3,99 €
Nach einem Unfall von Narben gezeichnet, lebt Juan zurückgezogen auf Harrington Hall in der Nähe der Hexenstadt Salem. Tamara bleibt nach einer beruflichen Katastrophe nichts anderes übrig, als für ihn zu arbeiten. Welche düsteren Geheimnisse verbirgt der maskierte Graf, und ist etwas an den Gerüchten wahr, die man über ihn erzählt? Was hat es mit dem Zimmer auf sich, das Tamara niemals betreten darf? Für Juan ist es völlig ausgeschlossen, sich mit einer seiner Angestellten einzulassen. Wie lange können sie gegen die Anziehungskraft zwischen ihnen ankämpfen, bevor sie erkennen müssen, dass sie dagegen machtlos sind? Wird die junge Liebe all das überstehen, was sich ihr in den Weg stellt?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Mr Beastly, my Boss
Evelyne Amara
Impressum
Copyright und Urheberrecht Januar 2022 Evelyne Amara
Copyright Foto: Andrey Kiselev / Adobe Stock
Coverdesign: Evelyne Amara
Evelyne Amara, c/o Autorenservice Gorischek, Am Rinnersgrund 14/5, 8101 Gratkorn, Österreich
www. Evelyne-Amara.com
Kapitel 1
Tamara
Stirnrunzelnd blickt mich Mrs. Brown, die Mitarbeiterin der Arbeitsvermittlung, an. Bedauern zeigt sich in ihren dunklen Augen. »Es tut mir leid, aber in dem von Ihnen gewünschten Bereich ist es derzeit unmöglich, Ihnen etwas zu vermitteln.«
Ich versuche, meine Nervosität vor ihr zu verbergen. Vor mir selbst muss ich jedoch zugeben, dass ich verzweifelt bin. »Aber gibt es denn gar keine offenen Stellen? Weder privat noch in einem Hotel oder einer Pension? Es wird doch gerade dieses Hotel in der Innenstadt von Salem gebaut. In einer Woche soll es fertig sein. Die suchen bestimmt Leute. Ich würde auch andere Jobs annehmen, wie beispielsweise einen als Kellnerin.«
Jährlich zieht es eine Million Touristen nach Salem, Massachusetts. Die Tourismusbranche boomt. Es muss einen Job für mich geben.
Sie schüttelt den Kopf. »Nein, ich bedaure es, aber wir können Ihnen leider derzeit überhaupt nichts anbieten, Ms. Hathaway. Ihr Ex-Chef hat übrigens bei uns angerufen.«
Daher weht also der Wind. Wenn das nicht der Grund ist, warum sie angeblich keinen Job für mich hat …
Ich schlucke. »Sie meinen Mr. Bellamy? Was wollte er denn von der Arbeitsvermittlung?« Dieser Mensch hat mir sehr übel mitgespielt, doch dass er so unverfroren ist, hier anzurufen, um sich über mich zu beschweren, schlägt dem Fass den Boden aus. Leider sitzt er am längeren Hebel.
Sie streicht sich eine Strähne ihres dunklen Haares zurück. »Mr. George Bellamy hat sich bei uns über Sie beschwert und uns vor Ihnen gewarnt.«
Reicht denn nicht, was er mir angetan hat? Muss er mein Leben ruinieren? »Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.«
Sie blickt mich an, als würde sie mir kein Wort glauben. »Das sieht ihr Ex-Chef bedauerlicherweise anders. Die Bellamys sind angesehene Mitglieder der Gesellschaft, Grafen noch dazu. Ich sehe keinen Grund, warum ich Mr. Bellamys Worte anzweifeln sollte. Wie ich sehe, haben Sie nach wie vor kein Arbeitszeugnis von ihm vorliegen. Wie kann das sein?«
Ich weiß, was sie mit ihren Worten andeuten will: dass ich mein schlechtes Arbeitszeugnis unterschlagen habe. Aber das ist nicht der Fall.
»Leider hat er mir noch keines geschickt. Ich war nicht lange bei ihm beschäftigt.«
Skeptisch hebt sie die Augenbrauen. »Nicht lange? Ein Dreivierteljahr ist eine große Lücke.«
»Ich habe nur sieben Monate bei ihm gearbeitet. Außerdem habe ich noch das Arbeitszeugnis der Pension und des Hotels. Bei dem war ich immerhin mehrere Jahre beschäftigt.«
Sie nickt. »In der Pension haben Sie nur einen Monat lang gearbeitet, und das Hotel, in dem Sie Ihre Ausbildung absolviert haben, existiert nicht mehr. Ihr Ex-Chef, der das Arbeitszeugnis unterschrieben hat, wurde kürzlich wegen Betrug und Geldwäsche verhaftet.«
Erschrocken sehe ich sie an. »Wie bitte? Aber er hat doch gar nicht mehr in dem Hotel gearbeitet. Das wurde doch verkauft.«
Ihr Blick wirkt streng. »Er hat ein Unternehmen in einem anderen Bereich gegründet, aber bereits im Hotelgewerbe muss er einige krumme Dinge gedreht haben, auch wenn die noch nicht so schlimm waren wie die späteren. Warum denken Sie, hat die neue Führung sämtliche Arbeitskräfte ausgetauscht? Weil man deutliche Anhaltspunkte dafür hatte, dass von der Belegschaft auch jemand in die kriminellen Machenschaften involviert war. Das wussten Sie nicht? Wie dem auch sei, sein schlechter Leumund stellt keine gute Referenz für Sie dar.«
»Ich kann nichts dafür.«
Sie seufzt. »Tja, sagen Sie das Ihren möglichen Arbeitgebern. Die sind nämlich wählerisch, was sie auch sein können. Der Markt ist überschwemmt von Arbeitssuchenden, vor allem in Ihrer Branche. Vor ein paar Jahren war das noch anders, aber seit Salem so ein beliebter Ort zum Leben geworden ist, hat sich das stark verändert. Jeder hier sucht händeringend nach Jobs oder bezahlbaren Wohnungen. Vielleicht ändert sich das irgendwann wieder, aber im Moment sieht es leider so aus.« Jetzt blickt sie mich fast schon mitleidig an.
»Gibt es denn gar nichts für mich?« Meine Stimme hört sich so verzweifelt an, wie ich mich fühle. Zwar lebe ich in der Wohngemeinschaft relativ günstig, aber auch ich muss jeden Monat meine Miete zahlen. Bei den Internet-Jobbörsen wurde ich leider auch nicht fündig.
Die Sache mit Mr. Bellamy kann mir doch nicht alles verbauen. Das ist schon die dritte Arbeitsvermittlung, die ich heute aufsuche. Von allen habe ich dieselbe Antwort erhalten.
Jede von ihnen wurde von Mr. Bellamy angerufen, der sich offenbar auf einem Rachefeldzug gegen mich befindet. Vielleicht macht er das, um seiner Frau etwas zu beweisen …
Geschäftig starrt Mrs. Brown auf ihren Bildschirm und klickt und scrollt sich durch das Menü. Dann sieht sie mich unvermittelt an. »Ein Angebot hätte ich doch für Sie. Ein Unternehmen aus Birmingham hat vor kurzem eine Zweigstelle seiner Ladenkette im Süden der Stadt eröffnet. Kennen Sie sich mit Amphibien und Reptilien aus?«
Erfreut lächle ich sie an. »Im Moment noch nicht besonders, aber ich bin hochmotiviert, mich weiterzubilden. Sicherlich gibt es Fachbücher darüber, und meine Kollegen werden mir vermutlich auch einiges erklären.«
Mrs. Brown lächelt. »Wunderbar. Dann habe ich einen Job für Sie als Oben-ohne-Verkäuferin in einem Fachgeschäft für Amphibien und Reptilien.«
Mein Lächeln schwindet, meine Hoffnung ebenso. Vermutlich gibt sie mir den Job nur, weil ihn niemand anders machen will. »Wie bitte? Ich soll oben ohne Amphibien und Reptilien verkaufen?«
Sie wirkt ungeduldig. »Können Sie das oder können Sie es nicht?«
Erschrocken sehe ich mein Gegenüber an. »Ich weiß es nicht.«
Oben ohne? Ich bin nicht mal der Typ, der am Strand oben ohne herumläuft. Das bedeutet nicht, dass ich ein schlechtes Verhältnis zu meinem Körper hätte. Ich sehe gewisse Stellen davon einfach als meine Privatsache an, die ich nicht jedem zeige. Welchen Grund sollte es geben, im Verkauf halbnackt zu arbeiten?
Hinzu kommt, dass ich leicht friere. Immerhin haben wir Oktober! Wenn ich ständig krank bin, fliege ich raus, und dann ist mein Lebenslauf erst richtig im Eimer.
Was soll ich außerdem in diesen reinschreiben? Dass ich oben ohne Amphibien und Reptilien verkauft habe? Nachdem mein potenzieller zukünftiger Arbeitgeber seinen Lachanfall überwunden hat, schickt er mir gleich eine Absage.
»Es ist Herbst. Die Winter hier sind recht kalt. Ich befürchte, dass ich leicht krank werden könnte«, füge ich rasch hinzu.
»Das Geschäft wird sicherlich beheizt. Sie wollen den Job nicht machen oder?«
Ich schlucke. »Ich glaube, das ist nichts für mich.«
»Dann tut es mir leid, aber ich habe überhaupt nichts für Sie.«
»Danke für Ihre Bemühungen.« Sie macht schließlich nur ihren Job und kann nichts dafür, dass es so schlecht für mich aussieht.
Wir verabschieden uns voneinander. Ich greife nach meiner Handtasche und erhebe mich.
Ich habe gerade Mrs. Browns Büro verlassen und den Vorraum betreten, da vernehme ich eine laute Frauenstimme mit einem spanischen Akzent. »Aber es wird doch wohl möglich sein, kurzfristig jemanden zu beschaffen.«
Neugierig wende ich der Sprecherin meinen Blick zu. Es handelt sich um eine attraktive Frau von ungefähr Anfang fünfzig in einem eleganten, dunkelgrauen Hosenanzug und einer roten Bluse. Ihr langes, dunkles Haar trägt sie zu einem schulterlangen Pferdeschwanz zurückgebunden.
Die blonde Dame vom Empfang blickt sie entschuldigend an. »Da hätten Sie uns früher Bescheid geben müssen. Wir haben in unserer Kartei leider derzeit niemanden für diese Art von Job.«
»Aber auf Ihrer Website steht, dass Sie kurzfristig für jede Art von Arbeit jemanden beschaffen können.«
»Aber doch nicht so kurzfristig.«
»Es ist ein Notfall. Halloween steht vor der Tür, die Stadt quillt über vor Touristen, und ich kann mich leider nicht um alles selbst kümmern.« Ihr scharfer Blick fällt auf mich. »Wer sind Sie?«
»Eine Arbeitssuchende.«
Sie lächelt. »Haben Sie zufällig Erfahrung in der Führung eines Haushaltes, und sind Sie belastbar und flexibel?«
Ich nicke. »Ich bin ausgebildete Hotelfachfrau und war schon längere Zeit als Haushälterin tätig. Ich habe eingekauft, geputzt, gewaschen und alles organisiert. Und ja, ich bin belastbar und flexibel.«
Zufrieden blickt sie mich an. »Perfekt, Ms. …«
»Tamara Hathaway.«
Lächelnd nickt sie. »Sehr gut, Ms. Hathaway. Mein Name ist Catalina Mendez. Die Bezahlung ist überdurchschnittlich, und Sie bekommen im Haus ein Zimmer zur Verfügung gestellt, damit Sie nicht ständig hin- und herfahren müssen. Es stehen schließlich genügend leer.«
Verwundert blicke ich die Dame an. Das hört sich zu gut an, um wahr zu sein. Sie hat nicht mal nach meinen Referenzen gefragt. Hoffentlich ist daran nichts faul. »Und ich muss auch nicht oben ohne putzen?«
Kaum habe ich die Worte geäußert, bereue ich sie schon. Das war wirklich sehr unbedacht von mir, aber der Morgen war stressig und aufreibend für mich.
»Was?« Das bringt Mrs. Mendez aus dem Konzept. Fassungslos sieht sie mich an. »Oben ohne putzen? Denken Sie etwa, ich führe ein Puff? Sie werden auf Harrington Hall arbeiten. Das ist ein angesehenes Haus.«
Harrington Hall – das ist doch der Stammsitz eines Adeligen. Ich glaube, mich zu erinnern, dass der alte Graf vor etwa einem Jahr verstorben ist. Es gab mal einen Artikel in ›The Salem News‹ darüber, dass er schwer erkrankt war. Ist Mrs. Mendez also eine Adelige oder arbeitet sie für einen? Nicht schon wieder …
Aber was bleibt mir anderes übrig? Außerdem scheint sie eine komplett andere Persönlichkeit als Mr. und Mrs. Bellamy zu besitzen. Sie ist mir wesentlich sympathischer.
»Das tut mir sehr leid, Mrs. Mendez. Ich wollte Sie nicht beleidigen«, sage ich schnell und sehe bereits meine Felle davonschwimmen. Gewiss wird es mit dem Arbeitsvertrag nichts. Diesmal habe ich meine Chance bereits verspielt, bevor es überhaupt begonnen hat. Manchmal sollte man einfach die Klappe halten.
Die Frau bricht plötzlich in Gelächter aus, bis ihr die Tränen kommen. »Nein, Sie müssen nicht oben ohne oder nackt putzen. Wir sind schon froh, wenn Sie überhaupt zuverlässig putzen, einkaufen und sich um den Haushalt und alles Organisatorische kümmern. Sie lassen sich doch nicht von dem Halloweengedränge abschrecken?«
Was sie nicht sagt! Dieses führt dazu, dass sich an den Supermarktkassen teilweise extreme Schlangen bilden und man lange Wartezeiten in Kauf nehmen muss.
»Nein, natürlich nicht.«
»Sind Sie hier aus der Gegend?«, fragt Mrs. Mendez.
»Aus Boston.« Das ist die etwa fünfunddreißig Meilen entfernte Nachbarstadt von Salem.
»Gut, dann wissen Sie ja vermutlich, wie überlaufen Salem zu dieser Jahreszeit ist.«
Ich nicke. »Ja, die einfallenden Touristenhorden sind nicht ohne.«
»Was hat Sie hierhergeführt?«, fragt Mrs. Mendez.
In Boston leben die Bellamys, die meinen Ruf dort zerstört haben. Ich hatte gehofft, dass sich das nicht bis Salem herumsprechen würde, aber offenbar hatte ich mich geirrt. Wegen meiner Familie wollte ich nicht zu weit von Boston wegziehen.
»Ich mag das Flair der Stadt.« Was für eine lahme Ausrede.
Doch sie nickt nur. »Ja, das hat schon viele in seinen Bann gezogen. Salem, die Stadt der Hexenprozesse. Dann haben wir noch die ganzen historischen Gebäude und Straßen. Letztere gehören mal ausgebessert. Bei aller Liebe zu Salem, aber die Straßen sind in einem erbärmlichen Zustand.«
»Da haben Sie allerdings recht. Ist der Job befristet?« Immer mehr Jobs sind befristet. Daher ist die Frage naheliegend.
Sie nickt. »Ja, auf ein Vierteljahr. Solange wird unsere bisherige Haushälterin voraussichtlich krankheitsbedingt ausfallen. Selbst wenn sie früher zurückkehren sollte, kann sie Ihre Unterstützung zu dieser Jahreszeit gut gebrauchen. Haben Sie einen Führerschein?«
Ich nicke. »Ja. Ich habe auch ein Auto.« Das ist zwar schon zweiundzwanzig Jahre alt, aber bisher war es meistens zuverlässig. Wenn ihm die schlechten Straßen und Kopfsteinpflaster von Salem nicht den Rest geben, hoffe ich, dass es noch eine Weile länger durchhält.
»Haben Sie Ihre Unterlagen bei sich?«, fragt Mrs. Mendez.
»Nein, leider nicht.« Zwar hat die Arbeitsvermittlung diese vor einiger Zeit eingescannt, aber zu Mrs. Brown möchte ich jetzt nicht gehen, um sie um Ausdrucke zu bitten, zumal das offenbar nicht über ihre Firma laufen wird.
