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In einem russischen Nachtclub in Paris lernte ich ihn kennen, Dimitri, den Roma mit den dunklen, brennenden Augen, die mich sofort in ihren Bann ziehen. Er ist ein Mann wie aus einer meiner wildesten, schmutzigsten Fantasien. Er war nicht der Erste, der mich küsste, aber seine Küsse brannten heißer als alles, was ich je kannte. Keine Liebe ist tiefer und keine Leidenschaft verzehrender als die unsere. Ich dachte, es wäre für die Ewigkeit, doch unsere Liebe stand unter keinem guten Stern ... Neun Jahre später treffe ich ihn in New York wieder. Ich konnte ihn niemals vergessen. Jetzt ist er der schlimmste Rivale meines Vaters. Undercover schleuse ich mich in seinem Nachtclub ein, um seine dunklen Geheimnisse aufzudecken. Nun ist er mein Boss ... Dabei entdecke ich etwas ganz Unerwartetes. Wird es mir diesmal gelingen, seiner Anziehungskraft zu widerstehen? Kann ich meinen Plan durchführen, ohne dass er mir erneut das Herz bricht oder werden sorgsam gehütete Geheimnisse uns beide zerstören?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Evelyne Amara
Zweite Chance in New York
Billionaires and the City 3
Impressum:
Copyright und Urheberrecht Oktober 2020 Evelyne Amara
Copyright Coverabbildungen:
Liebespaar: majdansky / Adobe Stock
NYC picture: kovgabor79 / Fotolia / Adobe Stock
Korrektorat: Lektorat Anti-Fehlerteufel
Coverdesign: Evelyne Amara
www.Evelyne-Amara.com
Evelyne Amara
c/o Autorenservice Gorischek Am Rinnersgrund 14/5
8101 Gratkorn
Österreich
Kapitel 1
Alexandra
In der Gegenwart in New York
Der Nachtclub Pretera in East Harlem, dem Schmelztiegel verschiedener Kulturen, ist voller Roma, aber auch zahlreicher anderer Menschen unterschiedlicher Herkunft, genau wie jener damals in Paris. Ich vernehme Kolumbianisch ebenso wie Romani in dem Stimmengewirr, das von den Tischen zu mir her dringt.
Die Einrichtung ist pittoresk im Art-Déco-Stil mit Seidentapeten, cremefarbenen Möbeln, Tischen aus cognacfarbigem Holz und mit rotem Samt bezogenen Sesseln und Zweisitzern. An den Wänden hängen goldgerahmte Spiegel und Gemälde. Vereinzelte in Szene gesetzte Kunstwerke aus aller Herren Länder vervollständigen das Ambiente mit seiner ganz und gar nicht alltäglichen, mondänen Note.
Gegen diesen Nachtclub hier wirkt der meines Vaters billig, ordinär und stillos. Vermutlich ist genau deswegen hier die Frauenquote höher, was vermutlich auch vermehrt männliche Besucher anzieht.
Ich frage mich, ebenso wie mein Vater, woher Dimitri plötzlich das ganze Geld hat. Die Theorie mit der Geldwäsche für die Russenmafia erscheint mir, jetzt, da ich all das sehe, keineswegs weit hergeholt.
Plötzlich erklingen die ersten Töne einer wundersamen Musik, die mich sogleich in ihren Bann zieht. Schmerzvolle, aber auch unsagbar schöne Erinnerungen werden wach, die ich rasch verdränge. Doch ich war nicht schnell genug. Mein Herz schlägt mir bis in den Hals.
Die Stimme, die ich in all den Jahren nie vergessen konnte, lullt mich ein mit ihrem tiefen, sinnlichen Klang. Dimitris Stimme, mit der er mir damals sanfte Liebesworte ins Ohr gesäuselt hatte. Süße Lügen, mit denen er mich eingesponnen hat in sein Netz.
Ich kenne das alte Roma-Lied noch von damals. Es heißt Chiro bezax te avel und bedeutet Der Rubin und die Perle. Es geht um Liebe und Verrat. Wie überaus passend …
Ich schlucke und trete näher. Als sein dunkler Blick dem meinen begegnet, bin ich mir plötzlich nicht mehr so sicher, ob das alles eine gute Idee ist. Nein, es ist eine schlechte Idee, eine ganz, ganz schlechte Idee. Ich hätte niemals hierher kommen sollen.
Ich dachte, dass er nach all den Jahren keine Macht mehr über mich besitzen würde, aber der kurze Blickkontakt allein jagt kalte und heiße Schauer über meinen Leib. Meine zitternden Hände verberge ich in meinen Hosentaschen, als ich nähertrete.
Jetzt ist es ohnehin zu spät. Sie haben mich erblickt, Dimitri und ein paar andere Personen, die ich nicht kenne, aber die wahrscheinlich Roma sind, ihrem Aussehen und der Kleidung nach zu urteilen. Zwei dunkelhaarige, glutäugige Frauen tanzen in opulenten, rot-gelben Gewändern um Dimitri herum, doch die exotischen Schönheiten mit ihrem wehenden, seidigen Haar lenken ihn nicht ab. Er hat mich, den Eindringling, erspäht.
Ich befinde mich in der Höhle des Löwen. Raubtiere verfolgen dich, wenn du versuchst, wegzulaufen. Ich muss mich ihm stellen. Es gibt kein Entkommen mehr.
Dimitri sieht immer noch so umwerfend aus wie damals, vielleicht sogar noch betörender mit seinem etwas längeren, dunklen Haar, den brennenden, dunklen Augen und den Schultern, die noch breiter sind als zu jener Zeit, als er ein Teenager war. Als wir beide noch so unglaublich jung waren.
Schultern, an denen ich mich festgehalten und zu den Sternen aufgesehen habe, als er … Schnell verdränge ich diese Gedanken. Ich lasse den Blick über die Tische gleiten, an denen einige Gäste sitzen, die bei einem Glas Wein, Wasser, Brandy oder einem Cocktail der Musik lauschen, deren letzte Töne verklingen. Die Atmosphäre ist dunkel, mysteriös und durchdrungen vom Charisma dieses Mannes.
Wie damals trägt er schwarz, nur dass der Stoff teuer und edel wirkt. Mein Blick fällt unwillkürlich auf Dimitris schlanke, wohlgeformte Hände, welche die siebensaitige Gitarre fest und sicher in ihrem Griff halten. Ich weiß, welche Zauber er damit weben kann, sowohl mit einem Musikinstrument als auch mit meinem Leib.
Die Erinnerungen an jene Nacht in Paris haben sich für immer in mein Gedächtnis eingegraben. In all den Jahren konnte ich nichts davon vergessen. Dies wird mich bis ans Ende meines Lebens verfolgen.
Ich darf ihn nicht so anstarren, sonst erkennt er mich noch trotz all der Mühe, die ich mir mit meiner aufwändigen Verkleidung gemacht habe. Die dunkle Perücke mit dem dicken Pony verbirgt mein honigblondes Haar und meine Stirn. Sie ist aus Echthaar, weil die anderen einfach zu künstlich aussahen oder sich unecht anfühlten. Ich kann kein Risiko eingehen, meine Identität aufzudecken, daher habe ich mir dabei Hilfe von einem Profi geholt. Ich trage braune Kontaktlinsen und eine Brille mit einem dicken, schwarzen Rahmen.
Ich räuspere mich. Hat er mich etwa erkannt? Mein Herz schlägt noch schneller gegen meine Rippen. Es ist schon fast schmerzvoll.
Dimitris dunkler Blick gleitet kurz über mich. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Du schon wieder? Ich habe dir doch gesagt, dass wir keine Stripperinnen einstellen.«
Er hält mich für eine Stripperin? Vor Empörung bleibt mir erst mal die Luft weg. Woran glaubt er, das zu erkennen? Ist der Ausschnitt meines roten T-Shirts etwa zu tief?
Doch bevor ich etwas darauf erwidern kann, spricht er weiter: »Ich kenne etliche Nachtclubbesitzer, die damit Ärger bekommen haben, weil die sogenannten Stripperinnen sich ihre Freier in den Clubs angelacht haben. Nicht, dass ich damit sagen will, dass alle Stripperinnen das machen würden, aber wir sind kein Gentlemen’s Club, sondern haben eine andere Zielrichtung.«
Wut steigt in mir auf. Er hält mich also für eine Prostituierte. Ich befürchte, wenn ich ihn jetzt erwürge, würde das meinen Chancen, einen Job bei ihm zu bekommen, nicht sonderlich zuträglich sein.
Kapitel 2
Alexandra
Zwei Tage zuvor im Tamlyn Grand Hotel
Wieder einmal warte ich auf meinen Vater. Früher war ich seine Prinzessin. Er tat alles für mich, doch seit meine Mutter mit seinem Bruder durchbrannte, als ich zehn Jahre alt war, kann ich ihm nichts mehr recht machen.
Außerdem hat er sich immer einen Sohn gewünscht, aber meine Mom konnte nach meiner Geburt nicht mehr schwanger werden und seine zweite Ehefrau wollte keine Kinder mehr, zumal sie eine Tochter aus ihrer ersten Ehe hatte.
Aber letztendlich bin ich sein einziges Kind und neben seiner dritten Ehefrau der einzige Mensch, der ihm wirklich geblieben ist. Frauen und Freunde sind gekommen und gegangen in seinem Leben. Ich jedoch bin mit ihm durch dick und dünn gegangen und er mit mir, auch wenn er mir leider nach wie vor die Schuld an meiner Scheidung gibt. Mittlerweile sieht er das glücklicherweise etwas versöhnlicher.
In den Händen halte ich den Salat, den ich ihm mitgebracht habe. Seit seinem Herzinfarkt vor einem halben Jahr achte ich darauf, dass er sich gesünder ernährt. Mal abgesehen von meiner Tante Shauna und meiner Cousine Ashley habe ich keine weiteren nahestehenden Verwandten.
Vor etwa einem halben Jahr sind wir zurück in die Staaten gezogen, weil er sich vermehrt um den amerikanischen Teil seiner Hotelkette kümmern möchte. Eigentlich wollten wir damals nicht nach Paris ziehen, aber wir blieben dort der Liebe wegen. Seiner Liebe zu Cosette Moreau, der schönen Französin, die ihm, als er dort den ersten europäischen Standort seiner Hotelkette gegründet hat, den Kopf verdrehte.
Doch auch Cosette ist jetzt Geschichte, genau wie Paris und Dimitri. Ich möchte an dieses Kapitel meines Lebens nicht mehr denken.
Ich sitze im geräumigen Vorzimmer. Seine Office-Assistentin Cecilia tippt eifrig vor sich hin. Ihr schulterlanges, rotes Haar trägt sie zu einem Half-up.
Plötzlich vernehme ich seine laute, eindringliche Stimme von der anderen Seite der Tür. »Das sind ja schlechte Neuigkeiten.« Offenbar telefoniert er.
»Dieser Nachtclub voller Zigeuner macht mir wirklich das Leben schwer. Dimitri Kurkutov heißt der Besitzer, sagen Sie?«
Heißkalt durchfährt es mich, als ich diesen Namen vernehme. Dimitri ist in der Stadt? Ausgerechnet Dimitri Kurkutov, der vor neun Jahren spurlos aus meinem Leben verschwunden ist? Ich fasse es einfach nicht.
Ein Schauder läuft mir über den Rücken und unwillkommene Erinnerungen drängen sich in mein Bewusstsein. Dimitris feurige Blicke, seine Liebesschwüre, seine kraftvolle, tiefe Stimme, mit der er mir Liebeslieder auf Romani gesungen hat.
Die Stimme meines Vaters klingt aufgebracht. »Er steckt mit der Russenmafia unter einer Decke. Dessen bin ich mir sicher. Er betreibt die Nachtclubs nur zum Zweck der Geldwäsche.«
Ich zucke zusammen, als mein Vater auf seinen Schreibtisch haut. »Natürlich habe ich die Polizei angerufen, aber es ist wie immer. Die schlitzohrigsten Halunken kommen immer durch mit ihren Machenschaften. Es gäbe zu wenige Indizien, es wäre zu aufwändig und überhaupt sei Geldwäsche oft schwer nachzuweisen. Soll ich Ihnen mal was sagen? Es liegt daran, dass ich noch nicht so lange in New York City lebe.
Hätte ich all die Jahre hier verbracht und hätte die ein oder andere gezielte Spende angebracht, wäre die Polizei kooperativer. Eigentlich sollte es ein Leichtes sein, einen Undercover-Cop in dieses Striplokal zu schicken. Wer weiß, was der noch aufdecken könnte. Illegale Prostitution vermutlich. Erst vergangene Woche stand wieder etwas darüber in der Zeitung.«
Ich erschrecke, als die Tür zu dem Büro meines Vaters plötzlich aufgerissen wird. Sein irritierter Blick fällt auf mich. »Ach, du bist es, Alexandra. Wartest du schon lange?«
Ich lächle. »Ein paar Minuten. Ich habe dir einen Salat mitgebracht.«
Er nimmt ihn mir aus der Hand. »Danke, das ist nett von dir. Leider habe ich nicht viel Zeit. Komm doch auf einen Sprung rein. Darf ich dir einen Kaffee anbieten?«
Er wartet meine Antwort nicht ab, sondern wendet sich an seine Office-Assistentin. »Cecilia, bringen Sie meiner Tochter einen Kaffee. Mit Milch und Zucker.« Ich ernähre mich seit zwei Jahren zuckerfrei. Irgendwie scheint er das bisher nicht mitgekriegt zu haben.
»Bitte keinen Zucker, aber dafür mehr Milch«, sage ich, während mein Vater mich in sein Büro führt.
»Kommt sofort.« Sie überschlägt sich fast dabei, mir einen Kaffee zu bringen.
Ich nehme ihm gegenüber an seinem riesigen Mahagoni-Schreibtisch Platz. »Mit wem hast du gerade telefoniert?«
Er stellt den mitgebrachten Salat seitlich von sich auf den Tisch. »Mit einem meiner Mitarbeiter. Belauschst du wohl meine Telefonate?« Misstrauisch verzieht er seine hellgrauen Augen zu Schlitzen.
»Das lag nicht in meiner Absicht, aber es war schwer, dich nicht zu hören.«
Er seufzt. »Es gibt so einen Zigeuner, der mir das Leben schwer macht.«
»Man nennt diese Volksgruppe Roma.«
»Wie dem auch sei. Wir ziehen vor einem halben Jahr nach New York City und was passiert? Dieser Kurkutov taucht auf. Ich investiere in hochpreisige Nachtclubs in bester Lage und was macht er? Genau dasselbe. Nur, dass er offenbar mehr Kapital hat als ich. Woher nur hat dieser Zigeuner auf einmal so viel Geld? Das ist doch nicht normal.« Er redet sich in Rage. Sein Gesicht wird rot und eine Ader an seiner Stirn schwillt an.
Besorgt sehe ich ihn an. Er muss unbedingt mehr auf sich achten. »Reg dich nicht so auf, Dad. Hast du deinen Blutdrucksenker genommen?«
Er ignoriert meine Worte. »Woher er das viele Geld hat? Von der Russenmafia natürlich. Anders kann es gar nicht sein. Und nicht nur das. Er will mich offenbar zugrunde richten.«
»Warum sollte er das tun wollen? Er kennt dich doch nicht mal.«
»Das spielt für Typen wie ihn keine Rolle. Vielleicht erinnert er sich an damals, dass ich etwas gegen eure Verbindung hatte. Aber du hattest dich ja nur ein-, zweimal mit diesem Halunken getroffen.« Er erinnert sich also noch daran, obwohl es nicht nur ein oder zwei Male waren. Dimitri und ich haben uns die meiste Zeit heimlich getroffen …
Dad seufzt. »Ich kenne diesen Menschenschlag. Sie gönnen dir nicht die Butter auf dem Brot. Sie neiden dir jeden kleinen Gewinn, den du hast, und wollen den auch noch haben. Sie wollen nur eins: alles! Solche Leute bekommen den Hals nicht voll. Sie kriegen nie genug.«
»Und was hast du vor, dagegen zu tun?«
Dad rauft sich das ohnehin bereits spärliche, rotbraune Haar. »Ehrlich gesagt weiß ich im Moment nicht, was ich dagegen tun soll. Wir können nur unseren Service verbessern, mehr auf die Wünsche unserer Kunden eingehen und ein paar Modernisierungsarbeiten durchführen lassen. Allerdings muss sich das Ganze auch lohnen. Ich will nicht drauflegen bei dem Geschäft. Die Pandemie hatte meinen Geschäften ohnehin erheblich geschadet. Es sieht nicht gerade rosig aus.«
Besorgt sehe ich ihn an. »So schlecht steht es also um deine Geschäfte? Das habe ich nicht gewusst.«
»Ich finde schon einen Weg, diesen Kurkutov aus dem …«
Ein Klopfen an der Tür unterbricht uns.
»Herein!«, ruft mein Vater. »Da bist du ja endlich.«
Prompt steht mein Ex-Mann Steven Cunningham vor uns.
»Hallo, ich wusste nicht, dass du heute hier bist«, sagt er sichtlich verlegen, als er mich erblickt. Das rote Haar hat er sich aus dem Gesicht gekämmt, die braunen Augen sind von einer Brille umrahmt. Er trägt einen graphitgrauen Dreiteiler zu polierten italienischen Schuhen.
»Und ich wusste nicht, dass du heute einen Termin mit meinem Dad hast.«
Steven führt einen von Dads Nachtclubs und ein Hotel.
»Ich warte draußen, wenn ihr euch voneinander verabschieden wollt.« Steven verlässt den Raum und schließt die Tür wieder.
Mein Vater sieht mich ernst an. »Genug geplaudert. Ich hätte dich nicht mit meinen Geschäften belästigen sollen. Das ist nichts für ein Mädchen. Steven, ich und Mitch …«
»Ich bin kein Mädchen mehr.«
Dad winkt ab und klopft sich ein Staubkorn von seiner dunkelblauen Anzugjacke. »Schön, dass du vorbeigeschaut hast, und danke für den Salat. Ich sollte wirklich mehr auf meine Ernährung achten, aber es ist alles so stressig. Hast du schon einen neuen Job?«
»Mein Zeitvertrag ist erst vorgestern ausgelaufen. Ich bin auf der Suche, aber selbst ich kann nicht hexen. Bis zuletzt habe ich gehofft, dass sie ihn verlängern, denn die Bezahlung war gut und das Betriebsklima echt klasse.«
»Wenn du mich fragst, hast du zu lange damit gewartet, dich woanders zu bewerben, die haben dich nur hingehalten und dir Hoffnungen gemacht, die sie gar nicht erfüllen wollten.«
Ich seufze. »Ich befürchte, in diesem Fall hattest du leider Recht.«
»Ich habe immer Recht. Mich wundert es trotzdem, dass du noch nichts Neues hast. Ich dachte, Leute wie du, die den ganzen Tag tippen und tappen, sind gefragter.«
Ich ziehe meine Augenbrauen nach oben. »Tippen und tappen?«
»Na, deinen Programmiererkram. Nicht, dass ich etwas davon verstehe, aber irgendwie braucht man das trotzdem. Steven hat in den nächsten Tagen frei. Warum trefft ihr euch nicht mal und klärt die Dinge von damals? Ihr könnt nicht für immer so weitermachen. Ihr beide werdet nicht jünger.«
»Zwischen uns gibt es nichts mehr zu klären.«
»Das sehe ich anders. Ihr wart verheiratet.«
Was ein Fehler war. Am liebsten würde ich das alles verdrängen … »Worauf willst du hinaus?«
»Ihr seid beide seit Jahren single. Wenn ihr aufeinandertrefft, entgeht mir nicht, wie ihr einander anseht. Ihr habt noch immer Gefühle füreinander.«
»Aber Dad. Ich liebe ihn nicht.« Es hat einfach nicht gepasst zwischen uns. Keiner hatte Schuld daran.
