Vom Wiederfinden  des Fühlens - Holger Niederhausen - E-Book

Vom Wiederfinden des Fühlens E-Book

Holger Niederhausen

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Beschreibung

Das Fühlen ist die Mittelpunktskraft der Seele, ihr geheimes Leben. Aber was geschieht, wenn es immer schwächer und oberflächlicher wird, wenn die Seele immer weniger fühlt? Sie verliert ihr Leben, sie stirbt... Das wahre Wesen der Seele geht zugrunde. Genüsse und Ablenkungen können dies nicht verhindern, nur beschleunigen. Kann sie gerettet werden? Kann sie ein neues Leben finden? Sie kann es. Dies setzt nur eines voraus: Eine wirkliche Sehnsucht...

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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...

Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît pas. Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt. (Blaise Pascal)

INHALT

Vorwort

Einleitung

Spaltungen

Der innere Weg

Sehnsucht

Bilder der Seele

Die Tragik der Seele

Dornröschen

Ehrfurcht

Der Mensch

Ernst und Mut

Heilige Sehnsucht

Die Sterntaler

Mädchenherz

Das Ewig-Weibliche

Die Liebe

Das Wesen der Seele

Das Neue

Leid und Liebe

Ausklang

Als Kind sah ich das Märchen ,Die Schneekönigin’ als Zeichentrickfilm im Fernsehen – das Märchen von Gerda und Kay und von dem Splitter der Schneekönigin, der in Kays Herz gerät und es empfindungslos macht. Die plötzliche Wandlung von Kay zur Lieblosigkeit hatte mich damals sehr erschüttert. Ich fühlte mit Gerda mit, die diese Wandlung ebensowenig verstand – und ich war tief berührt von ihrer innigen Treue, mit der sie Kay, den sie so liebte wie ihren eigenen Bruder, durch alle Irrnisse und Wirrnisse hindurch suchen ging, nachdem er mit der Schneekönigin mitgegangen war.

Heute, fast vierzig Jahre später, ist mir sehr deutlich, dass wir als Menschheit durch ein ähnliches Geschehen gehen. In einem sehr, sehr langsamen Prozess ist die Menschheit dabei, ein ähnliches Schicksal durchzumachen wie der Junge Kay. Die Welt wird kälter – und die Herzen werden es.

Wenn man dies in den großen Entwicklungen nicht gleich erkennen kann oder will, so kennt man wohl in jedem Fall eine andere Entwicklung sehr genau: die des einzelnen Menschen. Findet nicht derselbe Prozess auch während eines Menschenlebens statt? Er findet statt. Und die meisten Menschen stehen erschüttert und hilflos davor, wenn sie bemerken, dass er stattgefunden hat – wenn sie bemerken, dass sie überhaupt nicht mehr so viel fühlen wie früher. Immer weniger...

Menschen werden alt – und das Fühlen wird auch alt. Wir wissen nicht, wie wir das Fühlen jung, lebendig halten können – und wie wir es in eine Reife, in eine Tiefe führen können. Das alles wissen wir nicht. Und so fühlen wir letztlich den Splitter im Herzen...

Die einzelnen Menschen und die ganze Menschheit – beide stehen vor einem Schicksal, das dem von Kay ähnlich ist. Es unterscheidet sich nur in seiner schleichenden Natur, in seiner bloßen Tendenzhaftigkeit. Und doch geht es um Kälte, um Armut, um Oberflächlichkeit des Fühlens – und um ein Spüren, dass dies geschieht. Etwas in uns kann dies spüren – und kann eine Sehnsucht nach dem wirklichen Leben des Fühlens haben. Aber was kann uns dieses verlorene Leben des Herzens retten? Gibt es auch für uns eine Gerda, eine liebende Schwesterseele, die uns erlösen kann?

Was ist der Eissplitter? Und wie kann er schmelzen? Wie finden wir das wirkliche Fühlen wieder?

Möge dieses Buch vielen Menschen eine Hilfe sein, die Antwort zu finden ... und zu empfinden.

Bevor der Leib stirbt, wird er alt und krank. Bevor die Seele stirbt, wird sie empfindungsarm und oberflächlich.

Was nützt ein langes Leben des Leibes, wenn Herz und Seele nicht mehr lebendig sind – oder ihr Leben immer mehr verlieren? Was nützt überhaupt ein Tag – und viele solche Tage –, wenn das Erleben oberflächlich bleibt und die Seele das tiefe Empfinden gar nicht mehr kennt?

Kann man sich noch an selige Gefühle erinnern, die man als Kind einmal hatte? An tiefe Erlebnisse, die die Seele gleichsam märchenhaft berührt haben? An Augenblicke tiefsten Glückes? An ein Glücklichsein inmitten von allem, was einen umgab – und das wie ein Strom des Glückes in einen einzuströmen schien?

An welchem Punkt ging dies verloren? An welchem Punkt wurde es weniger, und schwächer? In welchem Moment verlor unsere Seele die Tiefe?

Wann begann dies alles – und warum?

Und ... gibt es Wege, das wirkliche Erleben der Seele wiederzufinden – in der Tiefe, die es kannte, als wir das Glück noch kannten? Das unglaubliche, das tiefe, das reine Glück...?

*

Ein Kind sitzt auf einem sandigen Waldweg und spielt. Es braucht nicht mehr als seine Hände, den Sand, ein paar Zweige, Kiefernzapfen... Es fühlt, es atmet, es spürt die Wärme des Sandes, das zarte Rieseln, den Geruch des Sommers – und das eigene tiefe Glück... Es braucht nichts. Es braucht nur das, was es hat – und es hat alles. Und wenn es sich später an die Momente des größten Glückes erinnern soll, würde es, wenn seine Erinnerung bis dahin zurückreicht, an solche Augenblicke zurückdenken ... und zurückfühlen...

