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Walter Kabel gilt noch heute vielen Kennern als einer der wenigen Schriftsteller der Dreißiger Jahre, dessen Werke noch immer lesenswert sind. Sein Detektiv-Duo Harald Harst und Max Schraut erleben spannende Fälle im In– und Ausland. "Der Klub der Toten" bietet eine besondere Geschichte mit einer verblüffenden Auflösung. Unsere Walter-Kabel-Edition soll helfen, sein Werk wieder zu entdecken.
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Seitenzahl: 91
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Walter Kabel
Der Klub der Toten
Harald Harst, der Detektiv –
Walter Kabel Edition
Walter Kabel
Harald Harst, der Detektiv
Kriminalroman
Braunschweig
Impressum
Texte: © 2024 Copyright by Thomas Ostwald
Umschlag: © 2024 Copyright by Thomas Ostwald
Durchgesehen, korrigiert und verantwortlich für den
Inhalt: Thomas Ostwald
Am Uhlenbusch 17 38108 Braunschweig
„Merkwürdig, der Kraftwagen hält noch immer vor Nummer sechs!“, sagte Harst zu mir und drehte sich dann langsam um. „Reich mir doch einmal das Jagdglas, mein Alter“, fügte er hinzu.
Ich blieb vor ihm stehen, nahm das Fernglas von der Schreibtischecke und schaute durch die dünnen, großgemusterten Tüllvorhänge des Fensters gleichfalls die Straße hinab.
Harst wandte sich wieder um, stellte das Glas ein und richtete es auf den geschlossenen, dunkel lackierten Kraftwagen, der vor Nummer sechs mit der Rückseite nach uns hin an der Bordschwelle stand.
„Schreibe die Nummer auf“, bat Harald nun. „A 131411.“ Ich notierte die Autonummer.
„Wozu das, Harald?“, fragte ich mit einiger Berechtigung.
„Es ist jetzt elf Uhr. Seit acht Uhr früh steht der Kraftwagen da. Und das Gesicht hinter dem kleinen Fenster in der Rückwand verschwindet immer nur für Sekunden. Das Fenster hat eine gelbseidene Gardine. Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, dass die verschleierte Dame in dem Auto unser Haus und unseren Vorgarten beobachtet.“
Ich hatte den Kraftwagen bisher überhaupt noch nicht bemerkt, hatte mich nur gewundert, dass Harst seit neun Uhr alle Augenblicke hier in seinem Arbeitszimmer an das Fenster trat und meine Aufforderung, das schöne Maiwetter zu einem Spaziergang zu benutzen, mit den Worten abgelehnt hatte:
„Ich erwarte Arbeit, lieber Alter. Seit zwei Tagen sind wir müßig. Das kann bei den hochschnellenden Lebensmittelpreisen für uns katastrophal werden. Zwei Privatdetektive ohne Klienten sind schlechter dran als
Rechtsanwälte ...“
Der letzte Satz hätte ebenso wie der Zeitungsschreiberausdruck „katastrophal“ bei Uneingeweihten doch wohl falsche Vorstellungen über unsere Vermögenslage hervorrufen können. Ein Mann wie Harald Harst, Gerichtsassessor a. D., bis vor zwei Jahren weltbekannter Liebhaberdetektiv, dann Berufsdetektiv, weil er zu vornehm war, durch Spekulieren mit seinem Vermögen den Ruin Deutschlands noch zu beschleunigen, – ein Mann von dem Weltrufe eines Harst konnte getrost auch ein paar Monate Arbeitslosigkeit vertragen. Die Sache lag ganz anders. Wenn Harald nichts zu tun hatte – und für ihn gab es ja nur eine Tätigkeit, eben die geistige feine Jongleurarbeit unseres selbstgewählten Berufes – kam sehr bald eine nervöse Unruhe über ihn, gegen die selbst einige vierzig seiner parfümierten Mirakulum-Zigaretten pro Tag nichts halfen. Es war also lediglich die ‚Sehnsucht nach Arbeit‘, die ihn die scherzhaft gemeinten Worte über den ‚katastrophalen Mangel an Klienten‘ hatte aussprechen lassen.
„Du erwartest Arbeit durch die verschleierte Dame im Auto“. meinte ich, und kam mir dabei mit meiner Beobachtungsgabe wieder einmal sehr bescheiden im Vergleich zu der meines Freundes und Brotherrn vor, bei dem ich nun bereits ein Jahrzehnt den Privatsekretär spielte, ein Titel, der besser durch „Gehilfe“ hätte ersetzt werden müssen. „Allerdings“, nickte er. „Das Auto stand nämlich auch am Vormittag hier in der Blücherstraße, freilich vor Nummer sieben. Heute hält es auf der andern Seite. Es ist derselbe Wagen. Gestern konnte ich mir nur den Chauffeur ansehen, da er uns die Vorderseite zeigte. Aber die Dame mit dem weißen Schleier saß ebenfalls darin. Wir werden der Sache nun ein Ende machen und Deinem Wunsch gemäß spazieren gehen. Dann wird sich ja herausstellen, wer – was – und wie ...“ Fünf Minuten darauf schlenderten wir die Blücherstraße nach der Villenkolonie Grunewald zu hinab, bogen in die zum Teil noch unbebaute Fortenbeckstraße ein und hörten hier sehr bald, dass das Auto uns langsam folgte.
