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Das Kind spricht nicht, lacht nicht und weicht jeder Berührung aus, als verursache sie ihm Schmerzen. Miriams Eltern sind schon ganz verzweifelt, denn auch ihnen entzieht sich die Kleine immer mehr. Was das Schlimmste ist: Sie tragen die Schuld am Leid ihrer Tochter, waren nicht da, um ihr die Angst zu nehmen, als die Katastrophe passierte.
Alle liebevollen Worte erreichen nichts, Miriam lässt niemanden an sich heran. Und dann ist sie eines Tages verschwunden, weggelockt durch das traurige Spiel einer Geige ...
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Seitenzahl: 107
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Gefeiert und doch einsam
Vorschau
Impressum
Gefeiert und doch einsam
Das erschütternde Drama um ein Wunderkind
Von Heide Prinz
Das Kind spricht nicht, lacht nicht und weicht jeder Berührung aus, als verursache sie ihm Schmerzen. Miriams Eltern sind schon ganz verzweifelt, denn auch ihnen entzieht sich die Kleine immer mehr. Was das Schlimmste ist: Sie tragen die Schuld am Leid ihrer Tochter, waren nicht da, um ihr die Angst zu nehmen, als die Katastrophe passierte.
Alle liebevollen Worte erreichen nichts, Miriam lässt niemanden an sich heran. Und dann ist sie eines Tages verschwunden, weggelockt durch das traurige Spiel einer Geige ...
Noch ein letzter lang gezogener Bogenstrich, der ganz allmählich verklang, dann ließ die alte Dame die Geige sinken. Für heute hatte sie genug getan. In letzter Zeit wollten die Finger ihr nicht mehr so gut gehorchen wie früher. In ihren Blick, der bei ihrem täglichen Geigenspiel stets, wie der Welt entrückt, nach innen gekehrt war, schien das Leben zurückzukehren. Ihre blauen Augen nahmen wieder die Bilder jenseits der Fensterscheiben, ihre Ohren die Geräusche des draußen vorüber brodelnden Straßenverkehrs wahr.
Nur ein schmales, aber gepflegtes Vorgärtchen, in welchem es vom Frühjahr bis spät in den Herbst hinein vielfarbig blühte, trennte die Jugendstilvilla mit der schon ein wenig verwittert wirkenden Fassade zum Gehsteig hin ab.
Seit die Stadtplaner diverse Straßen ausgebaut und den Autoverkehr in neue Bahnen gelenkt hatten, war es auch in dieser einst abgelegenen Vorstadtstraße mit der Ruhe vorbei.
Umso mehr freute sich die alte Dame darüber, dass ihr Vorgarten wenigstens nicht in seinem gesamten Ausmaß der neuen Straßenverbreiterung zum Opfer gefallen war.
Alexandra Bleibtreu war eine allem Schönen zugetane, zierliche Frau mit einem puppenhaften Gesichtchen. Ihr naturkrauses seidenweiches Silberhaar trug sie im Nacken, von einem hübschen altmodischen Schildplattkamm zusammengehalten. Die bunte Blumenvielfalt in dem noch erhaltenen, von einem freundlichen Nachbarn liebevoll gepflegten Restgärtchen erfreute ihre Augen täglich von Neuem, die von der Geige erzeugten Töne ihr Ohr und vor allem ihr Herz.
Im Alter von beinahe achtzig Jahren nach einem, wie sie sich dankbar selbst ausdrückte, reichen erfüllten Leben stellte Alexandra Bleibtreu heute sonst keine großen Ansprüche mehr. Aber dafür, dass ihre, wie sich beim Lesen zeigte, zusehends schwächer werdenden Augen es noch schafften, bunte Bilder aufzunehmen, und ihre Ohren, der Musik zu lauschen, war sie dem Schicksal ungeheuer dankbar. Es hatte ihr im Laufe der vielen Jahre manches Leid beschert. Aber es hatte auch ebenso viel Freude für sie bereitgehalten. Die größte von allen war die Tatsache gewesen, dass es ihr ein langes Zusammenleben mit dem von ihr am meisten geliebten Menschen ermöglicht hatte: mit ihrem Frederik.
Behutsam legte Alexandra Bleibtreu das wertvolle Musikinstrument in den mit verblichenem blauem Samt ausgeschlagenen Geigenkasten zurück. Ehe sie ihn sorgfältig schloss, streichelten ihre feinen faltigen Hände, auf deren Rücken die Adern bläulich durch die porzellanzarte Haut hindurchschimmerten, mit einer zärtlichen Geste über das braune Holz. Danach öffnete sie eine Tür des dunkel gebeizten Sideboards, das fast wie aus schwarzem Marmor gemeißelt schien, und verstaute darin den Geigenkasten.
Wie schon seit geraumer Zeit brauchte die alte Dame auch heute nach dieser Musikstunde, die sie wie eine lieb gewordene tägliche Pflichtübung absolvierte, zunächst ein wenig Muße. Von Jahr zu Jahr mehr machte sich in ihren Knochen und Gelenken das Alter bemerkbar, die Last der Jahre, die auf ihren schmalen Schultern ruhte.
Aber Alexandra Bleibtreu dachte gar nicht daran, diesem Alterungsprozess mit lebensverlängernden Pülverchen und Tabletten entgegenzuwirken. Mitunter war sie sogar froh über ein neu an sich entdecktes Zipperlein. Für sie waren diese nur weitere Schritte, die sie der Wiedervereinigung mit ihrem geliebten Frederik näherbrachten.
Schon neun Jahre ruhte er nun in der Familiengruft auf dem alten Stadtfriedhof, der längst nicht mehr ausreichte, all jene aufzunehmen, die das Diesseits bereits hinter sich gelassen hatten. Am Stadtrand war deshalb ein neuer Friedhof angelegt worden, wie man ihn bezeichnete. Auf ihm waren die Gräber gradlinig in Reih und Glied ausgerichtet, die Einfassungen und Anordnung der Stadtverwaltung weitgehend genormt.
Alexandra Bleibtreu mochte den neuen Friedhof nicht. Hier, wo ihr alles so unpersönlich vorkam, wollte sie später nicht begraben werden. Musste sie ja zum Glück auch nicht. Jener alte Friedhof, der auch die Familiengruft beherbergte, ließ vermuten, dass die Verstorbenen hier wirklich ihre Ruhe gefunden hatten. Er war mit ausladendem alten Baumbestand wie ein Park angelegt. Dort unter den beiden hohen Lebensbäumen, die ihre Kronen einander wie ein Tor zuneigten, unter dem ein Marmorengel den Schlaf der Toten bewachte, würde sie einst neben ihrem geliebten Frederik ausruhen dürfen.
Die achtzigjährige Alexandra Bleibtreu dachte in letzter Zeit oft über den Tod nach. Obwohl sie, gemessen an so vielen anderen ihrer Generation, über nichts zu klagen hatte. Aber die alte Dame war einsam geworden in den letzten Jahren. Was ihr außer ihrem Mann fehlte, waren die Freunde von früher. Sie hatten sich alle schon vor ihr von dieser Welt verabschiedet. Außer einem ihrer treuesten Freunde, mit dem sie sich noch regelmäßig einmal im Monat zum Essen traf, war ihr sonst keiner mehr geblieben. Mitunter kam sie sich deshalb schon wie ein vergessenes Fossil aus einer anderen Zeit vor.
Die Hände im Schoß gefaltet, schaute die alte Frau von ihrem bequemen Lehnstuhl aus dem Fenster hinaus, wo der zuvor starke Regen inzwischen in einen leichten Nieselregen übergegangen war, der das Straßenpflaster zum Glänzen brachte.
Ja, es waren Menschen, die ihr am meisten fehlten. Menschen, mit denen sie sich ab und zu mal nett unterhalten konnte. Obwohl sich das Haus täglich gegen Abend wieder mit Leben füllte, wenn seine berufstätigen Bewohner heimkehrten, fühlte sie sich mitunter ganz schön einsam.
Die alte Frau hatte nicht oft Gelegenheit, sich mit jemandem von ihnen länger als nur flüchtig über das Wetter zu unterhalten. Sie nahm es ihren Hausgenossen nicht übel, dass sie ihr kaum Zeit widmen konnten. Schließlich hatte sie nicht vergessen, wie es ihr in jenen weit zurückliegenden Jahren ergangen war, als sie sich noch voll auf ihren Beruf – auf ihre Berufung, wie sie zu sagen pflegte – konzentriert hatte. Trotzdem ... So ganz allein in der Wohnung, mitunter tagelang ohne richtige Ansprache, da blieb oft nur, sich mit sich selbst über früher zu unterhalten, wenn man die Sprache nicht ganz verlieren wollte.