»Aber warum hattest du dann seit deiner Ehe keine Beziehung mehr? Das hat doch eindeutig mit Steven zu tun.«
»Das hat es, wenn auch nicht auf die Weise, die du dir vorstellst.«
»Klärt das miteinander und vergeudet nicht eure Leben. Dieser Mann liebt dich. Er würde alles für dich tun. Das hat er mir selbst gesagt.«
Ich fühle mich schuldig deswegen. Ich hätte Steven nie heiraten dürfen. Es war ein Unfall damals in Las Vegas, aber dieser Mann macht sich seit Jahren falsche Hoffnungen auf mich. Ich darf ihn nicht ermutigen.
Eindringlich sehe ich meinen Vater an. »Steven hat eine Frau verdient, die ihn liebt, die wirklich auf ihn steht und nicht weniger. Und ich habe dasselbe verdient.«
Dad seufzt. »Was für ein Drama. Alexandra, Steven ist einer meiner Top-Leute. Er ist fleißig und zuverlässig. Einen besseren Mann wirst du kaum finden. Er wird gut für dich sorgen. Und für eure gemeinsamen Kinder.«
»Zwischen uns passt die Chemie einfach nicht. Es ist nicht Stevens Schuld.«
»Ich brauche einen Enkel von dir, einen männlichen Erben, der eines Tages mein Imperium übernehmen wird.«
»Wie patriarchalisch und antiquiert sich das doch anhört.«
»Ich zähle auf dich, Alexandra. Du hast Angst vor deinen Gefühlen, davor, dass Steven dir wehtun könnte. Das musst du aber nicht haben. Wir sehen uns.« Er komplementiert mich zur Tür hinaus und bestellt sogleich einen Kaffee für Steven, der natürlich ganz frisch aufgebrüht werden muss.
Kopfschüttelnd verlasse ich das Gebäude. Wie kommt mein Vater nur auf die absurde Idee, dass ich etwas von Steven will oder ihm hinterher trauere?
Eigentlich hatte ich erwartet, dass Steven sich nach unserer Scheidung eine andere Arbeit suchen würde. Auch dass er von Paris mit nach New York City gezogen ist, kam für mich unerwartet. Er hätte durchaus eines von Dads Hotels in Paris leiten können. Kann es sein, dass Steven sich heimliche Hoffnungen macht?
Das wäre nicht gut, aber ich kann es nicht ändern. Ich kann mich nur bemühen, ihn nicht zu ermutigen. Er ist in Ordnung, aber er bringt mein Herz nicht dazu, schneller zu schlagen. Steven ist nicht nur Dads Traumschwiegersohn, sondern er soll auch eines Tages seine Hotelkette übernehmen.
Bevor ich Informatik studiert habe, habe ich meinem Vater den Vorschlag gemacht, dass ich in seine Geschäfte einsteigen würde, um diese irgendwann von ihm zu übernehmen, wenn er zu alt dafür sein wird. Daraufhin hat er gleich abgewunken, als wäre diese Idee vollkommen undenkbar und absurd für ihn. Seiner Ansicht nach sind Frauen für höhere Führungspositionen ungeeignet, weil für sie der Beruf nur eine Übergangsphase sei, bevor sie ohnehin Kinder bekommen und ihr Leben voll und ganz deren Aufzucht, dem Haushalt und vor allem ihrem Ehegemahl widmen.
Schließlich habe ich mich dazu entschlossen, Informatik zu studieren, was auch meinen Interessen und Neigungen entsprach. Trotzdem hätte ich anschließend nach wie vor in Dads Geschäft einsteigen oder ihm auf andere Weise behilflich sein können – wenn er mich denn gewollt hätte. Er hat schließlich auch nicht Hotelfachmann gelernt, sondern hat sich das Wissen in der Praxis angeeignet, als er die Chance dazu bekommen hat. Ohne diese Chance hätte er niemals damit anfangen können.
Und genau das ist es, was ich von ihm brauche: eine Chance. Dann könnte ich mich ihm beweisen und ihm zeigen, dass ich genauso viel draufhabe wie ein Mann. Dann wird er diese antiquierten Vorstellungen möglicherweise endlich über Bord werfen. Es ist erstaunlich, wie hartnäckig sich das Patriarchat an einigen Stellen hält.
Wobei ich wahrscheinlich genau deswegen froh sein sollte, nicht für ihn zu arbeiten. Trotzdem wäre es schön, endlich mal Anerkennung von ihm zu bekommen. Wobei ich mich inzwischen frage, wozu das gut sein soll und ob ich diese von ihm überhaupt wirklich benötige.
Als ich gerade durch die Straßen laufe und mir überlege, was ich mit meinem Leben anfangen soll, kommt mir eine Idee, die mich die Richtung wechseln lässt.
Dimitri
Vor einem Tag im Pretera
Erneut ducke ich mich, um dem Schlag des Unruhestifters auszuweichen. »Lass uns aufhören. Ich will keinen Ärger und ihr sicher auch nicht.« Beschwichtigend hebe ich die Hände, um ihn von meinen friedfertigen Absichten zu überzeugen.
»Das bringt nichts«, sagt mein Freund Ivan und weicht geschickt einem Schlag seines Kontrahenten aus. »Mit diesen Leuten kannst du nicht reden. Die Fäuste sind die einzige Sprache, die sie verstehen.«
Als ich einen Schlag ins Gesicht einstecke, bin ich dazu geneigt, ihm Recht zu geben. »Die Zeit für Spielchen ist vorbei«, sage ich und verpasse ihm eine volle Breitseite.
Er stolpert zurück. Blut rinnt aus seinem Mund. »Das wirst du mir büßen, du dreckiger Zigeuner!«
Ich pariere den Schlag und teile einen rechten Haken aus. Das treibt ihn und seinen Kumpan in die Flucht.
Ivan schaut ihm kopfschüttelnd nach. »Erst suchen sie Stunk und dann ziehen sie ihre Schwänze ein und hauen ab. Versteh’s wer will.«
»Vielleicht sollten wir die Polizei anrufen«, schlägt die dunkelhaarige Madlena, eine meiner Kellnerinnen vor.
Ivan winkt ab. »Als hätte die schon mal etwas für uns getan.«
»Es ist das zweite Mal in dieser Woche. Rassismus ist verpönt, aber wenn es um unser Volk geht, scheint es okay zu sein.« Wir sind Ruska Roma. In Russland waren wir Pferdehändler, Sänger und Musiker. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unsere Musik in der UdSSR sehr populär.
Ursprünglich stammen wir aus Nordindien. Wir wanderten vor etwa tausend Jahren aus, weil uns wegen der islamischen Invasion nichts anderes übrigblieb. Unsere Sprache Romani hat auch heute noch viele Ähnlichkeiten mit der Hochsprache Sanskrit, aus dem sie hervorging. Sanskrit ist eine der ältesten Sprachen der Welt.
Ivan und ich begeben uns vor die Tür, um sicherzugehen, dass die prügelnden Rüpel sich nicht noch in der Nähe aufhalten, um uns erneut Ärger zu bereiten.
Kaum haben wir den Nachtclub wieder betreten, da kommen Ivans Bruder Vladimir und dessen Tochter Selesia auf uns zugelaufen. Beide wirken entsetzt und besorgt. Selesia ist eine jugendliche Schönheit von siebzehn Jahren, die in der Küche des Nachtclubs arbeitet.
Wir servieren unseren Gästen kleinere Gerichte, die sich dank Selesias Kochkünsten großer Beliebtheit erfreuen. Sie besitzt edle, schmale Gesichtszüge, volles, honigblondes Haar und dunkle Augen wie ihre Mutter Jane, die als Tänzerin bei mir arbeitet.
Wissend lächelt Ivan mich an, als Selesia sich sogleich um meine Wunden kümmert. Sie besorgt warmes Wasser, um sie auszuwaschen und zu desinfizieren. Anschließend gibt sie Arnika-Salbe darauf.
»Sie gefällt dir, nicht wahr?«, fragt er mit einem Schmunzeln, als Selesia das schmutzige Wasser entsorgt.
Was antworte ich darauf? Weder will ich Ivan ermutigen, noch meinen Freund vor den Kopf stoßen, der eindeutig sehr stolz ist auf seine schöne Nichte. »Sie ist eine schöne Frau.«
»Eine alte Jungfer ist sie. Die meisten sind schon mit zwölf, dreizehn verlobt. Spätestens! Einige verloben sich schon mit neun. Bald wird sie keiner mehr wollen. Ihre ältere Schwester war in dem Alter schon so gut wie verheiratet.«
Ich seufze. »Wir sind nicht mehr im Mittelalter. Man muss seine Kinder nicht mehr verloben, kaum dass sie den Mutterleib verlassen haben.«
»Aber so ist es Tradition. Du bist achtundzwanzig und wirst auch nicht jünger. Solltest du dir nicht langsam ein gutes Roma-Mädchen suchen und eine Familie gründen? Ich habe bereits mit neunzehn geheiratet und glaube mir, es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens.«
»Ich habe noch Zeit.« Nicht jeder hat das Glück, in solch jungem Alter gleich die Richtige zu finden. Im Gegenteil. Das ist höchst selten.
Es gab eine Zeit, in der ich dachte, sie gefunden zu haben, doch ich hatte mich geirrt. Zwar hatte ich Paris danach verlassen, doch ein Teil von mir blieb zurück bei ihr, bei Sasha.
Kapitel 3
Alexandra
Vor neun Jahren in Paris
Céline Durant und ich waren schon immer ein Herz und eine Seele, seit sie vor anderthalb Jahren in meine Nachbarschaft gezogen ist. Ihre Familie stammt aus der beschaulichen Kleinstadt Gourin in der Bretagne. Aus beruflichen Gründen zog ihre Familie nach Paris.
Nur weil ihr Vater ein hohes Tier ist, hat mein Dad mir erlaubt, dass ich an ihrer Geburtstagsfeier am 14. Mai bei ihr übernachten darf. Eigentlich hatte sie schon gestern Geburtstag, doch da der 13. Mai auf einen Donnerstag gefallen ist, hat sich der Tag danach für die Feier angeboten.
Die Party ist bereits vorüber. Vier weitere ihrer Freundinnen waren gekommen, und wir hatten ausgiebig gefeiert. Doch über Nacht bleibe nur ich, ihre beste Freundin. Es ist ein Privileg, über das ich mich sehr freue.
»Schade, dass Julien heute nicht hier war«, sage ich.
Céline, die vor ihrer zierlichen, weißen Spiegelkommode sitzt, um ihr Make-up aufzufrischen, winkt ab. »Er war gestern mit mir zusammen.«
»Ich meinte auf der Feier.«
Sie folgt der herzförmigen Kontur ihrer Lippen mit dem dunkelroten Chanel-Lippenstift ihrer Mutter. »Er kann mit dem Weiberkram, wie er es nennt, nicht allzu viel anfangen. Mit ihm unternehme ich etwas am Wochenende. Ich freue mich so darauf.« Ein verträumter Ausdruck tritt in ihre großen, dunkelbraunen Augen.
»Was habt ihr vor?«
»Julien hat uns Karten für das Theater besorgt. Wir sehen uns Ein Mittsommernachtstraum an.«
Anerkennend pfeife ich durch meine Zähne. »Wow. Er legt sich ganz schön ins Zeug.«
»Man wird nur einmal siebzehn. Er ist wirklich der beste Freund, den man sich vorstellen kann.«
Ich seufze. »Ich beneide dich um ihn. Natürlich gönne ich ihn dir, aber solch eine Liebe möchte ich auch mal erleben.«
»Das wirst du. Ich habe es im Gefühl, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird.«
»Hoffentlich hast du Recht.«
»Und selbst wenn. Wir sind noch jung. Manche finden die wahre Liebe früher, andere später. Je unverkrampfter man ist, desto eher ist man dazu bereit. Julien bräuchte nicht so viel für mich auszugeben. Mir würde ein Picknick irgendwo genügen, vielleicht auf dem Weinberg seiner Tante Eloise in der Bourgogne. Paray-le-Monial soll zu dieser Jahreszeit besonders schön sein. Bei einer aus ihrem Keller gestohlenen Flasche Wein könnten wir zusammen die Sterne betrachten. Ich möchte nicht wissen, wie lange er hat jobben müssen, um sich das leisten zu können.«
»Sein Dad gibt ihm also keine Zuschüsse?«
»Der mag reich sein, aber er hält es für einen Fehler, Julien und seinen Bruder Pascal mit allem zu überhäufen, nur weil er selbst früher mal arm war. Er denkt, es würde den Charakter fördern.«
»Und tut es das?«
Céline zuckt mit den Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Ich denke schon, dass man stärker und selbständiger wird, wenn man sich nicht darauf verlässt, dass andere alles für einen tun oder bezahlen. Außerdem weiß man dann, dass Geld nicht auf Bäumen wächst. Julien denkt immer, er müsse mich mit solch teuren Dingen beeindrucken. Dabei will ich einfach, dass er zu mir steht, liebevoll ist, Zeit mit mir verbringt und sich etwas einfallen lässt, um mich zu überraschen. Das muss nicht teuer sein.«
»Ich denke, dahin kriegst du ihn noch.«
Céline streicht sich eine Strähne ihres schimmernden, dunklen Haares aus dem Gesicht und gibt etwas blaue Mascara auf ihre Wimpern. »Ja, das denke ich auch.« Sie blickt mich an. »Was meinst du? Steht mir das Blau?«
»Blau steht dir im Allgemeinen gut .Es ist schon ein sehr intensives Blau, aber es hat etwas.«
»Auf den Fotos der Beauty-Blogs hat es nicht so extrem Blau gewirkt wie in echt, aber vielleicht lag das an meinem Bildschirm. Was soll’s. Abends kann man sich dramatischer schminken, habe ich irgendwo gelesen. Vor allem, da wir ja heute älter aussehen wollen.« Sie lächelt verschwörerisch.
»Bei dir wird das klappen, aber mich wird jeder für sechzehn halten.« Ich bin erst vor kurzem siebzehn geworden und sehe ohnehin jünger aus. Céline ist mit ihren 1,70 m etwa fünf Zentimeter größer als ich und besitzt dunkle Augen und schokoladenbraunes, glattes Haar, das sie zu einem Longbob trägt. Vielleicht sollte ich mir mal einen richtigen Haarschnitt gönnen, anstatt mein honigblondes Haar immer ungefähr auf Schulterlänge gerade abzuschneiden.
Céline lacht glockenhell. »Nun übertreib es mal nicht so. Irgendwann wirst du froh darüber sein, nicht älter auszusehen, als du bist. Außerdem sagt mein Papa immer, bei vielem im Leben kommt es darauf an, wie man sich selbst darin sieht.
So, wie du dich verhältst, sprichst, deine gesamte Gestik, all das sollte das Selbstbewusstsein darüber ausstrahlen, dass du ein Recht darauf hast, dich heute in diesem Nachtclub aufzuhalten, genau wie alle anderen auch. Nimm dir einfach den Platz, der dir zusteht. Zweifle nicht daran.
Mein Papa meint, wenn man große Ziele hat, bleibt kein Platz für Selbstzweifel. Sonst wird man lebendig gefressen. Was ist das Schlimmste, was uns heute passieren kann? Wir werden nicht sterben. Schlimmstenfalls wird man uns nicht reinlassen oder wir werden später rausgeschmissen. Dann gehen wir einfach wieder und lassen uns etwas anderes einfallen.«
Ich beneide sie darum, dass ihr Vater sie offenbar ernst nimmt und solche Gespräche mit ihr führt. Mein Dad lebt nur für seine Arbeit. Doch dafür habe ich Verständnis. Immerhin hat er erst vor ein paar Jahren die ersten seiner europäischen Hotels in Paris eröffnet.
»Mein Dad meint, das Zolotoy Rog wäre ein Sündenpfuhl. Selbst wenn ich achtzehn wäre, würde er mich dort nicht gerne sehen.«
Céline lacht. »Weil es ein russischer Nachtclub ist. Dein Vater ist Amerikaner. Vielleicht mag er ihn deswegen nicht. Außerdem neigt er wirklich dazu, dich überzubehüten. Er will dich vor allem und jedem beschützen. Aber keine Sorge, die haben dort Security. Es kann nichts passieren. Wir wollen uns ja nicht betrinken, sondern nur ein, zwei Cocktails trinken, uns alles ansehen und die Musik hören.«
»Mein Dad wird mich umbringen, wenn er erfährt, dass wir dort waren.«
Célines Augen leuchten. »Er wird es nie erfahren. Wir werden eine Menge Spaß haben. Juliens Cousine Lynette war schon dort. Sie schwärmt in den höchsten Tönen davon. Heute kommt wieder diese Roma-Gruppe aus Tänzern, Sängern und Musikern. Sie meint, so etwas hast du noch nie gehört, und die Typen sehen so toll aus.«
Ich grinse. »Julien hat kein Problem damit, dass du dir gutaussehende Roma ansiehst?«
»Er weiß genau, dass ich nur ihn liebe und nur ihn will. Du musst dich noch umziehen.«
»Umziehen? Aber ich habe heute mein bestes Kleid an.«
Ihr Blick gleitet über mich. »Nichts gegen dein Kleid, aber darin siehst du aus wie ein Schulmädchen aus einem katholischen Mädcheninternat.«
»Mein Dad genehmigt keine Kleider mit Ausschnitt und sie müssen immer mindestens eine Handlänge übers Knie gehen.«
Céline nickt. »Siehst du? Das ist genau, was ich meine. Ich habe uns für heute Abend Kleidung von meiner Mutter geliehen …«
»Mit anderen Worten: gestohlen.« Ich weiß, wie eigen ihre Mutter ist, was ihre Kleidung betrifft. Das kann nicht gutgehen.
»Wir bringen sie ja zurück. Solange du keinen Fleck oder kein Loch reinmachst, sollte alles gutgehen. Daher habe ich schwarze Kleider genommen. Da ist das mit den Flecken halb so wild.«
»Wie beruhigend. Das minimiert die Chance, dass deine Mutter und mein Vater Wartemarken ziehen müssen auf der Liste der Leute, die uns nach dem Leben trachten.«
Céline lacht. »Das macht das alles noch viel aufregender. Komm, du solltest dich so langsam umziehen.« Sie tupft sich etwas Chanel Coco Mademoiselle, das vermutlich ebenfalls von ihrer Mutter ›geliehen‹ ist, hinter ihre Ohrläppchen und auf ihr Handgelenk.
Wenig später stehen wir in der Warteschlange vor besagtem Nachtclub. Aufgemotzt mit viel Schminke und den Kleidern einer viel älteren Frau und ihren hohen Schuhen und vielleicht auch aufgrund von Célines großzügigem Trinkgeld, das sie einem der jungen Security-Typen in die Hand drückt, lässt man uns rein.
Kristallene Kronleuchter und poliertes Mahagoni evozieren das Flair einer längst vergangenen Zeit. Die Vintage-Möbel versprühen einen ganz eigenen Charme, zeigen aber auch Klasse und verleihen dem Etablissement ein Ambiente, das man gewiss nicht überall findet.
Céline berührt meinen Arm, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie deutet auf eine schlanke Frau um die vierzig mit hochgestecktem blonden Haar und vollen, hellrot geschminkten Lippen. »Das ist Irina Ivanova, die Inhaberin des Zolotoy Rog. Sie stammt aus Wladiwostok. Früher war sie ein Model und hat in ihrer Heimat Schönheitswettbewerbe gewonnen. Irgendwann hat sie sich davon zurückgezogen. Sie lebt schon einige Zeit in Paris. Sie hat einen Franzosen geheiratet, der vor vier Jahren starb. Das Zolotoy Rog war schon immer ihr Lokal, ihr Steckenpferd.«
Ich pfeife durch meine Zähne. »Wow, du hast dich ja umfassend erkundigt.«
Sie zuckt mit den Achseln. »Denkst du, ich würde dich irgendwohin schleppen, wenn ich nichts darüber weiß? Die Band fängt gleich an zu spielen.« Célines aufgeregter Blick wendet sich in Richtung der Bühne.
Die ersten Töne einer Gitarre erklingen, dann die einer zweiten.
»Sie haben die siebensaitigen Roma-Gitarren. Julien meint, nur wenige können diese spielen«, flüstert Céline mir aufgeregt in mein Ohr.
Ihre Aufregung überträgt sich offenbar auf mich, denn als die beiden Musiker zu singen anfangen, ist es um mich geschehen. Ich vergesse alles um mich herum. Sie singen leicht zeitversetzt, ähnlich wie bei einem Kanon. Ihre Stimmen ergänzen sich perfekt. Eine ist merklich tiefer als die des anderen. Sie ziehen mich mit ihrer Musik in ihren Bann.
Der eine ist etwas älter. Er dürfte Ende zwanzig oder Anfang dreißig sein. Er trägt ein rotes Hemd. Sein dunkles Haar ist kurz geschnitten. Der andere Mann ist jünger. Er dürfte höchstens zwei, drei Jahre älter sein als ich. Seine schlanke, breitschultrige Gestalt ist ganz in Schwarz gekleidet. Sein schwarzes Haar hat er im Nacken zusammengebunden.
Unsere Blicke begegnen sich. Seine Iriden sind dunkel und geheimnisvoll. Doch im Gegensatz zu den anderen Fremden, deren Blicke sich mit meinem heute Abend gekreuzt haben, wendet er seinen nicht so schnell wieder ab. Die Luft knistert. Eine elektrisierende Spannung liegt plötzlich in der Luft.
Plötzlich stößt mich jemand von der Seite an. »Ich habe dich gefragt, ob du einen Cocktail willst.«
Ich reiße meinen Blick von dem geheimnisvollen Fremden weg und sehe meine Freundin an. »Hm.«
Céline lacht. »Na, dich hat es aber erwischt. Das ist Liebe auf den ersten Blick.«
»Es gibt keine Liebe auf den ersten Blick. Ich denke, so etwas kann sich nur langsam entwickeln.«
»Sagt die Beziehungsexpertin. Wie lange warst du mit Felix zusammen? Zwei Wochen? Er war deine längste Beziehung.«
Ich verdrehe die Augen. »Falls man das überhaupt als Beziehung bezeichnen mag. Es waren nur zwölf Tage. Er wollte, dass ich mit ihm ins Bett gehe, und hat mich bedrängt. Das war mir zu früh. Außerdem wollte ich nicht der One-Night-Stand für einen Siebzehnjährigen sein. Rein, raus, weg ist nichts für mich.«
»Das war die richtige Entscheidung. Der wollte dir nur an die Wäsche. Das erste Mal sollte etwas Besonderes sein mit jemandem, der einem etwas bedeutet und der diese Gefühle erwidert.«
Ich seufze. »Nicht jeder hat dasselbe Glück wie du mit Julien.«
»Wer weiß … So, wie dich dieser Typ ansieht, könnte daraus mehr werden.«
»Ich weiß nicht …«
»Du musst auch mal etwas wagen. Wenn du nicht aus deinem Schneckenhaus rausgehst, wird das nie etwas.«
»Ich denke nicht, dass ich bisher etwas verpasst habe. Bis jetzt hat mich auch kein Junge so richtig interessiert.«
»Genau, du sagst es: bis jetzt. Aber bei ihm ist es anders, nicht wahr? Du stehst auf ihn.« Ein wissendes Lächeln umspielt ihre vollen Lippen.
Kopfschüttelnd wende ich meinen Blick ab. »Tue ich nicht.«
»Mal ganz ehrlich. Wenn ich nicht bereits Julien hätte und nicht bis über beide Ohren in ihn verliebt wäre, könnte ich mich in ihn hier durchaus vergucken. Vielleicht stimmt Julien einer offenen Beziehung zu, dann könnte ich ihn haben. Wir leben schließlich in modernen Zeiten.«
Mein Kopf fährt zu ihr herum. »Das willst du wirklich tun?«
Siegesbewusst sieht sie mich an. Sie hat mich nur auf den Arm genommen, um diese Reaktion von mir zu provozieren. »Ich wusste es: Du stehst auf ihn. Du hast Glück. Wie du weißt, stehe ich nur auf Blonde oder besser gesagt auf einen ganz bestimmten blonden Mann: Julien. Und dieser Typ hier steht auf dich.«
»Das denke ich nicht.«
Céline streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und sieht mich mit leicht schräg geneigtem Kopf an. Ihre auffälligen Silberohrringe glitzern im Licht. »Und warum sieht er dich dann die ganze Zeit an?«
»Das tut er nicht.« Doch als ich mich zu ihm umwende, begegnen sich unsere Blicke erneut. Es kann kein Zufall sein. Céline hat Recht. Er beobachtet mich.
Ich kann nicht wegsehen, mich der Magie seines Blickes, seines Gitarrenspiels und seiner Stimme nicht entziehen, die mir unter die Haut geht und Stellen in mir berührt, die noch nie jemand zuvor berührt hat.
Céline bestellt uns zwei Aperol Float mit Sahneeis. »Wer sich nicht entscheiden kann, für den wird entschieden. Dieser Cocktail hat wenig Alkohol, sodass wir uns noch einen zweiten gönnen können, wenn wir das möchten. Ich will schließlich nicht meinen klaren Kopf verlieren, und du willst dich morgen sicher auch noch an deinen Traumboy erinnern können.«
»Er ist nicht mein Traumboy.«
Sie lächelt versonnen. »Warte es ab …«
Wenig später bringt uns eine junge, schwarzhaarige Kellnerin die mit schäumendem rosa Inhalt gefüllten Cocktailschalen. Leider hat die Band inzwischen aufgehört zu spielen. Offenbar hat sie Pause.
»Hi. Mein Name ist Dimitri. Seid ihr heute zum ersten Mal hier?«, vernehme ich eine tiefe, rauchige Stimme, die mir unter die Haut geht.
Als ich den Blick hebe, begegne ich dem des jungen Mannes, von dem ich die ganze Zeit kaum die Augen habe abwenden können. Mein Herz klopft schneller und ich spüre, wie meine Hände leicht zittern.
Ich räuspere mich, da meine Stimme zu versagen droht. »Ja, das sind wir.«
Sein Lächeln hat etwas Einnehmendes an sich, etwas Charismatisches. »Dachte ich es mir doch, denn dich hätte ich gewiss nicht vergessen. Lebst du in Paris?«
Ich nicke. »Ja. Spielst du öfters hier?«
Aus der Nähe sind seine dunklen Augen noch mehr in den Bann ziehend. »Jede Woche um diese Zeit. Wie heißt du?«
»Alexandra.«
»Und wie nennen dich deine Freunde?«
»Ich habe keinen Spitznamen.«
Er lächelt. »Dann nenne ich dich Sasha. Dieser Name für dich soll nur mir gehören. Es gibt ein Lied in Romani, der Sprache meines Volkes, über eine Sasha. Ich werde es später für dich singen.«
Mein Gesicht glüht bei seinen Worten. Sein wissender Blick zeigt mir, dass ihm nichts entgeht. »Danke.«
»Möchtest du wissen, was der Text bedeutet?«
Ich nicke. »Ja, natürlich möchte ich das.«
»Dann übersetze ich ihn dir: Hundert Meilen reiste ich, oh, nirgendwo fand ich eine Gefährtin. In die Stadt Moskau kam ich und nahm mir Frauen. Sasha, liebe Sasha, deine dunklen Augen, warum musstest du mich so beunruhigen?«
»Das ist ein interessanter Text, vor allem ist er vieldeutig.«
Eindringlich sieht er mich an. »Du beunruhigst mich. Du wühlst mich auf. Mehr als hundert Meilen reiste ich, um dich zu finden, Sasha. Ich wurde in Komsomolsk-on-Amur geboren, einer bedeutenden russischen, am Westufer des Flusses Amur gelegenen Industriestadt im Khabarovsk Krai. Jetzt weißt du, wie weit ich reisen musste, um dich zu finden. Mehr als 7.000 Meilen oder 11.500 Kilometer. Aber du stammst auch nicht von hier, nicht wahr?«
»Ich bin aus den Vereinigten Staaten.«
»Dein Akzent hat dich verraten.« Seiner ist höchst eigentümlich und exotisch mit einem Hauch Französisch. Es ist eine Mischung, wie ich sie noch nie zuvor vernommen habe.
Eindringlich sieht er mich an. Sein dunkler Blick nimmt mich gefangen. »Wirst du an mich denken, wenn ich ihn für dich singe?«
Als könnte ich das nicht tun …
»Dimitri, du musst zum Chef«, sagt einer seiner Kollegen zu ihm, der zu uns an den Tisch tritt. Ich bin froh, dass er mich von einer Antwort befreit, denn ich bin eher unbeholfen, was das Flirten betrifft.
»Wie schade. Ich hätte mich gerne länger mit dir unterhalten, aber die Arbeit ruft. Meine Pause ist auch gleich vorbei. Bis bald, Sasha.« Als er meine Hand ergreift und mir einen Kuss auf den Handrücken gibt, bekomme ich fast Schnappatmung. Meine Haut kribbelt und mein Herz trommelt in einem wahnsinnigen Tempo.
Ich sehe ihm nach, wie er sich von mir entfernt, und frage mich, was gerade eben geschehen ist. Es ist eine Begegnung der besonderen Art.
Céline fächelt sich mit einer Serviette Luft zu. »Du meine Güte ist es hier heiß. So heiß ist es in der Wüste nicht. Es ist, als würde die Luft zwischen euch beiden brennen.«
Kann diese Frau Gedanken lesen?
Wenig später treten die Musiker wieder mit Ihren Instrumenten auf die Bühne. Ich sehe, dass Dimitri sich ein Glas Wasser geholt hat und mir damit kurz zuprostet. Er stellt es auf einen kleinen Beistelltisch ab und greift dann nach seiner siebensaitigen Roma-Gitarre, die ein wenig kleiner ist und einen etwas anderen Klang hat als eine gewöhnliche Gitarre.
»Das nächste Lied singe ich für Sasha, meine Sashenka! Es heißt Shel me versty, was übersetzt so viel bedeutet wie Hundert Meilen reiste ich.« Sashenka ist die Verniedlichungsform von Sasha.
Während er zu singen beginnt, sieht er mir fortwährend in die Augen.
Die Musik geht mir durch Mark und Bein und seine Stimme betört mich. Sie webt mich ein in einen Zauber, ein Gespinst aus Mondlicht und Sehnsucht, dem ich mich nicht entziehen kann. Diese Sprache besitzt eine eigene, uralte Melodie, eine Macht, die er mit jedem Wort und jeder Silbe entfaltet.
Sein Blick bohrt sich in meinen. »Sashenka, Sashenka …«
Mein Herz klopft schneller. Céline hat Recht. Die Luft zwischen uns knistert und brennt. Daher bestelle ich mir, nachdem ich meine Cocktailschale geleert habe, ein Wasser. Doch dieses vermag das Feuer in mir nicht zu verlöschen, nein, nicht mal zu vermindern. Ich stehe in Flammen für diesen Mann, von dem ich nur den Vornamen kenne und sonst nichts.
Gegen Ende des Abends, als die Musiker die Bühne geräumt haben, kommt eine Kellnerin in einem adretten schwarz-weißen Kleid auf mich zu und stellt vor mir ein kleines, rundes Silbertablett hin. »Einmal Wodka mit Schokolade ohne Wermut.«
Verwundert sehe ich die hochgewachsene, schwarzhaarige Französin an. »Aber das habe ich nicht bestellt.«
Sie zwinkert mir zu. »Es ist von Dimitri.«
Ein Zettel liegt unter der Cocktailschale. Ich falte ihn auf und lese die schwarzen Lettern in Dimitris geschwungener Handschrift:
Süß mit einer gewissen Schärfe, aber ohne Bitterkeit, genau wie Du. Daher habe ich den Barkeeper gebeten, den Wermut wegzulassen.
In einer Viertelstunde am Hinterausgang. Ich freue mich auf Dich, Sasha.
Dimitri
Céline blickt mir neugierig über die Schulter. Als sie die Zeilen liest, verziehen sich ihre vollen, dunkelrot geschminkten Lippen zu einem wissenden Lächeln.