Wir blickten uns nicht ein einziges Mal um. Wir hatten das nicht nötig. Wenn Harald seine Zigarette zum Munde führte, konnte er durch den in der Hand verborgenen Hohlspiegel die Straße hinter uns im Auge behalten. „Jetzt ist sie ausgestiegen, mein Alter“, sagte er gerade an der Ecke Cunostraße. „Sie kommt uns nach. Eine schlanke Dame, hellgraues Gabardinekostüm, schwarzer Strohhut mit Reiherstutz, weißer Schleier, moderner Keulenschirm, scheinbar goldene Handtasche. Gang sehr elastisch und doch energisch. Kopfhaltung selbstbewusst. Das blonde Haar kann künstlich gebleicht sein. Bleiben wir stehen. Immerhin wollen wir vorsichtig sein. Leute wie wir stehen bei gewissen Herrschaften, vom gräflichen Hochstapler angefangen bis hinab zum Kaschemmen-Taschendieb, auf der schwarzen Liste.“
Dann drehte er sich um und schaute der rasch Näherkommenden entgegen, die im Gegensatz zu uns wiederholt nach rückwärts die Straße mit schneller Kopfbewegung überflog. Das Auto hatte Halt gemacht.
Harst lüftete den hellen weichen Filzhut. Ich desgleichen. Die Dame stand vor uns. Sie neigte ein wenig den Kopf zum Gruß.
„Herr Harald Harst und Herr Max Schraut, nicht wahr?“
„Zu dienen ... – Sie wünschen, meine Gnädige?“ „Ich möchte beanspruchen Ihre Hilfe, Herr Harst. Ich bin die Gräfin Helga Södergaard. Hätten Sie Zeit und Neigung für einen Fall von Besonderheit?“ – Das Deutsch verriet die Nordländerin, der Name – wenn er richtig war – desgleichen. Eine Schwedin, taxierte ich. „Gewiss, Zeit und Neigung, Frau Gräfin“, erklärte Harald.
„Dann gehen wir bitte weiter, Herr Harst. Ich will
Ihnen vortragen.“
„Wie Sie wünschen, Frau Gräfin.“ Sie teilte uns folgendes mit:
Sie wohnte seit zwei Monaten hier in Berlin in einer vornehmen Pension unter bürgerlichem Namen, um ihre Malstudien bei Professor Helger zu vollenden. In demselben Hause, eine Treppe höher, vermietete eine Geheimratswitwe an Herren möblierte Zimmer. Am 15. Mai, also vor fünf Tagen, fand die Gräfin auf der Treppe einen Brief, der nur einem der Mieter der Geheimrätin aus der Tasche gefallen sein konnte, der gerade vor der Gräfin das Haus verlassen hatte. Sie hörte ihn noch auf dem unteren Treppenabsatz, konnte ihn jedoch nicht mehr einholen, da der Herr es sehr eilig hatte. Sie bekam ihn auch nicht zu Gesicht, so dass sie nicht wusste, welcher der vier möblierten Herren der Geheimrätin es gewesen sein könnte. Der Brief war ohne Umschlag und zu einer losen Kugel zusammengeknüllt.
Nach dieser Einleitung öffnete die Gräfin ihr Handtäschchen und reichte Harst der zerknitterten Briefbogen.
„Wenn Sie ihn gelesen haben, Herr Harst, werden Sie verstehen, dass ich Sie wollte aufsuchen heute“, sagte sie dazu. „Ich sah aus Ihrem Hause treten zwei Herren, als mein Auto kam die Straße entlang, und da habe ich gegeben dem Chauffeur den Befehl, zu folgen Ihnen beiden, weil ich glaubte, es müssten Sie beide sein nach der Beschreibung.“
Harald nahm von diesen Unwahrheiten keinerlei Notiz, blieb stehen und hielt den Brief so, dass ich mitlesen konnte. Es war ein einzelner großer Bogen, sehr gutes, etwas raues Papier. In lila Maschinenschrift war darauf zu lesen:
Berlin, den 3. Februar 1923. Sehr geehrter Herr,
gestatten Sie, dass wir Sie auf unsere Vereinigung aufmerksam machen. Die Mitglieder bestehen aus Leuten, deren Schicksale, was deren Höhepunkt angeht, Ihrem eigenen traurigen Lose gleichen. Ich brauche Ihnen nicht näher zu erklären, was ich unter diesem Höhepunkt verstehe. Ich bin überzeugt, dass Ihre Einsamkeit Sie oft wünschen lässt, in Gegenwart von Schicksalsgenossen über Dinge frei und offen zu sprechen, die Sie sonst nie vor einem Menschen erwähnen dürfen. Bei uns finden Sie Trost, Anregung und Unterstützung. Stoßen Sie sich nicht daran, dass wir für unsere Vereinigung einen etwas sensationellen Namen gewählt haben. Er kennzeichnet ja die besondere Art unserer Mitglieder am besten. Sollten Sie die Neigung haben, sich uns anzuschließen, so geben Sie uns unter der Chiffre K. d. T. in der Berliner Mittagspost kurz Nachricht, und Sie werden dann weiter von uns hören. Ihrer Verschwiegenheit sind wir gewiss. Männer wie wir verraten nichts – schon im eigenen Interesse nicht!
