Das unheimliche Haus - Hans Heidsieck - E-Book

Das unheimliche Haus E-Book

Hans Heidsieck

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Beschreibung

Eines Morgens ist der Tresor der Jersey-Bank leer geräumt und Bankdirektor Harper samt Chauffeur spurlos verschwunden. Für eine Veruntreuung gibt es allerdings keinerlei Anhaltspunkte. Während die Polizei vor einem Rätsel steht, macht sich Glorias Bruder Mac Harper auf den Weg zu dem Nervenarzt, der seinen Vater vor Jahren behandelt hatte. Vielleicht könnte er die seltsame Flucht aufklären? Doch Dr. Wilkens ist nie zu sprechen. Mit Charme gelingt es Mac, die bezaubernde Sprechstundenhilfe Lilian Good zu überreden, die Adresse von Wilkens' Privatklinik zu verraten. Von der Öffentlichkeit völlig abgeschlossen, sollen in der Klinik sehr aufschlussreiche Experimente zur Erforschung von Geisteskranken gemacht werden. Macs Entschluss, nach einer erneuten Abweisung über die Mauer zu klettern, endet mit einer unfreiwilligen Nacht in der seltsamen Klinik. Auf einmal werden sein Vater und dessen Chauffeur auf einem Schiff gesichtet, fliehen aber unter Waffengewalt, als sie vom Boot geholt werden. Während Inspektor Law und sein Chef über den Fall auf die berüchtigte Grauvogel-Bande stoßen, und Gloria auf eigene Faust ihrem Vater hinterherreist, geht Mac mit Lilian, die inzwischen ihre Stelle gekündigt hat, den Spuren in der Privatheilanstalt des Dr. Wilkens nach. Denn dieses Haus birgt offenbar Unheimliches.-

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Hans Heidsieck

Das unheimliche Haus

Kriminalroman

Saga

Das unheimliche Haus

© 1953 Hans Heidsieck

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711508732

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Es ist ein nebelgrauer Vortfrühlingsabend. Vereinzelt nur dringen die Scheinwerferstrahlen schnellfahrender Limousinen durch das verschwommene Dunkel auf der Verbindungsstraße Hoboken-Paterson.

Dort, wo die breite Chaussee den Passaic-River überquert, steht vor der Brücke einsam ein Mann mit hochgeschlagenem Kragen. Seine behandschuhten Hände sind tief in die Taschen des leichten Mantels vergraben. Unangenehm naßkalte Luft strömt vom Fluß herauf.

Ein Bremsgeräusch läßt den regungslos vor sich Hinstarrenden aufhorchen. Ein sich in rascher Fahrt nähernder Wagen hat plötzlich abgestoppt. Der bisher Einsame eilt darauf zu, öffnet mit festem Griff eine der Seitentüren und sagt mit befehlender Stimme: „Kommen Sie! Folgen Sie mir!“

Zunächst steigt ein älterer Herr mit rundem, vollem Gesicht aus dem Wagen. Ihm folgt sein Chauffeur.

Beide gehen dem Fremden zu einem anderen, abseits stehenden Kraftwagen nach. Ohne ein Wort zu verlieren, steigen sie ein. Beide setzen sich in den Fond des Wagens, an dessen Steuer, Silhouettenhaft gegen die Windschutzscheibe sich abhebend, eine massive Gestalt zu erkennen ist. Von Zeit zu Zeit sieht man dort eine Zigarette aufglimmen.

Der Regisseur dieser etwas unheimlichen Szene, der an der Brücke gewartet hatte, spricht jetzt den Fahrer an: „Los, Tedd — das andere Auto muß aus dem Wege. Fahre es in den Waldweg hinein und verwisch’ dann die Spuren.“

Der Angesprochene kommt sofort dieser Aufforderung nach, steigt aus und fährt den verlassenen Wagen in ein Dickicht hinein. Gedämpft hört man von draußen das Motorengeräusch.

Nicht allzulange dauert es, bis der Fahrer zurückkehrt, um sich gleich wieder ans Steuer zu setzen. Neben ihm hat der Mann mit dem hochgeschlagenen Kragen Platz genommen.

Ab geht die Fahrt. Rasch ist der schwere Wagen auf vollen Touren. An dem Polizeiposten jenseits der Brücke braust er bereits mit höchster Geschwindigkeit vorbei.

Diese ganze wortkarge Szene hatte sich in weniger als fünfzehn Minuten abgespielt.

*

Eine gewaltige Aufregung herrschte in den feudalen Räumen der „Jersy-Bank“. Zunächst allerdings fiel den zahlreichen Angestellten, die fröstelnd durch den nebligen Morgen angestapft kamen, um sogleich ihre Arbeitsplätze einzunehmen, noch gar nichts Besonderes auf. Erst, als der alte Moore, wild mit dem Tresorschlüssel gestikulierend, ins Hauptkontor gestürzt kam und mit vibrierender Stimme rief: „Leer! Kein einziger Dollar mehr im Tresor!“ wirbelte alles erregt durcheinander.

Die Kassierer umdrängten ihn. „Aber was ist denn los, Mister Moore? Aus dem Tresor — — —“

„Alles entnommen, ich sagte es doch. Ich verstehe das auch nicht. Die Polizei muß sofort verständigt werden.“

„Ob man nicht doch erst Herrn Harper anruft?“

Harald Moore, der Vorsteher, faßte sich an den Kopf, als müßte er zunächst überlegen, was nun das Richtige sei. Dann griff er hastig zum Hörer und wählte die Nummer des Bankdirektors. Eine Zofe meldete sich. Moore stotterte: „Kann ich Direktor Harper sprechen — sofort — ganz dringend? Hier Moore.“

„Einen Augenblick, bitte. Verbinde Sie mit der gnädigen Frau.“

Moore trat nervös von einem Bein auf das andere und biß sich die Lippen wund.

„Hier Gloria Harper!“ meldete sich eine jugendliche, weibliche Stimme nach einer Ewigkeit.

„Ihr Papa, Fräulein Gloria — —?“

„Tut mir leid — ist nicht zu Hause, ist überhaupt nicht nach Hause gekommen — seit gestern abend. Mam’ ist schon völlig verzweifelt, und ich weiß auch nicht — — was ist denn los, Mister Moore? Sie wollten ihn dringend sprechen?“

„Ach, gnädiges Fräulein — — entsetzlich — — als ich den Tresor öffnete, war er vollständig leer. Alles Hartgeld und sämtliche Banknoten sind verschwunden.“

„Wahrhaftig? Mein Gott! Oh — der arme Dadd! Er ist also beraubt worden!“

„Nein, Fräulein Gloria — — Ihr Papa muß das Geld selber an sich genommen haben, bevor er gestern abend als letzter den Tresorraum verließ. Niemand anders war seither in der Bank. Nun wollte ich ihn eben befragen — —“

„Sie öffneten mit dem Reserveschlüssel?“

„Ja, den ich, wie ausgemacht, immer in meiner Wohnung habe.“

„Mein Gott, — warum aber sollte Pa alles Geld an sich genommen haben? Er hatte doch keinerlei Schulden! Wo steckt er denn überhaupt?“

„Herrgott ja — und ich dachte doch — —“

„Rufen Sie die Polizei an, Mister Moore! Das ist das einzige, was wir zunächst tun können. Ich werde versuchen, Mama zu beruhigen, und dann komme ich gleich zur Bank.“

„Ist Ihr Herr Bruder erreichbar?“

„Nein, Mac ist zu einer Konferenz nach Philadelphia unterwegs.“

„Schade. — Na, also ich rufe zunächst einmal die Polizei an!“

„Tun Sie das, bitte! Ich komme, sobald ich kann.“ —

*

Der Polizeigewaltige des Distrikts, Mister Bill Gray, war ein geachteter und gefürchteter Mann. Von martialischer Gestalt und gewaltigen Körpermaßen war er mit seiner dröhnenden Baßstimme der Schrecken sowohl aller Verbrecher wie auch sämtlicher Untergebener.

Auf Moores Anruf hin hatte er sich sogleich zusammen mit dem Kommissar Law auf den Weg gemacht, um bei der Bank im Privatkontor des Direktors mit seinen Vernehmungen zu beginnen.

Vorher hatte ihm Moore noch einmal den Tatbestand kurz geschildert.

„Wer verließ gestern abend als letzter die Bank?“ fragte Gray.

„Ich selber“, erwiderte Moore, „vorher war Mister Harper noch einmal kurz im Tresorraum und schloß ihn dann ab.“

„Sahen Sie, ob er eine gefüllte Aktentasche mit sich herausbrachte?“

„Nein. Darauf halbe ich nicht geachtet. Ich hatte im Kassenraum noch mit dem Abschluß zu tun.“

„Der Tresorraum im Keller ist nur vom Korridor aus zu erreichen?“

„Ja.“

„Um welche Zeit gingen Sie und Herr Harper?“

„Es muß kurz nach sechs Uhr gewesen sein.“

„War außer Ihnen beiden noch jemand in diesen Räumen?“

„Ich war mit Herrn Harper allein. Er besprach mit mir noch kurz die Dispositionen für den heutigen Tag. Als ich dann in die Kasse zurückging, hörte ich, wie Herr Direktor Harper die Kellertreppe zum Tresorraum hinunterstieg.“

„Kann das nicht jemand anders gewesen sein, der sich verborgen gehalten hatte?“ warf Kommissar Law, ein kleiner, schmächtiger Herr mit randloser Brille, ein.

Moore erwiderte: „Wie Sie sich selbst überzeugen können, hat der Korridor weder Nischen noch Winkel, in denen sich jemand verbergen könnte. Es ist ein glatter, gestreckter Raum ohne weitere Türen mit einem einzigen vergitterten Fenster.“

„Könnte Herr Harper nicht einmal vergessen haben, den Tresor zu verschließen?“

„Nein. Erstens hatte ich ihn noch gefragt — — und außerdem ist der Tresor ja auch heute verschlossen gewesen, als ich ihn öffnete. Da nur zwei Schlüssel vorhanden sind — —“

„Hm“, machte der Kommissar, „auf seine Aktentasche achteten Sie also nicht?“

„Nein. Ich saß an meinem Schreibtisch rechts in der Ecke und addierte die gestrigen Ausgänge, als Mister Harper hinter mir durch den Raum schritt und sich mit einem ‚Guten Albend, Moore!‘ von mir verabschiedete. Das muß gegen ein Viertel 7 gewesen sein.“

„Danke“, sagte Gray. „Wer war sonst noch anwesend?“

„Nur noch der Wächter Frank Hamson draußen im Vorraum. Er hatte Nachtdienst und wurde heute früh abgelöst. Ich habe bereits nach ihm geschickt, er soll herkommen.“

Moore mußte nun genau angeben, wie sich der Wächter verhalten hatte, wann er seinen Dienst antrat, und wo er sich aufhielt. Dabei erfuhr man, daß er seinen Platz neben der Gangtür hatte, die immer offen blieb, damit er von hier aus gleichzeitig auch die Tür zum Privatkontor des Direktors sowie die Kasse und den Haupteingang überblicken konnte.

Während Moore noch diese Erklärungen abgab, hörte man hastige Schritte nahen. Dann wurde lebhaft an die Türe gepocht.

„Herein!“ rief Gray mit Stentorstimme.

