Verlassen - ohne Worte - - Petra Weise - E-Book

Verlassen - ohne Worte - E-Book

Petra Weise

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Beschreibung

"Du musst es ihr sagen!" Nicole schaut Torsten ernst und sehr bestimmt in die Augen. Er schüttelt den Kopf. "Das kann ich nicht." "Du musst! Deine Frau wird lernen, ohne dich zu leben." Torsten verlässt seine Frau - ohne ein Abschiedswort. Doch er geht nicht zu Nicole. Er fährt ziellos Richtung Süden und lernt unterwegs Menschen kennen, die ebenso wie er ihre Familie verließen. Schließlich landet er am Grundlsee in Österreich und kann dort endlich mit seiner Vergangenheit abschließen.

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Es schien nur so wie scheinheilig oder scheinbar. Nichts ist so wie es scheint und es scheint nichts so wie es ist.

Inhalt

Geburtstag

Abreise

Freundinnen

Unterwegs

Bad Ischl

Grundlsee

Couchsurfer

Männergespräche

Geständnis

Schluss

Geburtstag

„Du musst es ihr sagen!“

Nicole legt ihre Hand auf Torstens Arm und

schaut ihm ernst in die Augen.

Torsten schüttelt den Kopf.

„Das kann ich nicht.“

„Du musst, denn es ist wichtig, dass du mit ihr sprichst. Sie wird lernen, damit zu leben.“

„Wie soll sie lernen, ohne mich zu leben? Anja liebt mich, das weißt du.“

Die junge Frau nickt.

„Ich weiß. Und genau deshalb ist es wichtig, ihr alles zu erzählen. Anja hat ein Recht auf die Wahrheit.“

Wieder schüttelt Torsten seinen Kopf.

„Ich weiß, dass ich sie verlassen muss, aber sagen kann ich es ihr nicht.“

„Du musst!“, wiederholt Nicole.

Widerwillig steht Torsten auf.

„Wir treffen uns morgen gleich nach dem Mittag und ich möchte, dass du mir dann berichtest, wie das Gespräch verlaufen ist.“

Dabei klopft sie wie mahnend mit ihren Fingern auf den Tisch und schaut Torsten ernst an, als könne sie ihn mit ihrem Blick lenken.

„Nicole! Ich bitte dich!“

Sie steht ebenfalls auf, umfasst mit beiden Händen seine Hand und schaut ihn nochmals eindringlich an. Ihr Blick wird sanft, als sie fragt: „Möchtest du, dass ich mit deiner Frau spreche, dass ich ihr alles erkläre?“

Ruckartig entzieht ihr Torsten seine Hand.

„Nichts wirst du!“, faucht er wütend. „Das ist allein meine Sache.“

„Wie du willst. Ich kann dir keine Zeit mehr geben. Verstehst du das nicht?“

Torsten fühlt sich unter Druck gesetzt. So etwas verträgt er gar nicht. Nicole hat leicht Reden, sie hat weder einen Partner noch Kinder. Sie ist frei und kann sich vermutlich nicht vorstellen, wie es ist, die Familie zu verlassen und ihr brutal zu sagen, dass es keine gemeinsame Zukunft geben wird.

*****

Eilig verlässt Torsten den Raum, in dem er seit einer guten Stunde mit Nicole spricht. Die sonst so sanfte und verständnisvolle Nicole hat ihn soeben als Feigling beschimpft, weil er sich weigert, Anja die Wahrheit zu sagen. Doch er bringt es einfach nicht übers Herz, ihr diesen Schmerz zuzufügen, ihr zu beichten, dass er sie verlassen wird. Sehr bald schon. Am besten gleich heute oder morgen.

Torsten hat lange darüber gegrübelt, wie er Anja erklären soll, dass er sie verlassen muss. Er ist zu keinem Schluss gekommen. Denn sobald er sich ihr Gesicht vorstellt, wie er ihr genau das sagt, was Nicole von ihm verlangt, weiß er, dass er dazu nicht fähig ist. Er weiß nur, dass er gehen muss und hat sich längst entschieden. Doch er wird Anja keinen reinen Wein einschenken, er wird einfach seine Sachen packen und verschwinden. Ohne Abschied. Ohne Tränen.

Ihm graut davor. Ihm graut heute sogar vor seinem Zuhause, seinem großen Haus, in dem er seit fast zehn Jahren mit seiner Frau und den beiden Töchtern lebt. Es ist ein schönes Haus, das er damals passend für seine Familie bauen ließ. Doch ihm nützt dieses schöne geräumige Haus nichts mehr. Er wird seine Sachen packen und gehen. Nur heute nicht. Heute ist ein denkbar ungünstiger Tag, denn heute ist sein Geburtstag, der vierzigste.

Anja wird bereits auf ihn warten. Er hat versprochen, pünktlich daheim zu sein, doch er hat keine Lust. Keine Lust auf Anja und erst recht keine Lust auf Torte und schon gar keine Lust auf eine fröhliche Feier mit den Freunden am Abend.

Nur auf seine beiden Mädchen freut er sich. Sofie ist vierzehn Jahre alt, Marie zwölf. Sie zu verlassen wird ihm schwer fallen, sehr schwer. Doch es muss sein, sein Entschluss steht fest.

*****

Marie springt jubelnd auf ihn zu und ruft: „Papa, ich habe eine Zwei in Englisch.“

„Das wurde auch Zeit! Ich dachte schon, du bist zu dumm, solch eine einfache Sprache zu begreifen.“

Marie lacht. Sie fasst den Spruch als Scherz auf.

Doch Anja schaut ihren Mann verwundert und gleichzeitig fragend an, denn sie hat den scharfen Ton in seiner Stimme bemerkt. Trotzdem geht sie lächelnd auf ihn zu, um ihm den Begrüßungskuss zu geben.

„Lass das!“, faucht er und dreht sich zur Seite.

Erschrocken weicht sie einen Schritt zurück.

„Gab es Ärger in der Kanzlei?“, fragt sie mitfühlend.

Torsten ist ein sogenannter Workoholic, ein Arbeitswütiger, der nahezu täglich bis spät in die Nacht hinein arbeitet. Ihm fällt es schwer, sich von der Arbeit loszureißen. Meist bringt er einen ganzen Stapel Akten mit nach Hause, um die aktuellen Streitfälle durchzusehen. Anja schätzt seinen Ehrgeiz und seine Zuverlässigkeit, obwohl sie sich manchmal wünscht, dass er mehr Zeit für sie und die Mädchen hätte und auch, dass er hin und wieder von seiner Arbeit erzählt. Doch das tut er nicht. Wichtige Dinge behält er ohnehin für sich und unterrichtet Anja nur vom Ergebnis, aber auch nur dann, falls es sie direkt betrifft.

Sie vermutet Ärger in der Kanzlei, der vielleicht mit der neuen Datenschutzverordnung zusammenhängt. Sie weiß, dass deshalb viel umgestellt werden muss, was zusätzliche Arbeit bedeutet.

Doch heute ist er wie versprochen pünktlich zum Vesper daheim, worüber sich Anja sehr freut. Seine üble Laune freut sie allerdings nicht.

„Was geht dich das an?“, brummt er.

Mürrisch und kurz angebunden ist Torsten immer, doch normalerweise fährt er ihr nie derart grob über den Mund. Die meisten Leute empfinden ihn als abweisend und direkt unfreundlich. Sogar ihre gemeinsamen Freunde stören sich an Torstens schroffer Art.

„Kümmere dich um deinen eigenen Kram!“, fordert er barsch und zeigt auf die Küchenzeile. „Gibt es keinen Kaffee?“

„Er ist bereits fertig. Ihr könnt euch an den Tisch setzen.“

Anja greift nach der Kaffeekanne. Doch sie muss sich erst einmal sammeln, bevor sie die Kanne zum Tisch trägt. Sie glaubt zwar, dass Torstens üble Laune nichts mit ihr zu tun hat, trotzdem ist sie irritiert. So grob kennt sie ihn nicht. Und sie will auch nicht, dass er seinen Frust, was immer die Ursache sein mag, an ihr auslässt.

Sofie betritt leise die Stube. Sie trägt ihre Gitarre im Arm und stellt sich neben Marie.

Beide Mädchen strahlen übers ganze Gesicht und singen: „Happy birthday to you ...“

Weiter kommen sie nicht.

„Müsst ihr ausgerechnet englisch singen?“, fährt Torsten wütend dazwischen und wendet sich ab.

Erschrocken schauen die Mädchen ihren Vater an. Anja geht schnell zu ihnen und legt ihre Hände beruhigend auf die Schultern.

„Euer Vater hatte ausgerechnet an seinem Geburtstag einen harten Tag“, erklärt sie.

„Wie kommst du darauf?“

Er verzieht sein Gesicht und zeigt auf den Tisch.

„Ich habe nur keine Lust auf eklige Sahnetorte, ein Wurstbrot ist mir lieber.“

Anja weiß das, doch zum Geburtstag gehört nun einmal Torte. Trotzdem fragt sie: „Soll ich dir eine Schnitte mit Salami machen?“

„Das kann ich selbst“, brummt er.

„Eben. Das kann er selbst“, echot Marie.

„Warum meckerst du heute dauernd?“

„Werde nicht frech, Fräulein!“, schimpft Torsten und schaut seine Tochter drohend an.

Doch Marie kichert. Sie vertraut darauf, dass ihr Vater sie liebt und nur derbe Scherze macht.

„Du bist ein alter Brummbär!“, tadelt sie lachend.

In Torstens Augen blitzt es. Schnell dreht er sich weg und setzt sich an den Tisch. Zuerst schiebt er das Gedeck zurück.

„Die Mädchen können nichts für deinen Ärger und ich auch nicht. Heute ist dein Geburtstag, den möchten wir in Ruhe und vor allem fröhlich mit dir feiern.“

Anja versucht, ihre Stimme normal und ruhig klingen zu lassen. Doch so richtig will ihr das nicht gelingen. Sie versteht nicht, weshalb sich Torsten heute so aggressiv verhält.

„Schneidest du die Torte an?“, bittet sie freundlich.

Das Teilen der Geburtstagstorte ist ein festes Familienritual, das immer sehr feierlich vom jeweiligen Jubilar ausgeführt wird.

Doch Torsten greift nicht zum Messer. Er springt vom Tisch auf, wirft dabei den Stuhl um und brüllt: „Ach, lasst mich doch in Ruhe!“

Dann geht er hinaus auf die Terrasse. Die Balkontür lässt er offen, obwohl es kalt ist. Es hat den ganzen Vormittag geregnet, doch inzwischen riecht die Luft nach Schnee. Es wäre der erste in diesem Winter.

Sofie hat ihre Gitarre an die Wand gelehnt. Sie sitzt auf ihrem Stuhl und weint, während Marie das Messer nimmt und ein Stück Torte schräg vom Rand abschneidet und mit Schwung auf ihren Teller kippt.

„Pardon!“, nuschelt sie, zeigt auf die Sahnekleckse, die auf dem Tisch liegen, und beginnt ungerührt zu essen. „Lecker!“

Anja lächelt. Ihre etwas ungestüme kleine Tochter nimmt alles wie es kommt. Sie wartet nicht ab, sondern handelt, während sich die eher stille Sofie schnell gekränkt zurückzieht und viel grübelt. Anja greift zum Messer und halbiert die Torte. Wie in jedem Jahr hat sie die Torte selbst gebacken und zwar eine Schokosahne-Torte mit Birnen, viel Schokolade und noch mehr Sahne. Die Zubereitung war recht aufwändig und die Mädchen haben mehr genascht als geholfen. Doch sie haben alle drei viel gelacht dabei.

Jetzt ist ihr nicht mehr zum Lachen zumute.

Anja stellt ein großes Stück auf Sofies Teller und sagt: „Lass es dir schmecken, meine Große.“

Sich selbst nimmt sie das Stück, das von Maries ungeschicktem Herauslösen ein eher undefinierbarer brauner Sahneberg ist.

„Ich will auch noch eins!“

„Möchte bitte“, korrigiert sie.

Marie verdreht die Augen.

„Lecker!“, lobt nun auch Sofie.

Sie hat aufgehört zu weinen. Doch zuckt sie zusammen, als Torsten zurück ins Zimmer kommt und die Balkontür laut zuschnappt.

„Ich muss noch mal weg“, brummt er.

„Warte! Willst du nicht mit uns essen?“, fragt Anja.

„Hast du nicht gehört, dass ich weg muss?“

Anja schluckt ihre Antwort hinunter. Sie versteht Torsten nicht. Warum will er ausgerechnet jetzt weg und wohin?

„Vergiss bitte nicht, dass wir uns am Abend mit unseren Freunden treffen!“, erinnert sie ihn.

„Es ist mein Geburtstag und den feiere ich, mit wem ich will“, sagt Torsten gereizt.

„Wenn du nicht mit ihnen feiern willst, rufe sie bitte an und sage ab!“

„Das machst du gefälligst selbst, schließlich hast du sie eingeladen!“

Anja ist anzusehen, dass sie längst wütend ist und Torstens Grobheiten nicht mehr hinnehmen wird.

„Papa! Sei doch fröhlich! Heute ist Geburtstag.“

Marie klatscht in die Hände und lacht ihren Vater an.

„Ich habe extra für dich meinen Musikunterricht ausfallen lassen“, flüstert Sofie.

„Ich habe dich nicht darum gebeten.“

Sofie rutscht tiefer in ihren Stuhl und bemüht sich, nicht schon wieder zu weinen.

Torsten verlässt eilig das Esszimmer und ruft dabei: „Ich komme nach.“

Fast gleichzeitig schlägt die Wohnungstür zu.

„Ob er den Gasthof meint?“, überlegt Anja laut. „Logo.“

Marie lacht. Sie fährt mit ihrem Zeigefinger über den Teller, um die letzten Sahnereste aufzuschlecken.

„Papa ist eben ein Brummbär. Und jetzt ist er außerdem alt, alt und mürrisch wie ein Opa.“

„Opa ist gar nicht mürrisch“, korrigiert Sofie, „eher die Oma.“

„Wo sind die beiden überhaupt?“

Marie schaut sich in der Stube um, als hätten sich die Großeltern irgendwo im Raum versteckt.

„Euer Vater wollte mit seinen drei Mädels allein sein an seinem Geburtstag.“

„Aber Mama! Du bist doch kein Mädel!“, empört sich Marie kichernd.

„Und jetzt sind wir allein“, murrt Sofie und kratzt mit den Fingern auf ihrer Hose, als müsste sie einen Fleck beseitigen. „Der Papa ist weg, hat uns einfach sitzenlassen. Und doof ist er heute auch.“

„Sofie!“, mahnt Anja streng.

„Ist doch wahr“, verteidigt sich das Mädchen.

„Jeden hat er angeblafft, als wären wir ihm zuwider.“

Insgeheim stimmt Anja zu, doch laut sagt sie:

„Er meint es nicht so. Sicher hatte er Ärger in der Kanzlei. Ihr kennt das schließlich aus der Schule, wenn ein Streit euch die Laune verdirbt. Am nächsten Tag ist alles vergessen.“

„Schön wär´s!“, nuschelt Sofie. Dann fügt sie hinzu: „Wir dürfen nicht so herummotzen wie der Papa.“

Sie verdaut garstige Worte des Vaters nicht so leicht. Meist grübelt sie lange darüber nach und spricht mehrere Tage nicht mit ihm. Sie will ihn damit strafen, doch meist merkt er das gar nicht.

„Ach was! Der hat die Midlife-Krise, das ist bei Männern so. Wenn sie alt werden, nehmen sie sich eine junge Frau, das habe ich selbst gelesen.“

Marie schaut mit hochgezogenen Brauen zwischen ihrer Mutter und Schwester hin und her, als wäre sie stolz auf ihre erklärenden Worte.

„Glaubst du wirklich?“, flüstert Sofie ängstlich.

Sie überlegt, was aus ihr werden soll, falls der Vater tatsächlich die Familie verlässt. Und schon wieder steigen ihr die Tränen in die Augen.

„Klar! Das ist so!“, bestätigt Marie.

Anja schaut Marie streng an. „Du redest Unsinn.“ Eilig steht sie auf. „Wenn ihr nichts mehr essen wollt, helft mir bitte beim Abräumen!“

Sofie greift nach den Tellern und stapelt sie übereinander, während Marie mit ihrem Finger Sahne von der Torte schleckt.

„Lass das!“, tadelt Anja, doch sie lächelt dabei.

*****

Torsten läuft eilig die Straße entlang und ärgert sich, weil er den Autoschlüssel nicht mitgenommen hat. Wenigstens steckt der Geldbeutel wie immer im Mantel. So kann er ein Taxi rufen. Doch wohin könnte er sich fahren lassen? Als erstes fällt ihm Nicole ein. Doch sie würde ihm zu viele Fragen stellen, die er nicht beantworten will. Nicht jetzt und auch nicht später.

Wütend beschleunigt er seinen Schritt in Richtung Innenstadt und steht plötzlich vor dem Haus von Anjas Eltern. Die hätte er fast vergessen, obwohl sie bisher bei jedem Familienfest dabei waren.

Unschlüssig betrachtet er die Tür zum Haus und überlegt, ob er hineingehen soll. Doch er tut es nicht, denn sie würden sich darüber wundern, dass er so allein bei ihnen aufkreuzt. Er weiß, das sie ihn mögen. Er mag sie auch. Solche Eltern hätte er selbst gern gehabt.

*****

Seine Mutter verstarb mit nur dreiundfünfzig Jahren. An seinen Vater kann er sich nicht mehr erinnern, weil er die Familie verlassen hatte, als Torsten noch sehr klein war. Es gab noch einen Bruder. Auch an den erinnert sich Torsten nicht, obwohl in der Wohnung der Mutter unzählige Kinderbilder von ihm an den Wänden hingen und auf der Anrichte standen. Die Mutter erzählte nahezu täglich die immer gleiche Geschichte mit immer den gleichen Worten: „Dein Bruder sah seinen Vater auf der anderen Straßenseite und lief ihm entgegen. Da kam ein Auto und überfuhr ihn.“

Während der ersten Jahre sprach sie diese Worte stockend und weinte dabei, später klangen sie wie eine Formel in einer fremden Sprache, völlig emotionsfrei.

Zu allem Übel war Torsten nicht so ein wunderbares Kind wie sein verstorbener Bruder. Er hatte keine Locken wie er, konnte nicht so hinreißend lachen wie er und nicht einmal so geschickt wie er einen Ball fangen. Das ließ ihn die Mutter spüren, Tag für Tag und Jahr für Jahr.

Das hatte er einfach nicht mehr ertragen können und packte bereits mit sechzehn Jahren seinen Rucksack und ging fort. Fast vier Monate lang lungerte er auf der Straße herum, besuchte keine Schule und kroch mal hier und mal da unter.

Einmal versteckte er sich in einem Keller und wurde prompt vom Hausherrn entdeckt, der sofort die Polizei alarmierte. Dabei hatte er nichts gestohlen, nur ein Glas eingeweckte Kirschen geöffnet und leergegessen.

Die Polizei lieferte ihn wie ein Paket daheim bei der Mutter ab. Nun musste er sich täglich anhören, dass er einen ebenso schlechten Charakter wie sein Vater habe, weil er genau wie dieser einfach davonlief. Ohne Abschied. Ohne Erklärung.

Es kam zu einer Gerichtsverhandlung und er musste als Strafe drei Wochen in einem Pflegeheim arbeiten. Diese Arbeit gefiel ihm gar nicht. Deshalb lehnte er das Angebot, Altenpfleger zu lernen, entschieden ab. Auch technische Berufe interessierten ihn nicht. Und eine Tätigkeit im Büro stellte er sich schrecklich langweilig vor. Natürlich war ihm klar, dass er einen Beruf erlernen musste.

Schließlich zwang ihn Mutter, in der Kanzlei eines Bekannten eine Lehre zu beginnen. Rechtsfachangestelter – das klang viel hochtrabender als es war. Anfangs kopierte er stundenlang irgendwelche Akten, doch ab dem dritten Lehrjahr führte er selbständig die gesamte Korrespondenz der Kanzlei, koordinierte Termine und bereitete die Unterlagen vor, die die Anwälte für Mandantengespräche oder für das Gericht benötigten. Von da an machte ihm die Arbeit Freude.

Sofort nach dem Ende der Lehrzeit zog er daheim aus.

Nach zwei Jahren vergrößerte sich die Kanzlei. Es gab jetzt acht Anwälte, eine Sekretärin und eine Auszubildende. Und Torsten nutzte die Gelegenheit, sich zum Rechtsfachwirt weiterzubilden. Als Rechtsfachwirt hatte er viel mehr Möglichkeiten als ein Anwalt, was die Arbeit interessant und abwechslungsreich machte und ihn zudem in der Kanzlei unentbehrlich.

*****

Die Haustür öffnet sich, ein Mann tritt heraus.

„Guten Tag, Herr Lohmann, Ihre Schwiegereltern sind leider nicht daheim.“

„So … vielen Dank.“

Erleichtert dreht sich Torsten um und schmunzelt amüsiert. Lohmann heißen seine Schwiegereltern, sein Name ist Leitner.

Er geht weiter Richtung Innenstadt. Dort setzt er sich ins Vapiano, sein Lieblingsrestaurant und bestellt einen Gin Tonic. Anja mag das Vapiano nicht und zwar genau aus dem Grund, aus dem ihm dieses Lokal so angenehm ist. Man geht an die Theke und wählt seine Lieblingspasta aus, danach die anderen Zutaten, die direkt vor seinen Augen zubereitet werden. Ihm gefällt das, Anja nicht. Sie fühlt sich hier wie in einer Betriebskantine.

Unwillkürlich muss Torsten lächeln, als er an Anjas Begründung denkt.

Sie hat für heute Abend einen Tisch im Cortina bestellt, weil man dort gemütlicher sitzt und vor allem normal bedient wird.

Anja. Torsten denkt daran, wie er seine Anja kennenlernte. Es war die sogenannte Liebe auf den ersten Blick, als er in ihre großen blauen Augen schaute. In diesen wunderschönen Augen konnte er lesen wie in einem Buch und wusste auch dann, was sie denkt, wenn sie nichts sagte. Dass Anja nicht so fröhlich schnatterte und albern kicherte wie die Mädchen, die er bisher kannte, gefiel ihm sofort. Er mochte ihre stille und doch sehr bestimmte Umgangsart, ihre Art zu gehen und zu lächeln, eigentlich mochte er alles an ihr. Irgendwie war beiden sofort klar, dass sie zusammenbleiben und Kinder haben wollten. Alles war perfekt. Die beiden Mädchen wurden geboren, sie zogen in ihr neues, wunderschönes Haus – so hätte es bleiben können.

So wäre es mit Sicherheit auch geblieben, wenn er nicht vor vier Monaten Nicole kennengelernt hätte. Er ist jede Woche, manchmal öfter bei ihr. Seitdem ist alles, was Nicole sagt, äußerst wichtig für ihn.

Und jetzt verlangt sie, dass er Anja alles erzählt. Doch das kann er nicht. Wie sollte er ihr in die Augen schauen, wenn er ihr sagt, dass er sie verlassen wird? Sie und die Mädchen. Dass es kein Zurück mehr gibt. Er schafft das einfach nicht.

Torsten denkt an Anja und gleichzeitig an Nicole. Die beiden Frauen haben nichts gemeinsam und unterscheiden sich schon äußerlich voneinander. Anja ist ein sehr weiblicher Typ, den sie mit Blusen und Kleidern betont, Nicole dagegen eher sportlich in bequemen Freizeithosen, Pullis und flachen Schuhen. Ihre glatten braunen Haare bindet sie einfach zusammen, während Anja ihre weichen Locken gern offen trägt. Allerdings benutzt keine der beiden Frauen Schminke oder Parfüm. Für Anja zählt vor allem die Familie, der sie alles andere unterordnet. Nicole lebt allein und genau wie Torsten mit vollem Einsatz für die Arbeit. Er kennt niemanden, der sich derart für seinen Job engagiert wie Nicole. Das Einzige, was ihm an Nicole nicht gefällt, ist ihr übertriebener Perfektionismus, der schon an Kleinlichkeit grenzt. Sie toleriert nicht den kleinsten Fehler und duldet keine Halbheiten. Dass er sich weigert, mit Anja zu sprechen, hat sie direkt wütend gemacht. Aber er lässt sich nicht erpressen.

Missmutig schaut er in sein Glas und dreht es hin und her.

Mit seinen Gedanken ist er in der Kanzlei - bei diesem fürchterlichen Streit zwischen ihm und Georg, seinem Chef.

*****

Die Anwälte, Sekretärin, Praktikantin und der Lehrling stießen mit einem Glas Sekt auf sein Wohl an, dankten ihm für die Platte voller Kuchenstücke und wünschten ihm ein langes Leben in bester Gesundheit.

Torsten wusste nichts zu sagen. Dass er eher wortkarg und nie zu Späßen aufgelegt ist, sind seine Kollegen gewöhnt. Er hob nur kurz wie entschuldigend beide Arme und ging aus dem Raum.

Heute Morgen folgte ihm Georg, der Inhaber der Kanzlei, und fragte: „Was ist los mit dir?“ „Was geht’s dich an?“, fauchte Torsten.

Überrascht schaute Georg auf. Solch eine hochfahrende Reaktion hatte er nicht erwartet.

„Dass du in letzter Zeit ständig gereizt bist, geht mich sehr wohl etwas an.“