Der Klub der Toten.
Alfons Niemand Zweiter Vorsitzender.
Harst blickte von dem seltsamen Briefe auf und die Gräfin mit einem liebenswürdig-ironischen Lächeln an.
„Ein Scherz wahrscheinlich, Frau Gräfin“, meinte er. „Niemals!“ Das klang ganz so, als ob sie genau wüsste, dass der Klub der Toten existierte. „Niemals ein Scherz, Herr Harst. Ich habe ja in der Berliner Mittagspost, deren Nummern vom Februar ich mir suchte zu verschaffen, drei Anzeigen mit der Chiffre K. d. T. gefunden. Hier sind die drei Anzeigen. Ich habe sie ausgeschnitten, auf Pappe geklebt und neben jede den Tag geschrieben, wo sie war enthalten in der Mittagspost.“
„Das ändert meine Ansicht vielleicht, Frau Gräfin“, sagte Harald nunmehr ganz ernst. „Gestatten Sie ...“ Er nahm ihr den Zettel ab, auf den die drei kleinen Anzeigen geklebt waren.
Die oberste vom 5. Februar lautete:
„K. d. T. – Bin nicht abgeneigt. Bitte Näheres.“ Die zweite vom 10. Februar:
„K. d. T. – Sie sind sehr vorsichtig. Bitte Endgültiges.“ Die dritte vom 16. Februar:
„K. d. T. – Einverstanden. Eid. Komme.“
Haralds schmales, von der Gartenarbeit auf dem Harst‘schen Familiengrundstück leicht gebräuntes Gesicht, hatte sich beim Lesen verändert.
„Was haben Sie noch festgestellt, Frau Gräfin?“, fragte er nun.
„Nichts – nichts! Ich kann auch nichts mehr feststellen, Herr Harst. Ich muss heimkehren heute noch. Aber Sie bitte ich, den Fall zu untersuchen. Auf Geld es nicht kommt an – gar nicht! Geben Sie mir Nachricht in der Mittagspost unter Chiffre H. v. S., wenn Sie haben ermittelt, was dieser Klub hat als Zweck. Hier in diesem Umschlag ist meine Adresse. Ah – leider habe ich noch etwas im Auto vergessen, was ich Ihnen zeigen will. Ich eile es zu holen. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“
Sie ließ auch den Umschlag in Haralds Hand zurück und schritt rasch dem Auto zu – so rasch, dass diese Eile mir etwas verdächtig vorkam.
„Da – der Chauffeur wirft den Motor an,“ sagte Harald neben mir. „Sie wird nicht zurückkehren. Sie will unerkannt entschlüpfen.“
Er hatte den weißen Umschlag aufgerissen, den Inhalt herausgezogen: zehn Tausendkronennoten!! Sonst war nichts darin – nichts – keine Adresse! Nur dieses Vermögen in schwedischen Banknoten! Ich starrte noch auf die Scheine, hörte das Auto davonrattern – hörte den Motor lautlos weiterarbeiten. Der Kraftwagen schoss davon, entführte die Gräfin. Wir hatten von ihr nur den Brief, den Zettel, die Banknoten und den Umschlag als vielverheißende Beweise zurückbehalten, dass diese Begegnung mit der verschleierten kein seltsamer Traum gewesen. „Ich wusste ja: Arbeit!!“, meinte Harald, mit großen klaren Augen dem Auto nachschauend. „Und fraglos eine Arbeit, die besser ist, als Spargelbeete säubern!“ Er lachte froh. „Gräfin Helga, Du heißt weder Helga noch Södergaard, bist auch keine Schwedin. Dein Deutsch war Kunst. Deine Wiege stand vielleicht in Berlin wie die meine. Vorwärts, Alter, zur Redaktion der Mittagspost! Ich muss die Nummern der Zeitung mir ansehen – bis zum heutigen Tage.“
So begann für uns das Geheimnis des Klubs der Toten. *
Am Ringbahnhof Berlin-Schmargendorf fanden wir ein freies Mietauto.
Wir stiegen ein. Es ging dem Zentrum Berlins zu.
„Wir wissen von der Verschleierten herzlich wenig“, sagte Harst, als wir den Kurfürstendamm erreicht hatten. „Der Name ist Schwindel, wahrscheinlich auch, dass sie in einem Pensionat wohnt. Wahrscheinlich auch, dass sie den Brief auf einer Treppe gefunden hat und dass es eine Frau Geheimrat mit vier möblierten Herren gibt.“ - „Was hältst Du von dem
Briefe des angeblichen Klubs?“
Er nahm eine Zigarette. Drei Züge – dann: