Literarische Entdeckungen - Joke Frerichs - E-Book

Literarische Entdeckungen E-Book

Joke Frerichs

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Beschreibung

In diesem Band werden eine Reihe von Autoren vorgestellt, die der Literaturbetrieb weitgehend ignoriert oder schlichtweg vergessen hat (Born; Mickel; Hilbig; Némirovsky; Reimann; Steffens; Wilms). Wir hoffen, dass unsere Texte dazu beitragen, sie wieder stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Bei anderen Werken hat es uns gereizt, sie nach erneuter Lektüre unter ausgewählten Aspekten zu interpretieren; das gilt für "Die Wellen" von Virginia Woolf und für "Klassiker" wie Döblin, Andric und Wassermann sowie die Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns.

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Inhalt

Vorwort

Lion Feuchtwanger: Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis

Ivo Andric: Die Brücke über die Drina

Alfred Döblin: Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende

Hartmut Lange: Die Realitätserfahrung als Schriftsteller

Karl Mickel: Lachmunds Freunde

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius

Ursula Krechel: Landgericht

Irène Némirovsky: Suite française

Günter Steffens: Die Annäherung an das Glück

Rolf Dieter Brinkmann: Schreiben als fiktionaler Aufstand

Nicolas Born: Die Fälschung

Brigitte Reimann: Alles schmeckt nach Abschied

Wolfgang Hilbig: Das Provisorium

Ist Marx wieder aktuell?

Virginia Woolf: Die Wellen

Josef Wilms: Stallgefährte

Angaben zum Autor und zur Autorin

Vorwort

Der vorliegende Band knüpft an die Momentaufnahmen (2010) von Petra Frerichs und die Lesespuren (2011) von Joke und Petra Frerichs an. Hier wie dort geht es uns darum, Zugänge zu literarischen Werken zu eröffnen und eigene Leseerfahrungen zu fixieren.

Auch diesmal sind wir allein unseren subjektiven Vorlieben und Neigungen gefolgt. Dabei stießen wir auf eine Reihe von Autoren, die der Literaturbetrieb weitgehend ignoriert oder schlichtweg vergessen hat (Born; Mickel; Hilbig; Némirovsky; Reimann; Steffens; Wilms). Wir hoffen, dass unsere Texte dazu beitragen, sie wieder stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken.

Bei anderen Werken hat es uns gereizt, sie nach erneuter Lektüre unter ausgewählten Aspekten zu interpretieren; das gilt insbesondere für Die Wellen von Virginia Woolf; „Klassiker“ wie Döblin, Feuchtwanger, Andric oder Wassermann, der mit seinem Thema Recht und Gerechtigkeit zum Vergleich mit dem neueren Buch von Krechel (Landgericht) reizt, sowie die Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns.

Ganz überwiegend folgen wir bei unseren Textinterpretationen allein unseren individuellen Leseeindrücken; diese möchten wir möglichst unverstellt dem Leser vermitteln; d.h.: wir orientieren uns nicht an den Aktualitätserfordernissen und Vorlieben des Feuilletons. Dagegen zitieren wir ausführlich aus den Originalquellen; das mag dazu anregen, sich selbst mit diesen zu beschäftigen. Insofern wünschen wir uns, dass unser Buch zum Lesen motiviert.

Lion Feuchtwanger: Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis

Der Roman über den großen spanischen Maler, der erstmalig 1951 erschienen ist, beginnt mit den Sätzen: Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts war fast überall in Westeuropa das Mittelalter ausgetilgt. Auf der Iberischen Halbinsel, die auf drei Seiten vom Meer, auf der vierten von Bergen abgeschlossen ist, dauerte es fort.

Damit führt uns Feuchtwanger in das Zeitalter der unheiligen Allianz von Königtum und Kirche, Thron und Altar, die mit strengster Disziplin wie brutaler Unterdrückung der Bevölkerung aufrecht erhalten wurde – das Zeitalter der Inquisition und des Absolutismus, das unzählige Menschenopfer forderte und unter der besonders auch die Kunstund Kulturschaffenden zu leiden hatten.

Einer von ihnen war der Maler Francisco de Goya, dessen bewegte Lebensgeschichte hier erzählt wird. Es handelt sich um eine Künstlerbiographie mit romanhafter, fiktionaler Ausschmückung, zugleich ist es ein kritischer Gesellschaftsroman, in dem dem Adel und der Kirche der Spiegel vorgehalten wird. Im Zentrum steht Goya, so wie ihn Feuchtwanger kreiert hat:

Ein Mann aus dem Volke mit bäuerlicher Herkunft (real kommt Goya aus einer Handwerkerfamilie) nimmt mit seiner Kunst den rasanten Aufstieg bis zum Ersten Hofmaler im Hause des Königs Carlos des Vierten und der gewichtigen Königin Maria Luisa. Er erfährt auf dem Gipfel seiner Karriere viel Anerkennung (der ganze Hofstaat wollte sich von ihm portraitieren lassen), hat sogar einen gewissen Einfluss auf den Kunstgeschmack der Herrschenden, muss aber stets auf der Hut sein, mit seinen innovativen Maltechniken und Sujets nicht der Ketzerei angeklagt zu werden. Ein Künstler, den eine unsterbliche Liebe zur Herzogin von Alba, der Cayetana, verbindet (im Roman, real war das Verhältnis nie geklärt), die erst zum großen Glück und dann zu Verstoß und Demütigung, zum großen Unglück führt, eine Hassliebe, die nur mit dem Tod der Alba enden kann, weil enden muss. Einer, den eine lebenslange künstlerische wie menschliche Beziehung zu seinem Gehilfen Agustin verbindet, auf dessen Kunstverstand und unbestechliches Urteil er sich stets verlassen kann, auch wenn es schmerzt und dem Untergebenen „eigentlich“ nicht zusteht, dem Freundfeind. Einer schließlich, der in Taubheit verfällt, als wäre es eine soziale Krankheit, nichts mehr hören zu können und nur noch malend zu denken. Goya kommt bis zum Romanende davon – der Großinquisitor und seine Schwergen haben zwar stets und ständig ein Auge auf ihn geworfen, doch im realen Leben bleibt ihm später nur die Emigration nach Frankreich, um zu überleben und das malerische Werk fortzuführen. Feuchtwanger hatte vor, einen zweiten Roman über diese Zeit im Exil zu schreiben, doch darüber starb er.

Aus dem umfangreichen Opus mit seinen vielen Facetten möchte ich einige Aspekte auswählen, die mir besonders aussagekräftig für Goyas Kunstverständnis vorkommen, angefangen mit dem Sichtbaren und dem Verborgenen in der Kunst. Was macht das Wesentliche an oder in einem Bild aus? Am Beispiel des Portraits der Hofdame Dona Lucia Bermudez wird dies deutlich: Goya stellt selbst fest, dass auf dem Gemälde alles da war, und doch war nichts da, worauf es wirklich ankam, was fehlte, war alles; das, was sich durch Arbeit nicht erzwingen ließ, worauf man zu achten hatte. Dies zu beurteilen, ist nur ganz wenigen vorbehalten, allen voran seinem Gehilfen Agustin, über den, als Goya die Lösung endlich gefunden hatte, es heißt: Er schaute lange. Räusperte sich. ‚Das ist es, Don Francisco‘, sagte er schließlich heiser. ‚Jetzt haben Sie es. Jetzt haben Sie die Luft und das Licht. Jetzt hast Du Dein richtiges Grau, Francisco.‘ Goya strahlte knabenhaft über das ganze Gesicht. ‚Ist das Dein Ernst, Agustin?‘ fragte er und legte ihm den Arm um die Schulter. ‚Ich scherze selten‘, sagte Agustin.

Ein schönes Beispiel für das Verhältnis von Gehilfe und Meister, in dem es nicht um künstlerische Details der Ausschmückung oder ähnliches geht, sondern um das Ganze, um die Stimmigkeit einer Komposition, ob Luft, Licht oder ein bestimmtes Grau, so dass die Dame auch wirklich getroffen scheint. Der seltene Fall von künstlerischer Übereinstimmung, wie er hier gegeben ist, legt eher ein partner- oder freundschaftliches Verhältnis auf Augenhöhe nahe; es ist auch so zwischen den Beiden, doch spielt immer auch ein hierarchisches hinein, das aus der Differenz der sozialen Stellung und der Meisterschaft Goya herrührt, die Agustin respektiert und anerkennt. Daher auch sein Wechsel von Sie und Du bei der Anrede. Situativ ist die eine oder andere Form angemessen.

Dass es zwischen Goya und Agustin mitunter zu heftigen Auseinandersetzungen kommt, wird beim Thema Kunst und Politik deutlich. Beeinflusst von einer Diskussion, wie sie im (nach-) revolutionären Frankreich geführt wird, befürwortet der Gehilfe die politische Stellungnahme von Künstlern, die sich auch in ihren Werken abzuzeichnen hätte; damit holt er sich beim Meister aber nur Hohn und Spott ein. Agustin wirft Goya vor, feig neutral zu bleiben und aus Angst vor einem Reputationsverlust keine Meinung zu zeigen, was den Wert seiner Bilder schmälere.

‚Halt’s Maul, du trauriger Hanswurst!‘ befahl er gefährlich leise. – ‚Ich denke nicht daran‘, antwortete Agustin. ‚Da kleckst und schmierst du deine zehn Stunden am Tag und bist stolz auf deinen Fleiß und deine vielen hundert Bilder. Ich sage dir, du bist faul, leichtsinnig, lasterhaft, schlampig. Du weichst aus, du bist feig, du verdienst deine Begabung nicht.‘

Interessant an diesem heftigen Disput ist, dass das Politische in der Argumentation Agustins inzwischen in den Hintergrund getreten ist – zugunsten des Vorwurfs, künstlerisch in den alten Schlendrian (Portraits, die den Auftraggeber schmeicheln etwa) verfallen zu sein, statt an die Entdeckung des Neuen (festgemacht am Portrait der Dona Lucia) anzuknüpfen und dieses weiterzutreiben. Und dann kommt der Gehilfe mit seiner schonungslosen Kritik auf den Kern des Problems: ‚Und warum versagst du so jämmerlich? Weil du stinkend faul bist. Weil du dich nicht konzentrieren willst. Weil du zu geil bist, um dich zu konzentrieren. Eine Schande. Que verguenza! Weil du auf eine Frau wartest, die dir nicht gleich ja sagt, und die es wahrscheinlich nicht wert ist, daß du wartest.‘

Und Goya weiß, dass Agustin recht hat. Nur nach außen entrüstet er sich über die Respektlosigkeit des Gehilfen, doch im Innern ist ihm klar, dass seine Liebe zur Herzogin von Alba ihn daran hindert, mit aller Kraft das Neue und damit die Wahrheit, die wahre Aussage in seine Kunstwerke zu bringen.

Ein Thema, das sich durch den gesamten Roman zieht, ist das Echte und das Unechte, nur Gespielte. Festgemacht wird es an den Majas und Majos, den jungen Leuten aus dem Volke, das schlaue, nie verzagte, immer lustige, lebenstüchtige Gesindel der unteren Klassen, und den Hofdamen mit ihren Puppengesichtern und Masken und Verkleidungen, die beim Tanz wie Majas sein wollen, sie aber nur spielen, weil sie sie gar nicht verkörpern können. Goya, der sich selbst als Majo sieht und zu seiner bäuerlichen Herkunft steht, hat nur Verachtung für diese Verlogenheit und Verfälschung übrig. In der Kunst allerdings steckt hierin ein zentrales Problem, nämlich die Aufgabe, das Maskenhafte, Unechte zu durchdringen, um in den Portraits Wahrhaftigkeit und Wesentlichkeit auszudrücken.

Eine große Herausforderung war die Portrai-tierung der Cayetana. Sie verlangte, dass er sie als Maja darstellt, doch dieses Ansinnen musste er zurückweisen. Nicht nur, weil sie keine Maja war, sondern aufgrund ihrer vielen verschiedenen Gesichter. Ihre Wandlungen erfolgten jäh, und was sie war, war sie ganz. Sie hatte viele Gesichter, er sah die vielen, das letzte unter den vielen sah er nicht. Es war da, er spürte es, wußte es, doch fand er nicht das Einheitliche, Verbindende hinter den hoffnungslos verschiedenen Masken.

Auf der Suche nach dem Unsichtbaren hinter der Fassade der Alba blieb Goya, jedenfalls im Roman, trotz zahlloser Versuche ein Leben lang erfolglos. Vielleicht war es die zu große Nähe zu seinem Modell und die emotionale Aufladung, die ihm dies versagten.

Nicht so beim Gruppenbild der Königsfamilie, das unter dem Titel Die Familie Carlos‘ des Vierten bekannt ist. Hatte Goya sich bei Vorstudien wie etwa dem Portrait der Königin zu Pferde noch schwergetan aufgrund einer tiefen Verstrickung aus Verehrung und Abhängigkeit (die ihm wiederum heftige Kritik seitens Agustin eintrug), so gelingt ihm beim großformatigen Gruppenbild einfach alles: von der räumlichen Aufstellung der 13 Familienmitglieder über deren Kostümierung (auf sein Geheiß hin) bis zum Licht und zu den Farben sowie zur Platzierung seiner selbst in einem versteckten Winkel des Gemäldes, aber mit deutlichem Blick zum Betrachter hin. Nach Vollendung des Werkes war Goya erschöpft, glücklich. Nun war, was er gesehen hatte, Gestalt geworden, er konnte es nicht mehr verlieren.

Was war geschehen, das seinen Blick, sein Sehen verändert hatte und die malerische Umsetzung dieses Blicks gelingen konnte? Darauf wird zurückzukommen sein.

Noch mitten im Schaffensprozess sucht der Meister anhand von Entwürfen und Skizzen das Gespräch mit seinem Gehilfen; er fühlt sich bemüßigt, ihm sein Vorhaben zu erläutern:

‚Ich will nichts konstruieren‘, sagte er. ‚Ich will‘s nicht wie Velasquez machen, keine vertrackte Anekdote, verstehst du. Ich stell diese Menschen einfach hin, simpel, kindlich.‘ Er spürte, Worte, vor allem seine Worte, waren zu ungefüg und plump für das Delikate und Komplizierte, was er auseinanderzusetzen trachtete, aber es zwang ihn weiterzureden. ‚Das Einzelne muß natürlich ganz deutlich werden, dabei darf man es überhaupt nicht sehen. Nur die Gesichter müssen auf einen herschauen, hart, wirklich, genau, wie sie sind. Und dahinter ist es dunkel … Siehst du, was ich machen will? Verstehst du’s?‘

‚Ich bin doch kein Trottel‘, antwortete Agustin. Und mit stillem, ruhigem Triumpf sagte er: ‚Hombre! Das wird wirklich etwas ganz Großes. Und etwas ganz Neues. Francho, Francho, was bist du für ein Maler!‘

Die Freude, die Agustin angesichts dieses großen Werkes empfindet, geht auch auf seinen Anteil daran zurück; mit unbestechlichem Blick und messerscharfer Kritik hatte er auf Goya eingewirkt, um dessen wahres Können herauszufordern. In diesem Bild sieht er die Früchte seines Bemühens aufgehen. Das folgende Zitat kann in diesem Kontext als Schlüsselstelle des Romans gelesen werden:

Noch eines erkannte jetzt mit tiefer Freude Agustin, daß nämlich ‚Die Familie Carlos‘ des Vierten‘ ein politisches Bild wurde. Allein er hütete sich, diese Erkenntnis laut werden zu lassen. Denn natürlich dachte Francisco nicht daran, ‚Politik‘ zu machen. Er glaubte an das absolute Königtum, er spürte Sympathie für diesen gutmütigen, von seiner Würde erfüllten Monarchen und für diese Dona Maria Luisa, die sich aus dem Kuchen Welt mit unersättlichem Appetit ihr ungeheures Teil herausschnitt. Aber die wüsten Ereignisse, die Spanien heimsuchten, die zerschlagenen Schiffe, der ausgeplünderte Staatsschatz, die Schwäche und Arroganz der Königin, das Elend des Volkes, das alles war, während er malte, in Goyas Hirn, ob er’s wollte oder nicht. Und gerade, weil er keinen Haß malte, sprang aus dem stolzen Leuchten der Uniformen, Orden und Juwelen, aus dem Gefunkel all dieser Attribute des gottbegnadeten Königtums, die armselige Menschlichkeit der Träger dieses Königtums einem jeden mit nackter, brutaler Sachlichkeit ins Auge.

Die Wandlungen, die in Goya und seiner Kunst vorgehen, rühren aus seiner Zeitzeugenschaft gegenüber den hier skizzierten politischen Ereignissen ebenso wie aus persönlichen Erfahrungen und Schicksalsschlägen (Tod seiner kleinen Tochter, Gehörverlust etc.). Tiefe Spuren hinterlässt die (aufgrund einer Einladung durch den Großinquisitor praktisch erzwungene) Teilnahme an einem sogenannten Autodafé, einem Verhör vor dem Heiligen Tribunal der Inquisition, auf welchem der Angeklagte der Ketzerei überführt werden soll. Davon seinem Vertrauten zu erzählen, fällt ihm schwer:

Goya schwieg. Er fand die Worte nicht. Was er erlebt hatte, war zu verwickelt. Er hatte mehr gesehen als den Jammer des Olavide und den brutalen Fanatismus seiner Richter. Er hatte Dämonen gesehen, die um die Richter, Ketzer, Gäste flogen, krochen, kauerten, jene bösen Geister, die immer um einen waren, und er hatte ihre fratzenhafte Freude gesehen. Und das Unerklärliche an diesem makaberen Schauspiel, diesem Gemisch aus häßlicher Wirklichkeit des Verhörs und visionärer Verzerrung desselben durch Ungeheuer und böse Geister, war, dass er sich bei allem Mitleid mit dem Opfer der Freude der Dämonen mitgefreut hatte. Diesen Wirrwarr aber, diese verfilzten alten und neuen Gesichte und Gefühle, konnte man nicht in Worten aussagen. – Malen konnte man sie.

Dies ist die Geburtsstunde der berühmten Caprichos, deren berühmtestes den Titel: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer trägt.

Goya hatte bereits in früheren Schaffensperioden immer mal wieder Zeichnungen angefertigt, in denen er nicht nur seine eigenen Seelenqualen, sondern auch soziale Schieflagen, Mißstände, Häßliches mittels Tierköpfen, Fratzen, eben Ungeheuern zum Ausdruck brachte. Diese Bilder, die er anfangs Satiren nannte, erregten sofort die Aufmerksamkeit seiner Umgebung, allen voran Agustins, der auch sofort den inneren Zusammenhang erkannte: sie sind von sparsamer Fülle, das Grausige, Dumpfe, Dunkle wirkt heiter wie die spanische Freude. Und selbst der Kirchenfürst sieht in dem Bild namens Inquisition nicht Ketzerei, sondern den wohltätigen Schrecken bestätigt, den das Heilige Offizium anstrebt.

Später dann zeichnet Goya seine Caprichos in größerer Zahl, als Serie oder Reihe. Sie entstehen aus tiefer Verzweiflung und sind ein Mittel, damit umzugehen. Das folgende Zitat trägt die Umstände und Gefühlslagen des Malers zusammen und gilt auch als stilistisches Beispiel; es ist in Versform gehalten, so wie Feuchtwanger jedes Kapitel in dieser Form abschließt:

So jetzt zeichnet Goya Tag für

Tag. Wirft hin, was durch den Sinn ihm

Geht. Läßt seinen Träumen freien

Lauf. Läßt sie heraus aus seinem

Kopfe kriechen, fliegen, die Dä-Monen,

die Gespenster, ratten-

Schwänzig, hundsgesichtig,

kröten-Mäulig, Cayetana immer

Unter ihnen. Zeichnet sie mit

Wüt’ger Inbrunst, hält sie fest, es

Ist ihm Qual und Lust, sie so zu

Zeichnen, ist ein beßrer Wahn, fast

Lustig, nicht so tierisch schmerzhaft

Wie der Wahn, der ihm die Brust und

Ihm den Kopf zerdrückt, wenn er nur

Sitzt und denkt und wird nicht fertig

Mit dem Denken. Nein, solang er

Zeichnet, darf er närrisch sein. Es

Ist hellsicht’ger Wahn, er freut sich

Seiner, er genießt ihn. Und er Zeichnet.