Ein älteres Kind hat ein Smartphone in der Hand und ,spielt’ Minecraft. Es baut aus lauter eckigen Elementen irgendwelche eckigen Behausungen. Je nach seinen Fingerbewegungen wechselt die Blickperspektive wie durch eine Kamera ruckartig – aber egal, wohin man ,blickt’, alles, wirklich alles, ist eckig, künstlich, virtuell. Dennoch ist das Kind gefesselt. Die Technik, der Bildschirm, die glatte Oberfläche, die Inhalte des Displays, die leichte Beeinflussung des Geschehens, das bequeme ,Handeln’, gleichsam wie von Zauberhand, das alles fasziniert – und das Kind denkt nicht an die Hausarbeiten, denkt auch nicht an andere Spiele oder anderes Spielzeug, nicht an irgendein Basteln mit echten Dingen. Es könnte, wenn es dürfte, stundenlang spielen – den ganzen Tag. Und es könnte sein, dass, wenn es dann aufhören müsste, sich sehr, sehr langweilen würde. Oder gereizt wäre, wütend darüber, dass es aufhören soll...

Ein Erwachsener sitzt auf dem Sofa vor dem Fernseher. Er sucht sich aus der Fülle der Sender das Programm aus, das ihm am meisten zusagt – und folgt dem Geschehen am Bildschirm, bis er müde wird. Dann geht er ins Bett...

*

Die Menschen, die keine Fragen an das Leben haben, werden in diesem Buch kaum etwas finden, was ihnen etwas sagen kann – und sie werden es nicht einmal zur Hand nehmen. Suchen und finden werden ein solches Buch nur Menschen die Fragen haben, weil etwas in ihrem Leben begonnen hat, ,hohl’ zu werden – hohl und oberflächlich. Und weil sie dies erleben.

Und doch frage ich mich immer auch, was in jenen Menschen vorgeht, die scheinbar keinerlei Fragen haben und die scheinbar glücklich sind, wenn sie gut essen können, abends ihre Serien schauen können, zweimal im Jahr in den Urlaub fahren und so ihr Leben in sehr leib- und rein sinnes-betonter Weise ,genießen’ und zubringen.

Besteht das Leben aus einigen Jahrzehnten des Essens, Fernsehens und Urlaubmachens, im wesentlichen? Und dann hier mal ein witziges Youtube-Video, da mal eine Party und dort mal eine weitere Ablenkung? Besteht das Leben aus Unterhaltung? Ist das das Glück? Oder ist das gerade die fortdauernde Ablenkung davon, dass man eigentlich gar nicht mehr weiß, was echtes, tiefes, reines, vielleicht sogar heiliges Glück ist...?

Wie kann man mit den oberflächlichen Genüssen zufrieden sein?

Diese Frage kann ich an dieser Stelle nicht beantworten. Aber die Menschen, die scheinbar oder vielleicht auch wirklich zufrieden sind, sind für Fragen dieser Art ja auch gar nicht erreichbar. Sie haben sie nicht und verstehen wahrscheinlich ebensowenig, wie man diese haben kann. Der Leser dieses Buches aber wird Fragen haben – und wenn er sie vielleicht auch noch nicht ganz bewusst hat, so wird er ein Gefühl haben ... ein Gefühl der Unzufriedenheit, wie leise auch immer. Ein Gefühl der Unzufriedenheit, einer Suche, einer Sehnsucht. Ein Gefühl von etwas Unerfülltem.

Für Menschen mit solchen Gefühlen, wie leise auch immer, ist dieses Buch geschrieben.

Es gibt viele Spaltungen in der Menschheit. Eine ist die Spaltung in Arm und Reich. Dies scheint eine sehr zentrale Spaltung zu sein. Doch noch wesentlicher ist eine andere: die Spaltung in glückliche und unglückliche Menschen. Wer arm ist, ist nicht immer unglücklich, und wer reich ist, ist nicht immer glücklich... Was aber ist wichtiger? Reich zu sein – oder glücklich? Wenn man erkennt, dass das Streben nach Reichtum eigentlich immer ein Streben nach Glück ist, beantwortet sich diese Frage von selbst.

Eine andere Spaltung ist die in Menschen, die scheinbar keine Fragen an das Leben haben, und solche, die in irgendeiner Weise auf der Suche sind. Eine Suche ist immer auch eine Sehnsucht. Menschen mit einer Sehnsucht sind nie vollkommen glücklich, denn es ,fehlt’ ihnen ja etwas, wonach sie suchen. Dennoch bedeutet dies nicht, dass solche Menschen nicht glücklich sein können. Vielleicht sind sie sogar oft glücklicher als Menschen, die scheinbar ,wunschlos glücklich’ sind, weil sie keine Fragen haben.

Die Frage ist: Welche Menschen sind glücklich? Die, die ihr Glück in ,Essen, Fernsehen, Urlaub’ finden? Oder die, die in alledem nie dauerhaft ein wirkliches Glück finden, sondern eine Sehnsucht nach etwas ganz anderem haben – die fortwährend eine Art Mangel spüren?

Sind vielleicht gerade diese scheinbar ,unglücklichen’ Menschen glücklicher als die anderen, weil sie ja bereits auf einer Suche sind? Wissen sie vielleicht gar nicht, wieviel Glück sie gerade dadurch haben, dass sie eine Art Unglücklichsein spüren? Weil sie das wahre Glück finden können...? Und weil bereits die Suche danach und die Sehnsucht danach etwas Wunderbares ist?

Die Frage ist also unbeantwortet, welche Menschen die glücklicheren sind: die scheinbar wunschlos glücklichen oder die scheinbar irgendwie unglücklichen...

Christian Morgenstern schrieb einmal: ,Sei mit dir nie zufrieden, außer etwa episodisch, so daß deine Zufriedenheit nur dazu dient, dich zu neuer Unzufriedenheit zu stärken.’

Wenn dies nicht bloß eine ,Anleitung zum Unglücklichsein’ sein soll, dann liegt in diesen Worten ein tiefer Sinn. Die Menschen, die keine Fragen an das Leben haben, keine Suche oder Sehnsucht spüren, kennen auch keinerlei inneres Streben – allenfalls äußeres Streben, was dann eben auch an der Oberfläche des Lebens bleibt. Morgenstern dagegen muss gerade in der ,Unzufriedenheit’ eine Quelle des Glückes gesehen haben, denn man spürt in seinen Worten die ganze Aufbruchstimmung, die darin liegt...

Man kann seine Worte fortsetzen, dann löst sich das scheinbare Paradox auf – und man würde finden: Die ,Unzufriedenheit’ ist gerade die Quelle des inneren Strebens – und dieses birgt das wahre Glück.

Die Frage ist dann nur: Wie kommt man zu einem inneren Streben – und welche Wege kann man dann gehen? Wie kommt man zu dem ,Glück der Unzufriedenheit’? Oder anders gefragt: Wie kommt man dazu, in der Unzufriedenheit das Glück wirklich zu finden? Wie kann die Unzufriedenheit sich allmählich in eine solche verwandeln, dass sie gleichzeitig immer mehr reinstes Glück wird...?

Es gibt noch eine andere Spaltung der Menschheit. Es ist die in egoistische und unegoistische Menschen. Diese Spaltung ist vielleicht am wenigsten zu verstehen – in dem Sinne, dass viele sie zunächst ganz abstreiten würden, um zu behaupten, dass kein Mensch weder ganz das eine noch ganz das andere sei. Doch darum geht es mir an dieser Stelle auch gar nicht. Es geht aber darum, dass die einen Menschen mehr zu der einen Seite neigen, die anderen mehr zu der anderen. Es ist im Grunde sogar irreführend, was man selbst von sich denkt. Viel entscheidender für diese Frage ist, was andere Menschen von einem denken und an einem erleben.

Diese Spaltung ist sehr entscheidend – und hängt zugleich mit der vorhergehenden eng zusammen. Zwar können innerlich strebende Menschen auch sehr egoistisch bleiben – und muss ein unegoistischer Mensch nicht unbedingt zu einem inneren Streben kommen. Und doch ist es sehr wahrscheinlich, dass ein wahrhaftiges inneres Streben dazu führt, den Egoismus immer mehr zu überwinden – und ein sehr unegoistischer Mensch wird leicht zu einem weiteren inneren Streben finden, weil seine Fähigkeit des Miterlebens und Mitfühlens von selbst Lebensfragen aufwerfen wird.

Ich glaube, die letztere Spaltung ist die schärfste und wesentlichste – trotz der Tatsache, dass gerade sie so problematisch und fließend erscheint.

Dass ein Mensch ohne Fragen eines Tages auf einmal trotzdem Fragen hat, scheint mir jederzeit möglich zu sein. Denn das scheinbare Fehlen von Fragen scheint mir doch nur ein Latenzzustand zu sein, eine Art Schlafzustand der Fragen, die, wann auch immer, eines Morgens auf einmal da sein können. Man schlief noch ohne Fragen ein – und am nächsten Tag sind die Lebensfragen da, vielleicht zum ersten Mal... Es ist nicht möglich, dass eine Seele keine Fragen hat – sie hat sie nur so lange nicht, bis sie sie nicht mehr unterdrücken kann, vielleicht durch einen Schicksalsschlag...

Doch dass ein egoistischer Mensch auf einmal ,die Seite wechselt’ und seinen Egoismus mehr und mehr ablegt, das ist eine viel schwierigere Wandlung. Denn sie setzt die andere im Grunde mit voraus. Man wird nur dann irgendetwas von seinem Egoismus ablegen können, wenn man zuvor überhaupt an innere Lebensfragen gestoßen ist. Und selbst wenn dies geschehen ist, ist es von da aus noch ein langer Weg zu einer wirklichen inneren Verwandlung.

Das ist der Grund, warum die Spaltung in egoistische und unegoistische Menschen die vielleicht wesentlichste ist. Ein Mensch ohne Fragen wird nicht so leicht zu Fragen kommen. Aber selbst, wenn dieses ,Wunder’ geschehen sollte, hat er noch lange nicht seinen Egoismus abgelegt oder irgendetwas davon verwandelt.

Um dies empfindend einsehen zu können, braucht man nur an die Stelle im Evangelium zu denken, wo der reiche Jüngling dem Christus Jesus begegnet. Jener ist ja bereits auf einem inneren Weg, er möchte sich entwickeln – und er fragt Jesus, was er tun könne. Jesus verweist ihn auf die Gebote, und der Jüngling antwortet, diese habe er immer befolgt. Sein inneres Streben ist also bereits sehr stark. Daraufhin sagt Jesus: ,Eins fehlt dir noch: Verkaufe alles, was du hast, und verteile den Erlös an die Armen, und du wirst einen Schatz in den Himmeln haben, und komm, folge mir nach!’ (Lukas 18,22).

Diesen Schritt zu einer wirklichen Selbstlosigkeit, zu einem Hingeben seines irdischen Reichtums um der Armen willen, der Mitmenschen willen, kann der reiche Jüngling nicht machen. Das Finden wirklicher Lebensfragen ist also im Vergleich damit sogar relativ einfach – doch ,es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes hineinkommt’.

Was aber ist das Reich Gottes? Es gibt eine Geschichte, dass es zwischen dem Himmel und der Hölle gar keinen Unterschied gebe, außer einem. An beiden Orten haben die Menschen lange Löffel, mit denen sie nicht essen können. Doch während sie in der Hölle verhungern, geben sie sich im Himmel gegenseitig zu essen. Der Unterschied zwischen beiden Orten liegt nur in dem Egoismus der Herzen...

Nun heißt es in der Bibel auch: ,Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.’

Hier liegt ein geheimnisvoller Zusammenhang. Die Kinder wissen noch nichts von Egoismus. Und selbst wenn sie ihn kennen, können sie von einem Moment zum anderen doch alles teilen – oder sogar verschenken. Empfinden sie Mitgefühl, so handeln sie, und ,ihre linke Hand weiß nicht, was die rechte tut’.

Das Wunder der Kinder liegt nicht nur in ihrem Mangel an Egoismus, es geht viel weiter. Es liegt in der Tiefe und Unmittelbarkeit ihres Erlebens. Dieses ist es, aus dem dann die Selbstlosigkeit hervorgeht. Aber dieses ist es auch, was das Kind mit der ganzen Welt verbindet – auch an jenem Sommertag auf dem Sandweg...

Was aber ist der Weg, auf dem das Erleben wieder so tief werden kann wie das der Kinder? Auf welchem Weg finden auch wir wieder ein Erleben, das so erfüllt sein kann – erfüllt von Glück, von Tiefe, von etwas, was man gar nicht in Worte fassen kann?

Das Wiederfinden des Fühlens und das (Wieder-)Finden selbstloser Empfindungen hängt innig miteinander zusammen. Man sollte sich davon nicht abschrecken lassen, aber man kann es sich schon zu Beginn klarmachen. Abschreckend braucht es nicht zu sein, weil alle Vorstellungen, die man davon vielleicht hat, der Realität gar nicht entsprechen werden, die man findet, wenn man sich auf einen inneren Weg macht. Denn die Seele, die im Verlauf dieses inneren Weges zum Leben erwachen wird, wird ja gar nicht mehr dieselbe sein, die jetzt vielleicht überhaupt nicht selbstloser sein möchte, als sie es im Moment ist – oder die sich schon bei dem Wort ,selbstlos’ nur öde oder abschreckende, unangenehme Vorstellungen machen kann. So, wie diese jetzige Seele das Glück gar nicht mehr wirklich kennt, so kennt sie auch den wahren Zustand nicht, der auch dasjenige in sich trägt, was ,selbstlos’ im positivsten Sinne wirklich bedeutet.

Wenn man nur ein wenig tiefer über diese Fragen nachsinnt, wird man den Zusammenhang leicht selbst empfinden können. Inniges Glück und tiefe Empfindungen hängen immer damit zusammen, dass man von sich selbst loskommt und eintauchen kann ... in das Andere. In die Schönheit eines anderen Menschen, in die Schönheit des Zusammenseins mit ihm. In die Schönheit von allem, was einen umgibt. Um dieses Mysterium geht es – in diesem Vorgang, der einem Wunder gleicht, liegt das Geheimnis dessen, was wir ,Glück’ nennen. Es ist die tiefe Verbindung mit anderem, das tiefe, das wahre, das wirkliche Mitleben mit anderem...

Es ist doch deutlich, dass es hier um die Fähigkeit geht, sich selbst vergessen zu können – das normale Selbstgefühl, das einen so sehr an sich selbst kettet, vergessen zu können, damit das ganze eigene Wesen eintauchen und mitleben kann mit dem, was ... nicht man selbst ist. Das ist nichts Schlimmes, nichts Bedrohliches, nichts Gefährliches – es ist geradezu eine Erlösung. Es ist eine Erlösung von dem öden, stets alles lähmenden, alles erstickenden Selbstgefühl. Es ist eine Erlösung von der Abstraktheit, mit der unser gewöhnliches Bewusstsein immer sich selbst im Mittelpunkt denken, fühlen und wollen muss, so dass wir niemals, niemals mehr so sehr denkend, fühlend und wollend in etwas anderes eintauchen und uns mit etwas anderem verbinden können, wie wir es noch als Kinder konnten. Eine Erlösung ist es, wenn man die Wege kennenlernt, auf denen dies doch wieder möglich wird – die Wege, auf denen man das Wunder wiederfinden darf...

Es besteht bei dem modernen Menschen eine ungeheure Angst, sich zu verlieren – und zugleich auch eine unbewusste Sehnsucht danach. Beides ist in gewisser Weise unberechtigt – oder auch gleichermaßen berechtigt. Denn in der wahren Selbstlosigkeit, die hier gemeint ist, verliert man sich gar nicht. Es ist in diesem Sinne keine Selbstaufgabe. Es ist gerade ein Finden einer wunderbaren Fähigkeit, die zutiefst menschlich ist, zum wahrhaft Menschlichen gehört. Das Mitlebenkönnen, die Fähigkeit zu wirklichem, zu wahrem Mitleid, zu ebensolcher Mitfreude, bedeutet keine Selbstaufgabe. Es bedeutet das Finden einer inneren Substanz, die eintauchen kann und sich nicht verliert, auch wenn sie sich vergessen kann; nicht an sich kleben muss, nicht der Mittelpunkt sein muss. Sie bleibt ein Mittelpunkt, nämlich die Quelle dieses Erlebens – und doch kann auch das Andere Mittelpunkt werden, nämlich das, dem sich diese Quelle zuwendet.

Hingabe im Erleben, im Fühlen, im Handeln, ja auch im Denken, ist etwas völlig anderes als Selbstaufgabe. Es ist gerade eine Vertiefung des wahren Selbst oder Ich. Denn was ist es, was so mitleben, mitfühlen, mitdenken kann, was sich so verbinden kann mit der Mitwelt? Es bleibt das Ich – aber in völlig anderer Weise als vorher.

Es geht nicht um ein Sich-Verlieren im Rausch, in der Ekstase. Das ist in gewisser Weise wirklich eine Selbstaufgabe. Und doch ist es etwas sehr Selbstbezogenes, Egoistisches. Drogen, Alkohol, wilde Feten – all das führt zu einem Verdämmern des normalen Selbsterlebens und also auch zu einem Eintauchen in Anderes. Aber hier ist der Körper sehr stark beteiligt. Das klare Bewusstsein schwindet – und man taucht ein in diejenigen Empfindungen, die nun übrigbleiben oder vielleicht sogar jetzt erst aufsteigen.

Im Rausch geht es gerade nicht darum, sich in zarter, inniger Weise mit dem Wesen eines anderen Menschen zu verbinden, ihm mit seiner ganzen Seele vielleicht zuzuhören, ihn in allen Nuancen wahrzunehmen und sein Erleben mitzuempfinden, zu teilen, tiefer zu verstehen, als es gewöhnlich je möglich wäre. Im Rausch geht es vor allem um ein Sich-Fühlen. Durch die Ablähmung des klaren Bewusstseins kann die Illusion entstehen, dass man ganz in die übrige Welt eintaucht, und das kann auch geschehen, aber man nimmt sich und sein Leibeserleben und sein gewöhnliches seelisches Leben immer mit. Es bleibt trotz allem ein tiefer Selbstbezug – und gerade dieses gesteigerte Selbst- und Lust-Erleben wird ja im Rausch überwiegend gesucht, nichts anderes. Die Illusion, dass man auch dem Anderen näher ist, entsteht nur dadurch, dass im Rausch alles Erleben intensiver wird, dass auch verschiedene Hemmungen fallen und so weiter. Dennoch nimmt man immer sich mit. Das Erleben im Rausch ist vielleicht intensiver, aber es ist nie feiner als im gewöhnlichen Leben, es ist oft sogar gröber.

Im Rausch findet man vielleicht zu hemmungsloser Ekstase, zu wildem Tanz, zu wildem Sex und anderen sehr intensiven, sehr körperbetonten Erlebnissen – aber man wird im Rausch nie zu dem wirklichen, tiefen Wesen des anderen Menschen oder der übrigen Welt finden.

Das tiefe Sich-Verbinden mit dem anderen Menschen und allem anderen, was einen umgibt, führt immer nur durch das Geheimnis der Sanftheit. Es ist ein Geheimnis der gesteigerten Reinheit. Das gewöhnliche Leben darf nicht im Rausch überwunden werden. Es muss durch eine ganz bewusste Vertiefung der Empfindung und der Zartheit der Empfindungen überwunden werden.

Wer den Rausch sucht, sucht im Grunde noch ganz das Selbsterleben. Das Geheimnis der sich vertiefenden Sanftheit des Erlebens und der dadurch möglichen Vertiefung des Erlebens überhaupt sucht nur der, der bereits deutlich ahnen kann, dass hier das wahre Geheimnis liegt – und auch das wahre Glück, das wirkliche Wunder.

Aber diese Sehnsucht brauchen wir – und in gewisser Weise hat diese Sehnsucht auch jede Seele. Sie muss sie in sich nur finden. Sie muss nur finden, dass nicht nur dasjenige in ihr lebt, was den Rausch sucht, das so einfache Steigern des Erlebens, das aber die Seele selbst ganz unverwandelt lässt, allenfalls stärker in den Körper hineinstößt – sondern dass auch das in ihr lebt, was sich wirklich verwandeln möchte, um fähig zu werden, tiefer, reiner und gleichsam heiliger zu empfinden. Dieses Etwas lebt in jeder Seele – und es weiß, dass in dieser Verwandlung das wirkliche Wunder gefunden werden kann. Es weiß, dass die Heiligung der Empfindungskräfte und Empfindungsfähigkeit kein langweiliger Weg ist, sondern dass auf diesem Weg gerade jene Unendlichkeit einer immer intensiveren Verbindung mit allem gefunden werden wird, die auf keinem anderen Weg möglich ist.

Wirklich verwandelt sich das Erleben erst dann, wenn sich die Seele selbst verwandelt. Und der reinste Teil der Seele, der wir in Wirklichkeit mehr sind als jeder andere Teil, weiß dies alles auch. Und deswegen hat er eine Sehnsucht danach. Es ist der Kern unserer Seele. Im Innersten unserer Seele haben wir diese Sehnsucht – die Sehnsucht nach innerer Entwicklung und Verwandlung.

Dem innersten Teil unserer Seele ist gerade ein Leben ohne innere Entwicklung etwas Langweiliges, etwas, was niemals der Sinn des Lebens sein könnte. Dieser Teil unserer Seele weiß, dass selbst ein Leben mit rauschhaften Erlebnissen Tag für Tag niemals ein Leben aufwiegen könnte, in dem die Seele den Weg einer inneren Entwicklung betritt...

Was nützt ein Leben voller sexueller und anderer Orgien, wenn man nie das tiefe Glück erleben kann, für Momente einem an einem Sommertag vorbeigaukelnden Schmetterling zuzusehen und so tief die Schönheit dieses Augenblickes zu erleben, dass man dafür überhaupt keine Worte hat...

Orgien sind leiblich – sie können niemals der Seele eine wirkliche Erfüllung geben. Die innige Verbindung mit diesem Schmetterling und seiner Schönheit aber, überhaupt der Schönheit des ganzen Augenblicks, ist etwas, was die Seele erlebt. Sie kann es aber nur, wenn sie sich dazu fähig macht; wenn sie sich wieder Fähigkeiten erringt, durch die sie so fein und innig wahrnehmen kann, dass sich ihr die realen Wunder wieder neu real offenbaren...

Und dann, wenn sie dieses Erleben gewinnt, weil sie in ein neues Erleben hineinwächst, dann wird auch das, was vorher in Orgien gesucht wurde, zu einem viel tieferen und immer tieferen Erleben, das immer mehr von Seele durchdrungen wird. Glück kann die Seele nur erleben, wenn sie als Seele selbst immer mehr und mehr lebendig wird, immer zarter auch... Denn in gewisser Weise ist es gerade die Zartheit, die das wirkliche Leben der Seele ist. Denn hier lebt ihre Empfindungsfähigkeit. Je dumpfer das Erleben der Seele, desto schwächer und oberflächlicher, desto gelähmter und konturloser. Je zarter das Erleben, desto differenzierter und vielfältiger, desto intensiver und lebensvoller, desto reicher und durchzogener von dem, was wir ,Glück’ nennen.

Das Glück werden wir finden, wenn wir in unserem Innersten die Sehnsucht finden, unsere Empfindungen und unsere ganze Seele zarter werden zu lassen, als sie es sind... Immer mehr müssen wir ahnen und spüren, wie grob unsere Seele zunächst ist – in allem, in ihren Empfindungen, aber auch in ihren Gedanken, in ihren Impulsen. Grob und viel zu empfindungslos. Dumpf und grob, überhaupt nicht zart, viel zu wenig, gar nicht sanft...

Eine Sehnsucht danach muss in uns wach werden. Auch das allmählich, auch das sanft und zart...

Diese Sehnsucht, wenn sie erwacht, ist zart. Deswegen kann sie leicht überdeckt werden, überhört werden – selbst dann, wenn sie schon lange da ist.

Diese Sehnsucht ist das heiligste Empfinden, das in unserer Seele lebt. Und es war immer da, und es ist immer da – aber wir können es auch immer überhören, unser ganzes Leben lang. Wir können Dumpfheit auf Dumpfheit häufen, Grobheit auf Grobheit, gewöhnliches Erleben auf gewöhnliches Erleben, gewöhnliche Genüsse auf gewöhnliche Genüsse – und unser ganzes Leben eine innig sanfte Stimme in unserer Seele überhören, die gleichsam flehend flüstert ... weil sie sich nach einer inneren Entwicklung sehnt.

Aber es kommt alles auf jenen einen Schritt und Moment an, wo wir zu spüren beginnen, dass diese innere, ganz, ganz leise Stimme unsere innerste Sehnsucht ist. Es ist ein Prozess, in dem uns diese Sehnsucht bewusst wird. Und selbst wenn sie uns bewusst wird, kann es noch lange dauern, bis wir begreifen, was das Ziel dieser Sehnsucht ist – und was der Weg ist, sie zu stillen. Es kann lange dauern, bis wir begreifen, was eigentlich innere Entwicklung ist. Wonach sich die Seele im Innersten eigentlich sehnt. Und dass das wirklich wir selbst sind. Und wie wunderbar dieser heilige Weg innerer Entwicklung eigentlich ist. Dies alles immer mehr zu spüren und zu begreifen, kann schon ein eigener, sehr langer Weg sein. Und doch kann das Wesen dieser innersten Sehnsucht, einmal erwacht und gespürt, eigentlich immer nur bewusster und bewusster werden. Und das bedeutet: Der innerste Kern unserer Seele tritt immer mehr ans Licht – und wir werden immer mehr mit ihm eins. Wesen der Seele und unser jetziges Bewusstsein – beides geht immer mehr aufeinander zu... Das heilige Geheimnis unserer Seele kommt uns sanft entgegen – und wir sind bereit, es in aller Heiligkeit aufzunehmen; wir machen uns immer mehr bereit dazu.

Die innere Entwicklung der Seele – es ist ein heiliger Weg, den wir damit betreten. Es ist der heilige Weg der Sanftheit. Innere Entwicklung ist die Vertiefung aller Seelenfähigkeiten, und diese Vertiefung besteht in ihrer Läuterung, ihrer Heiligung, ihrer Durchdringung mit dem Mysterium der Zartheit.

Sobald unsere Seele auch nur die erste Sehnsucht nach diesem Mysterium empfindet und diese Sehnsucht zu wachsen beginnt, hat sie diesen Weg eigentlich schon betreten. Und die Sehnsucht selbst ist ihre Führerin geworden...

Sehnsucht... Die Sehnsucht wird wirklich unsere Führerin sein können – wenn wir ihr vertrauen. Wir müssen so weit kommen, dass wir wirklich zu empfinden beginnen, dass in der Sehnsucht eine innere Kraft verborgen ist. Wenn wir uns der Sehnsucht, die in unserer Seele lebt oder zu leben beginnt, hingeben können, dann kann sie uns immer mehr in die Richtung ihres eigenen Zieles führen. Das ist das Geheimnis der Sehnsucht. Sie ist nicht machtlos, nicht hilflos. Sie ist eine geheimnisvolle Kraft, die in die Richtung ihres eigenen Zieles unterwegs ist – und die Seele mitnimmt, wenn sie sich hingeben kann.

Der erste Schritt auf diesem Weg innerer Vertiefung besteht gerade in der Hingabe... Und auch die Sehnsucht gilt dieser Hingabe. Die Seele will sich hingeben können. Das gerade ist ihre Sehnsucht. Sich hingeben können – um alles immer tiefer empfinden zu können, erleben zu können, in aller Zartheit und darum so intensiv wie nie zuvor. Das ist die geheime, zarte Ahnung der Seele: dass dies möglich ist. Dass auf diesem Weg ein vollkommen anderes Erleben zum Leben erwachen kann – ein Erleben, das das wahre Glück kennt, weil es das Wunder kennt...

Wir brauchen an diesem Punkt nur eines: die leiseste Ahnung, dass dies wahr ist. Dass es einen Weg gibt, der die Fähigkeit, zu empfinden, unendlich zu vertiefen vermag – und dass es dieser Weg ist. Wir brauchen nur das leiseste Vertrauen, dass es eine Möglichkeit ist, dies wiederzufinden. Und wir brauchen uns nur zu erinnern – an Momente, die uns fast ganz entfallen sind, die wir aber noch nicht völlig vergessen haben können, weil wir sie einmal erlebt haben.

Nehmen wir die Hingabe, die wir in unserer Seele schon finden können – und erinnern uns an solche Momente: an die schönsten Momente unseres Lebens ... an die wahrhaft schönsten Augenblicke, die dies waren, weil sie so zart waren, so sanft, so voll Wunder... Denken wir zurück – an unsere erste Liebe. An die Momente, wo unser Herz zitterte, weil wir ihr gegenüberstanden, und die Aufregung oder das Glück uns sanft den Atem nahm. Glück, in diese Augen zu blicken. Glück, dieses wunderbare Mädchen in die Arme nehmen zu dürfen – oder sich in die Arme des Geliebten schmiegen zu können... Glück war das, reinstes Glück – Glück, das durch alle Adern strömte, das in jedem Atemzug lebte. Glück, das keinen Anfang und kein Ende kannte – reinstes und tiefstes Glück...

Man erinnere sich in der größten Tiefe, die einem überhaupt möglich ist. Man scheue sich nicht vor einem Schmerz – denn hier gibt es keinen Schmerz. Schmerz ist vielleicht, dass dies nicht mehr die Gegenwart ist, aber jetzt wollen wir uns erinnern, und in der Erinnerung wird dies wieder Gegenwart. Wenn wir das Eintauchen der Seele in die Erinnerung ernst nehmen, dann ist dies etwas Absolutes. Es ist nicht etwas Verschwundenes, im Erinnern ist es jetzt. So stark müssen wir eintauchen, in die Tiefen unserer eigenen Seele – da, wo die Erinnerung jederzeit wieder da ist, aber wenn sie da ist, dann ist sie Gegenwart. Im Traum sagt sich die Seele auch nicht, dass sie ,nur’ träume. In der Erinnerung sagt sich die Seele auch nicht, dass sie ,nur’ sich erinnere – sondern sie taucht ein ... und die Erinnerung wird Gegenwart, sie ersteht in all ihrer Intensität auf, sie wird wieder Realität, reales Erleben der Seele. Es hängt nur von den Kräften der Seele selbst ab, wie real dies wird. Aber die Seele hat alles in sich, ihre ganze Erinnerung. Das ganze Wunder hat sie in sich. Sie hat es nicht vergessen, sie hat es nie vergessen. So etwas Schönes kann man nicht vergessen. Und jetzt erinnert sie sich – so stark, so voller Hingabe, so voller Erstaunen, dass diese atemberaubende Schönheit wieder da ist; dieses unermessliche Glück; dieses Mädchen; dieser Junge; dieser Moment. Erinnern wir uns an jenen Blick, der uns am tiefsten erschütterte ... an jene Bewegung des geliebten Wesens ... an jenes Wort, jene Geste ... die unser Herz so tief ergriff, dass es wirklich zitterte, nicht im übertragenen Sinne, sondern wirklich...

Die heiligsten Momente des Lebens kann man fast nicht in Worte fassen – und sie sind auch für jeden Menschen andere. Das so innig geliebte Wesen ist ein anderes. Dasjenige, was einen so unendlich berührte und die eigene Seele das Glück, das tiefste Glück kennenlernen ließ ... nur die Seele selbst weiß, was dies war... Aber dies, dieses heiligste Erleben, das sie für immer in ihrem Herzen bewahrt hat – dies ist niemals verlorengegangen. Auch wenn wir ein ganzes Leben gelebt haben, in dem wir uns nie an diesen Moment oder diese Momente erinnert haben, sind sie doch nie verlorengegangen. Sie haben in unserer Seele treu gewartet, rein und heilig wie am ersten Tag. Es sind Momente, die mit keinem Geld der Welt je zu bezahlen wären – selbst die Erinnerungen sind kostbarer als alles Vermögen auf Erden. Und sie haben gewartet, diese Erinnerungen, gewartet ... bis wir wieder soweit sind, dies zu tun: uns jener magischen Momente zu erinnern, in denen unser Herz nicht wusste, dass es so viel Glück auf Erden überhaupt gibt...

Eintauchen in dieses Heiligtum, das die Seele für uns bewahrt hat, diese wunderbare Seele, sie hat alles bewahrt ... eintauchen in diese unsagbar schönen Momente, die nicht nur Erinnerung sind. Ein solcher Moment ist eine ganze Welt, er ist eine heilige Ewigkeit. Unsere Seele hat ihn bewahrt – und nun dürfen wir ihn noch einmal erleben, eintauchend in das Heiligtum der Erinnerung, und indem unsere Seele selbst zum Heiligtum der Erinnerung wird, treten wir ein in die Gegenwart, in das Heiligtum des Bleibenden.

Es ist nur unsere eigene Schwäche, wenn wir dies nicht sofort können. Aber wir dürfen das Mysterium der Erinnerung nicht geringschätzen. Denn auch sie, die Erinnerung, ist einer unendlichen Vertiefung fähig, sie wartet nur auf unsere heilige Arbeit, sie zu vertiefen – und sie so heilig zu erleben, wie sie ist...

War nicht, als wir jenes Mädchen liebten – und die Frauen mögen immer an den Jungen denken, den sie liebten, ein jeder möge an seine heiligste Liebe denken –, war nicht damals jeder Gedanke heilig, jeder Gedanke an sie...?

Was ist aus jener Fähigkeit unserer Seele geworden – jeden Gedanken zu heiligen, allein dadurch, dass er mit ihr zu tun hatte? Mit ihr, die alle Gedanken und Gefühle heiligte, sobald sie nur leise mit ihr in Berührung kamen... Ein Wunder war jenes Wesen, das wir so unendlich liebten und verehrten – und ein Wunder wurde unsere eigene Seele, denn sie wurde gleichsam so heilig wie jenes Wesen, und sie wollte so sein...

Vielleicht hat man diese wahrhaft heilige Liebe so nie erlebt, vielleicht hat man das nie gewollt, vielleicht hat man auch nie einen solchen Menschen gefunden. Dennoch gibt es nichts anderes auf Erden, was dem nahekommt. Die romantische Liebe in ihrer ganzen Tiefe – eine Romantik voll heiliger Zartheit – ist das Urbild des Glücks überhaupt. Es ist die tiefste Begegnung, die denkbar ist. Jedes andere Glück beruht darauf, dass auch in ihm etwas von dem geschieht, was in der zarten Begegnung der romantischen Liebe in unbeschreiblicher Fülle geschieht.

Wenn wir also jemals das Glück hatten, dieses Glück zu erleben, dann sollten wir auch das Mysterium unserer Erinnerung nicht geringschätzen. Denn der heilige Augenblick bleibt immer heilig – nur wir selbst können ihn entwerten, und doch ist er noch immer heilig, selbst wenn wir dies nicht mehr erkennen können. Es ist nicht ,nur’ Erinnerung – es ist die bleibende Ewigkeit eines heiligen Momentes, dessen Heiligkeit von keinen anderen Momenten übertroffen werden kann. Wenn wir unsere Erinnerung gering achten, dann entheiligen wir in Wirklichkeit nicht diese Momente – wir entheiligen nur uns selbst, weil wir uns zu der Heiligkeit jenes zauberhaften Augenblickes nicht mehr erheben können. Weil wir nicht fähig sind, in unsere Erinnerungen wahrhaft und mit voller Aufrichtigkeit wieder einzutauchen. So sehr, dass das Glück dieses Moments uns von neuem Tränen des Glücks in die Augen treibt... Tiefstes Glück, diesen Moment wiederum erleben zu können, denn er ist ein bleibendes Heiligtum unseres Lebens geworden.

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Wir werden auf dem Weg, der vor uns liegt, immer wieder unsere jetzige Abstraktheit und Profanität spüren – jenes Hindernis, das sich wie eine Mauer vor das tiefere Wesen unserer Seele schiebt, das viel lebendiger ist als das, was wir jetzt sind. Und zu dieser Profanität und Dumpfheit gehört eben auch, so etwas wie die Erinnerungen nicht ernst zu nehmen – und nehmen zu können.

Der abstrakte Intellekt ist ein mächtiger Gegner unserer Seele, und er schöpft seine Macht auch aus seinem Hochmut. Wir glauben in einem sehr einflussreichen Teil unserer Seele, dass wir aufgeklärte Menschen sind. Die ganze Welt sendet fortwährend die Botschaft aus, dass wir gewisse Gefühle in uns gar nicht zulassen dürfen – dass wir über eine gewisse Empfindsamkeit gar nicht hinausgehen dürfen. Wir wissen unbewusst sehr genau, dass wir uns außerhalb der allmächtigen Norm stellen, wenn wir einen bestimmten Schritt tun würden, der diese Norm nicht beachtet...

Die Scham ist ein mächtiger Gegner für den inneren Weg, den wir vor uns haben. Hochmut und Scham spielen einander in die Hände. Denn der Hochmut glaubt, dass über eine gewisse Grenze hinaus sich vertiefende Empfindungen nur eine Schwäche sind – und die Scham wagt diesen Schritt auch gar nicht. Und wenn man nicht im Verständnis dieser und anderer Seelenregungen bereits sehr geschult ist, wird schon hier jeder inneren Entwicklung ein unüberwindliches Hindernis in den Weg gestellt. Man kommt einfach nicht weiter. Es geht nur bis zu diesem Punkt – und dann bleibt es stehen.

Man muss sehr genau erkennen