Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji - Rainer Gross - E-Book

Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji E-Book

Rainer Gross

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Beschreibung

Zwei Geschichten: Die des Kranführers Einwinkel, der plötzlich rätselhafte Ausfälle hat und auf der Suche nach seinem verschollenen Bruder ist, und die des Ich-Erzählers, der seine Vergangenheit zu bewältigen versucht. Zwei Geschichten, die mehr miteinander zu tun haben, als es auf den ersten Blick scheint, und auch die beiden Personen sind inniger verbunden, als es der Anfang vermuten lässt. Doch was haben sie mit der Sechzigsten Ansicht des Berges Fuji zu tun? Und wer erzählt hier eigentlich was? Und was bedeuten die Schiffsmeldungen, Polizeiprotokolle und das Tarot dabei? Ein Roman wie ein Puzzle, eine Geschichte, die immer mehr die Frage aufwirft: Woraus besteht die Wirklichkeit? - und doch am Schluss zu einem Durchbruch gelangt.

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Zwei Geschichten: Die des Kranführers Einwinkel, der plötzlich rätselhafte Ausfälle hat und auf der Suche nach seinem verschollenen Bruder ist, und die des Ich-Erzählers, der seine Vergangenheit zu bewältigen versucht. Zwei Geschichten, die mehr miteinander zu tun haben, als es auf den ersten Blick scheint, und auch die beiden Personen sind inniger verbunden, als es der Anfang vermuten lässt. Doch was haben sie mit der Sechzigsten Ansicht des Berges Fuji zu tun? Und wer erzählt hier eigentlich was? Und was bedeuten die Schiffsmeldungen, Polizeiprotokolle und das Tarot dabei? Ein Roman wie ein Puzzle, eine Geschichte, die immer mehr die Frage aufwirft: Woraus besteht die Wirklichkeit? und doch am Schluss zu einem Durchbruch gelangt.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie.

Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).

Bei BoD u.a. erschienen: Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Holiday (2016); Am Ende des Regenbogens (2016); Scheherazade (2017).

Gewidmet

dem Großen Erzähler,

an dessen Liebesgeschichte

wir alle Teil haben.

Zwei Hände sind eine zu kleine Schale.

Ein Herz ist ein zu kleiner Hügel,

um daran zu ruhn.

GOTTFRIED BENN

So beginnt es: Einer sitzt abends im Unterhemd am Küchentisch, der Tisch mit einem Wachstuch gedeckt, draußen grauer Werftabend. Nachtschicht. Er hat seine Heimat verlassen, weil das Vieh umgekommen ist. Nun ist er hier, um Schiffe zu bauen, die großen Schiffe, die um die Welt fahren. Werftabend. Am Meer wohnen, am fernen Meer. Er ist allein, hat nie geheiratet. Vom Löffel tropft die Buttermilch in die Schüssel zurück. Er fürchtet, dass er nicht lange hier bleiben wird. Wenn die Werft keine Arbeit mehr hat, wird er gehen müssen. Alle müssen gehen. Keiner kann bleiben. Irgendwann ist jede Geschichte zuende.

Kranfahrer (Verladebrücke, Drehwippkran)

Aufgabengebiet

Operativer Massengutumschlag im Schichtbetrieb sowie der Einsatz bei anderen in diesem Zusammenhang anfallenden hafenaffinen Tätigkeiten.

Qualifikation

Befähigungsnachweis zum Bedienen von Hafenkränen (Verladebrücke, Drehwippkran), mehrjährige Berufserfahrung, hohe Motivation und körperliche Belastbarkeit, Teamfähigkeit und Flexibilität.

Angebot

unbefristeter Arbeitsvertrag

beste Kundenbeziehungen und langfristige Projekte

Projekteinsätze ausschließlich bei Kunden, die hohen Anforderungen entsprechen

individuelle Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten

hohe Ansprüche in der Arbeitssicherheit

Lohnsteigerung durch kundenabhängigen Branchenzuschlag möglich

kostenlose Marken-Berufskleidung etc.

Der Mann heißt Einwinkel. Nach dem Schlaf am Mittag ist er ins Kino gegangen, ein Film über einen Tabakladen in einer amerikanischen Stadt, in dem Leute herein kommen und wieder hinaus gehen. Der Besitzer spricht mit ihnen. Und dann war da noch ein Junge, der seinen Vater nach langer Zeit wiedersieht oder so ähnlich. Er erinnert sich an die eine Sache, als sie den Rauch einer Zigarre wogen. Verrückt. Man wiegt die Zigarre vorher und sammelt die Asche und wiegt dann die Asche, und der Unterschied ergibt das Gewicht des Rauchs.

Runtime

1 hr 52 min (112 min)

Sound Mix

Dolby | Dolby Digital

Color

Color (DuArt) | Black and White

Aspect Ratio

1.85 : 1

Camera

Panavision Cameras and Lenses

Laboratory

DuArt Film Laboratories Inc., New York, USA

Film Length

3.084 m (Sweden) 3.180 m

Negative Format

35 mm

Cinematographic Process

Spherical

Printed Film Format

35 mm

Einwinkel hört die Küchenuhr ticken. In letzter Zeit hat er einen dummen Kopf. Manchmal ist er wie weggetreten, mitten im Gehen oder beim Einkaufen oder sogar bei der Arbeit, wenn er mit dem Kran die angeschlagene Last dreht. Augenblicke, in denen er nicht mitbekommt, was geschieht. Er setzt dann das Bauteil ein oder steht an der Kasse mit dem Wagen oder weiß an der Hausecke nicht, wo er hinwollte. Dazwischen: Was ist da? Irgendetwas ist da.

Kajen unterm Sand, an Eisenufern

Geraden mit Geräten, Kran an Kran,

und grell verschwimmt der Ölsinn

auf den Wellen ...

Jetzt, am Küchentisch, schaut er wieder auf die Uhr. Er stellt die leere Schüssel in die Spüle und trinkt Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Aus dem offenen Kühlschrank strömt Kälte, im Obstfach schrumpeln Tomaten, der Käse hat einen vertrockneten Rand.

Ich kann ihn spüren. Als steckte ich in seiner Haut. Sein Leben ist gut. Geordnet und sicher. Erzähl um dein Leben, Gefährte! Bring dein Schiff in den Hafen und die Vergangenheit in den Rahmen, der Bilder daraus macht!

Er zieht seinen Blaumann an, nimmt die Ledertasche mit dem silbernen Schloss, die er von seinem Vater geerbt hat, und verlässt die Wohnung. Finkenwerder. Die Fähre geht um diese Zeit nicht rechtzeitig, er steht wie immer abends Einmündung Norderdeich/ Ostfrieslandstraße und wartet auf die Kollegen. Arnold, sein Schichtführer, und die Anderen. Sie haben eine Fahrgemeinschaft und fahren, wenn sie Nachtschicht haben, mit dem Auto zur Werft. Finkenwerderstraße, über die Köhlbrandbrücke zum Steinwerder. Von der Brücke aus sieht Einwinkel die Nachtlichter des Hafens, beleuchtete Kajen, Kräne, Lagerschuppen, von Weitem schon die Scheinwerfer auf den Docks.

Während der Überfahrt war es dunkel geworden; die Kajen lagen hell erleuchtet und fast menschenleer, wir stiegen nebeneinander die Eisentreppen zur Straße hinauf und sprachen kein Wort.

Paul stößt ihn an. Einwinkel schaut auf seine Hände und sieht, dass er schon die Chipkarte zwischen den Fingern hält. Merkwürdig, denkt er. Wieder ein Stück Erinnerung, das ihm fehlt. Jetzt im Spätsommer dämmert es nicht mehr so früh. Zwischen den Dockwänden sieht er die Stadt nicht, aber der Himmel färbt sich von Osten her eisgrau. Trotzdem werden die Scheinwerfer nicht fahler. Alles, das Werkzeug, die Maschinen, die Kollegen, ist von diesem Licht wie ausgelöscht. Taub, als würde man keinen Laut hören, obwohl die Baustelle wie sonst am Klingen ist. Ab und zu muss er gähnen.

Gebt mir einen festen Punkt im All, und ich werde die Welt aus den Angeln heben.(ARCHIMEDES)

In der Kantine kann er sich zur Pause einen Kaffee und eine Stulle holen. Der Stift, dieser Spinner, sitzt zur Pause immer bei ihm in der Kabine und schaut über die Werft hinweg auf den Hafen. Dessen Vater hat eine Staublunge und ist Frührentner. Wie sieht es wohl bei dem zuhause aus?, fragt sich Franz. Aber er will das gar nicht wirklich wissen. Andere haben ihn nie interessiert.

Aber was für eine Vergangenheit? Was für Bilder? Was denke ich denn? Ich sitze nachts am Rechner, es ist weit nach Mitternacht und wird bald wieder hell, es sind die langen Tage nach Mittsommer, und ich erinnere mich, ich kann nichts tun dagegen, nein, ihr Körper mit den Schatten darauf kommt nicht auf mich zu, bitte nicht, und ich erkenne nicht, dass sie unter dem Mantel nackt ist, um Gottes willen, und Meeresluft polaren Ursprungs macht auch den Februar nicht eisig und nass. Es ist Sommer. Ich schwitze, das Schreiben treibt mir den Schweiß aus den Poren. Ich schreibe. Seit Tagen. Seit der Sommer nah ist, weil das meine Zeit ist, aber nein, aber nein, weil das Leben mich fordert, übermächtig der Anspruch an meine kleine Kraft, und weil ich der Hitze und dem dröhnenden Wort des Gedeihens und dem Abendgeruch nach Wald und Laub, weil ich dem allem nicht genügen kann. Ich schreibe, weil ich wissen muss, wo ich bin. Wie ich hierher gekommen bin. Wer mir überhaupt zuhört.

Ich lebe mein Leben, hier unten im Süden. Ich bin zurück gekehrt. Ich schreibe. Ich bin willens, mein Ich radikal zu verwirklichen. Des Willens sein. Ein paar Mal rufe ich noch, aber es ist keine Kraft mehr in mir, und auch die Sinne verdämmern. Ich weiß nicht. Was soll ich tun?

Als sie mich am Hafen abholte, umarmte sie mich kurz zur Begrüßung. Es war eine verhaltene, fast scheue Umarmung, und doch war sie von einer unvermittelten Nähe, die mich erschreckte. Sie gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, ich spürte, wie sich ihre Arme um meinen Nacken legten und fühlte den kühlen, glatten Stoff ihres Regenmantels auf der Haut.

Bist du draußen fertig mit Fegen?

Alles klar. Bin fertig.

Du bist nie fertig, weißt du?

Was?

Das ist eben so mit Gehwegen. Die Leute gehen drüber und jeder bringt seinen Dreck mit. Kaum bist du mit einem Stück fertig und willst zum nächsten, ist das saubere schon wieder dreckig.

Du hast mir gesagt, ich soll fegen, also feg ich. Ich mach nur, was du mir sagst.

Guter Junge.

Ich sitze und sehe die Kinder spielen. Zwei Mädchen, Teenager. Teen-ager: Zehner-Jährige. Dreizehn, vierzehn, fünfzehn. Mit sechzehn wünschst du dir die Welt. Mit siebzehn kaufst du dein erstes Moped. Mit achtzehn bist du der flaumbärtige Misanthrop, der im Kies Schönbrunns steht, Atemrauch zwischen Buchs. Wäre ich gern wieder so jung? Herumspielen am Abend zwischen den Häusern, das Lachen schallt von den Wänden wider. Mit einem Skateboard den Hügel hinab fahren. Kreischen. Vergnügen. Nicht wissen, was so ein Beobachter, so ein Mann, der die besten Jahre hinter sich hat, bei ihrem Anblick denkt. Lüstern vielleicht. Ich weiß nicht, ob ich lüsterne Gedanken habe, ob ich ein alter Bock bin. Ein einsamer Mann bin ich, auf meinem Balkon im Liegestuhl, die Zigarette zwischen den tabaksaftgelben Fingern. Heimkommen zu Mutter, die das Essen bereitet hat, zu Vater, in dessen Arm du fernsiehst, verwirrt von deiner eigenen Zweideutigkeit. Ein Lächeln auf jedem Gesicht, aber nicht für mich. Es ist der Abend eines gewöhnlichen Tages.

Am Anleger schaut Einwinkel einem Containerschiff zu, das von zwei Schleppern in den Waltershof bugsiert wird. Vorwärts, was ungewöhnlich ist. Der hintere Schlepper hält die Trosse locker, das Schiff hat noch Fahrt, langsam gleitet der Rumpf an den Kajen vorbei, verschwindet hinter den Schuppen, nur noch die Kamine sind zu sehen mit ihrer weißen Qualmspur. Statt die Fähre zu nehmen, setzt sich Einwinkel bei den Landungsbrücken auf eine Bank.

Gegen 0.30 Uhr wurde in der Rothausstraße im Vorgarten des Hauses Rothausstraße 17 ein etwa 15jähriges Mädchen aufgegriffen. Sie machte keine Angaben zur Person und wehrte sich heftig gegen die Festsetzung. Auf dem Revier gab sie an, von zuhause entwichen zu sein und zu ihrer Oma zu wollen, wo sie übernachten könne. Angaben zu ihrem Zuhause oder dem Wohnort der Oma machte sie nicht. Der Bereitschaftsdienst des Jugendamtes wurde informiert. Die Bereitschaftsdiensttuende riet, das Mädchen nicht zu ihren Eltern zurück zu bringen. Gegen 1.20 Uhr gelang es dem Mädchen, aus der Revierstelle zu entweichen.

Er tritt von der Brüstung zurück unters Dach, wo der Wind nicht hinkommt. Zündet an und raucht eine der dünnen, feinen Zigarren aus seiner Jackentasche. In Wirklichkeit ist es wie früher, mit sechzehn, wenn man stundenlang durch die Nacht fährt und nach Mädchen sucht, und wie mit fünfzig, wenn man oben auf dem Turm steht und über die nächtliche Stadt blickt. So vieles verloren. So vieles unerreicht. Nackt gewesen: wozu? Es hat sich nicht gelohnt. Sein Wagen steht auf dem Parkplatz und erwartet ihn mit dem Geruch nach Leder, dem Lämpchen über der Tür und einer Viertelstunde Heimfahrt mit Musik.

Lass dich der Nacht,

der freien, heimlichen

voller Verstecke und Zuflucht!

Niemand soll dich zwingen

zu Vorwurf und Elternkrach,

du hältst es nicht aus,

nicht dich selbst mehr mit

der Wut und Verzweiflung und der

Angst vor der Haltlosigkeit.

Doch keiner streitet dir

deinen Schlafsack, und

das Gras unterm Busch

ist dein Freund.

Schlüpf durch die Maschen,

folge der Spur durch die Straßen,

in Großmutters Stube

brennt Licht.

Einwinkel trinkt aus einer Dose Bier und schaut dem Getriebe im Hafen zu. Der Hafen ist grau, die Elbe schwarz, die gegenüberliegenden Ufer im Dunst. Das Hin und Her beruhigt ihn. Es ist keine Schläfrigkeit, die ihn überkommt, eher eine Art Lähmung, eine Leere im Kopf, die er nicht bemerkt. Nur einmal, als er die Bierdose an den Mund hebt, wundert er sich, wie das zustande kommt. Er trinkt und wundert sich, dass er trinkt, dass ein Mensch trinkt und sich Flüssigkeit die Gurgel hinunter fließen lässt. Dass das unten ankommt und jetzt nicht mehr draußen ist, sondern in ihm. Als hätte er ein Stück Welt verschluckt.

Auf dem Rückweg von der Elbe. In den erleuchteten Fenstern der Häuser am Mühlenberg sieht er kein Fernsehgeflimmer. Ruhig brennen die Lampen. Bücherregale, nicht zu dicht gefüllt; Esstische, Lampenschirme tief hängend; Stühle mit geschnitzten Lehnen. Einmal sitzt eine Frau am Fenster vor einem Schreibtisch, das Gesicht hell von der Lampe. Vor zugezogenem Vorhang sitzt eine Katze, nein, nicht aus Porzellan: Wenn er stehen bleibt, bewegt sie sich und blickt her.

Das Absonderliche unseres Zusammentreffens wurde uns deutlich bewusst. Wir kannten uns kaum, ein Gespräch über Fahrt und Aufenthalt war rasch versiegt. Ein feiner Regen setzte ein, als wir unter dem Highway hindurch gingen zur U-bahnstation. Sie spannte uns ihren Schirm auf, es tröpfelte leise und federnd wie unter einem Zeltdach, unbemerkt hatte sie sich eingehakt und ging zierlich im raschelnden Mantel neben mir.

Akai kutsu haiteta on’na no ko Ijinsan ni tsurerarete icchatta ...

Ein junges Mädchen mit roten Schuhen ging fort mit einem Fremden. Auf einem großen Schiff am Pier von Yokohama fuhr sie weg mit dem Ausländer. Ich stelle mir vor, dass sie nun blaue Augen bekommen hat, durch das Leben im Land des Fremden. Jedes Mal, wenn ich rote Schuhe erblicke, denke ich an sie in diesem fremden Land. Und jedes Mal, wenn ich einen Fremden sehe, denke ich an sie.

Am Wochenende ist er bei Arnold zum Grillen eingeladen. Es ist für August kühl. Arnold kniet vor dem Grill und pustet, dass die Funken knistern. Das Fleisch riecht gut. Ein paar Kollegen sind da und Freunde von Arnold, eine Frau allein, die eine verwaschene Jeans trägt und ein verblichenes Shirt mit einer Bordüre am Kragen und die Haare in Dreadlocks hochgebunden, dass sie abstehen wie ein Blumenstrauß. Sie sieht aus wie eine jung gebliebene Mutti. Sie trinkt Wein, später Curaçao, der ihre Zunge blau macht. Einwinkel sieht ihre blaue Zunge, während sie spricht, und sie spricht mit ihm.

Sie hat sich neben ihn auf den Boden gesetzt, und als Einwinkel sein Steak holt und mit dem Teller zurück kommt, sitzt sie immer noch da. Arnold hat sich am Grill verletzt, sein Finger zeigt eine Schramme. Am besten Wundsalbe drauf, sagt die Frau. Arnolds Frau Geli holt aus dem Haus eine Tube. Einwinkel schaut zu, wie Arnolds Finger verarztet wird. So sind die Frauen, denkt er. Mildtätig. Heilend. Das ist der Nachteil, wenn man allein ist. Ich heiße übrigens Doro, sagt die Frau mit den Dreadlocks und reicht ihm die Hand hin wie ein Lotterielos, das er ziehen soll.

Wir sitzen auf der Terrasse meines Bruders. Der Grill raucht nicht mehr, die Briketts glühen, von einer weißen Ascheschicht überzogen. Der Schafskäse liegt auf dem Rost, die Wurst, das marinierte Fleisch. Für nachher haben wir noch Maiskolben. Der Bruder erzählt von seiner letzten Mountainbike-Tour, ich halte mich zurück. Was könnte ich erzählen? Ich bin froh, dass ich ein bisschen unter Leute komme. Was ich zu sagen habe, interessiert niemanden. Das schreibe ich alles auf. Das versinkt im Nirwana meines Rechners.

Einer der Freunde meines Bruders erzählt eine Anekdote aus Moskau, dort war er auf einer Wochenendreise. Wenn ihn keiner aufhält, denke ich, erzählt er sein Leben. Lassen Sie jemanden erzählen, was er sich vorstellen kann, sagte Max Frisch, und je länger wir ihm zuhören, desto mehr erkennen wir die Geschichte, die er für sein Leben hält. Ich lehne mich zurück, verschränke die Arme. Das Orangenbäumchen im Topf hat gleichzeitig Blüten und Früchte. Mein Bruder ist alt geworden, denke ich. Er ist sieben Jahre älter als ich. In Rente. Dreißig Jahre Investmentbanker. Er hat es verdient.

Bei kleinen Verletzungen wie Schürfwunden, Kratzern oder Schnitten, auch kleinen schuppigen und rissigen Hautstellen vor allem im Winter, wenn die Haut trocken wird, ist sie die richtige Wahl.

Balsamex® Wund- und Heilsalbe unterstützt die Heilung. Durch ihren bewährten Wirkstoff Dexpanthenol fördert sie die natürliche Wundheilung und hilft der Haut, sich selbst zu heilen.

Soweit nicht anders verordnet, Balsamex® Wund- und Heilsalbe ein- bis mehrmals täglich dünn auf die wunden Hautstellen auftragen. Die Behandlung mit der Salbe sollte erfolgen, bis die Symptome abgeklungen sind.

Und du?, fragt sie ihn plötzlich. Erzähl doch von dir.

Da gibt es nichts zu erzählen.

Warst du schon mal verheiratet?

Mein Vater hat einen Hof gehabt, wir hatten Vieh und Milchwirtschaft, auch Schweine, die haben wir geschlachtet.

Hast du Geschwister?

Einen Bruder. Den habe ich aber schon lange nicht mehr gesehen.

Wieso das denn?

Er ist irgendwann weggegangen.

Und du selber?

Was ich?

Bist du gebürtiger Hamburger oder hierher gezogen?

Einwinkel zuckt die Schultern. Er versteht nicht, wie man viel von sich erzählen kann. Plötzlich wirft er die Gabel auf den Boden und steht auf.

Eine Lebensgeschichte, was? Das wollt ihr doch immer. Geboren, gelebt, gestorben.

Und wie er das sagt, wird ihm klar, dass er sein Leben nicht erzählen kann, er kann dieser Wildfremden nicht einmal einen Brocken zuwerfen, damit sie zufrieden ist.

Ihr seid doch nie zufrieden, sagt er.

Er nimmt das Reststück Fleisch vom Teller und wirft es vor ihr ins Gras.

Da, sagt er unbeholfen. Da!

Umberto Eco, seines Zeichens Romanautor und Semiotiker, sagt in seinem Buch Im Wald der Fiktionen, dass wir imgrunde ständig auf der Suche seien nach Geschichten, nach der Geschichte unserer Herkunft, die uns Sinn und Ziel unseres Lebens erzähle. Manche suchten im Kosmos nach dieser Geschichte, manche in der persönlichen Biografie. Und manche versuchten, beides in Übereinstimmung zu bringen.

Im Grunde handelt es sich beim tabellarischen Lebenslauf um eine zweispaltige Tabelle: In der linken Spalte wird der Zeitraum, in welchem man eine Tätigkeit ausgeübt hat, eingetragen. In der rechten Spalte wird die Art der Tätigkeit eingetragen. Die Tätigkeiten werden unter Rubriken zusammengefasst. Sie werden dabei chronologisch geordnet. Bei kürzeren Lebensläufen kann diese Ordnung noch chronologisch aufsteigend sein, d.h. die am längsten zurück liegende Tätigkeit steht oben und alle darauf folgenden Tätigkeiten nähern sich der Gegenwart an. Zu Beginn eines Lebenslaufs sind immer die persönlichen Daten des Bewerbers zu finden. Auch diese werden in der Regel tabellarisch dargestellt.

Der Abgang seines Bruders Martin.

Die Mutter starb bei seiner Geburt. Vater hatte in seinem letzten Jahr offenen Magenkrebs. Da war Martin schon abgehauen. Kaum dass er achtzehn war. Wollte Maler werden, sagte er. Kunstmaler. Er ließ Einwinkel mit dem Vater und dem Hof allein, ohne davon zu wissen, und als die Maul- und Klauenseuche umging, schaffte es Einwinkel nicht mehr. Nach dem Tod des Vaters verkauften sie den Hof, das Geld wollte Einwinkel mit Martin teilen, aber der war unauffindbar.

Täglich kam eine Krankenschwester, und Einwinkel saß am Krankenbett und musste zusehen, wie sein Vater verfiel. Zum Schluss kannte er den skelettierten Greis kaum wieder. Morphiumschlaf, abgestandenes Mineralwasser im Glas auf dem Nachttisch. Einwinkel führt es ihm an die vertrockneten Lippen. Der Apparat blinkt, die Flasche muss gewechselt werden. In seltenen Momenten ist er klar. Wo ist Martin? Einwinkel schüttelt traurig den Kopf. Er kommt bald wieder. So nimm denn meine Hände singen sie auf der Beerdigung. Die Leiche im Sarg wie Pinocchio, unerlösbar, eine kindliche Puppe, in einen Sonntagsanzug gesteckt. Martin kommt nicht ans Grab.

Einwinkel hat seinen Bruder seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen.

Vor dem Haus ist es ein weicher Abend. Der Himmel bezogen, Kühle in der Luft. Ich werfe die braune Papiertüte mit dem Biomüll in die Tonne. In den Gärten blühen Hortensien und Hibiskus. Auf dem Rasen liegen Bündel mit Schnittgut abholbereit.

Privat sei alles in Ordnung, sei verheiratet, zwei Kinder. Zweimal wöchentlich Frühschicht, sonst gehe er wandern, schwimmen oder bergsteigen sowie radfahren. Sein Bekanntenkreis bestehe aus Arbeitskollegen und Verwandten. Er sei in keinem Verein, gehe nicht zum Kegeln, habe keinen Stammtisch. Privat sei alles in Ordnung, habe keine Probleme. Er sei glücklich. Lebenslauf. Curriculum vitae: des Lebens Lauf. So kommt es eben. Glückliche Ehe, glücklicher Geburtstag, niemand fragt, was er will, es ist eben alles so gekommen. Es laufe gut, nur manchmal eben gegen den Strich.

Einwinkel ist allein. Das ist sein Problem. Privat sei nicht alles in Ordnung, er habe Probleme, manchmal trinke er nächtelang durch, Whisky und Zigarren, wenn etwa im Fernsehen ein Boxkampf gesendet werde, oder damals, als ihn seine Freundin verlassen