DIE UHR IM KAMIN - F. R. Lockridge - E-Book

DIE UHR IM KAMIN E-Book

F. R. Lockridge

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Beschreibung

Sie stiegen die Treppen bis zum obersten Stockwerk hinauf und betraten dort einen großen Raum, dessen Fenster auf die Straße gingen. Gegenüber den Fenstern stand ein geräumiger Schreibtisch, auf dem eine kleine, silberne Tischuhr tickte. In der Stille klang das Ticken merkwürdig hypnotisierend, dachte Weigand. Wie komme ich eigentlich auf diesen Gedanken, wunderte er sich. Dann fiel ihm ein, dass Professor Elwell sich mit Hypnose beschäftigt hatte.

Der Raum war ihm bereits von den Skizzen und Fotografien her bekannt. Der Schreibtisch mit der blutgetränkten Fließpapierauflage, der blutbesudelte, lederbezogene Stuhl dahinter und ein zweiter Stuhl gegenüber. Auf einem kleinen, an die Wand gerückten Tisch standen eine zugedeckte Schreibmaschine und davor ein Bürosessel. Dann gab es noch ein Ledersofa und die Tür zu der Kammer.

Der Captain sah sich aufmerksam im Zimmer um, ohne etwas zu berühren. Es gibt Räume, die von ihrem Bewohner erzählen, der hier tut es nicht, so dachte er...

 

Der Roman Die Uhr im Kamin von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1959; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1960.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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F. R. LOCKRIDGE

 

 

Die Uhr im Kamin

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE UHR IM KAMIN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Sie stiegen die Treppen bis zum obersten Stockwerk hinauf und betraten dort einen großen Raum, dessen Fenster auf die Straße gingen. Gegenüber den Fenstern stand ein geräumiger Schreibtisch, auf dem eine kleine, silberne Tischuhr tickte. In der Stille klang das Ticken merkwürdig hypnotisierend, dachte Weigand. Wie komme ich eigentlich auf diesen Gedanken, wunderte er sich. Dann fiel ihm ein, dass Professor Elwell sich mit Hypnose beschäftigt hatte.

Der Raum war ihm bereits von den Skizzen und Fotografien her bekannt. Der Schreibtisch mit der blutgetränkten Fließpapierauflage, der blutbesudelte, lederbezogene Stuhl dahinter und ein zweiter Stuhl gegenüber. Auf einem kleinen, an die Wand gerückten Tisch standen eine zugedeckte Schreibmaschine und davor ein Bürosessel. Dann gab es noch ein Ledersofa und die Tür zu der Kammer.

Der Captain sah sich aufmerksam im Zimmer um, ohne etwas zu berühren. Es gibt Räume, die von ihrem Bewohner erzählen, der hier tut es nicht, so dachte er...

 

Der Roman Die Uhr im Kamin von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1959; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1960.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME. 

  DIE UHR IM KAMIN

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Bill Weigand stand am Fenster und schaute auf den Hudson hinunter. Professor Jameson Elwells Büro lag im dritten Stockwerk, und man konnte von dort aus ein kleines Stück des Flusses sehen. Aussichten dieser Art waren selten in Manhattan. Jetzt flimmerte Mondlicht auf den Wellen; ein Schlepper zog lautlos eine Kette von Lastkähnen stromaufwärts. Licht und Schatten bewegten sich spielerisch auf dem glitzernden Wasser.

In einem Anfall von Müdigkeit schloss Weigand die Augen. Als er sie wieder öffnete, empfand er wohltuend die gelassene Heiterkeit des Ausblicks.

Jemand klopfte. Weigand wandte sich vom Fenster ab und bedeutete Sergeant Mullins mit einem Kopfnicken, zu öffnen.

»Mr. Carl Hunter«, hörte man jemanden zu Mullins sagen. Dann betrat ein hochgewachsener, junger Mann im grauen Flanellanzug den Raum. Er blieb dicht an der Tür stehen und fragte: »Sie wollen mich sprechen?« Er wartete die Antwort nicht ab. Mit schnellen Schritten ging er auf den großen Schreibtisch zu, auf dem eine kleine silberne Tischuhr stand. Er nahm sie in die Hand, sah sie aufmerksam an, drehte sie um, zog sie auf und betrachtete sie wieder. Dann war er plötzlich mit zwei langen Schritten am Kamin und warf die Uhr mit einer schnellen Bewegung in die dunkle Öffnung. Sie zerbrach mit einem lauten, hässlichen Geräusch. Für einen Augenblick sah er auf die Trümmer, schlug dann kurz seine Hände gegeneinander und wandte sich Captain Bill Weigand vom Morddezernat Manhattan-West und Sergeant Aloysius Mullins zu.

Seine intelligenten grauen Augen in dem kantigen Gesicht waren auf Weigand gerichtet, und er wiederholte: »Sie wünschen?« Er stockte, als er den Ausdruck grenzenlosen Erstaunens auf den beiden ihm zugewandten Gesichtern gewahrte.

»Oh«, sagte Mr. Carl Hunter in einem Ton, als ob er jetzt erst begreife, was die beiden so in Erstaunen setzte. »Ich nehme an er brach ab, und nun schien auch er ein wenig verwirrt zu sein. »Sie ging nach!«, fuhr er fort. »Was für einen Wert hat eine Uhr, die nachgellt?« Mullins schien sich endlich wieder gefasst zu haben. »Was, zum Teufel, bilden Sie sich ein?«, fuhr er den jungen Mann an.

»Schon gut, schon gut, Mullins«, besänftigte Weigand, und der Sergeant begnügte sich mit einem widerwilligen »Okay, Captain«

»Werfen Sie Uhren, die nachgehen, immer weg, Mr. Hunter?«, fragte Weigand den jungen Mann, der ihn einen kurzen Moment verlegen ansah und dann unsicher den Kopf schüttelte. Die Frage schien ihn zu beunruhigen.

»Eigentlich nicht«, sagte er. »Ist verrückt, so etwas zu tun, nicht wahr? Müsste interessant sein, das psychologische Motiv zu verfolgen, wenn...« Er ließ den Gedanken fallen. Dann begann er wieder: »Man hat mir mitgeteilt, dass sich eine schlimme Sache mit Professor Elwell...«

»Stimmt«, sagte Weigand. »Professor Elwell ist tot, Mr. Hunter. Er ist tot seit heute Nachmittag um drei Uhr. Oder vielmehr, seit kurz nach drei.«

»Der Mann, den Sie nach mir schickten, sagte, Sie hätten einige Fragen an mich zu richten über den Unfall. Aber so, wie es aussieht...«

»Sie sehen richtig«, unterbrach ihn der Captain kurz.

»Professor Elwell wurde ermordet, Mr. Hunter. Es muss kurz, nachdem Sie ihn heute Nachmittag verließen, geschehen sein.«

»Als ich wegging, war er wohlauf«, stellte Hunter hastig fest. Und das war genau die Antwort, die Weigand erwartet hatte.

Mullins kauerte am Kamin und betrachtete nachdenklich die Trümmer der silbernen Tischuhr. Nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr wandte er sich an Weigand.

»Komische Sache, Captain«, sagte er gedehnt. »Die zerbrochene Uhr zeigt neun Uhr dreizehn. Und wissen Sie, wie spät es jetzt ist? Genau neun Uhr siebzehn! Verstehen Sie, was ich meine?« Er starrte Hunter an. »Nun also, Mister?«

»Ich weiß nicht... Ich war sicher, dass sie nachging.« Der junge Mann sprach stockend.

Er ist verblüfft, dachte Weigand. Oder er tut nur so. Dieser Fall fängt wieder einmal gut an. Er grinste, obwohl ihm nicht danach zumute war. Aber immerhin! Wenigstens waren die Norths diesmal nicht dabei... bis jetzt nicht!

Kurz nach fünf war Bill Weigand in sein Büro in der 20. Straße gekommen. Er war müde gewesen und sehnte sich nach einem kühlen Drink, nach der friedlichen Atmosphäre seiner vier Wände. Für Oktober war es noch beachtlich heiß. Ein langer und anstrengender Tag lag hinter ihm.

Auf atmend dachte er: Schluss für heute, da klingelte das Telefon. »Weigand«, meldete er sich.

»Der Alte will Sie sprechen«, sagte die Stimme.

»Geben Sie her«, erwiderte Bill resigniert und hielt vorsichtshalber den Hörer in einiger Entfernung von seinem Ohr.

»Wo, zum Teufel, sind Sie gewesen!«, schrie Inspektor Artemus O’Malley. Weigand vergrößerte resigniert den Abstand des Hörers.

Der Inspektor legte eine überaus unangenehme Betonung in diese Frage, obwohl er haargenau wusste, wo der Captain gewesen war.

»Gerichtsverhandlung. Geladen als Zeuge im Prozess gegen Puggy Wormser. Wollten wissen, ob wir ihn geschlagen haben«, berichtete Weigand kurz.

»Haben wir nicht?«, fragte O’Malley zerstreut.

»Natürlich nicht.«

»Wir müssen ja heutzutage alle diese Burschen mit Samthandschuhen anfassen. Die werden schon noch sehen, wie weit sie damit kommen!«, trompetete O’Malley ärgerlich.

Dies war eine der Lieblingstheorien des Inspektors. Er hielt mehr davon auszuteilen, als einzustecken.

»Worum handelt es sich?«, unterbrach Weigand O’Malleys Redefluss.

»Was dachten Sie, warum ich anrufe? Irgend so’n Professor wurde ins Jenseits befördert. Scheint ein Namhafter gewesen zu sein.« O’Malley hatte etwas gegen berühmte Leute, die sich umbringen ließen. Bekannte Namen machen unweigerlich die Reporter wild.

»Fangen Sie an und bleiben Sie mit mir in Verbindung. Ich bin entweder zu Hause oder in Paddys Grill«, schloss der Inspektor.

Weigand legte den Hörer mit der Erkenntnis auf die Gabel zurück, dass sich ein Captain der Polizei nicht auf einen friedlichen Feierabend freuen dürfe. Dann wählte er die Nummer seiner Wohnung. »Dorian – ich...«, begann er. Es war überflüssig, den Satz zu beenden. Bill konnte sie vor sich sehen, wie sie an dem kleinen Tischchen stand: Die eine Hand hielt den Hörer, die andere berührte mit den Fingerspitzen die Tischplatte.

»Oh«, kam es vom anderen Ende der Leitung. Er hörte deutlich die Mischung von ängstlicher Erwartung und aufkeimender Enttäuschung heraus. »Erzähl mir nicht, dass du schon wieder nicht kommen kannst!«, sagte Dorian Weigand beschwörend.

»Du wolltest ja unbedingt einen Polizisten heiraten. Trotz aller Warnungen.«

»Wirklich? Bist du ganz sicher, dass es nur meine Idee war?«

»Nein, Liebling. Trotzdem - was kann man tun! Es gibt eben immer wieder Leute, die sich zu den unpassendsten Zeiten umbringen lassen.«

»Pam und Jerry sind hier«, berichtete Dorian.

»Fein! Trinkt einen Schluck auf den armen Bill mit, und sei nicht traurig, Liebes...«

Weigand fühlte sich jetzt ein wenig besser. Dorians Stimme, wenn auch nur durch das Telefon, und der Gedanke an ihre natürliche Grazie, verfehlten nie ihre besänftigende Wirkung auf ihn.

Der Fall hatte am Mittwoch, den zweiundzwanzigsten Oktober, fünfzehn Uhr elf begonnen:

Eine junge Frau nahm den Hörer eines Telefons ab und meldete sich mit berufsmäßiger Freundlichkeit: »Hier Vermittlung, bitte?«

Es war die Stimme eines Mannes, die antwortete. Eines Mannes, der offensichtlich mit größter Anstrengung sprach; so, als ob ihm jede Silbe viel Kraft kosten würde.

»Ein Unfall«, ächzte der Mann mit versagender Stimme. Dann kam noch eine Reihe von gestammelten, unverständlichen Worten. Noch einmal wurde die Stimme deutlich: »Einen Arzt - ich bin angeschossen – Ambu...« Die Stimme brach ab.

»Es tut mir leid, mein Herr«, antwortete die Vermittlung automatisch. Und dann - in plötzlichem Begreifen: »Hallo? Hallo!« Aber es rührte sich nichts mehr.

Die Leitung blieb offen. So war es nicht allzu schwer herauszufinden, dass der Hilferuf von dem Apparat eines gewissen Jameson Elwell gekommen war, der auf der Westseite von Manhattan in einer der Straßen am Fluss lebte.

Trotzdem dauerte es eine Weile, bis der erste Polizeiwagen vor dem Haus Jameson Elwells hielt. Als sie ihn in seinem Büro fanden, war er tot. Verblutet an der Wunde eines Revolverschusses. Er war allein in dem Haus gewesen, so dass die schwere Haustür aufgebrochen werden musste; und das kostete wertvolle Minuten.

Er saß vornüber gesunken an seinem Schreibtisch, noch immer die schlaffe Hand am Telefon. Die Fließpapierauflage hatte sich mit Blut vollgesogen, und Blut war in dünnen Rinnsalen rings um den Schreibtisch auf den Fußboden getropft. - Es wäre sowieso zu spät gewesen, stellte der Arzt fest, nachdem er ihn oberflächlich untersucht hatte. Es sei fast unglaublich, dass Jameson Elwell mit einer Kugel so nahe am Herzen die Kraft aufgebracht habe, zu telefonieren.

Jameson Elwell, Ph. D., Professor der Psychologie an der Dyckman-Universität und Autor einer Reihe von Büchern, war ein etwas untersetzter, weißhaariger Mann mit einem gestutzten Bärtchen und blauen Augen. Morgen, am dreiundzwanzigsten Dezember, hätte er seinen fünfundsechzigsten Geburtstag gefeiert. - Er war aus kurzer Entfernung mit einem .32er Revolver erschossen worden. Der Mörder musste ihm direkt am Schreibtisch gegenüber gestanden haben. Ein einziger Schuss hatte ganze Arbeit geleistet. Von dem Verbleib des Revolvers hatte man bisher nicht die geringste Spur. Der Schreibtisch war leer, mit Ausnahme der blutigen Fließpapierauflage, zweier Füller in einem Halter und einer kleinen silbernen Tischuhr, die so stand, dass Professor Elwell, falls er bei Bewusstsein gestorben war, die genaue Minute seines Todes vor Augen gehabt haben musste.

Es war ungefähr halb sechs Uhr nachmittags geworden, bis Captain Weigand mit seinem Wagen zum Polizeirevier kam, wo er sich mit dem augenblicklichen Stand der Dinge vertraut machte. Er besah sich Fotografien und Skizzen, erfuhr, dass man Fingerabdrücke auf der Schreibtischplatte, gegenüber dem Toten, gefunden hatte und dass Staub vom Tatort bereits zur Untersuchung im Laboratorium war. Man hatte ermittelt, dass Professor Elwell allein im Haus gewesen war, als er starb, denn er hatte seinem Hausmeister für diesen. Nachmittag freigegeben. Dieser Hausmeister sagte aus, er habe einen Mann namens Carl Hunter eingelassen, bevor er weggegangen sei. Soviel er, Delbert Higgins, wisse, sei er einer der Studenten des Professors gewesen; auf jeden Fall ein Mann, der ihn ziemlich häufig in seinem Büro besuchte.

Higgings hatte Hunter ungefähr um zwei Uhr eingelassen, nachdem dieser ihm sagte, der Professor erwarte ihn. Er hatte ihn beobachtet, wie er die Treppe hinaufstieg. Bald darauf war er dann weggegangen, um ein Kino zu besuchen. Als er wieder zurückkam, fand er die Polizei im Haus.

Wo Higgins sich wirklich aufgehalten hatte, war für den Moment nicht besonders wichtig. Mit Hunter mochte das etwas anderes sein. Man hatte durch die Universitätsakten herausgefunden, dass er am oberen Broadway ein Einzimmerappartement bewohnte. Er war im Augenblick nicht zu Hause. Ein Mann sollte dort auf ihn warten.

Es war bis jetzt niemand ausfindig gemacht worden, der den Schuss auf Professor Elwell gehört hatte, und auch niemand, der einen jungen Mann vor oder nach drei Uhr aus dem Haus kommen sah.

Das Haus gehörte Jameson Elwell. Vorläufige Auskünfte ergaben, dass er nicht nur von dem Gehalt eines Professors zu leben brauchte. Man wusste auch bereits, dass er seit einigen Jahren Witwer war und einen Bruder, eine Nichte und zwei Neffen in Westport, Connecticut hatte. Er hatte auch eine Tochter gehabt, die vor sechs Monaten bei einem Autounfall auf dem Merrit Parkway tödlich verunglückt war.

Soweit die Tatsachen, die Captain Weigand bis zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung standen. Es waren mehr als genug; er hoffte, einige würden von Nutzen sein.

»Was ist denn das?«, fragte Weigand und deutete mit dem Finger auf eine Tür, die in der Skizze von Professor Elwells Büro eingezeichnet war.

»Das ist die Tür zu einer Kammer«, erklärte ihm der Polizeibeamte, »vollgestopft mit Aktenstapeln, Karteikarten, und wer weiß, was noch alles. Ich habe vorerst ein paar Leute mit dem Durchsuchen beauftragt, bis ich genauere Weisung von Ihnen erhalten würde

»Danke«, sagte Weigand. »Sie gehen ganz richtig vor, Barney.«

Vorerst bestand keine Notwendigkeit, am Tatort zu erscheinen. Man konnte jetzt noch ruhig den Experten das Feld überlassen. Was zu finden war, würde früher oder später sowieso gefunden werden.

»Kommen Sie, Mullins!« winkte Weigand dem Sergeanten.

Sie nahmen ohne besondere Eile ihr Dinner ein und fuhren anschließend zu dem Pfaus, das Professor Elwell gehört hatte. Ein Polizist in Uniform stand neben der Haustür. Er grüßte höflich, als der Captain ihm seine Dienstmarke zeigte.

»Besucher dagewesen?«, fragte Bill. Der Mann schüttelte den Kopf.

»Der Hausmeister ist zurückgekommen«, berichtete er. »Ein kleiner Kerl, namens Higgins. Er scheint es schwer zu nehmen.«

Weigand klingelte. Sie mussten verhältnismäßig lange warten, bis geöffnet wurde. Higgins war ein kleiner Mann mit schütterem grauen Haar und gebeugten Schultern unter einem blauen Jackett. Er sah den Captain mit geröteten Augen an.

»Higgins, Sir«, stellte er sich vor. »Haben Sie schon herausbekommen, wer ihn ermordet hat? War es dieser Mr. Hunter?«

Sie sagten ihm, dass man bis jetzt noch gar nichts wisse.

»Ich sollte hiergeblieben sein«, murmelte Higgins mit schwankender Stimme, während er sie in den Flur einließ. »Ich werde mir Vorwürfe machen, so lange ich lebe, Sir.«

»War nicht Ihre Schuld«, beruhigte ihn Weigand.

»Das ist leicht gesagt, Sir. So viele Jahre war ich nun bei ihm und jetzt, wo er mich gebraucht hätte Er hob betrübt seine krummen Schultern. »Ich werd’s all mein Lebtag mit mir herumtragen müssen. Aber entschuldigen Sie, bitte, Sie wollen sicher nach oben gehen?«

Er wies ihnen den Weg.

Als sie schon an der Treppe waren, rief er ihnen noch nach: »Wenn Sie mich benötigen, brauchen Sie nur die Klingel auf dem Schreibtisch zu drücken.« Traurig schüttelte er den Kopf und ging weg.

Sie stiegen die Treppen bis zum obersten Stockwerk hinauf und betraten dort einen großen Raum, dessen Fenster auf die Straße gingen. Gegenüber den Fenstern stand ein geräumiger Schreibtisch, auf dem eine kleine, silberne Tischuhr tickte. In der Stille klang das Ticken merkwürdig hypnotisierend, dachte Weigand. Wie komme ich eigentlich auf diesen Gedanken, wunderte er sich. Dann fiel ihm ein, dass Professor Elwell sich mit Hypnose beschäftigt hatte.

Der Raum war ihm bereits von den Skizzen und Fotografien her bekannt. Der Schreibtisch mit der blutgetränkten Fließpapierauflage, der blutbesudelte, lederbezogene Stuhl dahinter und ein zweiter Stuhl gegenüber. Auf einem kleinen, an die Wand gerückten Tisch standen eine zugedeckte Schreibmaschine und davor ein Bürosessel. Dann gab es noch ein Ledersofa und die Tür zu der Kammer.

Der Captain sah sich aufmerksam im Zimmer um, ohne etwas zu berühren. Es gibt Räume, die von ihrem Bewohner erzählen, der hier tut es nicht, so dachte er.

Er versuchte, die Tür zur Kammer zu öffnen, aber sie war versperrt. Vermutlich hatte sie ein Schnappschloss. Unter der persönlichen Habe des Professors war ein Schlüsselbund gewesen. Weigand hatte ihn mitgebracht und wählte eben einen Schlüssel aus, der ihm passend schien, als das Telefon klingelte. Mullins ging an den Apparat, meldete sich, lauschte und sagte dann: »Warten Sie einen Moment, ich will ihn fragen.« Er wandte sich an Weigand: »Sie haben jetzt diesen Hunter, den Mann, der am Nachmittag den Professor besuchte. Wollen wissen, ob sie ihn hierher bringen sollen, oder

»Hierher«, unterbrach ihn der Captain kurz.

»Kommt rüber mit ihm«, gab Mullins die Anweisung an das Revier weiter.

Mit der Kammer konnte er sich später beschäftigen. Weigand sah sich nach der Klingel auf dem Schreibtisch um, die Higgins erwähnt hatte. Er drückte einen Knopf, der in die Schreibtischplatte eingelassen war. Bald darauf hörten sie schleppende Schritte auf der Treppe, hörten, wie an die Tür geklopft wurde. Delbert Higgins kam herein. Er blieb, ein wenig atemlos, nahe bei der Tür stehen und fragte: »Sie klingelten nach mir, Sir?« Man sah ihm an, dass er wieder geweint hatte.

Kurz nach zwei hatte er Carl Hunter hereingelassen. Wieviel nach zwei? Hunter war ein häufiger Besucher gewesen. Aber wie häufig?

Vielleicht fünf Minuten nach zwei, vielleicht zehn. Mr. Hunter besuchte den Professor einige Male in der Woche; meistens, aber nicht immer, kam er nach dem Dinner.

»Er ist Examenskandidat, Sir«, erklärte Higgins. »So erzählte mir der Professor, und auch, dass er ihm bei seiner Doktorarbeit helfe. So war er immer. Wenn jemand Hilfe brauchte, der Professor Higgins Stimme brach. Er wischte sich mit der Hand die Augen und murmelte: »Entschuldigen Sie, Sir!«

Es ist hart für den alten Mann, dachte Bill Weigand. Nicht einfach, in diesem Alter einen neuen Job zu finden. Er sagte ihm, dass er ihn recht gut verstünde, und fragte, wann er das Haus verlassen habe.

Ungefähr eine Viertelstunde, nachdem er Hunter geöffnet hatte. Er hatte noch gehört, wie der Student an die Tür klopfte und Professor Elwell herein rief. Dann war er nach unten in sein Zimmer gegangen, um sich umzuziehen. Er hatte das Haus durch den Personaleingang an der Rückseite verlassen.

»Haben Sie auch die Haustür abgeschlossen?«, unterbrach ihn Weigand.

»Selbstverständlich, Sir! Ich habe beide Türen abgeschlossen.«

»Als Mr. Hunter das Haus verließ, vermutlich durch den vorderen Eingang, hat die Tür eingeschnappt?«

»Ja, Sir. Sie hat ein Schnappschloss.«

»Haben Sie den Professor noch etwas anderes reden hören?«

»Nein - wirklich, sonst nichts! Sie glauben doch nicht, dass ich...«

»Natürlich nicht, Higgins«, beruhigte ihn Weigand. »Mr. Hunter wird gleich hier eintreffen. Wollen Sie ihn bitte herauf führen.«

Higgins entfernte sich eilig. Bill holte von neuem den Schlüsselbund aus seiner Tasche. Diesmal fand er den passenden Schlüssel sofort. Die Kammer war klein und eng. Zu beiden Seiten standen bis unter die Decke reichende Aktenregale. Die Rückwand der Kammer war aus Holz. Als Weigand die Tür wieder zumachte, stellte er befriedigt fest, dass es sich auch hier um ein automatisches Schnappschloss handelte. Die Kammer musste in die Außenwand eingelassen sein. Oder sollte sie etwa ins Nachbarhaus hinüberreichen? Doch das war kaum anzunehmen. Komische Sache, das...

»Sie kommen«, sagte Mullins vom Fenster her. Der Captain trat neben ihn und sah auf die Straße hinunter. Zwei Männer stiegen eben aus einem Polizeiwagen.

Dann betrat Carl Hunter, Examenskandidat der Dyckman-Universität und Anwärter auf den Doktorhut in Psychologie, das Büro seines ermordeten Professors und zerbrach eine kleine silberne Tischuhr, die treu und brav ihre Pflicht erfüllt hatte...

»Aber ich hätte geschworen, dass sie nachging«, beteuerte Hunter mit einer Stimme, die die Hartnäckigkeit seiner Behauptung Lügen strafte. »Warum sonst in aller Welt würde ich...?« Er verstummte.

»Ist es Ihnen aufgefallen, dass die Uhr nachging, als Sie heute Nachmittag hier waren? Vielleicht wurden Sie dadurch dazu veranlasst?«

»Ja, so muss es gewesen sein«, ging Hunter sichtlich erleichtert darauf ein. »Natürlich, das ist es. Wahrscheinlich hat der Professor...«

Er starrte vor sich hin.

»Mein Gott«, stieß er hervor. »Wir stehen hier herum und reden, reden von der verdammten Uhr. Und Jamey ist tot! Ermordet!«

»Stimmt«, sagte Weigand scharf. »Es geschah, kurz nachdem Sie weggegangen waren. Wann verließen Sie Elwell, Mr. Hunter?«

»Ich bin nicht länger als eine halbe Stunde geblieben. Es muss ungefähr ein Viertel vor drei gewesen sein.«

»Auf der Tischuhr?«

»Nein - ich glaube nicht. Jetzt erinnere ich mich. Ich hatte auf meine Armbanduhr gesehen, weil - weil ich um drei verabredet war. Als ich mich verabschiedete, saß er noch ganz gesund dort.« Hunter wies auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch. »Und er winkte mir noch nach - so auf seine freundliche Art. Lass sie nicht warten, Carl, sagte er, und...«

»Sie?« fiel Weigand gespannt ein.

»Ein Mädchen, das ich kenne«, antwortete Hunter schnell.

»Und wo trafen Sie sich?«

»Im Universitätsbuchladen. Das heißt, eigentlich ist der Laden gar nicht auf dem Universitätsgelände. Er ist...«

»Das ist nicht wichtig jetzt«, warf der Captain ein. »Wann kamen Sie dort hin?«

»Nun.« Hunter sprach bedächtig. »Sie hatte sich etwas verspätet, Captain. Es muss etwa...«

Diesmal unterbrach er sich nicht selbst. Ein Geräusch, das Schnappen eines Schlosses, ließ ihn verstummen.

Ein hochgewachsenes, schlankes Mädchen mit beinahe weißblondem Haar betrat das Zimmer. Sie blieb erschrocken stehen, wie ein ertapptes Kind. Sie hatte ein schmales Gesicht mit viel zu großen blauen Augen. Ihre feingliedrige Hand legte sich instinktiv auf unerwartet volle, schön geschwungene Lippen.

Aber nicht ihr Aussehen war es, das Bill Weigand und Mullins dazu brachte, sie wie eine Erscheinung anzustarren: Sie kam aus der Kammer.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Bill Weigand riss seinen Blick von dem blonden Mädchen los und schaute auf Sergeant Mullins. Das wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen. Wenn er schon einigermaßen verblüfft war, wie musste es erst auf den braven Mullins wirken! Ein Blick genügte.

Es war nicht so sehr Überraschung, die sich auf dem gutmütigen, immer etwas geröteten Gesicht des Sergeanten ausdrückte: Seine Miene zeigte Ärger und Missbilligung. Das geht zu weit - das geht ein gutes Stück zu weit, sollte das heißen.

»Schon gut, Sergeant«, grinste der Captain besänftigend und wandte sich wieder dem Mädchen zu, das erstaunt von einem zum anderen sah.