Alexandra wusste, dass die Leute in ihrer Umgebung sie für ein wenig wunderlich hielten. Aber sie machte sich nichts daraus.
Kommt ihr erst in mein Alter, dachte sie nachsichtig. Wer weiß, ob ihr dann nicht selbst ein bisschen seltsam werdet, wenn ihr euch nur noch mit euch selbst beschäftigen dürft.
Sie nahm das, was man über sie dachte, mit Gelassenheit. Eine Achtzigjährige, die noch regelmäßig Geige spielte, die mit ihren Blumen im Vorgarten sprach und die sich gelegentlich auch auf kleinen Spaziergängen mit sich selbst unterhielt, führte bei anderen wahrscheinlich zwangsläufig zu gewissen Mutmaßungen.
Inzwischen hatte es zu regnen aufgehört. Der Regen hatte den Staub von den Straßen gewaschen. Die Luft musste jetzt sicher sehr erfrischend sein.
Warum nicht einen kurzen Spaziergang um die Häuser machen?, dachte die alte Dame.
Sie überlegte nicht lange, sondern erhob sich aus ihrem bequemen Stuhl. In der Diele zog sie einen leichten braunen Wollmantel über, griff nach ihrem Gehstock mit dem altersdunklen Holzgriff und öffnete die Korridortür.
Den Stock in der einen, den Türgriff noch in der anderen Hand zuckte sie wie elektrisiert zurück.
»Mein Gott! Kind! Wie hast du mich erschreckt!«, rief Alexandra Bleibtreu aus. »Wenn meine alten Beine mir das Gehen nicht schon so beschwerlich machen würden, wäre ich jetzt glatt über dich gestolpert. Was tust du hier? Wer bist du überhaupt? Und wie bist du ins Haus gekommen? Hat dir jemand von den anderen Hausbewohnern aufgeschlossen? Aber zu wem willst du denn? In dieser Wohnung hier wohne ich ganz allein, und ich kenn dich nicht.«
Eine Menge Fragen, die ihr da gleichzeitig durch den Kopf schossen.
Die mageren Beine angezogen, die Arme um die Knie geschlungen, die Hände ineinander verschränkt, so hockte auf Alexandra Bleibtreus Türschwelle ein kleines Mädchen mit hellbraunen, welligen Haaren, nach Schätzung der Frau vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, das jetzt aus graublauen Augen ängstlich zu ihr aufschaute, zu ihren Fragen jedoch beharrlich schwieg.
♥♥♥
Die Situation war so ungewöhnlich, dass Alexandra Bleibtreu im ersten Moment nicht recht wusste, wie sie mit dem Kind umgehen sollte.
Deshalb probierte sie es nochmals mit der Frage: »Sag mir doch, wie bist du ins Haus gekommen, Kleine?«
Inzwischen hatte sie sich immerhin von ihrem ersten Schrecken erholt. Eine Gefahr drohte ihr von diesem Kind ja nicht.
Doch das Mädchen blieb auch weiterhin stumm.
»Hm.« Alexandra Bleibtreu war ziemlich ratlos. Was sollte sie tun? Durchs Haus laufen und an alle Türen klopfen, um zu fragen, ob jemand das Kind kannte? Im Umgang mit Kindern fehlte ihr die Erfahrung. Und mit stummen Kindern kannte sie sich überhaupt nicht aus. »Kannst du nicht sprechen, oder willst du's nur nicht?«, forschte sie ratlos. »Könntest du mir nicht wenigstens deinen Namen verraten?«
Die Antwort kam so leise, dass die alte Dame nichts verstehen konnte. Immerhin war jetzt wenigstens klar, dass das Mädchen sie verstand und dass es auch reden konnte.
»Kannst du deinen Namen bitte noch mal wiederholen?«, bat sie freundlich. »Weißt du, mein Kind, ich bin nicht mehr die Jüngste. Und in meinem Alter lässt das Gehör nach. Wenn du so leise sprichst, kann ich dich leider nicht verstehen.«
»Miriam Höning«, wiederholte das Mädchen jetzt etwas lauter.
Die alte Frau überlegte angestrengt, ob sie den Namen schon mal gehört hatte.
Höning? Nein, dieser Name war ihr völlig unbekannt. Zum Haus gehörte das Kind also nicht. Sie probierte vorsichtig weiter, es zum Sprechen zu bringen.
»Miriam heißt du also. Soso. Ein sehr schöner Name, der gut zu einem hübschen kleinen Mädchen wie dir passt. Und wo wohnst du, Miriam?«
Das Kind deutete mit dem Kind zur Treppe. »Da.«
»Wie, hier im Haus?«, fragte Alexandra Bleibtreu verwundert.
Miriam Höning nickte.
Nun war die alte Dame völlig ratlos. Im Laufe von Jahrzehnten hatte in diesem Haus noch nie ein Kind gewohnt. Wurde ihr hier neuerdings bewusst etwas vorenthalten? Oder bekam sie bereits erste Gedächtnislücken? Darüber musste sie sich unbedingt so schnell wie möglich mit Geert unterhalten.
»Du bist hier bei jemandem zu Besuch, stimmt's?«, bohrte Alexandra Bleibtreu zunächst weiter.
Miriam schüttelte den Kopf.
»Du meinst, du wohnst hier richtig im Haus? Du und deine Familie?«
Miriam nickte.
Nicken, Kopfschütteln, Nicken. Ein paar Worte wie ein Hauch. Nein, so ließ sich kein Gespräch führen. Die Frau war mit ihrem Latein allmählich am Ende. Stumm war das Kind nicht, so viel stand fest. Und es verstand auch, was sie sagte. Doch weshalb war es dann so wortkarg? Ob es sich etwa vor ihr fürchtete, nur weil sie alt war?
»Also, nun hör mir mal zu, Miriam«, sagte sie energisch, aber durchaus nicht unfreundlich. »Wir beide kennen uns zwar nicht, aber ich will dir bestimmt nichts tun. Ich möchte mich doch nur ein wenig mit dir unterhalten, weißt du? Nur geht das schlecht, wenn du da unten am Boden hockst und ich auf dich herabschauen muss. Außerdem ist es hier im Flur immer ziemlich kühl, weil der gefliest ist. Auch wenn wir dem Kalender nach Sommer haben, könntest du dich also verkühlen. Darum steh bitte auf, ja?«
Gehorsam erhob sich das Kind und strich sein honigfarbenes Kleidchen glatt.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte die alte Dame: »Würdest du vielleicht gern bei mir eine Tasse feine Schokolade trinken? Ich selbst trink die nämlich für mein Leben gern. Und gerade jetzt hätte ich so richtig Appetit darauf. Na, was hältst du von meinem Vorschlag?«
Miriam blickte ihr Gegenüber aus großen graublauen Augen aufmerksam an. Dann nickte sie.
»Du hast also auch Appetit auf eine Tasse Schokolade«, stellte Alexandra Bleibtreu mit gespielter Munterkeit fest. »Na, dann brauen wir uns doch gleich eine zusammen. Also, komm rein!« Sie schwenkte ihren Stock und deutete ins Innere ihrer Wohnung.
♥♥♥
»Hier wird dir niemand etwas tun.« Die alte Dame stieß weit die Tür auf, stellte den Stock an seinen Platz in der Diele zurück und zog ihren Mantel wieder aus. Während sie ihn akkurat über einen Kleiderbügel hängte, redete sie weiter, wobei sie dem Mädchen den Rücken zuwandte, nun schon daran gewöhnt, dass das Kind nicht antworten würde. »Wenn du willst, kannst du mit mir in die Küche kommen und mir dabei zusehen, wie ich unsere Schokolade zubereite. Du kannst aber auch ins Wohnzimmer vorausgehen und dort auf mich warten.«
Alexandra Bleibtreu deutete auf die entsprechende Tür und ging, ohne sich weiter um das Kind zu kümmern, in die Küche hinüber. Die Tür ließ sie hinter sich offen stehen.
Miriam kam ihr nicht nach. Sie musste demnach ins Wohnzimmer gegangen sein.
Als die alte Dame ihr nach wenigen Minuten nachfolgte, stand das Kind mitten im Raum und sah sich neugierig nach allen Seiten um. Jedoch nicht so, wie jemand dies tut, wenn er sich mit einer neuen Umgebung vertraut machen will. Miriam schien gezielt etwas zu suchen.
»Suchst du etwas?«, erkundigte sich Alexandra.