Mrs. Mendez winkt ab. Ihre langen Fingernägel sind dunkelrot lackiert. »Das macht nichts. Finden Sie sich in einer Stunde auf Harrington Hall ein. Dort werde ich Näheres mit Ihnen besprechen. Bringen Sie alle Unterlagen mit. Bis später, Ms. Hathaway.«
Wir verabschieden uns voneinander.
Das lief besser, als ich dachte. Hoffentlich bleibt es weiterhin so und hat nicht irgendwo einen Haken.
Kaum dass ich das Gebäude verlassen habe, steige ich in mein Auto, um nach Hause zu fahren, wo ich rasch mein Haar bürste und mein Lipgloss erneuere. Ich gehe auf die Toilette, trinke einen Schluck und lege alle benötigten Unterlagen in eine Klemmmappe, die ich in meinen großen, schwarzen Shopper verstaue. So ausgerüstet mache ich mich mit aufgeregt klopfendem Herzen auf den Weg nach Harrington Hall.
Tamara
Harrington Hall ist weitaus imposanter als in meiner Vorstellung. Mir wird mulmig zumute, denn ich weiß nicht, wie viel Personal es dort gibt. Werde ich mit den anderen und meiner neuen Chefin gut zurechtkommen?
Vor dem Gebäude stelle ich mein Fahrzeug ab. Der Garten wirkt gepflegt. Offenbar kümmert sich ein Gärtner darum. Rosenpflanzen ranken sich an den Häuserwänden empor. Es sieht aus wie ein verwunschenes Schloss aus dem Märchen und wirkt verträumt, mystisch, aber auch irgendwie düster.
Ich kann mir gut vorstellen, dass es schön ist, hier zu leben, ein wenig abgelegen und umgeben von diesem herrlichen Garten. Schade, dass ich im Frühling nicht mehr hier sein werde, wenn die Natur erblüht, aber vielleicht ergibt sich etwas für mich. Wenn nicht, wird mir das Arbeitszeugnis hoffentlich weiterhelfen.
Da die Zeit wie immer, wenn man etwas Wichtiges vorhat, viel zu schnell vergeht, beeile ich mich, zur Haustür zu gelangen. Dort betätige ich den imposanten Türklopfer mit dem Löwenkopf, bevor mir die in einem antiken Stil aus Messing angefertigte Türklingel auffällt. Da ich mir nicht sicher bin, ob man mein Klopfen in dem großen Gebäude hört, betätige ich diese gleich im Anschluss.
In diesem Moment wird die Haustür aufgerissen. Zu meiner Überraschung blicke ich in Mrs. Mendez’ dunkles Augenpaar. Da ich erst auf meine Armbanduhr geschaut habe, weiß ich, dass ich pünktlich bin.
»Da sind Sie ja endlich, Ms. Hathaway. Haben Sie alles dabei?«
Ich nicke. »Ja.« Ich habe alles dabei, bis auf das letzte Arbeitszeugnis, doch da es sich um eine befristete Stelle handelt und Mrs. Mendez offenbar händeringend jemanden sucht, rechne ich mir gewisse Chancen aus, dass es trotzdem etwas wird.
Sie führt mich in ein lichtdurchflutetes Büro, in dem alles aus Marmor und dunklem Holz mit goldenen Akzenten ist. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr raus. So etwas Edles habe ich selten gesehen. Bei Mr. Bellamy sah alles teuer aus, aber er hatte einen etwas kitschigen Geschmack.
Sie deutet auf einen dunkelbraunen Lederstuhl. »Setzen Sie sich bitte.«
»Vielen Dank.«
»Dürfte ich Ihre Unterlagen sehen?«
Mit leicht zitternden Händen nehme ich die Mappe aus meinem Shopper und überreiche sie ihr.
Freundlich lächelt sie mich an. »Danke. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Tee, Kaffee oder Wasser?«
»Ein Wasser bitte.«
Sie schenkt mir Mineralwasser aus einer grünen Glasflasche in ein Bleikristallglas. Zwar kann ich das Etikett der Flasche nicht lesen, doch ich vermute, dass es sich um Perrier handelt. »Hier, bitteschön.«
»Dankeschön.« Ich nippe daran, während Mrs. Mendez in meinen Unterlagen blättert. Sie wirkt auf mich sehr sympathisch. Wobei man sich bei solchen frühen Eindrücken sehr täuschen kann.
Schließlich hebt sie den Blick und sieht mich aus ihren wachen, dunklen Augen an. »Ihre Unterlagen machen einen guten Eindruck. Allerdings haben Sie vergessen, das Arbeitszeugnis von Mr. Bellamy beizulegen.«
»Das habe ich leider noch nicht.«
»Kein Problem. Das können Sie jederzeit nachreichen. Das Zeugnis vom Hotel ist sehr gut, und auch das von der Pension, in der Sie einen Monat lang als Aushilfe gearbeitet haben, kann sich sehen lassen.« Sie zieht den Laptop ein wenig näher zu sich heran und tippt etwas ein. Dann betätigt sie den Drucker, entnimmt ihm anschließend das Schriftstück und überfliegt es kurz. Sie blickt auf das römische Ziffernblatt der Wanduhr.
Dann legt sie mir mehrere Blätter und einen schmalen, goldenen Kugelschreiber hin. »Unterzeichnen Sie bitte zuerst die Schweigepflichterklärung und anschließend den Arbeitsvertrag.«
Verwundert runzle ich die Stirn, während ich das Schriftstück lese. Ich beiße mir auf die Zunge, um zu vermeiden, dass ich sie frage, ob dieses Dokument wirklich notwendig ist. Diese Frage ist überflüssig, denn sonst würde sie es mir nicht vorlegen. Zumindest aus ihrer Sicht ist es wohl gerechtfertigt, auch wenn ich das zuvor noch nie in diesem Beruf erlebt habe. Ich frage mich, welche Geheimnisse Harrington Hall verbirgt.
Der Job ist nur befristet. Diese nette Frau spanischer Abstammung wird sicherlich keine Leichen im Keller haben. Daher ergreife ich den eleganten, goldenen Stift und setze meine Unterschrift auf das Schriftstück, das ich ihr über den Tisch zurückreiche.
Anschließend lese ich mir sorgfältig den Arbeitsvertrag durch. Soweit ich erkennen kann, enthält er keinen Haken. Im Gegenteil. Meine Arbeitszeit, die Vergütung und meine Rechte und Pflichten sind glasklar geregelt. Damit sollte ich keine Probleme haben.
Doch als mein Arbeitgeber steht der Name eines Mannes im Vertrag. »John Harrington?«
»Das ist mein Neffe.«
Das hätte sie früher sagen sollen. »Warum haben dann Sie unterschrieben?«
»Weil ich eine Vollmacht besitze. Ich handle in seinem Auftrag. Er war etwas … unpässlich in der letzten Zeit. Daher habe ich die Arbeitsvermittlung in seinem Namen aufgesucht.«
»Ist er krank?«
»Es geht ihm den Umständen entsprechend. Nun unterschreiben Sie bitte oder haben Sie es sich anders überlegt?«
Nachdem mich mein Ex-Chef bereits bei der Arbeitsvermittlung diffamiert hat, kann ich es mir nicht leisten, dass auch diese Dame und ihr Neffe schlecht über mich reden. Möglicherweise wird die Arbeitsvermittlung mich aus ihrer Kartei löschen. Ich kann den Vertrag nicht einfach ablehnen, nur weil mein Vertragspartner wider Erwarten ein Mann ist. Außerdem ist nicht jeder wie Mr. Bellamy.
Ich unterzeichne beide Ausfertigungen und überreiche Mrs. Mendez ihre.
In diesem Moment wird die Tür geöffnet und ein junger, attraktiver Mann tritt ein. Er ist hochgewachsen, breitschultrig und muskulös. Seine Kleidung ist von erlesener Eleganz. Zu einer schwarzen Hose aus edlem Stoff trägt er eine ebenfalls schwarze Weste, eine schwarze Seidenkrawatte und ein blütenweißes Hemd.
Als sein Blick auf mich fällt, verengen sich seine dunklen, unergründlichen Iriden. Ich habe den Eindruck, dass er nicht sonderlich erfreut ist über meinen Aufenthalt auf Harrington Hall.
Auf eine düstere Weise ist er atemberaubend attraktiv. Die linke Hälfte seines wie gemeißelt wirkenden Gesichts mit den hohen Wangenknochen, den wohlgeformten Lippen und den durchdringenden Augen bedeckt eine schwarze Maske, die jedoch seiner Attraktivität keinen Abbruch tut. Im Gegenteil verleiht sie ihm eine Aura des Mysteriösen und der Verwegenheit. Seine Ausstrahlung lässt mein Herz schneller schlagen, sein Charisma ist unwiderstehlich.
Irgendwie kommt er mir bekannt vor, doch ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann und wo ich ihm begegnet bin. Das verstehe ich nicht, denn jemand wie er erscheint auf mich unvergesslich.
Auch er taxiert mich. Sein dunkler Blick verrät nicht, was er denkt, doch seine Ausstrahlung ist irgendwie abweisend.
»Du bist also doch noch gekommen«, sagt Mrs. Mendez an ihren Neffen gerichtet.
Dann wendet sie sich mir zu. »Ms. Hathaway, das ist mein Neffe John.«
»Mein Name ist Juan.« Seine Stimme ist samtig und tief. Ihr Timbre berührt etwas in mir. Es bringt eine Saite in mir zum Schwingen und erweckt eine Sehnsucht, die ich nicht haben sollte.
»Tut mir leid, es ist einfach die jahrelange Gewohnheit. Dein Vater wollte immer …«
Er unterbricht sie mit harscher Stimme. »Mir ist egal, was mein Vater wollte. Ich wurde auf den Namen Juan getauft, den mir meine spanische Mutter gegeben hat.«
Offenbar hatte er kein gutes Verhältnis mit seinem Vater. Ich versuche, mich an das Foto zu erinnern, das damals in ›The Salem News‹ von seinem Vater veröffentlicht wurde. Auch einer seiner beiden Söhne ist darauf abgebildet gewesen. Sein Name ist mir entfallen, aber ich könnte schwören, dass der Mann darauf anders ausgesehen hat. Es handelte sich also um seinen Bruder.
Jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen. »Sie sind Johnny Harris, der Filmstar!« Ich wusste gar nicht, dass er seinen Namen Harrington in Harris abgekürzt hat, aber Künstlernamen sind in Hollywood an der Tagesordnung. Möglicherweise empfahl es ihm sein Manager oder die Regisseurin. Zu lange Namen sind auf den DVD-Hüllen und Filmpostern oft schlechter zu lesen, weil die Schrift notgedrungen aus Platzgründen kleiner ist.
Mein neuer Boss ist also ungefähr in meinem Alter. Wenn ich mich richtig erinnere, ist Johnny Harris drei Jahre älter als ich. Er müsste jetzt dreißig sein.
Er schenkt mir einen düsteren Blick. »Das ist lange vorbei.«
Seine Tante lächelt verhalten. Es wirkt angestrengt und vorsichtig, als hätte ich etwas Falsches gesagt. »Es wundert mich, dass Sie ihn erkannt haben, denn in ›Teen Warlock‹ trug er eine blonde Perücke, und in der Fantasy-Trilogie hatte er langes Haar und einen Bart. Sie werden das für sich behalten, denn sonst hat er hier keine Ruhe mehr. Es wundert mich ohnehin, dass es so lange gutgegangen ist. Aber er geht ja auch kaum aus dem Haus. Selbstverständlich ist das ebenfalls Teil Ihrer Schweigepflichterklärung.«
»Es war nicht so einfach, ihn zu erkennen. Keine Angst, ich werde nicht damit hausieren gehen, dass Mr. Harrington Johnny Harris ist.« Mit der Serie ›Teen Warlock‹ kam Johnny Harris vor etwa zwölf Jahren ganz groß raus und bekam im Anschluss daran die Hauptrolle in einer Fantasy-Trilogie. Meist wurde er als der Schönling und Frauenschwarm vermarktet.
Danach verschwand Johnny Harris ganz plötzlich aufgrund eines Unfalls von der Weltbühne. Einige Paparazzi hatten damals Fotos von ihm gemacht, wie er halb vermummt aus einer Klinik gekommen und in eine schwarze Limousine gestiegen ist. Damals ging man zuerst davon aus, dass er sich so vermummte, damit ihn niemand erkannte. Erst später machte die Info über seinen Unfall die Runde. Vermutlich stammte diese von seiner damaligen Verlobten.
Nach einiger Zeit verlor die Presse ihr Interesse an ihm und stürzte sich auf den nächsten großen Skandal, wie sie es immer tut.
Mrs. Mendez räuspert sich. »Wie dem auch sei, ich möchte nochmals betonten, dass das Ihrer Schweigepflicht unterliegt, Ms. Hathaway. Mein Neffe legt großen Wert auf Diskretion. Nach all dem Rummel damals ist er froh, dass wieder Ruhe in sein Leben eingekehrt ist. Ich möchte nicht, dass das gefährdet wird.«
Ich nicke. »Das kann ich verstehen. Verlassen Sie sich auf mich. Nichts wird von meiner Seite aus nach außen dringen.«
Mrs. Mendez blickt ihren Neffen an. »Stell dir nur vor, sie dachte zuerst, sie müsste bei uns nackt putzen! Ist das nicht witzig?«
Am liebsten würde ich vor Scham im Boden versinken. »Das war nur, weil ich ein Stellenangebot bekam als Oben-ohne-Verkäuferin in einem Fachgeschäft für Reptilien und Amphibien.«
Mrs. Mendez sieht mich grinsend an. »Das meinen Sie nicht ernst. Sie verarschen mich doch.«
»Das gibt es wirklich. Es handelt sich um die neue Zweigstelle einer Ladengeschäftskette aus Birmingham. Jeder weiß, dass die Briten bisweilen einen seltsamen Humor besitzen.«
Mrs. Mendez räuspert sich und wirft einen Seitenblick zu ihrem Neffen, der mich düster anstarrt.
»Zufällig war mein Vater britischer Abstammung.« Seine Stimme klingt nicht besonders freundlich, und auch sein Gesichtsausdruck bezeugt, dass er nicht gerade erfreut über meine Äußerung ist.
Mein Gesicht wird heiß vor Scham. Sicherlich ist es schon ganz rot. »Es tut mir leid«, füge ich rasch hinzu, doch es ist schon zu spät dafür. Was diese Familie betrifft, habe ich offenbar ein Talent dafür, in sämtliche Fettnäpfchen zu treten.
»Bist du dir sicher, dass sie dem Job gewachsen ist?«, fragt er seine Tante.
»Sie verfügt über alle Qualifikationen. Es ist ja nur für ein Vierteljahr.«
Skeptisch hebt er eine Augenbraue. »Ist sie nicht etwas zu jung dafür?«
»Nein, sie ist siebenundzwanzig.«
»Ich dachte eher an jemanden in Mrs. Fitzgeralds Alter.«
»Mrs. Fitzgerald ist fast im Rentenalter. Du wirst dich deshalb ohnehin bald nach jemand anderen umsehen müssen. Ich finde nicht, dass Ms. Hathaway zu jung ist. Außerdem ist es zu spät für diese Frage. Du hast mich damit beauftragt und bevollmächtigt, eine neue Angestellte zu finden, und genau das habe ich getan.«
Mrs. Mendez lächelt mich an, doch ihre Augen wirken ernst. »Wenn Sie uns bitte für einen Moment entschuldigen würden, Ms. Hathaway. Wir müssen etwas unter vier Augen besprechen. Ich bin bald wieder bei Ihnen. Bedienen Sie sich. Nehmen Sie sich Kaffee aus der Thermoskanne und Wasser. Tassen finden Sie hier in der Vitrine.« Sie deutet auf eine Vitrine seitlich des Tisches, dann verschwindet sie mit Mr. Harrington durch die Tür.
Verwundert blicke ich den beiden nach. Es ist offensichtlich, dass Mr. Harrington mich nicht hier haben will. Dabei kennt er mich nicht mal. Hat es damit zu tun, dass ich ihn erkannt habe? Ist ihm das so unangenehm? Oder war es die Sache mit dem Amphibiengeschäft? Seiner Tante scheint mein Ausrutscher nichts ausgemacht zu haben, aber er wirkt weitaus undurchsichtiger als sie.
Er braucht sich überhaupt keine Sorgen darüber zu machen, dass ich mit dem Wissen über seine Vergangenheit als Johnny Harris hausieren gehen werde. Ich bin diskret, loyal und zuverlässig.
Selbst wenn ich die Schweigepflichterklärung nicht unterschrieben hätte, würde ich seine Privatsphäre respektieren. Das ist für mich eine selbstverständliche Voraussetzung für diesen Beruf. Wenn man in einem Haushalt arbeitet, befindet man sich in einer Vertrauensposition. Das nehme ich sehr ernst. Auch wenn ich in einem Hotel arbeite, handhabe ich das nicht anders. Trotzdem kann ich natürlich verstehen, dass sie sich absichern wollen. Das würde ich nicht anders handhaben.
Kapitel 2
Juan
Im zweiten Büro stehen meine Tante und ich uns gegenüber wie Gegner. Wir lieben einander, aber da wir beide einen sehr starken Willen besitzen, geraten wir öfters aneinander.
Eindringlich sehe ich sie an. »Ich fasse es nicht. Wie konntest du sie herbringen? Ich hatte doch gesagt, dass ich eine ältere Dame suche, eine mit viel Erfahrung, kein so junges Ding.«
Ungeduldig sieht meine Tante mich an. »Sie konnten mir so kurzfristig niemanden beschaffen. Du hättest mir früher Bescheid geben sollen. Dann hätte ich vielleicht noch etwas machen können. Die Tatsache, dass du nicht immer besonders umgänglich bist, macht es nicht einfacher, jemanden für dich zu finden. Es war reines Glück, dass Ms. Hathaway dort war und über die notwendigen Qualifikationen verfügt.«
»Sie hatten wirklich niemand anderen? Hast du es hartnäckig genug versucht?«
Sie streicht sich eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hat, hinters Ohr. »Ja, so etwas soll vorkommen. Oder glaubst du mir etwa nicht? Du weißt selbst, dass ich nicht so leicht aufgebe. Aber wenn du mir nicht vertraust, kannst du dich um deinen Kram zukünftig selbst kümmern. Nur zu, mach alles selbst und stürz dich ins Getümmel, quetsche dich durch die Touristenmassen und Warteschlangen in den Supermärkten. Das ist kein Vergnügen.«
Ich nicke, denn mir ist sehr bewusst, wie voll die Stadt zu dieser Jahreszeit ist. Jeder will Salem an Halloween sehen und bleibt dann auch ein paar Wochen davor oder danach. Im Herbst herrscht hier reger Andrang. Das fängt schon Mitte September an und steigert sich dann. Irgendeinen Ort in der Stadt zu erreichen wird dadurch zu einem Abenteuer. Nicht nur scheinen jedes Jahr mehr Touristen zu kommen, es gibt auch immer mehr Leute, die hierherziehen.
Es ist nicht so, als könnte ich sie nicht verstehen. Salem ist eine erstaunlich moderne Stadt, wenn man bedenkt, dass es hier nach wie vor so viele Gebäude aus verschiedenen Jahrhunderten gibt. Hier wimmelt es von Hipstern, Veganern, Ökos, Tierfreunden und Historikern. Außerdem existiert eine riesige LGBTQ-Community.
Salem ist eine grüne Stadt mit zahlreichen Verleihangeboten von Elektro-Scootern und Fahrrädern, was auch dringend nötig ist, da wir weder eine Subway noch einen Highway-Anschluss haben. Einige unserer Straßen sind stark sanierungsbedürftig und teilweise bis zu vierhundert Jahre alt. Es ist offensichtlich, dass sie für Reiter, Viehtrieb und Fußgänger erbaut wurden, was sie für moderne Fahrzeuge nicht zur ersten Wahl macht.
Das alles wird dadurch ausgeglichen, dass wir hier sowohl traumhafte Strände als auch Wälder haben. Ich besitze sogar ein großes Stück Privatstrand hinter dem Haus.
Mit den Fingern fahre ich mir durchs Haar. »Du hast recht. Es bleibt mir keine andere Wahl. Es tut mir leid, dass ich so aufbrausend war.«
»Ich kann dich verstehen. Du lebst hier schon so lange allein und bist es nicht mehr gewohnt, mit einer jungen Frau zusammen zu sein. Behandle sie anständig.«
»Hältst du mich für ein Monster?«
»Eigentlich nicht, aber als ich schon mal aus reiner Not so ein junges Ding einstellen musste, hast du sie innerhalb von zwei Wochen vergrault.«
»Mal schauen, ob ich es diesmal schneller schaffe.«
Entsetzt sieht Tante Catalina mich an. »Wage es nicht! Dann kannst du dich um dein Zeug zukünftig wirklich selbst kümmern.«
Beschwichtigend hebe ich die Hände. »Ist schon gut. Ich habe verstanden. Die andere war aber auch wirklich inkompetent. Das musst du zugeben. Dauert das wirklich so lange, bis Mrs. Fitzgerald wieder fit ist?«
»Die Ärzte haben ihr geraten, sich ein Vierteljahr lang zu schonen. Sie ist in ihren Sechzigern. Da heilt der Körper nicht mehr so schnell. Wir dürfen froh sein, wenn sie in einem Vierteljahr wiederkommt. Eine Bandscheibenoperation kann sie noch länger außer Gefecht setzen. Es könnte auch etwas schiefgehen.«
»Daran möchte ich gar nicht denken. Ich bezahle ihr die Operation und die Reha. Schließlich hat sie es jahrelang mit mir ausgehalten.«
Meine Tante schmunzelt. »Solch eine Selbsterkenntnis hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
»Die Neue mag Briten nicht.«
Verwundert blickt meine Tante mich an. »Wie kommst du denn darauf?«
»Das hat sie doch gesagt. Wegen dieses Unternehmens aus Birmingham, das Amphibien und Reptilien verkauft.«
Catalina bricht in Gelächter aus. »Du bist doch kein Brite, und mit Reptilien und Amphibien hast du rein gar nichts am Hut.«
»Sagst du das, weil Vater immer gesagt hat, ich könnte nicht von ihm sein?«
Meine Tante wird blass. »Es tut mir leid. Das wollte ich damit nicht sagen. Du kannst am Allerwenigsten für das, was damals geschehen ist. Du warst nur ein unschuldiges Kind, dem man ein großes Unrecht angetan hat.«
Grimmig schüttle ich den Kopf. »Er hätte es nicht tun sollen.«
»Und gleichzeitig hat er immer deinen Bruder bevorzugt. Wenn ich Kinder hätte, würde ich sie gleichbehandeln.«
Wir beide schweigen einen Moment lang.Ich weiß, dass es ihr wehtut, niemals Kinder bekommen zu haben, weil ihr Mann sie hinsichtlich seines Kinderwunsches immer wieder vertröstet hat. Als sie fünfundvierzig war, hat er sie für seine junge Sekretärin verlassen und mit dieser ein Kind gezeugt. Als sie ihren zweiten Mann heiratete, war es zu spät für Kinder. Jetzt ist sie verwitwet.
Catalina hat sich meiner angenommen, weil sie ein einsames Kind sah, das Eltern brauchte. Meine Mutter war oft abwesend, und mein Vater hatte mich abgelehnt. Ich weiß nicht, wie ich ohne Tante Catalina meine Kindheit überstanden hätte.
»Was damals gesagt und getan wurde, tut mir sehr leid«, sagt sie.
»Du kannst nichts dafür.«
»Trotzdem bedaure ich, wie sich die Dinge entwickelt haben.« Sie blickt auf ihre goldene Armbanduhr. »Ich muss jetzt leider los. Führst du Ms. Hathaway bitte in ihr Zimmer? Und zeige ihr auch die ganzen Räumlichkeiten und erkläre ihr, wo sie was findet.«
»Okay. Mache ich.« Was bleibt mir auch anderes übrig? Schließlich will ich mich nicht durch die Touristenmassen drängen müssen und dabei angestarrt werden wie ein Freak aus einem der alten Wanderzirkusse, wie sie es heutzutage glücklicherweise nicht mehr gibt. Das wäre sehr entwürdigend.
