sie Langeweile, aber keine Informationen haben."

"Eben lösen wir die Studentendemonstration mit einem neuen Gastyp auf. Ist das keine Information? Alles träumt jetzt schön vor der Universität."

Sie sah ihn zum ersten Mal aufmerksam an. Offenbar glaubte sie ihm nicht. Sie drehte den Kopf, als versuche sie, das Gas zu riechen.

"Wir könnten nur bei Landwind etwas abbekommen", erklärte Wolfe. "Warten Sie bitte, ich weiß noch mehr!"

"Sie wissen gar nichts." Miss Conway packte ihr Schreibzeug ein und schickte sich an aufzustehen. "Ich nenne das Vertrauensmissbrauch."

"Ich würde es Hoffnungsmissbrauch nennen, wenn Sie schon gingen." Es klang banal, Wolfe merkte, dass ihn seine Gewandtheit verließ. "Doch selbst wenn sie gehen", fügte er hinzu, "lassen Sie wie das Flugzeug einen Kondensstreifen zurück: den Wunsch, Sie näher kennen zu lernen." Was für ein ungereimtes Zeug! Die Pausen zwischen Rede und Antwort dehnten sich immer mehr.

Anja Conway schien von einer ähnlichen Schwäche befallen.

"Aha, die berühmte Geschichte..." Sie sprach nicht zu Ende, gähnte, wollte aufstehen, blieb aber sitzen und schloss: "... von der Liebe auf den ersten Blick."

"Ich hab' mein Herz noch nicht untersucht – wenn Sie es für mich tun wollen, will ich's Ihnen gern anvertrauen", hörte Wolfe sich sagen. Wenigstens das ging ihm noch glatt von den Lippen. "Miss Anja... So darf ich Sie doch nennen?"

"Nennen Sie mich, wie Sie wollen", antwortete sie mühsam.

"Was Sie auch sagen, es zählt nicht. Ich nehme an, der Wind hat gedreht."

Wolfe blickte sich um und erschrak. Die Gäste bewegten sich merkwürdig langsam, sie taten auch ungewöhnliche Dinge. Vermutlich drang das Gas ein und begann zu wirken. Der livrierte Boy, der das Geschirr abräumte, hatte sich hingesetzt und starrte auf Anja Conway. Neben ihm an der Säule döste ein Herr, den Mund zum Kuss gespitzt. Am Nachbartisch ließ ein junger Mann das Kinn in den Mokka sinken. Zwei Offiziere liebkosten sich in peinlicher Weise, womit sie ihren Ausschluss aus der Armee riskierten. Eine grauhaarige Dame kicherte kokett, jemand umarmte ihre Beine. Mancher fiel gleich in Schlaf, die übrigen dachten nur an sich selbst, an ihre Gelüste... Allein das Speiseband lief normal, es beförderte unbeirrt vorfabrizierte Gedecke. Wolfe beugte sich weit darüber, bis an das Ohr des Mädchens. "Anja, kümmere dich nicht um all diese Schweine hier." Er hatte das feiner sagen wollen, es war missglückt. Er berührte ihren Arm und spürte voller Dankbarkeit, dass sie sich ihm nicht entzog.

"Ich kenne Sie nicht, aber es ist schön, dass Sie da sind", stammelte Anja. "Bitte, gehen Sie nicht weg."

"Ich bleibe für immer", antwortete er. Ein männliches Wort, und so vertraut! Seine Hand verfing sich in kühler Seide, nestelte an den vielen kleinen Stoffknöpfen, die ihre Bluse bis zum Hals hinauf schlossen.

"Lass sein, Danny."

Sie hatte ihn Danny genannt! "Ein Leben lang", sagte er und setzte nochmals an: "Ein Leben lang hab' ich auf dich gewartet..." Sein Kopf sank an ihre Schulter, sie strich ihm sacht übers Haar. Er lauschte in sich hinein auf die wundersame Melodie, die ihn durchbrauste.

Der Porzellanstrom riss ab, das Band lief leer. Wolfe merkte nicht, dass die Tabletts sich an ihm stauten. Nur einmal, als der Geschirrberg zu Boden stürzte, fuhr er auf und rief: "Hier wird nicht mehr geschossen! Alles wird gut auf Paradise Island..." Er tätschelte den Bauch einer Kaffeekanne.

"Weil du so sexy bist."