Agustin, der den künstlerischen Wert dieser Bilder sofort erkennt (Das ist deine richtige Kunst) und sie als Offenbarung feiert, hatte ein neues Druckverfahren entwickelt, mittels dessen nicht nur die leichtere und präzisere Vervielfältigung, sondern zudem eine nie dagewesene Tönung, eine neue Form möglich war, die die Zeichnungen noch reicher, schärfer, bösartiger machte. Erkannt hatte der Gehilfe auch die politische Sprengkraft der Caprichos: Diese Blätter waren gefährlich, auf den Tod, denn alle werden und müssen sie verstehen, sie sind Idioma Universal.

Auch in seinem näheren Umfeld erfährt Goya Bestätigung und Anerkennung für seine Bilder. Die von ihm portraitierte Dona Lucia etwa bemerkt: ‚Ich glaubte … ich hätte das Gesindel durchschaut. Aber erst Sie machen einen richtig sehen, wie schauerlich Dummheit und Gemeinheit ineinandergehen.‘ Sie schüttelte sich.

Und der Abate, selbst ein von der Inquisition Verfolgter und Gebrochener (Goya sieht ihn als Toten), bemerkt: ‚Das sollen sechsundsiebzig Zeichnungen sein? Es sind tausend! Es ist die ganze Welt! Es ist die ganze spanische Größe und das ganze spanische Elend!‘ Und Goya erkennt in dieser Situation: Diese Caprichos waren die Rache aller Getretenen, die Rache auch des Abate; auch er schrie in den Caprichos den frechen Mächtigen seinen Haß und seine Verachtung ins Gesicht.

Idioma Universal – das sind Zeichen oder Ausdrucksformen von allgemeiner Gültigkeit und Verständlichkeit, ein jeder, ob aus dem Volke oder den Machteliten, kann sich in den Caprichos wiedererkennen, kann sie verstehen und deuten. Und das macht sie so gefährlich, wie Agustin erkannt hat. Im Freundeskreis um Goya wird hitzig über die Veröffentlichung des Zyklus diskutiert; im Angesicht der Gefahr der Konfiszierung durch die Inquisition kommt der Maler selbst auf den listigen Einfall, die Mappe dem Königspaar als Geschenk zu überreichen und damit die eigene Haut zu retten. Zudem verspricht er sich davon, dass es der Verbreitung und dem Absatz der Drucke förderlich sein könnte.

Der historische Roman, in dem Lion Feuchtwanger auch darum bemüht ist, die Sprache des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu adaptieren, zeichnet mit drastischem Realismus ein lebendiges Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse in Spanien, der Monarchie und des Klerus anhand ihrer Repräsentanten (neben der Königsfamilie beispielhaft ausgewählte Adlige), deren Sinnen und Trachten voller Hinterlist und Intrigen steckt. Eine Künstlerbiografie, die so lebensnah und voller Empathie geschrieben ist, dass man sich beim Lesen in das Geschehen hineinversetzen kann. Und die einem reichliches Kunstverständnis über das Ringen um Licht, Form und Farbe beibringt. (PF)

Ivo Andric: Die Brücke über die Drina. Eine Chronik aus Visegrad

Ivo Andric hatte nach Ende des 2. Weltkriegs mit diesem Roman ein Meisterwerk vorgelegt, wofür ihm 1961 der Literatur-Nobelpreis verliehen worden ist. Die Geschichte dieser Brücke, die im 16. Jahrhundert an dem bosnisch-serbischen Grenzort Visegrad errichtet wurde, bildet die Geschichte der Völker auf dem Balkan ab, die sich entweder bekriegen oder friedlich nebeneinander, wenn nicht zusammen leben. Sie trennt und verbindet zugleich den Orient und den Okzident. Muslime, Christen, Juden; Bosnier, Herzegowiener, Serben, Türken, die österreichisch-ungarische Okkupationsmacht, die der türkischen folgte; eine jede Gruppe lebt in ihren eigenen Traditionen und Gewohnheiten, pflegt die eigenen Mythen, erlebt die Industrialisierung und Modernisierung anders als die anderen.

Die Stärke des Romans liegt unter anderem darin, dass die Vielvölkerschaft über die Epochen hinweg anhand von Personen typisiert wird, ohne dabei grobschlächtig auszufallen. Denn auch die individuellen Schwächen und Stärken, die nicht zu verallgemeinern sind, kommen wunderbar zur Geltung; bis in die Gefühlslagen leuchtet der Autor seine „Helden“ und „Heldinnen“ aus.

Die Brücke ist mehr als ein prächtiges Bauwerk, sie ist Symbol – der Verbindung, der Trennung, der Machtdemonstration, der eingemauerten Grausamkeiten, der Fremdbestimmung; aber auch der Liebe, des Zusammentreffens der Verschiedenen und Gleichen, der Verständigung und Verbrüderung. Dieses Symbol wird am Schluss des Romans in die Luft gesprengt – die Wirren des Ersten Weltkriegs hinterlassen auch am Rande des Geschehens ihre grausame Spur.

Recht eigentlich ist die Brücke die Hauptfigur des Romans, denn hier auf der „Kapija als Krone in der Mitte“ spielt sich das Leben der Menschen über die Jahrhunderte hinweg ab; hier sitzt man auf dem steinernen „Sofa“ und redet, trinkt, streitet, handelt miteinander; hier hängen die Verkündigungen der Machthaber, die vorschreiben, wie sich das Volk zu verhalten habe; hier werden die abgeschlagenen Köpfe von Aufständischen aufgespießt, um den Menschen Schrecken und Angst einzujagen. Die Brücke verkörpert mit ihrer baulichen Gestalt, den sieben Bögen und Pfeilern, Schönheit und Stabilität, aber auch Gewalt und Schrecken; ihre Entstehung beruht auf Fronarbeit und brutaler Ausbeutung armer Bauern, die sich in ihrer Not versuchten zu widersetzen: die Mutigsten unter ihnen zerstörten Nacht für Nacht das Tagwerk ihrer blutigen Arbeit, um für bessere Bedingungen zu streiten; als die Sabotage aufflog, wurden zwei Bauern öffentlich gehängt und einer grausamst gepfählt. Von Foltermethoden wie diesen kann die Brücke ebenso Zeugnis ablegen wie von Mythen und Legenden, etwa dergestalt, dass zum Gelingen des Bauwerks ein Zwillingspaar im Säuglingsalter in einen der Hauptpfeiler lebendig eingemauert worden sei.

Anhand von ausgewählten Zitaten soll neben der inhaltlichen Aussage vor allen auch der besondere Sprachstil und die Erzählweise des Autors dokumentiert werden. Er schafft damit eine Atmosphäre des Verstehens und der Verständigung, die stets nah an den Menschen in ihrer Zeit und ihrem Kulturraum ist und ihre Verhaltensweisen zu begründen vermag. Wie in Wellen kommen die Veränderungen in der Zeit auf die Menschen diesseits und jenseits der Brücke bzw. der Drina zu, die Unbill und Störungen in ihren eingefleischten Gewohnheiten verursachen; Neues (aufgrund von Zivilisation, Kolonisierung, Industrialisierung) setzt sich auf die Traditionen und bringt u.a. Geld, Wirtschaft, Politik, Bildung, die Eisenbahn und neue Formen der Herrschaft in die abgelegene Region.

Noch vor den Modernisierungsschüben, angestoßen und aufgezwängt durch das K und K-Regime, ist von einem Aufstand in Serbien die Rede, der sich in Form von nächtlichen Feuern über dem Land bis nach Visegrad bemerkbar macht. Als die Feuer endlich erloschen waren und der Aufstand niedergeschlagen, charakterisiert Andric die Gefühlslage der Serben wie folgt:

Die Serben waren … nach dem Verschwinden der Feuer auf dem Panos betrübt und enttäuscht, aber auf dem Grunde ihrer Seele, jenem wahren und letzten Grunde, der sich niemandem offenbart, blieb die Erinnerung an das Vergangene und das Bewusstsein, dass immer wiederkommen könne, was einmal gewesen war; es blieb ihnen auch die Hoffnung, die unsinnige Hoffnung, dieses große Vorrecht der Unterdrückten. Denn diejenigen, die da herrschen und unterdrücken müssen, um zu herrschen, sind gezwungen, vernünftig zu handeln; überschreiten sie aber, mitgerissen von ihrer Leidenschaft oder getrieben vom Gegner, die Grenzen des vernünftigen Verhaltens, so geraten sie auf einen abschüssigen Pfad und läuten damit selbst den Anfang ihres Untergangs ein. Dagegen bedienen sich die Unterdrückten und Ausgebeuteten leicht der Vernunft wie der Unvernunft, denn dies sind nur zwei verschiedene Waffen im ständigen, bald heimlichen, bald offenen Kampf gegen den Unterdrücker.

Hieran zeigt sich auch das politische Denken des Autors, wenn er mit einer Theorie von Herrschaft und Unterdrückung aufwartet, die bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt, so auch im Fall der Serben. Für deren historisches Los als unterdrücktes Volk, ihren Kampf gegen Fremdherrschaft, bringt er nicht nur Verständnis auf, sondern versetzt sich in ihre Lage, und zwar von einem aufgeklärten Standpunkt als auktorialer Erzähler aus.

Die Schönheit der Landschaft und der Natur, von der Brücke aus betrachtet, findet in diesem Zitat ihren würdigen Ausdruck:

Die steinernen Balkone strahlten noch die Hitze des Tages ab, doch vom Wasser her meldete sich mit der Dämmerung schon ein kühler Luftzug. Der Fluss glitzerte in der Mitte, war aber unter den Weiden an den Ufern schattig und dunkelgrün. Alle Gipfel ringsum waren in das Rot des Sonnenuntergangs getaucht, nur die einen in ein glühendes und die anderen in ein kaum merkliches. Über ihnen, auf der ganzen westlichen Hälfte des Amphitheaters, das sich dem Blick von der Kapija öffnete, wechselten die Sommerwolken unaufhörlich ihre Farbe. Diese Wolken waren eines der großen Schauspiele, die die Kapija im Sommer bot. Sobald es tagte und die Sonne herauskam, tauchten sie hinter den Bergen auf, dichte, weiße, silbrige oder graue Massen, phantastische Landschaften, unregelmäßige und zahlreiche Kuppeln prächtiger Bauten. Und wenn sie einen gewissen Umfang angenommen hatten, blieben sie den ganzen Tag unbeweglich und schwer, über den Gipfeln um die Stadt, die in der Sonne glühte, hängen. Und die Türken, die an einem solchen Abend auf der Kapija saßen, hatten diese Wolken wie weiße, seidene Sultanzelte vor Augen, die in ihrer Phantasie Szenen des Krieges und nebelhafter Feldzüge hervorriefen sowie Bilder von einer seltsamen, unmäßigen Kraft und Pracht. Erst in der Dunkelheit verzogen und zerstreuten sich die Sommerwolken um die Stadt, und am Himmel wurden mit den Sternen und dem Mondschein neue Zauber sichtbar.

Auch hier verknüpft Andric die schönste Naturschilderung mit einem Sprengsel des Politischen – und seien es auch nur die Phantasien der Türken von Macht, Pracht und Kraft beim Anblick wundersamer Wolkengebilde.

Diese harmonische Stille wird durch den feierlichen Einzug der österreichischen Truppen gebrochen, dem ein heftiger Kanonenbeschuss durch die Okkupanten vorausgegangen war, und die Menschen verfallen zunächst in eine Art Schockstarre.

Seit Menschengedenken hat nie eine solche Ruhe über der Stadt gelegen. Die Läden wurden gar nicht geöffnet. Die Fenster und Türen der Häuser waren geschlossen, obwohl es ein sonniger und heißer Tag gegen Ende August war. Die Gassen verödet, Höfe und Gärten wie ausgestorben. In den türkischen Häusern Niedergeschlagenheit und Verwirrung, in den christlichen Vorsicht und Misstrauen. Überall aber und bei allen Angst. Die einrückenden Schwaben hatten Angst vor einem Hinterhalt. Die Türken hatten Angst vor den Schwaben, die Serben vor den Schwaben und den Türken. Die Juden hatten vor allem und vor jedem Angst, denn besonders in Kriegszeiten war jeder stärker als sie. Allen dröhnte noch das gestrige Kanonenfeuer in den Ohren. Und wären die Menschen nur ihrer eigenen Angst gefolgt, dann hätte keine Menschenseele an diesem Tag auch nur den Kopf aus dem Haus herausgestreckt.

Mit dem Einmarsch der „Schwaben“, also der österreichischen Truppen im Jahr 1878, dem der Rückzug der Türken aus dem Balkan vorausgegangen war, beginnt eine neue Zeit für die Menschen in Visegrad. Die neue Besatzungsmacht versetzt sie alle in Schrecken und Angst, jedoch jede ethnische Gruppe verschieden: aus unterschiedlichen Gründen und Motiven aufgrund von unterschiedlichen historischen Erfahrungen hegen sie ihre ureigenen Ängste. Allerdings bringen diese „Schwaben“ durch ihr unermüdliches Streben gewaltige Veränderungen in die Stadt; sie leiten den „Fortschritt“ ein, was bei den Einheimischen auf Staunen, Unverständnis und Misstrauen stößt.

Die alten Stadtbewohner fanden sich nicht mehr zurecht und kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und gerade, wenn sie glaubten, das Ende dieses unverständlichen Eifers sei gekommen, begannen die Fremden mit einer neuen, noch unverständlicheren Arbeit. Die Städter blieben stehen und betrachteten diese Arbeiten, aber nicht, wie Kinder gern den Arbeiten der Erwachsenen zuschauen, sondern umgekehrt, wie Erwachsene einen Augenblick stehenbleiben, um Kindern beim Spielen zuzusehen. Denn dieses ständige Bedürfnis der Fremden, zu bauen und abzureißen, zu graben und zu mauern, aufzurichten und umzugestalten, ihr ewiges Streben, die Wirkung der Naturkräfte vorauszusehen, um sie zu vermeiden oder zu steuern, verstand und schätze hier niemand. Im Gegenteil, alle Stadtbewohner und besonders die älteren Leute, sahen darin eine ungesunde Erscheinung und ein böses Zeichen. Wäre es nach ihnen gegangen, hätte die Stadt ausgesehen wie alle orientalischen Städte. Was gerissen wäre, hätte man geflickt, was sich geneigt hätte, abgestützt, aber vorbeugend und darüber hinaus hätte sich niemand ohne Notwendigkeit und mit einem Plan Arbeit gemacht, an die Fundamente der Gebäude gerührt und das gottgegebene Aussehen der Stadt verändert.

Die Österreicher sind nicht nur die neuen Herrscher, sie verkörpern auch eine den Einheimischen , vor allem den Älteren unter ihnen, fremde Kultur: die westliche, die von Fleiß und Planmäßigkeit des Handelns, Emsigkeit und vorausschauendem Tun geprägt ist und so gar nicht den alten orientalischen Gepflogenheiten, allen voran ihrer Trägheit, entspricht. Mit feiner Ironie versteht es Andric, auf diesen gewaltigen Unterschied aufmerksam zu machen.

Und so zieht der „Fortschritt“ in nahezu jeglichen hergebrachten Lebensraum ein und schafft neue Institutionen (wie Schulen und Bildung, Verwaltung und Politik, Geld und Wirtschaft, Staat und Machtstrukturen). Andric macht Visegrad zu einem Mikrokosmos der kapitalistischen Industrialisierung und des sozioökonomischen Wandels, der sich auf die überkommenen Lebensformen setzt und diese untergräbt. Besonders plastisch stellt er die neuen Herrschaftsformen dar, die zivilisierter und nahezu vornehm daherkommen gegenüber der rohen Gewalt früherer Zeiten, die sich aber als umso wirkungsvoller erweisen:

An die neue Existenz waren nicht weniger Einschränkungen und Zwänge geknüpft als an die alte unter den Türken, nur war sie leichter und menschlicher, und diese Einschränkungen und Zwänge waren den Menschen jetzt aus der Ferne und mit einer solchen Geschicklichkeit auferlegt, dass sie der einzelne nicht unmittelbar fühlte. Daher erschien es jedem, als wäre es um ihn plötzlich weiter und luftiger, vielfältiger und reicher geworden.