»War es wirklich nötig, ihr ein Zimmer im Haus anzubieten?«, frage ich dennoch.
Sie zuckt mit den Achseln. »Warum nicht? Es stehen so viele leer. Dann kommt wenigstens ein wenig Leben ins Haus. Außerdem hat auch Mrs. Fitzgerald ein Zimmer hier.«
»Weil Harrington Hall etwas außerhalb der Stadt liegt und ich es ihr in ihrem Alter nicht zumuten wollte, dass sie ständig hin- und herfährt. Die Straßen sind nicht gerade die besten.«
»Das kann man wohl sagen. Ich gehe dann mal. Ich wünsche dir einen schönen Tag.«
»Danke. Den wünsche ich dir auch.«
Tante Catalina verlässt den Raum.
Ich starre aus dem Fenster. Es gefällt mir gar nicht, dass Ms. Hathaway hier ist. Sie erinnert mich viel zu sehr an das, was ich verloren habe und niemals wiederbekommen werde. Mit ihrer Schönheit, Jugend und Anmut verkörpert sie einen Teil meiner Wünsche, Träume und Sehnsüchte.
Ein Vierteljahr werde ich überstehen. Ich muss mich nur von ihr fernhalten. Das sollte möglich sein.
Nach all den Enttäuschungen und der Ablehnung, die ich bisher erlebt habe, wird mir das leichtfallen. Eigentlich hätte ich es damals besser wissen müssen, aber ich bin naiv, unerfahren und vom Erfolg verwöhnt gewesen. Ich dachte, ich hätte endlich die Vergangenheit überwunden und sie würde fortan keine Rolle mehr spielen. Wie sehr man sich irren kann. Irgendwann holt einen alles ein.
Meine Kindheit gab mir einen Vorgeschmack auf das wahre Leben …
Tamara
Nervös blicke ich auf den Vertrag, den ich vor einigen Minuten unterschrieben habe, und frage mich, ob ich wirklich das Richtige getan habe, da Mr. Harrington sich mir gegenüber sehr ablehnend verhalten hat. Weil mir nichts anderes übrigbleibt, schlucke ich meine Zweifel herunter.
Fast eine Viertelstunde ist vergangen, seit Mrs. Mendez mit Mr. Harrington verschwunden ist. Es ist offensichtlich, dass er mich nicht für die richtige Wahl hält. Er denkt, ich sei zu jung und zu unerfahren für den Job, um gute Arbeit leisten zu können. Wenn das keine Vorurteile sind!
Aber davon lasse ich mich nicht unterkriegen. Ich werde ihm beweisen, dass ich zuverlässig und fähig bin. Das Vierteljahr werde ich hier überstehen. Die Bezahlung ist überdurchschnittlich und dadurch, dass ich hier ein Zimmer bekomme, werde ich eine Menge Zeit sparen können. Geld wohl eher weniger, weil ich wegen eines Vierteljahrs meinen Mietvertrag in der WG nicht kündigen möchte. Dafür ist es zu schwer, kurzfristig etwas in der Stadt zu finden, das man sich leisten kann. Wie es danach weitergeht, wird sich zeigen.
Ich sehe es sehr positiv, eine andere Umgebung zu haben. Das alte, herrschaftliche Anwesen inspiriert mich. Alte Häuser haben oft eine besondere Atmosphäre, wie sie neuere nicht besitzen. Es ist, als würden sie ihre Historie atmen, als hinterließen die ursprünglichen Bewohner energetische Imprints.
Die Zeit, die ich spare, kann ich in mein nächstes Drehbuch investieren. Das Ambiente wird mich sicherlich dauerhaft inspirieren. Innerhalb von zwei bis drei Monaten sollte es mir möglich sein, ein Drehbuch zu vollenden. Natürlich muss ich es anschließend mehrmals überarbeiten.
Der Ausblick aus dem Fenster ist traumhaft.
Ich erschrecke, als plötzlich die Tür aufgerissen wird und Mr. Harrington hereinkommt. Mit den dynamischen, geschmeidigen Schritten eines Raubtiers nähert er sich mir. Er sieht aus wie ein Rachegott mit dem grimmigen Gesichtsausdruck und der eleganten, aber vorwiegend dunklen Kleidung, die seine durchtrainierte Figur betont.
Seine damalige Rolle in ›Teen Warlock‹ als Erbe einer Dynastie schwarzer Hexer war ihm wie auf den Leib geschnitten, denn auch jetzt verströmt er eine Aura von Macht, dunkler Sinnlichkeit und Gefahr. Ich finde es schade, dass er nicht mehr im Filmgeschäft tätig ist. Das ist ein Verlust für diese Welt. Unter seiner Maske vermute ich den Grund hierfür.
Es muss hart gewesen sein, solch eine vielversprechende Karriere für immer hinter sich lassen zu müssen. In Hollywood dreht sich nun mal alles um das Äußere und den schönen Schein. Nichts Schlimmeres gibt es, als wenn lange gehegte Träume unwiderruflich zerplatzen. Schließlich weiß ich selbst zur Genüge, wie lange und hart man dafür arbeiten muss.
»So, Ms. Hathaway, es sieht ganz so aus, als wären wir hier erstmal aneinandergebunden.« Er klingt nicht besonders erfreut darüber. Trotzdem fasziniert mich seine tiefe, samtige Stimme.
»Ich zeige Ihnen jetzt das Haus oder besser gesagt, jene Teile davon, die für Sie von Belang sind. Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Mit einem Lächeln auf den sinnlichen Lippen, das seine geheimnisvollen, dunklen Augen nicht erreicht, wendet er sich um und hält mir die Tür auf.
Zuerst führt er mich in eine Bibliothek, die mein Herz schneller schlagen lässt. Der Raum ist riesig. Dort befinden sich kleine Lesenischen mit gemütlichen Sesseln und Kommodentischen mit Kerzenständern und altertümlich anmutenden Stehlampen zwischen den deckenhohen, gutgefüllten Bücherregalen.
Es gibt sogar einen Kamin, der im Winter für gemütliche Wärme sorgt. Dieser Raum lädt dazu ein, zu träumen, sich bei einer Tasse Tee in einem Buch zu verlieren und alle Sorgen dieser Welt zu vergessen.
Allzu gut kann ich mir Mr. Harrington mit seiner großen, beeindruckenden Erscheinung in einem der Sessel thronend vorstellen mit einem Buch in den wohlgeformten Händen. Die vom Alter gezeichneten Seiten blättert er mit Sorgfalt um, während ein silberner Kandelaber in einer Ecke des Raumes ein warmes Licht und den schwachen Duft von Bienenwachs verbreitet.
Mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen lasse ich meinen Blick über die vielen Buchrücken gleiten. Das ist ein wahres Paradies für Buchliebhaber. Wenn ich mich nicht täusche, befinden sich alte Erstausgaben darunter. Ich sehe Titel von Shakespeare, Shelley, Swinburne, Lord Byron, Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé sowie moderne Werke der Genre-Fiktion.
Sein Geschmack ist also recht breitgefächert, was einen neugierigen Geist offenbart. Einen interessanten Geist. Hinter dem schönen, wenn auch von Narben gezeichneten Gesicht verbirgt sich also viel mehr.
Das macht mich neugierig auf ihn. Was ist ihm zugestoßen? Warum zieht er sich hierher vor der Welt zurück? Sind es nur die äußeren Narben, die ihn zu einem Eremiten gemacht haben, sodass er seine Tante bevollmächtigt hat, eine Angestellte für ihn zu suchen. Oder sind es jene auf der Seele?
Ich sehe Amüsement in seinen dunklen Augen, als sich unsere Blicke begegnen. »Sie sind eine Bücherliebhaberin?«
Ich nicke. »Natürlich. Allerdings lese ich hauptsächlich Genre-Fiktion.«
Er lächelt, was seine zuvor düsteren Züge transformiert. Dadurch wirkt er noch attraktiver und anziehender. »Diese hat dieselbe Daseinsberechtigung wie andere literarische Werke. Das ernsthafte Studium der Genre-Fiktion an Universitäten ergab, dass sie nicht weniger wertvoll ist als ihre literarischen Schwestern.«
»Sie sind wirklich kein Snob.«
Überraschung zeigt sich auf seinem attraktiven Gesicht. »Warum sollte ich einer sein? Man sollte alles auch immer im Kontext der Zeit des Entstehens betrachten. Shakespeare und Victor Hugo etwa waren stark kommerziell motiviert, und viele der französischen Impressionisten waren Trunkenbolde.«
»Wenn Sie das so sehen.«
»Das sind Tatsachen, Ms. Hathaway. Man muss sich also wirklich nicht schämen, in der Öffentlichkeit mit einem Western, Liebes- oder Fantasyroman gesehen zu werden.«
Mein Herz schlägt schneller. »Das tue ich ohnehin nicht. Aber ich weiß schon, was Sie meinen. Meine Halbschwester besitzt vier Buchhüllen in unterschiedlichen Größen, um in der Öffentlichkeit zu verbergen, dass sie Liebesromane liest. Ich jedoch stehe zu dem, was ich lese.«
»Das sollten Sie auch. Ich bitte Sie, die Bibliothek täglich gründlich zu lüften und die Bücher regelmäßig abzustauben. Lassen Sie uns nun weitergehen.« Er führt mich über den Flur in die Küche. Sie ist geräumig und modern eingerichtet. Die Möbel besitzen cremefarbene Fronten und schokoladenbraune Arbeitsflächen. Es gibt eine Kücheninsel, und die Geräte scheinen relativ neu zu sein.
Mr. Harrington öffnet eine Seitentür. »Hier haben wir unseren Vorratsraum.« Ich erblicke ein paar Regale und Schränke. Dann geht es auch schon weiter.
Er führt mich durch die großzügige Diele an einer Tür vorbei zu einem riesigen Wohnzimmer, von dem aus eine Glastür auf die Terrasse führt. Die Fensterfront bietet einen sagenhaften Ausblick auf einen gepflegten Garten und den Strand, hinter dem sich die blauen Weiten des nordatlantischen Ozeans erstrecken.
»Was befindet sich hinter der Tür zwischen der Küche und dem Wohnzimmer?«, frage ich.
»Das Speisezimmer, aber das benutze ich nicht. Ich pflege meine Mahlzeiten in meinen Räumen im Obergeschoß einzunehmen.«
»Darf ich den Raum trotzdem mal sehen?« Schließlich will auch dieser gereinigt werden. Außerdem bin ich neugierig.
»Wenn es denn sein muss.« Mr. Harrington öffnet die besagte Tür, hinter der ein geräumiges Speisezimmer zum Vorschein kommt. Eine lange Tafel aus dunklem Holz wird von zahlreichen Stühlen gesäumt. Über dieser hängt ein kristallener Kronleuchter, der dringend abgestaubt werden sollte. Ich kann mir gut vorstellen, wie er tanzende Funken durch den Raum wandern lässt, wenn die Sonne im richtigen Winkel steht. Die silbernen Kandelaber auf den Kommoden sollten auch mal wieder poliert werden.
Ich mache mir eine geistige Notiz, mich demnächst darum zu kümmern. Schließlich gehört das zu meinem Job. Auch wenn mein Chef diesen Raum nur wenig nutzt, kann ich ihn nicht verkommen lassen. Schließlich ist es durchaus möglich, dass er irgendwann ein Event darin planen wird.
Viel Zeit bleibt mir nicht, den Raum zu bewundern, da führt Mr. Harrington mich bereits weiter durchs Haus und zeigt mir den Putzschrank, die Waschküche, in der sich moderne, hochwertige Geräte befinden, sowie den Schuppen im hinteren Teil des Gartens, in dem die Gartengeräte gelagert werden.
Wir betreten wieder das Haus. »Im Untergeschoss gibt es vier Schlafzimmer, ein weiteres Büro und zwei ungenutzte Räume. Eines der Schlafzimmer belegt Mrs. Fitzgerald, deren Vertretung Sie für ein Vierteljahr übernehmen. Ein anderes davon können Sie sich aussuchen. Es gibt ein Gäste-WC und drei Badezimmer im Untergeschoss. Oben befinden sich weitere Schlafräume und Bäder, sowie mein Büro, in dem ich mich hauptsächlich aufhalte. Oben füttere ich auch meinen Kater.«
»Er scheint ziemlich scheu zu sein, denn bisher habe ich ihn noch nicht gesehen.«
»Ja, das ist er, denn er hat schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht, aber er ist auch viel draußen unterwegs.« Er deutet auf eine Katzentür, die in den Garten führt. »Als ich mit meiner Ex-Freundin in Salem unterwegs war, fand ich ihn. Er lag entkräftet hinter einer Mülltonne. Wenn er nicht ein leises Wimmern von sich gegeben hätte, wäre ich vermutlich an ihm vorbeigelaufen, ohne ihn zu bemerken. Er hatte ein Auge verloren. Die leere Augenhöhle hatte sich entzündet. Ich nahm den kleinen Kerl und brachte ihn zur Tierärztin, um ihn dort behandeln zu lassen. Seitdem lebt er bei mir.«
»Der arme Kater! Das ist aber tragisch.« Verstohlen wische ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel. »Waren Sie bei Dr. Holms?« Zu dieser netten Tierärztin bringen viele Bekannte und Freunde ihre Tiere.
Er nickt. »Ja. Kennen Sie sie?«
»Ich bin mal mit meiner Ex-Nachbarin bei ihr gewesen, weil ich sie und ihren Hund gefahren hatte. Ich selbst habe kein Haustier. Wie heißt Ihr Kater?«
»Black Jack.«
»Das ist ein interessanter Name. Spielen Sie wohl häufig Karten?«
»Früher habe ich das öfters gespielt. Der Name kam mir spontan in den Sinn, und ich dachte, er passt einfach zu ihm.«
Gemeinsam gehen wir die Treppe hoch. Oben angekommen zeigt er mir zahlreiche Räume. In den meisten von ihnen sind die Möbel mit weißen Tüchern abgedeckt. Viele davon sind Schlafzimmer. Es gibt auch mehrere offenbar ungenutzte Badezimmer. Dieser Mann hat mehr Platz, als er braucht.
»Sie müssen die nicht genutzten Räume nur einmal im Monat säubern. Ich möchte jedoch, dass Sie sie mindestens alle zwei Tage lüften, damit die abgestandene Luft entweichen kann.«
»Kein Problem. Gibt es außer mir noch weiteres Personal oder andere Mitbewohner?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, wenn nicht gerade meine Tante oder einer meiner Freunde zu Besuch ist, sind wir hier allein.«
»Aber was ist mit dem Garten? Er wirkt so gepflegt.«
»Dafür ist eine Gartenbaufirma zuständig, mit der ich einen Vertrag habe. Sie schickt in regelmäßigen Abständen Mitarbeiter vorbei. In der Küche befindet sich ein Plan, auf dem Sie das ersehen können.«
»Vielen Dank.«
Dass es außer mir hier kein Personal gibt, kommt für mich unerwartet. Schließlich ist es ein großes Anwesen. Andererseits scheint Mr. Harrington seine Ruhe haben zu wollen.
Ich werde also den Großteil des nächsten Vierteljahrs mit ihm allein verbringen. Das erzeugt ein mulmiges Gefühl in meiner Magengrube. Mit Mr. Bellamy bin ich auch oft allein gewesen.
Wie ein gemeingefährlicher Irrer oder ein Vergewaltiger wirkt Mr. Harrington nicht. Außerdem wissen die Leute von der Arbeitsvermittlung, dass ich hier bin. Trotzdem werde ich natürlich meiner Familie, meinen Freunden und meinen vorherigen Nachbarn Bescheid geben. Es ist nie falsch, vorsichtig zu sein.
»Es macht Ihnen doch nichts aus, dass das Haus hier so ruhig und abgelegen ist?«, fragt er in die Stille hinein, die sich zwischen uns ausgebreitet hat.
Ich schüttle den Kopf. »Nein, ich komme damit gut zurecht.« Sonst wäre ich wohl kaum Drehbuchautorin. Die meisten von uns sind eher introvertiert und kommen mit dem Alleinsein gut zurecht. Im Gegenteil wird es mir oft zu viel, wenn ich ständig Leute um mich habe. »Ich muss nur noch meine Sachen aus meiner alten Wohnung holen und mich dann um ein paar organisatorische Dinge kümmern.«
»Natürlich.« Er führt mich in einen der Räume. »Das hier ist mein Büro. Hier pflege ich meine Speisen einzunehmen. Morgens wünsche ich, dass mir eine Tasse Earl Grey gebracht wird. Nach dem Mittagessen pflege ich, vietnamesischen Kaffee zu trinken.«
»Kein Problem.« Ich mache mir eine weitere geistige Notiz. Ich werde später danach googeln, wie man vietnamesischen Kaffee zubereitet. Ob das ähnlich ist wie bei türkischem oder griechischem Kaffee? Ich habe keine Ahnung.
Ich lächle. Mr. Harrington wirkt ganz wie ein britischer Gentleman … Nach außen hin scheint er kühl und reserviert zu sein, doch die Tiefen seiner dunklen Augen verraten glühende Leidenschaft unter dieser Fassade.
Er öffnet eine der Schubladen seines Schreibtisches und überreicht mir einen Schlüsselbund.
Als ich ihm diesen aus der Hand nehme, streife ich versehentlich seine Finger mit meinen. Ein Prickeln überzieht meine Haut. Definitiv übt er eine starke sinnliche Anziehungskraft auf mich aus, aber ich komme damit zurecht und werde mich von ihm fernhalten. Ein Vierteljahr ist nicht lang. Außerdem sagt man nicht umsonst, dass ein gebranntes Kind das Feuer scheut.
Sein Blick verdunkelt sich für einen Moment. Spürt er es etwa auch? Schnell verdränge ich den Gedanken daran und die möglichen Konsequenzen, denn es wird keine geben. Ich werde mich absolut professionell verhalten.
Ich verstaue den Schlüsselbund in meiner Handtasche, die ich über meiner Schulter trage. »Vielen Dank.«
»Hieran befinden sich die Schlüssel für die Haustür, die Hintertür, die Garagen und den Schuppen. Die Schlüssel für die Schlafzimmer unten stecken in den jeweiligen Schlössern. Sie können sich im gesamten Haus frei bewegen, doch den Raum, der vom Flur aus gesehen links an mein Büro angrenzt, haben Sie nicht zu betreten.« Seine Stimme enthält den scharfen Unterton einer Warnung.
Vermutlich handelt es sich um sein Schlafzimmer. Wenn er sein Bett selbst machen will, werde ich ihn nicht daran hindern.
Doch dann führt er mich in sein Schlafzimmer, das unweit von seinem Wohnzimmer liegt und ein eigenes Bad besitzt. In letzterem herrschen Marmor und goldene Akzente vor. Das Schlafzimmer hingegen verfügt über gedecktere Farben, dunkles Holz und Cremetöne und wirkt auf eine individuelle Weise sehr maskulin.
Sein Blick trifft meinen. »Ich wünsche, dass Sie im Laufe des Vormittags mein Bett machen, den Wäschebehälter täglich leeren und mindestens alle zwei Tage meine Wäsche waschen. Sollten hier Tassen, Gläser oder anderes Geschirr herumstehen, bitte ich Sie, dieses in die Küche zu bringen. Am späten Nachmittag bitte ich Sie, mir ein frisches Glas mit einer Flasche Wasser in mein Schlafzimmer zu bringen.«
»Selbstverständlich.«
»Außerdem trinke ich nachmittags gegen drei Uhr jeden Tag eine Tasse Haritaki-Amalaki-Tee.«
»Was für eine Teesorte? Ich habe Sie akustisch nicht verstanden.«
»Haritaki-Amalaki-Tee. Es handelt sich um Tee aus getrockneten, indischen Früchten, die in der ayurvedischen Heilkunde verwendet werden. Den Tee werden Sie nach meiner Anleitung aus dem Pflanzenpulver zubereiten, das Sie in meinem Vorratsschrank finden. Der Vorrat sollte mindestens noch für ein halbes Jahr reichen, sodass Sie sich nicht um dessen Beschaffung kümmern müssen.«
Okay, der Mann hat sehr genaue Vorstellungen darüber, was er will und wie sein Tag verläuft.
»Darf ich Sie fragen, warum Sie diesen Tee trinken?«
»Weil er ausgleichend auf mich wirkt. Amalaki hilft meiner Haut und Haritaki meinem inneren Gleichgewicht. Es verleiht mir mehr Bewusstheit.« Er blickt auf seine Uhr. »Da es kurz vor drei ist, werden wir das gleich ausprobieren, damit Sie die richtige Dosierung kennen.«
Wir verlassen sein Schlafzimmer, um uns nach unten in seine Küche zu begeben, wo er mir seine indischen Pflanzenpulver zeigt. Mit einem kleinen Löffel entnimmt er aus jedem der beiden Behälter etwa eine Messerspitze des Pulvers und gibt es in eine Tasse. Dasselbe wiederholt er mit einer weiteren Tasse. Die Tassen befüllt er zur Hälfte mit heißem Wasser. Nach wenigen Minuten gießt er kaltes Wasser nach.
»Ich mag es nicht, extrem heiße Getränke zu mir zu nehmen. Das bekommt mir nicht gut. Es überhitzt mich.«
Etwas später sitzen wir uns auf zwei Stühlen an der Kücheninsel gegenüber und nippen an dem indischen Gebräu, das leicht bitter, herb und aromatisch schmeckt. Für Süßmäulchen ist er absolut nichts, aber er schmeckt auch nicht unangenehm.
»Erzählen Sie mir etwas über sich.« Sein Blick taxiert mich. Er versucht, mich zu durchleuchten, wird mir in diesem Moment klar. Keineswegs dient dieses gemeinsame Teetrinken dem Zweck der reinen Geselligkeit.
Er nippt an seinem Tee und stellt die Tasse, auf der der Arc de Triomphe in Paris bei hereinbrechender Dämmerung vor der Kulisse eines entflammten Himmels nebst der zu ihm führenden Straße aufgedruckt ist, wieder vor sich hin.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Meine Familie und ich leben in Boston. Dort bin ich aufgewachsen, zur Schule gegangen und habe meine Ausbildung gemacht.«
»Warum haben Sie sich für eine Ausbildung in einem Hotel entschieden?«
»Weil mich Menschen interessieren.« Auch wenn ich eine eher introvertierte Person bin, bedeutet das nicht, dass ich kein Interesse an Menschen hätte oder gar schüchtern wäre. Eher das Gegenteil ist der Fall.
Ich lächle. »Es war faszinierend, dort zu lernen. Die vielen Menschen aus aller Herren Länder, die unterschiedlichen Mentalitäten und Sitten – das alles finde ich höchst interessant.«
Stirnrunzelnd blickt er mich an. »Und warum arbeiten Sie dann nicht mehr für dieses Hotel?«
»Weil es verkauft wurde. Der ursprüngliche Eigentümer ist nicht mehr in diesem Gewerbe tätig. Sein Nachfolger behielt zwar den Namen des Hotels bei, aber die gesamte Belegschaft wurde damals ausgetauscht.«
»Wie bedauerlich für Sie.«
Ich zucke betont gleichmütig mit den Achseln. »Solche Dinge geschehen. Das Leben besteht aus Veränderungen. Wobei ich meine ehemaligen Kollegen und die Besucher des Hotels vermisse. Ich habe gerne dort gearbeitet.«
»Warum haben Sie sich dann für die Tätigkeit in einer Pension und anschließend in einem Privathaushalt entschieden?«
»Ich wollte etwas anderes sehen und neue Erlebnisse und Erfahrungen sammeln.«
Er hebt jene Augenbraue, die nicht von der Maske verdeckt ist. »Sie verfügen über einen neugierigen, offenen Geist.«
Genau dasselbe stellte ich in seiner Bibliothek über ihn fest, vorausgesetzt, er hat die Bücher erworben oder zumindest mit Interesse gelesen. »Gehören die Bücher in der Bibliothek alle Ihnen? Ich meine, haben Sie sie selbst erworben oder geerbt?«
»Ich habe die Bibliothek geerbt, doch mein Vater hielt nie viel vom Lesen. Er war der Ansicht, dass man durch Lesen das wahre Leben verpasst.