Schüchtern trat eine ärmlich gekleidete, ältere Frau herein. „Bitte die Herren zu entschuldigen“, stotterte sie erregt, „aber ich möchte gern wissen, wo sich mein Mann befindet!“

Inspektor Gray sah sie verwundert an. „Wie — Ihr Mann? Ja — wer ist das denn?“

„James Faith —“

„Der Chauffeur von Herrn Harper!“ erklärte Moore, und, sich sofort an die Frau wendend, fuhr er fort: „Ist er denn etwa auch nicht nach Hause gekommen?“

Die Frau zog ein Tuch aus der Tasche und wischte sich damit die Tränen ab. „Nein!“ stammelte sie, „das verstehe ich einfach nicht. James pflegt sonst immer pünktlich um 7 Uhr zu Hause zu sein, nachdem er den Herrn Direktor zu seiner Wohnung gefahren hat, — — außer natürlich, wenn etwas Besonderes vorlag. Aber das hätte er mir doch gesagt.“

Moore deutete auf einen Stuhl und forderte die Erregte auf, Platz zu nehmen. „Herr Harper“, erklärte er dann, „ist gleichfalls seit gestern abend nicht nach Hause gekommen. Darüber beraten wir ja gerade hier.“

„Mein Gott — mein Gott!“ stöhnte die Frau, „was mag nur den beiden passiert sein!“

„Ein eigenartiger Fall!“ murmelte der Inspektor, „verschwunden mit Auto, Chauffeur und Geld!“ Er legte der Frau eine Hand auf die Schulter. „Wir werden natürlich gleich nach den beiden forschen!“ erklärte er, „möglich ist es ja immerhin, daß sich für den Direktor plötzlich eine dringende Fahrt nach außerhalb ergeben hat, daß man dabei eine Panne hatte — — wer kann das wissen.“

„Wenn man sie nun überfallen hat!“ rief die Frau.

„Sieht mir eigentlich gar nicht so aus“, erwiderte Gray beruhigend, „noch hat sich kein Grund ergeben, so etwas anzunehmen. Wir werden Ihnen schon Ihren Mann wiederbringen, — gehen Sie nur getrost nach Hause und warten Sie ruhig ab, bis Sie von uns Nachricht erhalten, Frau Faith. Sobald wir etwas ermittelt haben, geben wir Ihnen sofort Bescheid.“

Die arme Frau schluchzte jetzt nur noch heftiger. „Er ist tot!“ schrie sie, „oh — mein armer James!“

Moore und der Kommissar führten die Gebrochene, tröstend auf sie einsprechend, zur Türe hinaus. Gray, der unter rauher Schale ein mitfühlendes Herz besaß, blickte ihr bewegt nach ...

*

Inzwischen traf auch der Wächter Hamson ein. Übernächtigt und völlig verwirrt trat er dem massigen Gray gegenüber, vollkommen ahnungslos, was man eigentlich von ihm wollte. Allmählich erst ging ihm das auf, als er nun sachlich und eingehend über alles befragt wurde.

Seine Aussagen deckten sich völlig mit denen, die Moore vorher gemacht hatte. Jedenfalls hatte sich Harper vollkommen unbeobachtet im Tresorraum aufhalten können. Dem Wächter war auch an der Aktentasche des Bankdirektors nichts aufgefallen.

Nach seiner Aussage wurde Hamson gebeten, sich in den Kassenraum zu begeben und dort zu warten, bis er vielleicht noch einmal gerufen würde.

Gray wollte inzwischen mit Moore und Law zusammen noch einmal zu einer Lokalbesichtigung schreiten.

Der Kommissar prüfte die Eisenstäbe, die vor den Fenstern des Privatkontors angebracht waren, — doch gab es hier nichts zu beanstanden. Die Stäbe staken fest in der Vermauerung und waren unversehrt. Genau so verhielt es sich mit dem Korridorfenster, das anschließend besichtigt wurde.

Anschließend stiegen alle drei Männer die Treppe zum Keller hinab und traten in den Tresorraum, der keine Fenster besaß und nur durch Neonröhren beleuchtet war. Ein großer, sowie ein kleinerer Tresor waren hier, einander gegenüberliegend, in die Wand eingelassen. Der Haupttresor war sowohl durch ein Zahlenschloß, wie auch besonders noch durch einen Geheimmechanismus gesichert, so daß ein normales Öffnen durch einen Unbefugten ausgeschlossen erschien.

Inspektor Gray, der einmal einen Spezialkurs im Tresorwesen mitgemacht hatte und also in solchen Dingen durchaus bewandert war, prüfte alles auf das Genaueste — mit dem Ergebnis, daß jede gewaltsame Handlung hier ausschied.

Kopfschüttelnd begab er sich mit den beiden anderen Herren wieder nach oben in das Privatkontor des Direktors. Nach einer kurzen Besprechung wandte er sich mit der Bitte an Moore, ihm die einzelnen Buchhalter vorzustellen. Dabei fragte er, ob sie alle anwesend wären.

„Nur einer fehlt“, sagte Moore, „der ist schon vierzehn Tage lang krank.“ Mit diesen Worten wollte der Vorsteher sich entfernen, doch Gray hielt ihn zurück und sagte: „Übrigens eine Frage noch, Mister Moore — — haben Sie eine schriftliche Vollmacht von Ihrem Chef, daß Sie den Reserveschlüssel benutzen und mit in Ihr Heim nehmen dürfen.“

Moore schaute ihn, leicht errötend, verwundert an. „Nein“, erwiderte er, geradezu trotzig, „zwischen Herrn Harper und mir bedurfte es nicht solcher Förmlichkeiten. Ich bin sein Vertrauter und schon seit über fünfzehn Jahren in dieser Firma. Er sprach mir dieses Recht vor etwa sieben oder acht Jahren mündlich und ohne jede Förmlichkeit zu.“

„Haben oder hatten Sie mit Herrn Harper außerhalb dieses Bankbetriebes irgendwelche geschäftlichen Beziehungen?“

Moores etwas gedrungene Stirn ist in Falten gezogen. Man merkt ihm jetzt deutlich eine gewisse Erregung an, die er nur mühsam zurückdrängt. „Nein!“ erwiderte er, seine Stimme erhebend, „derartige Beziehungen hatten wir nicht. Übrigens muß ich schon sagen, Inspektor, daß Ihre Fragen mich recht seltsam berühren.“

Gray spielte nachlässig mit einer Zigarrenspitze. „Wieso denn? Es ist meine Pflicht, mich genauestens über alles zu unterrichten. Im übrigen — —“

Er unterbrach sich und rief: ‚Herein!‘, da es plötzlich geklopft hatte.

Der zweite Wächter steckte den Kopf durch die halb geöffnete Tür, um zu melden, daß eben Miß Harper gekommen sei. Ob sie eintreten dürfe?

Gray ließ sie bitten.

*

Gleich darauf schwebte Gloria Harper ins Zimmer. Tatsächlich hatte ihr Gang etwas Schwebendes, und die Anmut ihrer Bewegungen fesselte den Inspektor sofort. Gloria war eine hübsche Erscheinung, blond und blauäugig, schlank gewachsen, mit einem reizenden Grübchen auf ihrer linken Wange. Gemessen, doch höflich begrüßte sie die Anwesenden. Gleichzeitig entschuldigte sie sich, falls sie störe, — aber sie habe ja schon telefonisch versprochen zu kommen. „Gleichzeitig“, meinte sie, „glaube ich Ihnen dadurch einen Weg zu unserer Villa erspart zu haben, Inspektor!“

„Den werden wir doch wohl noch machen müssen“, erwiderte Gray, freundlich lächelnd, „denn schließlich wird es nicht zu umgehen sein, daß ich mich auch mit Ihrer Frau Mutter ein wenig über den Fall unterhalte.“ Er war sehr höflich, der Herr Inspektor, und suchte das Wort Vernehmung nach Möglichkeit zu vermeiden.

„Hm. Schade“, erwiderte Gloria sichtlich enttäuscht; „denn ich hoffte, dies würde sich durch mein Kommen vermeiden lassen. Mama ist schwer leidend und hütet schon einige Wochen das Bett. Ihr Herz ist so angegriffen, daß ich beim Eintreffen Ihrer Nachricht das Schlimmste befürchten mußte, — und tatsächlich hat sie auch gleich wieder einen schweren Anfall bekommen. Ich wollte ihr daher auch jede weitere Aufregung fernhalten —“

„Sehr verständlich“, nickte Gray, „na, wir werden mal sehen — — wenn sich’s vermeiden läßt — — wollen Sie mir zunächst einmal einige Fragen beantworten, Mistreß Parker?“

„Gewiß. Bitte fragen Sie nur!“

„Ist Ihnen an Ihrem Herrn Vater — ich meine, was sein Benehmen betrifft, — in letzter Zeit irgend etwas Besonderes aufgefallen?“

„Nein. Ganz und gar nicht.“

„Vielleicht eine gewisse Nervosität“

„Nein — auch das nicht.“

„Hm. Und Sie können sich auch nicht denken, warum er die Bankgelder an sich nahm, um damit zu verschwinden?“

Gloria starrte Gray fassungslos an. „Mit den Bankgeldern?“ stammelte sie.

Der Inspektor nickte. „Das ist es eben, was uns das meiste Kopfzerbrechen verursacht.

Gloria richtete sich in ihrer ganzen Größe empor. „Wollen Sie etwa behaupten, Inspektor, daß Dadd — —?“ Ein krampfhaftes Lachen erschütterte sie. „Dadd! Der die Ehrlichkeit selber war! Wenn der Fall nicht so ernst wäre, müßte ich wirklich darüber lachen! — Nein, nein — hier muß etwas anderes vorliegen — — irgend ein Irrtum — — oder gar ein Verbrechen — —“

„Eine Erpressung!“ warf der Kommissar ein.

Gloria sah ihn betreten an. Wie erschlaffend ließ sie sich tief in den Sessel zurückgleiten, in dem sie Platz genommen. „Gestatten Sie, daß ich mir eine Zigarette anstecke“, bat sie und zog ein Etui aus der Tasche. Inspektor Gray reichte ihr Feuer. Sie tat einen tiefen Zug durch die Lunge, was sie sofort zu beruhigen schien.

Gray fuhr zu fragen fort. Ob die Vermögensverhältnisse Harpers geregelt gewesen seien.

Gloria zweifelte nicht daran.

„Hatte Ihr Vater vielleicht irgend welche Passionen, die ihn viel Geld kosteten?“

Gloria wußte nichts davon.

„Oder — spielte er?“

„Nein. Im Gegenteil — er verabscheute jegliches Spiel um Geld!“

„So. Hm. — Und daß er vielleicht — hm — — eine Freundin hatte, das glauben Sie auch nicht?“

Gloria zuckte zusammen. „Nein!“ rief sie, „ausgeschlossen! Das wäre das Letzte, was ich ihm zutraute, Herr Inspektor. Er war der beste Familienvater, den ich mir denken kann. Außerdem gab er sein Geld nur aus, wo es unbedingt nötig war. Wenn es allerdings galt, Mam oder uns Kindern eine Freude zu machen, dann konnte er manchmal geradezu verschwenderisch sein.“

Gray trommelte mit den Fingern auf die Lehne des Sessels, in welchem er saß. Mit einer raschen Wendung des Kopf es wandte er sich Mister Moore zu. Ob die Bank etwa Verluste hatte.

Moores Stimme bebte — wohl aus Empörung ob dieser Zumutung — als er erwiderte: „Nein, Inspektor. Die Bank ist ein altes Unternehmen mit ganz solider Stammkundschaft. Sie warf und wirft stets einen guten Gewinn ab.“

„Hob Harper stets den ihm zustehenden Anteil ab?“ warf der Kommissar ein.

„Nein“, erwiderte Moore, „nur das, was er monatlich unbedingt brauchte. Das war kaum die Hälfte. So wuchs sein Guthaben fortlaufend an.“

„Rätselhaft!“ brummte Gray, Law einen fragenden Blick zuwerfend, „alles bleibt undurchsichtig, wir scheinen hier der Erklärung um keinen Schritt näher zu kommen. Da wird es noch eine harte Kleinarbeit geben.“ Sich an Gloria wendend: „Jedenfalls danke ich Ihnen für Ihre Auskunft, Miß Gloria! Wenn Sie mit Mister Moore jetzt draußen im Kassenraum bitte noch einen Augenblick warten wollten — —“

Die beiden Genannten erhoben sich und gingen mit einem Achselzucken hinaus.

Gray und Law blieben allein zurück. Der Inspektor fragte: „Nun, Law — was halten Sie von der Sache? Nicht der geringste Anhaltspunkt ist zu finden!“

„Allerdings“, gab Law zu, „äußerlich scheint ja auch alles in bester Ordnung zu sein. Doch irgend etwas bleibt uns verborgen — — und da werden Sie schon dahinterkommen. Ein Fall, der durch Sie, Herr Inspektor, nicht aufgeklärt worden wäre, ist ja undenkbar.“

„Durch uns — wollten Sie mindestens sagen!“ Gray grinste geschmeichelt, „na ja — — glaube doch auch, daß man uns nicht allzulange hinters Licht führen wird. — Was halten Sie nun von Moore und dem Wächter? Glauben Sie, daß die beiden die Wahrheit sagten? Könnte nicht einer von ihnen den Bankdirektor beseitigt haben?“

„Sie sagen ja selbst immer, daß nichts unmöglich ist, aber — — dann hätte man auch den Chauffeur mit beseitigen müssen — —“

„Der ist ja auch gleichfalls verschwunden.“

„Demnach wäre erst einmal festzustellen, ob Harper, wie sonst, mit dem Wagen hier abfuhr.“

„Das wäre das Nächste. Gewiß. Jedenfalls glauben Sie doch wohl auch nicht, daß der Verdacht gegen die beiden für eine Verhaftung ausreichend ist?“

Der Kommissar machte eine abwehrende Handbewegung. „Nein, keinesfalls!“ erwiderte er, „bei keinem der beiden habe ich auch nur das geringste Anzeichen bemerkt, daß er etwa bei seinen Aussagen unsicher wurde.“

„Sie haben recht, Law. — Glauben Sie an das ideale Familienleben bei Harper? Oder halten Sie es für möglich, daß Fräulein Harper uns belogen hat, um irgend eine wichtige Tatsache zu verschleiern?“

Law meinte, das könne man nicht ohne weiteres wissen. Jedenfalls seien in dieser Hinsicht noch weitere Ermittlungen ratsam. Vor allem müsse der junge Harper sofort benachrichtigt werden, damit er aus Philadelphia zurückkomme.

„Schön — das erledigen Sie!“ sagte Gray, „und nun rufen Sie alle noch einmal herein.“

Die drei Erwarteten hatten draußen erregt, wenn auch gedämpft, miteinander gesprochen; jeder glaubte vom anderen irgend etwas erfahren zu können, was einen Hinweis auf das rätselhafte Verschwinden des Bankdirektors und seines Fahrers ergab — — obwohl doch schon Gray und Law alles Mögliche unternommen hatten, um einen solchen Hinweis zu finden.

Moores Vermutung ging dahin, daß Harper, nachdem er bereits auf dem Heimwege war, aus irgend einem Grunde noch einmal zur Bank zurückgefahren sei, — — wo man ihn und Faith alsdann überfallen und Harper gezwungen habe, die Gelder herauszugeben, den Tresor wieder regelrecht zu verschließen, — — um später beide Männer spurlos verschwinden zu lassen.

„Erlauben Sie mal“, schaltete sich der Wächter ein, „und ich sollte nichts davon gemerkt haben?“

„Vielleicht hatten Sie gerade Ihren Rundgang in den oberen Räumen gemacht“, erwiderte Moore.

Hamson lachte verächtlich. „Ausgeschlossen!“ erwiderte er „selbst wenn ich oben bin, würde ich hören, wenn unten jemand die Bank betritt, zumal ich die Türen stets offen lasse.“

Auch Gloria hielt die Annahme Moores für sehr unwahrscheinlich. Ihrer Meinung nach hatte man Harper, während er sich auf dem Wege von der Bank nach Hause befand, überfallen und ausgeraubt, um ihn und den Fahrer dann spurlos verschwinden zu lassen — — oder man hatte die beiden gar mitsamt dem Auto entführt.

Hamson äußerte keine besondere Meinung, da er keine besaß. Das Nachdenken über rätselhafte oder verwickelte Dinge war nicht sein Fall. Er überließ es gern denen, die seiner Meinung nach dazu berufen waren, — in diesem Falle der Polizei. Im übrigen war er jetzt auch noch viel zu müde, um seinem ohnedies nicht sehr regen Geist eine besondere Anstrengung zuzumuten.

Als man sie wieder hereinrief, drängten sie sich voller Hast in das Zimmer, als gelte es jetzt, die Lösung des Rätsels zur Kenntnis zu nehmen.

Als wieder alle versammelt waren, richtete der Distriktschef eine kurze Ansprache an sie. In erster Linie, erklärte er, sei zunächst über alle Vorgänge noch das strengste Stillschweigen zu bewahren. Jede Kleinigkeit, auch wenn sie dem Betreffenden noch so geringfügig erscheine — sofern man sich nachträglich einer solchen erinnern sollte, sei ihm sofort zu melden. Er forderte die Anwesenden auf, sich möglichst alles noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen. Oft genug komme es vor, daß einem erst hinterher etwas Wichtiges einfalle.

„Sie, Hamson“, wandte sich Gray dann dem Wächter zu, „gehen jetzt erst mal nach Hause und schlafen sich gründlich aus. Es tut mir ja leid, daß wir Sie rufen mußten, aber das ließ sich nun einmal nicht ändern. Wenn Sie sich ausgeschlafen haben, treten Sie Ihren Dienst wieder wie gewöhnlich an. — Und jetzt können Sie gehen!“

Hamson murmelte einige unverständliche Worte und verließ den Raum.

„Sie, Miß Gloria“, fuhr der Inspektor fort, „möchte ich bitten, dafür zu sorgen, daß Ihr Herr Bruder mich sofort anruft, wenn er aus Philadelphia zurückgekehrt ist. Eine telegrafische Benachrichtigung geht ihm von uns aus zu.“

Gloria nickte bestätigend.

Gray fuhr fort: „Leider werde ich doch kaum auf eine Besprechung mit Ihrer Frau Mutter verzichten können. Bitte, bereiten Sie sie darauf vor. Kommissar Law wird sich mit Ihnen entsprechend verständigen.“

„Gut“, sagte Gloria, „wenn es nun einmal nicht zu umgehen ist — — Mister Law kann mich ja anrufen, um mir Bescheid zu sagen. — Haben Sie sonst noch etwas Inspektor?“

„Nein, danke. Eilen Sie wieder zu Ihrer Mutter und suchen Sie sie zu trösten, so gut es geht.“

Gloria verabschiedete sich und schwebte wieder hinaus ...

*

Gray hielt nun mit Moore noch eine kurze Besprechung ab. Vor allem sollte der Bankvorsteher erklären, wie hoch sich die entwendete Summe belief.

Moore nannte — nach seinem gestrigen Kassenrapport, wie er bemerkte— die Summe von fünfundvierzigtausendvierhundertsechzig Dollar.

„Müssen Sie nun die Bank schließen?“ fragte Gray, „oder sehen Sie eine andere Möglichkeit?“

„Wo denken Sie hin, Herr Inspektor“, erwiderte Moore erregt, „eine Schließung der Bank wäre unser aller Ruin. Nein, Im Gegenteil. Niemand hat bisher etwas erfahren. Ich habe gleich heute früh mit dem Direktor der Nationalbank gesprochen, bei der wir selbst ein bedeutendes Guthaben — sowie außerdem einen hohen Kredit besitzen. Er sprang sofort ein und hat mir bereits die benötigten Gelder zustellen lassen.“

„So. Hm. — Sie haben ihn unterrichtet, worum es sich handelte?“

„Das war allerdings nicht zu umgehen. Doch bat ich ihn selbstverständlich um Diskretion. — — Nein, nein, Herr Inspektor, — — fünfundvierzigtausend Dollar werfen uns noch lange nicht um. Übrigens befindet sich manchmal mehr als die doppelte Summe in dem Tresor. Wir haben insofern noch Glück gehabt. — Mein Privatvermögen, das in der Bank steht, macht ja schon fast diese Summe aus!“ schloß Moore stolz.

„Nun ja — das ist ja ganz günstig“, erwiderte Gray gelassen, „jedenfalls werden Sie jetzt mit mir in dauernder Fühlung bleiben. Soll ich Ihnen zum Schutze der Bank noch einen Policeman schicken.“

„Nein, danke bestens — das ist wirklich nicht nötig. Unsere Wächter sind ja bewaffnet — — und das würde nur auffallen.“

„Gut. Verbleiben wir also einstweilen so. Guten Morgen, Sir!“

Mit diesen Worten verabschiedete sich Gray, um mit Law in sein Dienstgebäude zurückzukehren ...

*

In den Räumen des Naturwissenschaftlichen Clubs zu Philadelphia ging es recht lebhaft zu. Anläßlich der Tagung hatten sich viele namhafte Gelehrte aus den Staaten hier eingefunden. Man unterhielt sich, gruppenweise zusammensitzend, zwanglos in den ausgedehnten und prächtig ausgestatteten Räumen. Dabei kam es zu anregenden Gesprächen über die interessanten Probleme, die mit dem Thema der Konferenz in Zusammenhang standen. Es handelte sich um die neuesten Ergebnisse der Gehirnforschung, die immer erstaunlichere Einblicke in die funktionelle Entstehung der menschlichen Geistesäußerungen gewinnen ließen.

In einer der Gruppen war eine lebhafte Debatte zwischen verschiedenen jungen Gelehrten im Gange, unter denen sich auch Doktor Macdonald Harper, ein stattlicher junger Mensch mit lebhaften blauen Augen, befand.

Der Redner des gestrigen Abends hatte über Erkrankungen des Geistes gesprochen und verschiedene höchst interessante Thesen zur Erforschung und Heilung aufgestellt. Dabei war auch von einer Anstalt in Morristown die Rede gewesen, wo man sehr aufschlußreiche Experimente mit Geisteskranken angestellt habe.

Henry Thompson, ein junger Arzt aus Newark, wandte sich Macdonald Harper zu mit der Frage, ob auch er glaube, einen verwirrten Verstand durch Arbeitstherapie wieder in Ordnung bringen zu können.

„Darüber läßt sich schwer etwas sagen“, erwiderte Macdonald, „denn das Krankheitsbild ist doch jeweils verschieden. Ich könnte mir aber immerhin denken, daß in bestimmten Fällen das Anlernen einer bestimmten Tätigkeit möglich und heilsam ist. Die Ausbildung dürfte dann allerdings nur allmählich und stufenweise gesteigert werden. Andererseits wird es zahlreiche Fälle geben, bei denen in dieser Beziehung nichts zu erreichen ist.“

„Du magst recht haben, Mac“, sagte Thompson, „immerhin sehe ich hier doch ganz neue Perspektiven in der Behandlung Geistesgestörter, die man nicht ohne weiteres ablehnen darf. Ich würde daraufhin gerne die Rogersche Anstalt einmal besichtigen. Ganz gewiß könnte man dort manches lernen.“

„Gelbe ich zu, Henry, — doch glaube nicht, daß man dir dort jemals Zutritt gewähren wird. Gerade derartige Institute pflegen ihre Forschungsgeheimnisse nicht vorzeitig preiszugeben.“

„Das mag schon sein. Aber ich könnte als praktizierender Arzt mit Empfehlungen unserer Fachvereinigung kommen, was bei dir als Naturwissenschaftler schwieriger sein dürfte. Wetten, daß mir’s gelingen wird, Einblick in eine solche Anstalt zu nehmen?“

„Wetten werde ich nicht“, erwiderte Macdonald lächelnd, „aber ich wünsche dir alles Gute. Hoffentlich behalten sie dich nicht gleich dort.“

„Höchstens als Assistent!“ renommierte der Freund.

„Wäre nicht übel. Dann müßtest du mich aber auch an deinen neuen Erkenntnissen teilnehmen lassen.“

„Versteht sich am Rande. Ich denke doch — —“ er stockte, da plötzlich ein Diener laut rufend Herrn Doktor Harper verlangte.

Macdonald sprang empor und trat auf den Mann zu. „Ich bin Doktor Harper — was gibt es denn?“

„Dringend ans Telefon, Herr Doktor!“

„Ich komme!“

Mac eilte zur Fernsprechzelle und nahm den Hörer ans Ohr. Kommissar Law teilte ihm die Hiobsbotschaft von dem Verschwinden des Vaters mit. „Ich empfehle Ihnen, Herr Doktor“, bemerkte Law, „sofort Ihren dortigen Aufenthalt abzubrechen und herzukommen. Am besten benutzen Sie das nächste Flugzeug, das Sie erwischen können.“

Völlig benommen begab sich Mac zu seinen Kollegen zurück, doch nur, um sich in aller Hast zu verabschieden.

Eine knappe Stunde später bestieg er das Flugzeug.

*

Professor Roger, Leiter der Nervenheilanstalt Morristown (der Ausdruck „Irrenanstalt“ wurde peinlich vermieden) — hatte wieder einmal einen recht heißen Tag hinter sich. Fünf Zugänge hatte es heute gegeben; zwei Tobsüchtige mußten beruhigt werden; telefonische Anrufe jagten sich; ein Herr vom Finanzamt hielt ihn fast eine Stunde lang auf, — und dazu war noch eine Menge Post zu erledigen.

Die meisten telefonischen Anfragen kamen von Mitgliedern des Kongresses, die den Professor fragten, ob eine Besichtigung seiner Anstalt möglich sei.

„Der Teufel hole diesen Kongreß!“ brummte Roger, zu seinem Kollegen Professor Wilkins gewendet, der mit der Durchsicht einiger Krankenberichte beschäftigt war. „Keine Minute können sie einen hier in Ruhe arbeiten lassen.“

„Hast schon recht, Gerald“, erwiderte Wilkins, „man sollte für die Kongreßzeit das Telefon sperren lassen.“

„Ich glaube, wir täten gut daran, die Bewachung der Anstalt noch verstärken zu lassen“, schlug Roger vor, „niemand bann wissen, was diese Neugierigen schließlieh alles noch anstellen werden, um gegen unseren Willen hier einzudringen. Außerdem müßte der Stacheldrahtzaun um die Versuchsabteilung unter Strom gesetzt werden.“

Professor Wilkins zuckte zusammen und strich sich über das dünne Kinn. „Nein“, rief er, „das darfst du nicht. Das würde einen sehr schlechten Eindruck machen, und dann — — ja, wir müssen doch schließlich auch Rücksicht nehmen, — — die Stadtväter Morristowns werden bestimmt keinen Cent mehr herausrücken, wenn sie auf den Gedanken kämen, daß ihr Kapital nicht mehr jederzeit kontrollierbar sei.“

Roger, ein kleiner, untersetzter Herr mit grauem Spitzbart, blickte seinen Kollegen und Freund schief über seine Brille hin an. „So, — meinst du? Na ja, aber schließlich sind wir ja auch in dem Maße, wie sich die neue Abteilung schon selbst erhält, nicht mehr auf Magistratshilfe angewiesen.“

„Sage das nicht, mein Lieber. Die Apparate sind doch gewaltig teuer, und wenn wir uns jetzt auch noch Pechblende anschaffen wollen, so kostet das wiederum eine Menge Geld.“

„Richtig. Und deshalb bin ich dafür, daß wir mit der Gewinnung der Radiumpräparate noch etwas zurückhalten sollten.“

Wilkins trommelte auf den Tisch. „Die bringen aber das meiste Geld“, wandte er lebhaft ein, „weil sie äußerst begehrt sind.“

Professor Roger nahm seine Brille ab und putzte an den Gläsern herum, während er erwiderte: „Penicillin wird auch sehr verlangt und frißt nicht soviel Kapital.“

„Wir wollen nicht streiten, Gerald. Eins nach dem anderen. Einigen wir uns dahin, daß wir zunächst einmal die Penicillinfabrikation in Gang bringen, nachdem uns die Herstellung des Neuracitin immerhin schon ein schönes Stück Geld eingebracht und damit die Grundlage für die weitere Fabrikation geschaffen hat. Das Büro arbeitet einwandfrei: die Apparate sind alle bestellt und können täglich hier eintreffen. — Was die Sicherheitsmaßnahmen angeht, so würde ich höchstens noch einen Wächter mit einem scharfen Hund vorschlagen.“

Roger hauchte die Brille an und putzte unentwegt weiter, „Schön. Ich werde gleich dem Büro Anweisung geben. Im übrigen hat mir der Baumeister zugesichert, daß der neue Gebäudekomplex spätestens in vierzehn Tagen beziehbar sein werde.“

*

Macdonald flog mit seinen erregten Gedanken dem Flugzeug voraus. Was mochte nur mit dem Vater geschehen sein? Der Kommissar hatte am Telefon nur von einem spurlosen Verschwinden gesprochen, ohne daß es bisher gelungen sei, auch nur den geringsten Anhalt zu finden.

Auch Mac konnte sich keinen Reim darauf machen. Sollte sich eine Gangsterbande des Alten bemächtigt haben, um nun die Familie zu erpressen?

Daß auch die Bankgelder mit dem Vater verschwunden waren, erfuhr der Sohn erst nach seiner Ankunft zu Hause, wo er die Mutter in einem beklagenswerten Zustande — und auch seine Schwester in heller Verzweiflung vorfand. „Hilf uns, Mac!“ sagte Gloria tränenden Auges, „wir wissen nicht mehr, was wir machen sollen.“

Aber auch Mac wußte keinen Rat. Er war ein Gelehrter — und kein Detektiv. Die Nachforschungen mußte man schon der Polizei überlassen, — und dort wollte er jetzt zunächst einmal hinfahren.

In fliegender Hast lenkte er seinen Wagen durch den dichten Verkehr. Alles schien sich um ihn zu drehen, und es kam ihm selbst wie ein Wunder vor, daß er bei dieser Fahrt keinen Zusammenstoß hatte.

Völlig echauffiert kam er an. Nachdem er sich hatte melden lassen, wurde er sogleich zu Inspektor Gray geführt, mit dem er dann eine lange Besprechung hatte. Doch weder er konnte Gray irgend welche Eröffnungen machen, auf denen man hinsichtlich der Fahndung hätte fußen können, — — noch konnte Gray ihm etwas sagen, das in ihm eine Hoffnung erweckt hätte, — — und so blieb man in Hypothesen stecken.

*

Professor Wilkins sagte zu seinem Kollegen Roger: „Übrigens macht mir der Patient siebenunddreißig ziemlich viel Sorgen. Er ist doch ein ganz intelligenter Mensch, — trotzdem döst er nur immerfort vor sich hin. Alle Versuche, ihn aus seiner Lethargie aufzurütteln, waren bisher erfolglos.“

„So“, sagte Roger, „dann war vielleicht die Dosierung falsch.“

„Möglich. Ich glaube es aber nicht. Es gibt eben immer wieder mal Überraschungen.“

„Und Enttäuschungen!“

„Ja.“

„Was machen denn vierunddreißig und fünfunddreißig?“

„Die lassen sich wieder ganz gut an. Bei vierunddreißig fehlt es allerdings oft noch an Konzentration — fünfunddreißig aber ist geradezu ein idealer Fall.“

„Mit wieviel Mann, meinst du, wäre die neue Station zu belegen?“

„Höchstens zehn wären hier noch zu gebrauchen. Aber zwei denke ich dir noch überweisen zu können, und, wie du weißt, sind bereits sieben von den drei anderen Ärzten avisiert.“

Roger starrte einen Augenblick nachdenklich vor sich hin, wobei er an seiner Brille rückte. „Jedenfalls“, meinte er, „müßten wir auch noch einen Fachmann haben. Conny versteht von den chemischen Vorgängen nicht genug, um die neue Abteilung noch mitleiten zu können.“

„Richtig. Wo aber hernehmen und nicht stehlen? Jedenfalls will ich mal Ausschau halten.“

Es klopfte. Ein Wärter trat ein. Der Patient Nummero siebenundachtzig, meldete er, verlange den Herrn Professor Roger dringend zu sprechen.

„Gut“, sagte Roger, „in fünf Minuten führen Sie ihn herein.“

Der Wärter ging.

„Siehst du, Nummero siebenundachtzig. Reagiert völlig anormal. Ob er vielleicht eine zu ungewöhnlich gute Konstitution hat?“ bemerkte Wilkins.

„Wir werden ja sehen“, erwiderte Roger, „geh du zunächst einmal in den Nebenraum. Der Mann soll nicht abgelenkt werden, und wenn du dabei bist — — du kannst ja die Tür etwas offen lassen.“

„Gut. Werde ich machen. Wir können ja anschließend über diesen Fall sprechen.“

Mit diesen Worten zog Wilkins sich in das benachbarte Zimmer zurück, es war für Bestrahlungen eingerichtet. — —

Der Wärter führte den Patienten herein, — einen breitschultrigen Mann mit rotem, rundem Gesicht und einer Glatze.

„Nun, mein Lieber — wie geht es uns?“ begrüßte ihn der Professor.

Der Angeredete verzog keine Miene und blieb stumm.

„Guten Tag, Mister!“ wiederholte Roger mit anderen Worten seine Begrüßung. — „Sie wollten mich sprechen, nicht wahr?“

Langsam kam Leben in den Besucher. „Ja, ich — — ich wollte — —“

„Nun, was?“ ermunterte ihn der Professor.

„Ich — — ich will nach Hause!“

„Ja, aber lieber Freund — das wollen doch alle hier. Auch Sie werden nach Hause kommen, sobald Sie erst wieder gesund sind. Bis dahin müssen wir aber noch etwas warten.“

„Nein. Ich bin ganz gesund. Ja. Nun will ich nach Hause!“

„Das sagen sie alle. Ist ja auch ganz natürlich; zu Hause fühlt man sich immer am wohlsten. Doch daß Sie noch nicht ganz gesund sind, das wissen wir Ärzte doch schließlich besser. Sie müssen Geduld haben, müssen sich mehr mit der Arbeit beschäftigen, das lenkt die Gedanken ab.“

Der Kranke stampfte mit dem Fuß auf. „Will aber nicht arbeiten, will nach Hause!“

„Lieber Freund — — tut mir leid, aber da kann ich Ihnen nicht helfen. Sie müssen es noch eine Weile ertragen.“

In den Zügen des Mannes zuckt es, sein rechtes Auge zieht sich in einer nervösen Verzerrung nach oben, was dem ganzen Gesicht einen schiefen Ausdruck verleiht. „Ich will aber nichts mehr ertragen!“ schreit er, „ich will nach Hause!“ Mit diesen Worten geht er, die Fäuste ballend, auf den Professor los, der geschmeidig zurückweicht. Gleichzeitig stürzt sich ein Wärter hinter einem Wandschirm hervor auf den Irren und verdreht ihm mit einem besonders erlernten Griff dermaßen den linken Arm, daß er hilflos in sich zusammensinkt. Ein furchtbarer Aufschrei gellt durch den Raum.

„Führen Sie ihn zur Station zurück!“ bedeutet Roger dem Wärter, der sich sofort mit dem Kranken entfernt, den er hinter sich herschleift.

Professor Wilkins kommt aus dem Nebenzimmer zurück. „Schöne Schweinerei!“ brummt er, „ganz bestimmt war die Dosierung zu schwach — — sonst hätte er nicht dieses Theater gemacht. Aber so ist es immer — was man nicht selber tut — — die neue Schwester ist eben ein glatter Versager. Nichts macht sie richtig. Mit einer hübschen Larve allein kann man keine Patienten kurieren.“