4. Kapitel

Bei Anbruch der Dämmerung stieg Wolfe in das schmatzende Wasser. Sein Ziel war eine scharf bewachte Sandbank in der Flussmündung. (In den Erinnerungen Danny Wolfes, auf denen diese Darstellung fußt, klafft eine Lücke; infolge der vorstehend beschriebenen Gaseinwirkung war Wolfe zehn Stunden lang bewusstlos. Für den genannten Zeitraum schildert er freilich statt äußerer Begebenheiten zahlreiche innere Wahrnehmungen. Wolfe wurde von erstaunlichen Visionen bedrängt, die gewiss nicht nur für die Fachwelt – Militärärzte, Psychologen Motivforscher – aufschlussreich sind. Jedoch würde selbst eine gekürzte Wiedergabe seiner Traumgesichte das Erscheinen das ganzen Berichts in Frage stellen: In jedem Land, in dem Bücher verlegt werden, gibt es Gremien, die im Interesse der Leserschaft literarische Texte prüfen und der Verbreitung von Schriften entgegentreten, die sie für schädlich halten. So unterschiedlich und wandelbar die Maßstäbe auch sein mögen, die diese Körperschaften anlegen, so scheint ihnen doch die Ablehnung solcher Passagen gemeinsam, von denen sie eine Aufreizung des Publikums befürchten. Mit Rücksicht darauf beschränkt sich der Bericht hier auf Wolfes letztes Traumerlebnis; bei abklingender Gaswirkung kaum noch erotisch eingefärbt, geht es auf die Erinnerung an jenen Manövereinsatz zurück, für den er Anfang 1967 mit dem Großen Delphin ausgezeichnet und zum Commissioned Officer – Leutnant zur See – befördert worden war. (Anmerkung des Verfassers.) Das Blubbern der ausgeatmeten Luft dröhnte ihm hohl in den Ohren. Er war auf sich selbst gestellt. Die Ausbilder hatten seine Vorbereitungen überwacht, für die ihm ein Tag Zeit geblieben war. Doch niemand hatte ihn bei der Wahl seiner Instrumente beraten, und niemand durfte ihm nun helfen. Als er zum ersten Mal auftauchte, war es Nacht. Weit vor ihm blinkte rotes und grünes Licht, die Warnlampen der Brückenpfeiler. Für ein paar Sekunden schwamm er an der Oberfläche, um sich zu orientieren. Auf den Wellen spielten gelbe Reflexe, sie erreichten ihn nicht mehr. Die feindliche Scheinwerferstellung lag hinter einer Flussbiegung, das erste Hindernis war überwunden; nun folgten noch drei oder vier. Er sah nach der Uhr und rief sich das Luftbild ins Gedächtnis zurück, auf das er die Position der Sperren und seinen grausam langen Marschweg eingetragen hatte. Jetzt kam die von Posten besetzte Eisenbahnbrücke, danach der akustische Zaun. Er nahm das Schnorchelmundstück zwischen die Zähne. Mit dem Lungenautomaten kam man niemals an Horchbojen vorbei: Die Hydrophone registrierten jedes Atemgeräusch unter Wasser. Das Schwimmgeräusch aber ähnelte dem mancher Fische, darin lag seine Chance.

Wolfe ließ sich stromabwärts treiben. Das Ortungsgerät schob er behutsam vor sich her. Es glich einem Feuerlöscher; die Mattscheibe auf seinem Boden bildete schemenhaft alle festen Gegenstände ab, die größer waren als fünf Zoll. Wenn es ein Hindernis anzeigte, wich er mit sanften Flossenschlägen aus. Die Zeit verstrich, ihm wurde kalt. Sooft er nach oben sah, gewahrte er silbrig zitternde Punkte. Sternenlicht sickerte zu ihm herab, sonst war es schwarz ringsum, bis auf die fluoreszierende Scheibe des Ultraschallgeräts.

Plötzlich glomm an seinem linken Oberschenkel giftgrün das magische Auge auf. Das konnte zweierlei bedeuten: Entweder er näherte sich wider Erwarten schnell dem nächsten Abwehrzaun, der Ultraschallsperre, oder der Feind hatte gleichfalls Froschmänner eingesetzt, die mit Ortungsgeräten ihre Kontrollrunde drehten. Sofort schaltete Wolfe das eigene Gerät aus und ging auf Tiefe. Sie konnten ihn noch nicht aufgespürt haben, es pfiff nicht im Kopfhörer, der Indikator leuchtete nur. Falls es Froschmänner waren, stand ihm ein Spähkampf bevor – zermürbend und nahezu aussichtslos. Aber aufgeben durfte er nicht, man verlangte von ihm Einsatz bis zum Letzten; wie im Ernstfall, wo der Froschmann immer sein Leben wagte für sein Land.

Lautlos glitt er weiter. Sein Sprechgerät stand auf Empfang, es hing ihm am rechten Oberschenkel. Er hielt den Atem an, ohne etwas zu hören, weder eine Warnung vom Stützpunkt noch das eigentümliche Schnurren, das menschliche Schwimmflossen hervorrufen. Einen Augenblick lang, während der Uferschatten auf ihn zukam, fühlte er sich von allen verlassen. Dann begann der Indikator zu quietschen. Das Piepen im Kopfhörer zeigte an, dass ihn Ultraschallimpulse stärker trafen. Er trieb auf die Schwingersperre los! Da half nur eins: auf Grund gehen. Noch war nichts verloren. Der eigene Indikator sprach stets früher an als das Ortungssystem des Gegners, das die auseinanderfächernden Impulse erst einfangen musste.

Fieberhaft strebte Wolfe den tiefsten Stellen in der Strommitte zu, er tastete nach Grund. Der Tiefenmesser an seinem Handgelenk stand bei zwanzig Fuß. Ein Baggerloch oder die Fahrrinne? Seine Hand griff in etwas Weiches, Federleichtes, spürbar Wärmeres. Er ahnte die zarte Oberhaut der Schlammablagerungen, die er nun zerteilte, um in sie einzudringen. Jetzt umgab ihn absolute Finsternis. In der quellenden, zitternden Masse kroch er vorwärts, wühlte sich ein in Berge lockerer Watte. Das magische Auge erlosch im Schmutz, Schwebstoffe umschmiegten ihn, verklebten seine Haftschalen, wirbelten vor der Mund-Nasen-Maske. Wo war oben, wo unten? Das Ortungsgerät hätte es angegeben, doch auch seinen Standort verraten. Der Kompass war nur noch zu erkennen, wenn er ihn bis an die Augen hob. Das Piepen hetzte ihn vorwärts. Weiter hinein in den Dreck! Es gab keinen Ekel, der Schlamm bot Schutz, er schluckte die Ultraschallbündel, die von den Schwingern an der Wasseroberfläche herabfächerten. Wie ein Maulwurf kroch Wolfe darunter durch. Gefahr drohte ihm nur von der zweiten Schwingerkette, sie lag unterhalb der Mudschicht und strahlte nach oben. Er achtete scharf auf seinen Indikator, der schon schriller pfiff. Einen Zwischenraum musste er finden, die Ultraschallquelle umgehen.

Endlich wurde der Pfeifton schwächer. Wolfe zog sein linkes Knie an, glitt vorsichtig etwas höher. Das grüne Auge des Indikators flackerte nur noch, es war, als blinzele es ihm zu: Geschafft, altes Haus! Das Pfeifen erstarb, er ließ das Strahlenbündel hinter sich. Raus aus dem Mud und ab, auf Kurs! Von neuem schaltete er das Ortungsgerät ein und schob den im Wasser schwerelosen Metallzylinder vor sich her. Er hatte das nicht zu früh getan, verdächtigte Impulse geisterten über die Sichtscheibe – waagerechte Striche, hellgrün und zitternd, hier und da auch ein senkrechtes Echo. Kein Zweifel, das Netz! Wie weit noch? Das Gerät spähte fünfhundert Yards voraus.

Wolfe verließ die Strommitte, um sein Tempo herabzusetzen. Jede Netzberührung löste Alarm aus, oft sogar Sprengkörper – dann war er verloren. Nahe dem Ufer wurde der Boden felsig. Auf seinem Bildschirm erschien das Fundament einer Buhne, dann das Stahlgeflecht. Er bremste ab und sah, wie es langsam wuchs. Das Netz war zu lang, es schien noch meterweit über den Grund gebreitet wie ein Bettlaken. Die Striche tanzten vor seinen Augen. Hier, eine Lücke! Das Netz hing auf ein paar großen Steinen, dazwischen musste er hindurch. Er versuchte es in Rückenlage. Die Gasdruckflaschen schurrten über Fels. Nur nicht den Draht berühren! Er kroch und wand sich wie ein Aal.

Seine Glieder bebten vor Anstrengung, doch der gefürchtete Krampf blieb aus. Er markierte die Durchbruchstelle für den Rückweg, wie er es gelernt hatte, und steuerte die Sandbank an. Noch drei Meilen bis zum Ziel! Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass der Sauerstoffvorrat reichen würde. Aber plötzlich konnte er sich nicht mehr auf seinen Kampfauftrag besinnen. Was sollte er überhaupt auf der Sandbank? Irgendetwas sprengen? Er brach die ihm auferlegte Funkstille und rief ins Mikrophon: "Ich weiß nicht mal, welche Sprache man da spricht, Commander!" – "Die Sprache der Kühnen", schallte es zurück. "Sie sind mein bester Mann. Augen auf, Leutnant, nicht in eine Falle gehen."

Der Hinweis erreichte ihn im rechten Moment. Wolfe spürte eine jähe Gegenströmung, er krümmte sich blitzschnell zusammen und sackte ab. Was kam ihm entgegen? Eine Unterwasserpatrouille? Dann gab es kein Ausweichen, es war hier zu flach, dann begann der entscheidende Kampf... Er hockte lauschend auf einer Algenwiese und vernahm Scotts Stimme: "Los, Junge! Sie sind doch nicht schlechter als Lionel Crabb." Er schlich über ansteigenden Grund. Der Wasserspiegel über ihm leuchtete matt; verdammt, der Mond war aufgegangen. Langsam stieß er sich ab – da, Pfähle, in den Sand gerammt, von Stacheldraht umsponnen. Er zerschnitt die letzte Sperre, entledigte sich im flachen Wasser der Geräte und tauchte auf.

Düstere Wolken verdeckten den Mond. Zwei Atemzüge lang zögerte Wolfe. Sein Gesicht war schwarz wie die flexible Tauchhaut, sie konnten ihn in der Finsternis kaum sehen. Er streifte die Flossen ab und glitt über den Strand, flink wie ein Fischotter. Da, links ein Laut: Schritte im Sand. Wolfe sah einen Schatten, sein Herz zog sich zusammen. Zurück in den Fluss oder angreifen, umbringen? Aber war denn das nicht bloß eine Übung? Bleib liegen, flüsterte es in ihm, beides ist falsch, beim kleinsten Geräusch bricht eine Hölle los. Vielleicht leuchten sie den Strand mit Infrarot ab, und du bist längst entdeckt. "Los! Oder stellen Sie Ihre Sicherheit über die Ihres Landes?" Die Stimme peitschte ihn hoch, er folgte dem Posten. Der Schatten musste ihn führen, sein Kontrollgang berührte sicher das Objekt, das Wolfe zu vernichten hatte, mit der Zeitzünderbombe in seinem Oberteil. Wüsste er nur, um was für ein Objekt es ging... Vier Stunden schwimmen, fünf Sperren durchstoßen und dabei den Kampfauftrag vergessen, welche Schande! Geduckt lief er los, ein Jagdhund auf der Fährte. Über den Fluss kroch Nebel, der Umriss des Postens verschwamm.

Wolfe kniete vor der Spur und stöhnte: "Ich fürchte, Sir, Ihnen nicht mehr nützlich zu sein."

Doch es kam keine Antwort. Natürlich nicht, er hatte ja mit der Mund-Nasen-Maske sein Mikrophon und das Funkgerät im Wasser abgelegt.

Die Spur führte zu einem Berg faustgroßer Steine. Waren sie das Ziel? Er räumte die obere Schicht weg, die Steine klickten verräterisch. Darunter fühlte er etwas Nachgiebiges, und endlich fiel ihm der Auftrag wieder ein: die Sprengladung in eine knetbare Masse drücken. Es stimmte alles haargenau. Die Masse hier war sogar ein bisschen warm, sie erinnerte an frischgebackenes Brot. Er griff in den Tauchanzug, zog die Bombe heraus und wollte eben den Zünder schärfen – da war ihm, als habe der Körper sich vor seinen Augen etwas bewegt. Wolfe stockte das Blut in den Adern. Er fühlte, dass das fremde Objekt seine Lage veränderte.

Er bezwang sein Schaudern, streckte die Hand von neuem aus und spürte weibliche Rundungen, die ihm bekannt vorkamen. "Claudia", flüsterte er entsetzt, "was machst du denn für Geschichten?" Seine Finger bebten, die Bombe fiel in den Sand. Der Vorgang selbst freilich war allzu klar: Sie hatte wieder einmal sehr gefroren und sich auch noch mit Steinen zugedeckt. Das sah ihr ähnlich, immer zog sie sich zu dick an, ohne Rücksicht auf ihn zu nehmen. Er tastete sie ab, suchte gewohnheitsgemäß nach dem Reißverschluss und merkte auf einmal, dass sie nackt war.

Diese Entdeckung traf ihn wie ein Peitschenschlag. Claudia ging nie ohne Pyjama ins Bett, es konnte also kaum Claudia sein, die da schlief. Es war auch nicht ganz ihre Figur. Frauen bei Nacht zu unterscheiden mochte überaus schwierig sein, das recht umfassende Froschmanntraining enthielt diese Übung nicht. Je länger Wolfe die Erscheinung prüfte, desto deutlicher begriff er, dass jemand anders vor ihm lag. Die Fremde hatte große Augen, auch sonst schien alles an ihr üppig: der Mund, das Haar, die Brüste... Der Horizont hatte sich gefärbt, im ersten Morgenlicht erkannte er Anja Conway. Sie schlug die Augen auf, zog ihn stumm zu sich herab. Er umarmte sie und vernahm wieder den fernen Chor, der über Paul Ankas Stimme schwebte. Sie presste sich an ihn. Es wird Tag, durchzuckte es ihn, ich kann nicht mehr zurück. Er wollte sich losreißen, doch sie hielt ihn mit Riesenkräften. Scott hat recht gehabt mit seinem "zu heiß", dachte er. Sie haben mir eine Falle gestellt, Anja ist der Köder gewesen. Mein Gott, fünf Sperren zu durchbrechen und dann von einem Weib gefangen zu werden, so dicht vorm Ziel – welche Schande für uns Schwarze Delphine, welch Verrat an meinem Land!

Vom anderen Ufer drang eine Stimme an sein Ohr. "Good morning, Sir. Ein neuer Tag beginnt für Sie auf der Paradies-Insel. Sie müssen ihn genießen. Was möchten Sie heute erleben? Wählen Sie Null-Drei, unser Service berät Sie..."

Wolfe wachte auf und verstand sofort, dass nicht die Stimme es war, die ihn geweckt hatte; sie klang angenehm weich und verheißungsvoll. Vielmehr wurde sein Kopfkissen ebenso sanft wie beharrlich von Geisterhand gerüttelt, einer Weckautomatik wohl, die mit dem Farbfernseher am Fußende gekoppelt zu sein schien. Das Mädchen auf dem Bildschirm lächelte ihm charmant zu. "Sie werden sich wohlfühlen im 'Stardust'. Schaumduschen und Duftfontänen erwarten Sie im Bad. Entspannen Sie sich! Der Massageautomat ist für Sie sterilisiert. Mit dem Küchenchef sind Sie durch Null-Fünf verbunden. Der Speiseaufzug ist links neben Ihnen, das Fernsehgerät an Ihrem Fußende. Die Rufnummern unserer Callgirls finden Sie in dem Bildkatalog rechts auf dem Nachttisch..."

Wie dumm, schon wieder Weiber! Wolfe setzte sich auf, in seinem Kopf begann es zu hämmern. Er starrte missbilligend auf das Bilderbuch, es war in lindgrünes Leder gebunden und lag an derselben Stelle wie die Bibel in einem christlichen Hospiz, ganz, als müsse das so sein. Alles hier atmete vornehme Ruhe und sicheren Geschmack. Die zarte Papierfaser des Wegwerf-Bettzeugs schimmerte moosgrün, stilvoll und schlicht wie in einem Nervensanatorium für Millionäre – welche Wohltat für das Auge. Und darüber ein Hauch von Sonnenlicht, das die Balkonjalousie in feine Streifen schnitt.

Draußen rauschte das Meer.

"Oder langweilt Sie Sex?", fragte die Sprecherin mit einem kleinen Lächeln; Wolfe fühlte sich von ihr getröstet und verstanden. "Möchten Sie ausgehen? Karten für den Filmpalast, das Wellenbad oder den Golfplatz und auch einen Wagen besorgt Ihnen der Portier. Amüsieren Sie sich, Sie haben es verdient. Nützen Sie die Stunde, erleben Sie die Schönheit dieser Insel. Tun Sie hier all das, was Sie immer einmal tun wollten. Genießen Sie Ihr Leben!"

Kaum war das Fernsehbild verblasst, da trat Coplon ins Zimmer: agil, silbergrau, sonnenverbrannt. "Good evening, Sir", sagte er, "haben Sie ausgeschlafen?" – "Sind Sie morgens immer so witzig?" – "Morgens? Ach so, der Weckautomat hat Sie irregeführt, Leutnant. Ich hatte ihn auf acht Uhr abends gestellt, nachdem ich Sie zu Bett gebracht hatte." – "Und warum, Mr. Clark?" – "Commander Scott erklärte mir, dass die Gaswirkung genau zehn Stunden anhält." – "Wie kommen Sie überhaupt herein?" – "Ich musste den Schlüssel mitnehmen, Sir, weil Sie Geheimnisträger sind. Darf ich mir die Frage erlauben, wie Sie geträumt haben?"

"Auf völlig neue Art", knurrte Wolfe und hob die Hand an den Hals. "Der ganze Liebeskram steht mir bis hier!" Er ging ins Bad, um die Geschichten loszuwerden. Draußen sagte Coplon: "Das gibt sich, meint der Stab. Eine dauerhafte Abneigung tritt keinesfalls ein." – "Eine gottverdammte Panne!" Wolfe versuchte, die Duschen zu übertönen. "Wir haben einen vollen Tag verloren durch die elende Sache heute früh!" Er ließ sich durchkneten, als könne der Schaumstrahl seine Träume wegschwemmen. Coplon rief zurück: "Um neun öffnet die Bar, da treffen Sie Victor noch immer." – "Was hat der Kerl denn heute getan?" – "Er ist von den Klippen südlich Berenice mit voller Fotoausrüstung bis zur Erschöpfung in Richtung 'June' getaucht und hat schließlich eine Amphora heraufgebracht." – "Was?" – "Ein Tongefäß aus dem Altertum, Leutnant. Danach ist er so erledigt gewesen, dass man ihm aus dem Wasser helfen musste." – "Hat er denn kein Tauchboot oder wenigstens einen Elektromotor?" – "Da müsste er den Strom von Berenice nehmen. Die meisten Küstennester hier sind ohne Anschluss." – "Was reden Sie da?" – "Sie dürfen nicht von diesem Haus auf das übrige Land schließen, Sir. Die Elektrifizierung ist mangelhaft, in meiner Branche bekommt man das zu spüren... Victor beschäftigt zwei Diener."

Zwei Diener! Und das nebenbei. Wolfe drehte die Duftfontäne ab, er überließ sich den rotierenden Kegeln, Saugnäpfen, Bürsten und Bändern des Massageautomaten. "Diese Helfer müssen wir uns ansehen, das könnten seine Kuriere sein. Irgendwie muss er ja weiterleiten, was er vor Berenice auskundschaftet. Falls es nicht über Funk geschieht." – "Funk scheidet aus, das haben schon unsere Vorgänger ermittelt. Auch die Diener sind durchleuchtet worden, Sir. Die beiden sind offenbar harmlos; einheimische Fischer, die keine Froschmannkleidung haben und niemals mittauchen." – "Wozu hält er sie dann?" – "Nun, die beiden wären vielleicht in der Lage, eine Amphora so im Meer zu versenken, dass er sie am anderen Tag findet."

Wolfe warf ein Badetuch über, kehrte zurück und setzte sich in einen Fledermaussessel. "Eins begreife ich nicht, Mr. Clark: Weshalb erkundigen wir uns nicht einfach beim US-Konsulat nach dem Burschen? Oder bei der amerikanischen Abwehr? Scott hat das unterlassen." – "Der Commander hält den Kreis der Mitwisser stets so eng wie möglich." – "Ist das in diesem Fall vernünftig?" – "Ich glaube wohl, Sir. Immerhin lässt sich die Möglichkeit, dass Victor für die Amerikaner taucht, nicht restlos ausschließen; und dann wären sie gewarnt."

Die alte Geschichte, überlegte Wolfe. Dass die Geheimdienste befreundeter Staaten nur unter Vorbehalt zusammenarbeiteten, wusste er schon aus Filmen. Man schickte Verbindungsoffiziere, tauschte Ermittlungsresultate und technische Informationen aus, doch die neuesten Entwicklungen behielt man für sich. Eine Portion Misstrauen blieb, und den Krieg im Dunkeln führte jedes Land allein. Er fragte: "Von den Alliierten hält man im Marineamt nicht viel, was?" – "Jedenfalls nicht bei der Unterwasser-Medizin. Dafür neigt man in unserer Abteilung dazu, den Gegner zu überschätzen. Das hebt nämlich das Selbstgefühl... Verzeihung, Leutnant, Sie tropfen."

Wolfe stand auf, von einer eigenartigen Unruhe erfüllt. Coplon kam ihm nach der letzten Bemerkung größer vor, erfahren und klug, er schien alle Seiten seines Gewerbes durchdacht zu haben. Konnte er da nicht Vertrauen fassen und mit ihm sein Problem besprechen? "Mal ehrlich", sagte er und trat vor ihn hin. "Was halten denn Sie von der ganzen Sache?" – "Von dem Fall Victor, Sir?" – "Nein, von dem Fall Wolfe."

Coplon schwieg einen Augenblick, dann antwortete er ernst: "Ich verstehe, Sir, Sie wundern sich über Ihren Abwehrauftrag. Sie sind in diesem Spiel Amateur und möchten wissen, weshalb auf Victor kein Profi angesetzt worden ist. Nun, genau das hatte der Commander ja getan, und es ist schiefgegangen. Wie Sie gehört haben werden, sind unsere beiden Vorgänger verschwunden."

"Was liegt denn eigentlich vor: Unfall, Entführung oder Mord?"

"Sie werden vermisst, Leutnant, mehr ist mir nicht bekannt. Falls der Commander mehr weiß, hält er das geheim. Noch etwas anderes hat er Ihnen vielleicht nicht gesagt: Es lässt sich manches nicht mit Profis machen. Die Abwehr hat wie im Grunde jede Regierungsstelle ziemlich wenig erstklassige Leute. Die Mehrzahl ist Durchschnitt – Büropersonal, das etwas von Lochkarten versteht. Um in einer Behörde wie dieser voranzukommen, genügt es nämlich schon, zu wissen, wie man sich durch die Intelligenztests mogelt und was man tun muss, um die charakterlichen Eignungsproben zu bestehen. Beides spricht sich schnell herum, Sir. Die Intelligenztests sind offenbar nur dazu da, diejenigen auszusieben, denen selbst das Mogeln zu beschwerlich ist. Mit den Charakterprüfungen steht es schlimmer; beim Loyalitätstest erfolgt in der Regel eine negative Auslese. Und mit dem traurigen Endergebnis müssen sich Männer wie Commander Scott dann in Übersee herumschlagen."

Wolfe sah Coplon aufmerksam an, ihm gefiel an seiner Analyse der wissenschaftliche Stil. Er hatte manchmal schon darüber nachgedacht, warum die staatlichen Verwaltungen mitunter regelrecht versagten. Nun hörte er eine Erklärung, die ihm zugleich half, den Hintergrund dieses Abenteuers zu verstehen. "Negative Auslese?", fragte er und rieb sich die schmerzende Stirn.

Coplon legte die Fingerspitzen aneinander. "Aus Sicherheitsgründen scheidet man im Staatsdienst, und zwar zuerst bei der Abwehr, gerade die Besten aus – nämlich alle, die den bürgerlichen Rahmen an irgendeiner Stelle sprengen. Die Charakterprüfung soll ja die Intimsphäre bloßlegen. Nehmen Sie nur den Lügendetektor, Sir. Wer für die Abwehr arbeiten will, ob als Liftboy oder Abteilungsleiter, der muss es sich gefallen lassen, dass er mit einem Gummigürtel um die Brust, Leinenmanschetten um den Oberarm und Elektroden an den Handgelenken auf dem Lügenstuhl festgeschnallt wird. Man fragt ihn im peinlichen Verhör, ob er seine Eltern häufig beschwindelt, die Schule geschwänzt, seine Frau betrogen, mit leichten Mädchen oder gar mit Homosexuellen verkehrt habe. Und sooft die Schreibstifte hinter ihm auf dem Millimeterpapier Zacken in seine Puls-, Atem- und Blutdruckkurve zeichnen, steht es für die Prüfer fest, dass er dabei ist, die Unwahrheit zu sagen. Sie sehen den Detektor als eine Art delphisches Orakel an. Tatsächlich messen sie damit nur die Unlust- oder Angstgefühle, die sich bei Fragen aus dem Sexbereich auch dann einstellen, wenn der Prüfling gar nichts zu verbergen hat. Für den Durchschnittsbürger, namentlich für Engländer, ist diese Sphäre ja durch Konvention und Erziehung mit Hemmungen und Tabus beladen, die ihn bei einer solchen Berührung zusammenzucken lassen."

Er lachte – ein kurzes Lachen, das bitter und trocken und auch ein wenig verächtlich war, dann fuhr er fort: "Aber selbst wenn ein hinreichend gescheiter Psychologe das Kurvenpapier auswertet, fallen die fähigsten Bewerber durch, weil ihr Charakterbild selten in das Schema vom braven Staatsbürger passt. Weil sie dank einiger Besonderheiten von der Norm abweichen und damit ein so genanntes Sicherheitsrisiko sind. Übrig bleiben bestenfalls beflissene, innerlich lahme und langweilige Spießer mit wenig sexuellem Antrieb und entsprechend mangelhafter Initiative. So wirbt man Büropersonal an, das sicher niemals die Portokasse bestiehlt, aber keine Menschenjäger. Die Abwehr ist wirklich nicht der rechte Ort für Mönche und Nonnen, Leutnant. Denn wo Versager sitzen, da dringt eines Tages der Feind in die Lücke und setzt sich fest. Und wenn es daraufhin zur Katastrophe kommt, dann setzt ein anderer Mechanismus ein: Man versucht, die Fehler zu vertuschen. Das ist beim Geheimdienst allerdings leichter möglich als in jeder anderen Behörde. Hoffentlich bleibt es Ihnen erspart, Sir, beide Mechanismen kennen zu lernen."

"Sehr bemerkenswert", sagte Wolfe. "Theoretisch billigen Sie einem Abwehrmann erotische Impulse zu. Aber praktisch haben Sie mich heute früh daran hindern wollen, Miss Conway kennen zu lernen."

"Weil es anfangs besser ist, Beruf und Privatleben zu trennen. Später lässt sich das natürlich kombinieren. Ich bin dem Commander nun einmal für Ihren Start verantwortlich, Sir. Sie sind für ihn zu wertvoll, als dass Sie stolpern dürften; nicht nur als Kampfschwimmer. Sie können funken, boxen, Jiu-Jitsu, mit dem Fallschirm ins Wasser springen, einen Menschen lautlos umbringen und in der Wildnis überleben. Sie haben eine abgeschlossene Rangerausbildung. Und Sie sind nicht durch die Testmühle gegangen, die ihn um die besten Leute bringt."

"Na, na. Sie haben das doch auch überstanden."

"Das ist eine Geschichte für sich, Sir." Coplon sah auf die Uhr. "Werden Sie bis halb zehn fit sein?"

"Ach so, die Bar." Wolfe wurde aus seinen Gedanken gerissen, es tat ihm leid, dass Coplon nicht weitersprach. Er fühlte sich zu diesem Mann hingezogen und hätte gern mehr von ihm erfahren. Für einen Augenblick stellte er sich vor, dass er ihn mit "Tom" anreden, ja, dass sie Freunde werden könnten trotz des Rangunterschieds und ihrer verschiedenen Nationalität. Fest stand, er hörte Coplon gern zu; war das nicht der Ausgangspunkt einer jeden echten Beziehung? "Diese Bar, muss das sein?", brummte er und spürte, wie sich sein Magen hob. "Lieber nicht, Mr. Clark. Da gibt's doch Frauen wie Sand am Meer, und ich will keine sehen."

"Sie müssen ja nicht hingucken, Leutnant. Der Mixer beispielsweise ist ein Mann."

Wolfe massierte seine Schläfen. Hinter den Augen saß ein dumpfer Schmerz, sein Kopf dröhnte wie eine Trommel. Kein Wunder, immerhin waren hundert Mädchen darin herumgeturnt. Und seltsam, sie hatten alle das gleiche Gesicht... Wenn es stimmte, dass es einen Zusammenhang gab zwischen beruflicher und männlicher Initiative, dann hätte ihn die Abwehr nicht dieser Gaswirkung aussetzen dürfen. "Ich bin diesem Victor jetzt nicht gewachsen", sagte er. "Verhelfen Sie mir erst einmal zu einem Privatkursus in Unterwasser-Archäologie."

"Sie wollen einen Lehrer, Sir?"

"Das fehlte noch. Gibt es denn hier keine Tonbänder?"

"Ich verstehe", antwortete Coplon, "Hypnopädie. Die Bänder sollen doch nachts laufen, nicht wahr? Das kann ich organisieren."

"Fangen Sie an, sobald ich eingeschlafen bin. Bis morgen muss ich alles im Kopf haben, was man über Unterwasserfunde rings um Paradise Island weiß."

"Wird erledigt, Sir." Die Lebhaftigkeit, mit der Coplon seine Idee aufgriff, berührte Wolfe angenehm. Er sah darin ein gutes Vorzeichen für ihre Zusammenarbeit. Coplon machte sich sogar eine Notiz, blickte dann aber auf und sagte: "Trotzdem würde ich mich an Ihrer Stelle heute Abend schon mit Victor bekannt machen. Ein Fachgespräch sollten Sie beim ersten Mal sowieso vermeiden, Sir."

Wolfe drehte sich um, vom Bad her rief er: "Nacktes Fleisch da unten! Wollen Sie, dass mir schlecht wird? Oder kommt es im 'Stardust' öfter vor, dass die Königliche Marine kotzt?"

Durch die Tür hörte er Coplon antworten: "Wenn Sie mir den Hinweis gestatten, Leutnant: Ihr Land erwartet jetzt von Ihnen, dass Sie Ihre Scheu bezwingen. Die Briten sind groß geworden durch Selbstbeherrschung in kritischen Momenten!"

Wolfe nahm das Frottiertuch und warf es seinem Assistenten an den Kopf.

5. Kapitel

Die Bar schien attraktiv zu sein, das begriff Wolfe schon während der Abwärtsfahrt. Der Lift war anfangs so schwach besetzt wie das ganze Haus; doch als er im Erdgeschoss hielt, quoll von der Halle her ein Schub Menschen herein, die mit in den zweiten Keller fuhren, obschon sie nicht im "Stardust" wohnten. Und trotz der frühen Stunde war unten fast jeder Tisch besetzt von britischen Stabsoffizieren nebst Damen, einheimischen Geschäftsleuten ohne Anhang, ein paar Alliierten und jener Handvoll Touristen, die den Mut aufgebracht hatten, angesichts der Unruhen in Tyana zu bleiben.

Es gab fünf Salons: den Dining-room, in dem man Fasanen, Bambusschößlinge und gebackene Muränen aß; das Spielkasino "Doble o Nada", um das Wolfe einen Bogen schlug; den "Halfmoon Supper Club" mit seinen befrackten Kellnern und Schwärmen goldener Vögel an den schwarz drapierten Wänden; das Purpurzimmer, in dessen Mitte sich ein rot überhauchtes Mädchen zu Gitarrenklängen auszog; schließlich die "Wonder Bar", in die Wolfe sich vor dieser Darbietung rettete. Jedes Mal führten Stufen abwärts in den nächsten Raum, nur zur Bar ging es wieder hinauf. Als Wolfe dort anlangte, sah er, warum. Das Hotel ruhte auf Betonpfeilern, unter seiner Seefront steckten die Bootshäuser; der Nightclub aber lag noch zwei Etagen tiefer, auf dem abschüssigen Grund der Halbmond-Bucht. Die Räume passten sich dem Meeresboden an, und erst die Wunder-Bar stieß aufwärts. Sie war in eine der Klippen getrieben, ihre Wände bestanden aus Fels bis auf zwei Panoramascheiben aus druckfestem Kunststoff, an die sich der Ozean presste.

Wolfe verschlug es den Atem. Er achtete kaum noch auf die Barbesucher, unter denen sich Victor, den er nirgends entdeckt hatte, wiederum nicht befand. Auch Anja war nicht zu sehen, was ihn sehr erleichterte. Er wollte weder an seinen Auftrag denken noch an den Verdruss, den ihm das zarte Geschlecht heute bereitet hatte. Er rückte ganz ans Ende der Bar neben eine der Scheiben, bestellte einen Highball und blickte gebannt hinaus. Das war es endlich, das tiefe Meer! Wann würde er es schmecken und spüren dürfen? Einen Tag und eine Nacht lang war er schon hier, immer aber hatte ihn etwas daran gehindert, einfach hineinzuspringen, zu schwimmen und zu tauchen – ach, kurz nur, ohne Gerät, bloß um zu sehen, ob Ritchies Lobgesang stimmte. Er berührte die Panzerscheibe, die ihn von seiner Traumwelt trennte. Dieser grünblaue Traum allein war es doch, für den er ohne Widerspruch auf unbestimmte Zeit in den Süden gegangen war.