Dem neuen Staat mit seinem guten Verwaltungsapparat gelang es, auf schmerzlose Art, ohne Gewalt und Erschütterung, die Steuern und Abgaben aus dem Volk zu pressen, die ihm die türkische Herrschaft mit unvernünftigen, groben Methoden oder glattem Raub abgenommen hatte, und zwar nicht nur genauso viel, sondern mehr, nur noch schneller und sicherer.

Man ist an Bertolt Brechts Dreigroschenroman erinnert, wenn man Stellen wie diese bei Andric liest. Sinngemäß heißt es bei Brecht: Was ist der Einbruch in eine Bank gegen ihren Besitz? Was ist der Dietrich gegen eine Aktie? Der „Fortschritt“ geht mit einer enormen Steigerung der Effizienz einher, ob in der Wirtschaft oder im Staatswesen, und die Bürger erfahren die Staatsgewalt ganz ohne Schmerz; die Steuerpflicht, der sie unterliegen, wird nicht als Zwang und Gewalt wahrgenommen, sondern als anonyme und abstrakte Ordnung, die sie nicht durchschauen. In Visegrad entsteht eine Klassengesellschaft, in der auch die Formen des Reichtums sich gewandelt haben:

Auch früher hatte es Geld und reiche Leute gegeben, aber das waren nur wenige Menschen, und sie verbargen ihr Geld wie die Schlange ihre Füße und trugen ihr Herrentum nur als Zeichen von Macht und Mittel der Verteidigung zur Schau, schwer für sie selbst wie für ihre Umgebung. Jetzt aber war der Reichtum, oder was man als solchen ansah und so bezeichnete, öffentlich und zeigte sich immer mehr in Form von Genuss und persönlicher Befriedigung; und daher fiel für die meisten Leute etwas von seinem Glanz oder seinen Abfällen ab.

Was anfangs vielleicht noch als Wohlstand für alle erschien, nur mit graduellen Unterschieden, entpuppte sich im Laufe der Jahre als soziale Differenzierung, die zu erheblichen Ungleichheiten führte. Andric nennt das Wettrennen ums Geld ein riskantes „Spiel“, dessen Regeln niemand durchschaute:

Es war ein verrücktes und heimtückisches Spiel, das einer wachsenden Zahl von Menschen das Leben immer häufiger versauerte, gegen das man aber nichts ausrichten konnte, denn es kam von irgendwo her aus der Ferne, aus jenen unergründbaren und unbekannten Quellen, aus denen auch die Segnungen der ersten Jahre gekommen waren. Und viele Bürger, die vor fünfzehn, zwanzig Jahren, unmittelbar nach dem Einmarsch reich geworden waren, waren jetzt arme Leute, und ihre Söhne arbeiteten für andere. Es gab allerdings neue Leute, die es zu etwas gebracht hatten, aber auch in ihren Händen zerrann das Geld wie Quecksilber, wie durch eine Zauberformel, nach der man leicht mit leeren Taschen und ohne Ehre dastehen konnte. Immer deutlicher zeigte sich, dass der Verdienst und das leichtere Leben, das er brachte, auch seine Schattenseiten hatten, dass das Geld und der es besaß nur der Einsatz in einem großen und unberechenbaren Spiel waren, dessen Regeln niemand vollständig beherrschte und dessen Ausgang niemand voraussehen konnte. Und nichtsahnend spielten wir alle in diesem Spiel mit, der eine mit kleinerem, der andere mit größerem Einsatz, aber alle mit ständigem Risiko.

Wenn die Visegrader schon die Mechanismen von Lohnarbeit, Eigentum, Reichtum, sozialem Aufund Abstieg, die modernen Formen der Ausbeutung und Verarmung nicht begreifen konnten, wie sollten sie dann den Kapitalismus verstehen, über den Generationen von Ökonomen, allen voran Karl Marx, nachgedacht haben? Und was würden sie erst zu den neuen Formen des Kasino-Kapitalismus sagen, die nur noch auf Spekulationsgewinnen basieren, also zu dem besagten Spiel auf globaler Ebene?

Ivo Andric hat mit seinem Roman in historischer Perspektive die Konfliktlinien einer ganzen Region (des Balkans) zwischen den vielen Völkern und unter den verschiedenen Besatzungsmächten (der osmanischen und der habsburgischen) in einer wunderschönen Sprache ausgemalt und verständlich gemacht. Mit Blick auf die letzten kriegerischen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre, nach denen der Staat Jugoslawien zerfallen war, verhilft das Buch zu mehr interkulturellem Verständnis und ist deshalb von bleibendem Wert. (PF)

(Ersterscheinung im Original 1945, in deutscher Sprache 1953)

Alfred Döblin: Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende