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Es beginnt harmlos. Eine Frau sucht den blinden Staatsanwalt Tony Quinn auf und äußert eine ungewöhnliche Bitte. Daraufhin geht Quinn in der Maske der Schwarzen Fledermaus auf Spurensuche und trifft auf einen Gegner, der im Verborgenen mörderische Fäden zieht.
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Seitenzahl: 149
DIE SCHWARZE FLEDERMAUSBand 40
In dieser Reihe bisher erschienen:
6001 – Der Anschlag von G. W. Jones
6002 – Der Sarg von G. W. Jones
6003 – Angriff der Schwarzen Fledermaus von G. W. Jones
6004 – Ein harmloser Fall von Angelika Schröder
6005 – Tote schweigen nicht von Margret Schwekendiek
6006 – Liga der Verdammten von G. W. Jones
6007 – Die Spione von G. W. Jones
6008 – Der Kreuzzug von G. W. Jones
6009 – Der Flammenpfad von G. W. Jones
6010 – Der Sieg der Schwarzen Fledermaus von G. W. Jones
6011 – Das Trojanische Pferd von G. W. Jones
6012 – Die Spur des Drachen von G. W. Jones
6013 – Das Gesetz der Schwarzen Fledermaus von G. W. Jones
6014 – Das nasse Grab von G. W. Jones
6015 – Stadt in Angst von G. W. Jones
6016 – Der unsichtbare Tod von G. W. Jones
6017 – Die Stimme der Gerechtigkeit von G. W. Jones
6018 – Die Augen des Blinden von G. W. Jones
6019 – Die Todesmaschine von G. W. Jones
6020 – Schatten des Bösen von G. W. Jones
6021 – Teufel ohne Gesicht von G. W. Jones
6022 – Prophet des Todes von G. W. Jones
6023 – Die Morde der Nazi-Spione von G. W. Jones
6024 – Die siebte Kolonne von G. W. Jones
6025 – Millionen für einen Mörder von G. W. Jones
6026 – Die Killer aus dem U-Boot von G. W. Jones
6027 – Die Vampire von Moosehead von G. W. Jones
6028 – Wächter in Schwarz von G. W. Jones
6029 – Rache aus dem Jenseits von M. S. Jones
6030 – Fabrik des Todes von G. W. Jones
6031 – Auf höchsten Befehl von A. S. Jones
6032 – Die weiße Hexe von G. W. Jones
6033 – Samariter des Todes von G. W. Jones
6034 – Mordgeschäfte von G. W. Jones
6035 – Auf falscher Fährte von G. W. Jones
6036 – Der Mann im Koffer von G. W. Jones
6037 – Bunte Steine von G. W. Jones
6038 – Tödliches Vermächtnis von G. W. Jones
6039 – Verräterische Spuren von G. W. Jones
6040 – Regie des Todes von G. W. Jones
6041 – Wer überlebt, stirbt! von G. W. Jones
6042 – Quinn unter Verdacht von G. W. Jones
G. W. Jones
Regie des Todes
Aus dem Amerikanischenvon W. Arnemann
Das Abenteuer Regie des Todes erschien im Frühling 1946 unter dem Titel The Man Behind Murder in dem amerikanischen Magazin Black Book Detective.
Silk Kirby
Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Harald GehlenTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogogestaltung: Mark FreierIllustration: Ralph KretschmannSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-040-6Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!
„Mistress Devine“, meldete Quinns Sekretärin mit einem verstohlenen Lächeln, als sie die dicke Frau in Quinns Büro wies.
Die Besucherin war so dick, dass sie sich kaum durch die Tür quetschen konnte.
Ächzend ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, der beinahe unter ihr zusammenbrach. Ihre kleinen Mausaugen unter schweren Lidern musterten Quinn mit unverhohlener Überraschung.
„Ich wollte den Staatsanwalt für besondere Aufgaben sprechen.“, sagte sie ungehalten. „Wo ist er? Sie sind doch blind, also können Sie nicht der Staatsanwalt sein.“
„Doch, der bin ich“, erwiderte Quinn lächelnd. „Sagen Sie mir also ruhig Ihre Wünsche.“
Sie zuckte die massigen Schultern. „Ein blinder Staatsanwalt ‒ ganz was Neues!“, brummte sie. „Aber meinetwegen. Ich möchte, dass Sie meinen Mann einsperren.“
„Aha.“ Tony Quinns Ausdruck veränderte sich nicht. „Und weswegen, wenn ich fragen darf?“
„Dieser Geizkragen gibt mir nicht genug Geld zum Leben. Schließlich gibt’s so was wie eine Unterhaltspflicht, oder?“
Quinn nickte. Sein starrer, leerer Blick ging an seiner Besucherin vorbei wie der eines Blinden. Sie wäre sehr erstaunt gewesen, zu erfahren, dass ihm keine Einzelheit an ihr entging.
Er fragte: „Gibt er Ihnen überhaupt nichts?“
„Vierzig Dollar in der Woche“, antwortete sie verächtlich. „Was ist das schon? Nicht einmal genug für die einfachsten Bedürfnisse.“
Quinn erwiderte: „Aber, Mistress Devine, vierzig Dollar die Woche sind eine Menge Geld, es sei denn, Sie haben mehrere Kinder.“
„Keine Kinder!“, knurrte sie. „Aber darauf kommt’s nicht an. Ein Mann muss seiner Frau das geben, was seinem Einkommen entspricht, hab’ ich mir sagen lassen. Und mein Mann, dieser Schuft, schwimmt in Geld, ich aber bin am Verhungern!“
Quinn unterdrückte ein Lächeln.
Die Dame sah nicht gerade aus, als ob sie am Essen sparen müsste.
Er fragte: „Leben Sie mit Ihrem Mann zusammen, Mistress Devine?“
„Nein! Hab’ ihn vor einem Monat hinausgeworfen. Wir hatten uns wieder einmal wegen Geld gestritten.“
„Und wo arbeitet er?“
„Gar nicht!“, war die Antwort. „Seit vier Jahren rührt er keinen Finger, der faule Lümmel.“
„Hm. Wenn er nicht arbeitet ‒ woher hat er dann soviel Geld, wie Sie behaupten? Etwa durch irgendwelche dunklen Geschäfte?“
„Pah, Sogar dazu ist er zu faul! Wo er das Geld her hat, weiß ich nicht. Ist mir auch gleich. Ich weiß jedenfalls, dass er es hat.“
„Was ist er von Beruf?“
„Bis vor vier Jahren war er Verkäufer in einem Laden. Plötzlich muss er zu Geld gekommen sein. Und seitdem tut er keinen Handschlag mehr.“
„Ein Einbruch vielleicht …?“
„Ausgeschlossen. Der pennt Tag und Nacht. Wann sollte der einen Einbruch begehen?“
Quinn zuckte bedauernd die Achseln. „Mistress Devine, wenn Ihr Mann Ihnen regelmäßig jede Woche vierzig Dollar gibt und Sie ihn selbst aus Ihrer gemeinsamen Wohnung hinausgeworfen haben, kann ich Ihnen nicht helfen. Eine Verletzung der Unterhaltspflicht liegt hier nicht vor.“
Sie fuhr wütend auf und begann zu keifen. „Ah, so ist das? Sie wollen nichts für mich tun? Auch gut! Ich nehme mir einen guten Anwalt! Ich komme schon zu meinem Recht! Ich hab’ mir vorgenommen, dem Kerl eins auszuwischen, und das tue ich auch, verlassen Sie sich drauf! Hab genug Ärger gehabt mit ihm. Allein diese Albträume ‒ bin keine Nacht zum Schlafen gekommen.“
Quinn horchte auf. „Albträume?“, fragte er vorsichtig.
„Ja, seit vier Jahren schlief er unruhig und schrie die halbe Nacht irgendwas von einem Mord. Wenn ich ihn dann weckte und ihm davon erzählte, stritt er alles ab, behauptete, ich wäre verrückt.“
„So.“
Quinn spielte nachdenklich mit einem Bleistift. Hinter den Albträumen dieses Mr Devine schien mehr zu stecken, als die Frau ahnte.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Mistress Devine“, sagte Quinn. „Ich werde Ihren Mann zu mir bestellen und mit ihm reden. Vielleicht kann ich ihn dazu überreden, wieder zu Ihnen zurückzukehren.“
„Bloß das nicht!“, schrie die dicke Frau. „Bin froh, dass er weg ist! Ich will nur Geld genug, um anständig zu leben. Wenn Sie nach ihm schicken wollen ‒ er wohnt im Adams Hotel. Das ist ein ganz schäbiger Laden, aber ihm ist ja alles egal. Er will nur sein Bett, in dem er sich den ganzen Tag verkriechen und pennen kann.“
Sie erhob sich mit der Grazie eines Nilpferdes von ihrem Stuhl und watschelte zur Tür.
„Jagen Sie ihm nur richtig Angst ein!“, sagte sie über die Schulter zurück. „Den brauchen Sie nicht mit Glacéhandschuhen anzufassen.“
Quinn stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie sich durch die Tür hinausgezwängt hatte.
Er griff nach dem Telefon, rief die Polizei an und verlangte Inspektor McGrath.
„Mac!“, sagte er. „Hier spricht Tony Quinn. Ich bin soeben auf etwas ziemlich Interessantes gestoßen. Eine Frau verlangte, ich solle ihren Mann wegen Verletzung der Unterhaltspflicht einsperren, obwohl er ihr vierzig Dollar die Woche gibt. Dabei kam heraus, dass er seit vier Jahren nicht arbeitet, aber in Geld schwimmt. Und nachts im Schlaf redet er von einem Mord … Lassen Sie ihn mir doch mal vorführen. Der Mann heißt Jerry Devine und wohnt im Adams Hotel.“
„Okay“, brummte der Inspektor. „Ich schicke Tolliver, ihn zu holen. Ruf Sie an, sobald er da ist.“
„Gut. Vielleicht steckt gar nichts dahinter, aber ich möchte ihn doch etwas unter die Lupe nehmen. Obwohl diese Mistress Devine nicht gerade einen zuverlässigen Eindruck macht und möglicherweise stark übertrieben hat.“
Damit hängte er auf.
Er lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und dachte über den Fall nach.
Seine Augen blickten jetzt klar.
Seine Erblindung war aber bittere Wirklichkeit gewesen. Mitten in seiner vielversprechenden Karriere hatte ihn dieser schwere Schicksalsschlag getroffen, als ihm ein überführter Gangster eine Flasche Säure ins Gesicht schleuderte. Sie zerstörte seine Augen ‒ unrettbar und für immer.
Dieser unheilvolle Moment gab seinem ganzen Leben eine Wendung.
Monate verbrachte Tony Quinn in der Nacht der Blindheit, und er versuchte, sich damit abzufinden, so gut es eben gehen wollte. Er erlernte die Blindenschrift, lernte es, sich mit Hilfe eines Stockes vorwärts zu bewegen. Und er fand einen schwachen Trost und Ausgleich darin, dass seine anderen Sinne ‒ Geruch, Gehör und Tastsinn ‒ sich auf ungewöhnliche Weise schärften.
Damals nahm er Silk Kirby zu sich ins Haus, einen jungen Mann, der ihm zugleich Blindenführer, Butler, Fahrer, Sekretär und Vertrauter sein sollte. Silk wurde mehr. Er wurde Quinns Freund.
Und dann, als Quinn sich längst mit seinem Schicksal abgefunden hatte, geschah etwas völlig Unerwartetes.
Carol Baldwin, ein schönes blondes Mädchen, suchte ihn auf und überbrachte ihm ein seltsames Angebot. Carols Vater, ein Polizeisergeant in einer kleinen Stadt im Mittelwesten, lag im Sterben. Es war sein letzter Wunsch, sein Augenlicht dem blinden Staatsanwalt zu schenken, von dessen tragischem Geschick er in der Zeitung gelesen hatte.
Mit Freuden nahm Quinn das Angebot an. Er fuhr mit Carol in ihre Heimatstadt. Und dort vollzog ein ungewöhnlich begabter junger Arzt die Operation, eine Übertragung der Netzhaut von den Augen des Sterbenden auf die Augen Tony Quinns.
Sergeant Baldwin verschied bald darauf. Die Operation aber war geglückt. Quinn konnte wieder sehen!
Und nicht nur das ‒ seine Augen waren nun schärfer als zuvor, und eine seltsame Nachtsichtigkeit ermöglichte es ihm, von nun an im Dunkeln ebenso gut zu sehen wie am hellen Tag.
Tony Quinn hielt seine Heilung vor der Welt geheim. Er beschloss, dem Verbrechertum den Kampf anzusagen. Von nun an führte er ein Doppelleben, von dem nur drei Eingeweihte wussten. Tagsüber ging er seinen Pflichten als Staatsanwalt für besondere Aufgaben nach, nachts aber bekämpfte er die Verbrecher in einer Verkleidung, die ihm bald den Namen Schwarze Fledermaus einbrachte.
Nur seine drei engsten Freunde kannten sein Geheimnis, Silk Kirby, der auch nach Quinns Heilung als sein ständiger Begleiter in seinem Hause lebte, Carol Baldwin, mit der Quinn eine innige Liebe verband, und Butch O’Leary, früherer Berufsboxer, ein Muskelmann von der Gutmütigkeit eines Bernhardiners.
Außer diesen dreien gab es freilich einen, der die Wahrheit ahnte, wenn er sie bisher auch nicht beweisen konnte, Inspektor McGrath von der Kriminalpolizei.
Und noch jemand ahnte, dass die Schwarze Fledermaus niemand anders als Quinn war, Kommissar Warner, der Polizeichef von Chicago. Aber im Gegensatz zu McGrath legte es Warner keineswegs darauf an, diesen Helfer der Polizei zu entlarven, im Gegenteil. Er wusste die Dienste wohl zu schätzen, die der Mann mit der schwarzen Maske der Polizei immer wieder geleistet hatte.
In seinen Gedanken wurde Quinn unterbrochen, als Silk an seinen Schreibtisch trat. Wie gewöhnlich hatte Silk das Gespräch vom Nebenzimmer aus mitgehört ‒ das ersparte Quinn lange Erklärungen.
„Eine interessante Geschichte, die diese reizende rundliche Dame da ganz beiläufig ausgeplaudert hat!“, äußerte Silk.
Quinn nickte. „Interessanter, als die Dame selbst ahnt. Ein kleiner Verkäufer kommt plötzlich zu Geld und lebt wie ein reicher Nichtstuer, hat Alpträume und redet im Schlaf von einem Mord. Vielleicht steckt gar nichts dahinter, aber ansehen möchte ich mir diesen Jerry Devine auf jeden Fall. Inzwischen will ich die anderen Besucher abfertigen, die noch draußen warten.“
*
Der Tag verging mit den üblichen Routinearbeiten.
Um sechs Uhr lehnte Quinn sich aufseufzend in seinem Schreibtischstuhl zurück.
„War ein anstrengender Tag, Silk“, sagte er. „Ich bin froh, endlich heimzukommen.“ Dann erst fiel ihm Jerry Devine wieder ein. „Was, zum Teufel, ist aus dem Detektiv geworden, den McGrath zu Devine schicken wollte? Er müsste längst hier sein oder wenigstens irgendeine Meldung gemacht haben. Ruf mal McGrath an, Silk!“
Der Inspektor hatte auch nichts von seinem Beamten gehört.
„Das versteh’ ich nicht“, brummte er. „Der junge Tolliver ist sonst sehr eifrig und gewissenhaft. Er ist nicht zurückgekommen und hat auch nichts von sich hören lassen. Ich habe daraufhin einen zweiten Mann losgeschickt. Der erfuhr, dass Tolliver gar nicht im Hotel aufgetaucht war.“
„Hat Ihr zweiter Mann Devine mitgebracht?“, fragte Quinn.
„Eben nicht!“, erwiderte McGrath ärgerlich. „Er glaubte, er solle sich nur nach Tolliver erkundigen.“
„Es ist nicht so wichtig“, beruhigte Quinn ihn. „Lassen Sie die Sache bis morgen ruhen. Wenn Tolliver auftaucht, wird er uns ja erklären, was los war.“
Quinn hängte auf und nahm den Arm des wartenden Silks, während er mit der freien Hand seinen weißen Blindenstock ergriff.
Als Silk ihn in den marmorbelegten Korridor hinaus und zum Lift führte, boten sie das eindeutige Bild eines Blinden und seines Blindenführers.
Silk half Quinn in den Wagen und setzte sich dann selbst ans Lenkrad.
Als sie abfuhren, sagte Quinn: „Wir fahren zuerst zum Adams Hotel und versuchen, Jerry Devine zu erreichen.“
Das kleine, schäbige Hotel machte einen denkbar schlechten Eindruck.
Der Portier gab ihnen bereitwillig die Zimmernummer Devines bekannt, nachdem Quinn sich als Staatsanwalt ausgewiesen hatte.
Mit einem wackligen Aufzug fuhren sie zum siebten Stock hinauf. Quinn ließ sich von Silk führen und vergaß die Pose des Blinden für keinen Augenblick.
Als sie Devines Tür erreichten, klopfte Silk.
Jemand rief halblaut: „Herein!“
Sie traten ein.
Jerry Devine hatte auf dem Bett gelegen und richtete sich bei ihrem Eintreten auf. Er war in Hose und Unterhemd. Sein Gesicht war mit Bartstoppeln bedeckt. Seine Augen waren von tiefen Schatten umgeben, als hätte er in letzter Zeit wenig geschlafen, obwohl seine Frau behauptete, dass Schlafen seine Lieblingsbeschäftigung sei.
Silk setzte eine wichtige Miene auf.
„Das ist Staatsanwalt Quinn, der Sie sprechen möchte“, erklärte er.
Jerry Devines Unterlippe begann zu zittern.
„Mich?“, murmelte er unsicher.
„Ich wollte Sie schon heute Morgen aufsuchen“, fuhr Silk fort. „Kurz vor Mittag. Aber einer Ihrer Freunde behauptete, Sie wären ausgegangen.“
Devine schluckte. „Einer meiner Freunde?“, wiederholte er, und seine Mundwinkel zuckten nervös.
Silk nickte. „Ganz recht. So ein Großer, Schlanker. Ich traf ihn in der Halle unten. Er war etwa achtundzwanzig Jahre alt und trug einen grauen Anzug und einen braunen Hut. Sie kennen ihn doch?“
Diese Beschreibung passte haarscharf auf den Polizeibeamten, den McGrath nach Devine geschickt hatte, den jungen Tolliver.
Devine sagte zögernd: „J‒ja ‒ ja, das ist ein Freund von mir. Wann ‒ wann haben Sie ihn denn getroffen?“
Silk antwortete: „Vielleicht zwanzig nach elf Uhr. Na, egal, jetzt sind Sie ja da. Bitte, Mister Quinn, Sie wollten doch mit ihm sprechen.“
Quinn wandte sich an den Mann. Seine Augen starrten leer und blicklos an ihm vorbei, aber in Wirklichkeit beobachtete er ihn scharf.
„Ihre Frau hat mich aufgesucht, Mister Devine“, begann er „Sie möchte, dass ich Ihnen wegen Vernachlässigung Ihrer Unterhaltspflicht die Hölle heiß mache. Aber ich nehme an, dass Sie mit sich reden lassen werden. Ihre Frau meint, Sie hätten Geld genug, um ihr das Doppelte von dem zu bezahlen, was Sie ihr jetzt geben.“
„Ja ‒ klar ‒ hab’ ich“, bestätigte Devine zerstreut. „Meinetwegen kann sie auch mehr haben ‒ Hauptsache, sie lässt mich in Ruhe.“
„Ausgezeichnet!“, rief Quinn befriedigt. „Es ist wirklich ein Vergnügen, mit einem Gentleman wie Ihnen zu verhandeln. In meinem Beruf hat man es nicht immer mit Gentlemen zu tun, wissen Sie“, fügte er in vertraulichem Ton hinzu. „Sondern häufiger mit lichtscheuem Gesindel, ja sogar mit Mördern.“
Silk hatte sich abgewandt. Und vor dem Staatsanwalt, den er für blind hielt, tat sich Devine keinen Zwang an. Bei dem Wort Mörder zuckte er zusammen, und ein scheuer Ausdruck trat in seine Augen.
Quinn fuhr fort, als hätte er nichts davon bemerkt. „Ihre Frau soll mich benachrichtigen, sobald Sie sich geeinigt haben. Auf Wiedersehen, Mister Devine! Es war mir ein Vergnügen.“
Er streckte mit einer unsicheren Geste die Hand in die ungefähre Richtung Devines aus, der sie nach kurzem Zögern ergriff. Quinn merkte, dass Devines Hand zitterte.
Dann nahm Silk seinen Herrn am Arm und machte Anstalten, ihn aus dem Zimmer zu führen.
„Moment mal!“ Devine hielt sie plötzlich zurück. „Dieser ‒ dieser Freund von mir, den Sie in der Halle getroffen haben …“
„Ja?“, fragte Silk.
„Hatte er eine Narbe überm rechten Auge?“
„Ja“, antwortete Silk. „Ich beobachte sehr genau. Ja, er hatte eine solche Narbe. Auf Wiedersehen, Mister Devine!“
Sie gingen, und Silk schloss die Tür hinter ihnen. Sie läuteten nach dem Lift. Aber als dieser kam, erklärte Silk plötzlich, er hätte etwas vergessen. Der Aufzugführer schloss die Tür wieder, und der Lift fuhr ohne sie ab.
Sofort eilten Quinn und Silk lautlos den Korridor zurück. Sie stoppten vor der Tür gegenüber von Devines Zimmer. Silk drückte die Klinke nieder. Die Tür gab seinem Druck nach, und er öffnete sie langsam und vorsichtig. Rasch traten sie dann ein. Zu ihrer Erleichterung war das Zimmer leer. Es war offensichtlich unbewohnt.
„Sonderbar, dass es nicht verschlossen war“, flüsterte Silk.
„Das ist ganz und gar nicht verwunderlich“, erwiderte Quinn leise. „Weder in diesem schäbigen Bau selbst noch bei seinen Gästen ist etwas zu holen. Devine bildet fraglos eine Ausnahme.“
Er hatte sich während dieser Worte auf ein Knie niedergelassen und spähte nun durchs Schlüsselloch.
Tatsächlich sah er, wie sich gleich darauf Devines Tür öffnete.
Vorsichtig spähte Jerry Devine in den Korridor hinaus und eilte dann auf die Treppe zu.
Silk und Quinn huschten aus ihrem Zimmer und folgten ihm unbemerkt. Sie sahen ihn gerade noch im nächsten Stockwerk das Zimmer betreten, das über dem seinen lag.
Devine hatte nicht gemerkt, dass er verfolgt wurde. Und offenbar hatte er es so eilig, dass er sogar vergaß, die Tür von innen zuzumachen.