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Wer kennt sie nicht, die Talkshows im Fernsehen? Die intimsten Geständnisse zu den heikelsten Themen werden Millionen Menschen an den Bildschirmen präsentiert. Die Einschaltquoten sprechen für sich, zeigen, wie beliebt diese Sendungen sind. Doch sich selber »outen«?
Niemals!, hätte Nina Severin geantwortet - bis sie in der Tageszeitung über eine Anzeige stolpert. Gesucht werden Frauen, die über den dunkelsten Punkt ihrer Vergangenheit sprechen wollen. Auf Wunsch anonym und von Maskenbildnern so verändert, dass niemand sie erkennt.
Nina ist wie elektrisiert. Sich nur ein einziges Mal von der Seele reden zu können, was ihr Leben überschattet ...
Nina meldet sich. Ein Entschluss mit fatalen Folgen!
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Seitenzahl: 109
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Das TV-Geständnis
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: OPOLJA / shutterstock
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0061-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Das TV-Geständnis
Sie wollte, dass es alle erfahren
Von Heide Prinz
Wer kennt sie nicht, die Talkshows im Fernsehen? Die intimsten Geständnisse zu den heikelsten Themen werden Millionen Menschen an den Bildschirmen präsentiert. Die Einschaltquoten sprechen für sich, zeigen, wie beliebt diese Sendungen sind. Doch sich selber »outen«?
Niemals!, hätte Nina Severin geantwortet – bis sie in der Tageszeitung über eine Anzeige stolpert. Gesucht werden Frauen, die über den dunkelsten Punkt ihrer Vergangenheit sprechen wollen. Auf Wunsch anonym und von Maskenbildnern so verändert, dass niemand sie erkennt.
Nina ist wie elektrisiert. Sich nur ein einziges Mal von der Seele reden zu können, was ihr Leben überschattet …
Nina meldet sich. Ein Entschluss mit fatalen Folgen!
»Die Zeitung, gnä’ Frau. Heute und vermutlich auch noch in den nächsten Tagen etwas später als gewohnt. Frau Ludwig fällt nämlich für einige Zeit aus. Wie ich hörte, hat sie sich den Knöchel gebrochen.«
Else Groß, Haushälterin im Hause des Bankdirektors Marius Severin, legte die zusammengefaltete Tageszeitung auf den Rand des Frühstückstisches. Sie war eine kleine rundliche Frau von nur wenig mehr als einem Meter sechzig, die damit ihren Nachnamen Groß eigentlich zu Unrecht führte.
»Danke, Else.« Nina Severin, die hübsche junge Frau des Bankdirektors, legte das eben angebissene Brötchen auf den Teller zurück und griff nach der Zeitung. »Wer ist Frau Ludwig?«, fragte sie beiläufig. Im Grunde interessierte es sie gar nicht.
»Ach natürlich, Sie kennen sie sicher nicht mit Namen, sondern nur vom Ansehen her, gnä’ Frau«, antwortete die Haushälterin. Sie war neben dem Tisch stehen geblieben. »Frau Ludwig ist unsere langjährige Zeitungsfrau. Bis auf Weiteres wird sie von einer jungen Kollegin vertreten, die sich in den neu zu beliefernden Bezirken erst noch mit den jeweiligen Namen vertraut machen muss. Momentan arbeitet sie deshalb noch etwas langsam. Was bedeutet, dass wir die Zeitung augenblicklich etwas später als sonst bekommen.«
»Ah! So ist das also. Na schön. Wenn man das weiß, kann man sich ja darauf einstellen.« Nina Severin betrachtete das Gespräch damit als beendet. Sie entfaltete die Zeitung und überflog interessiert die Überschriften.
»Darf …«
In der Diele läutete das Telefon.
»Soll ich …?«, wandte sich Frau Groß erwartungsvoll an die aufgeschlagene Zeitung, hinter der ihre Chefin bis hinunter zur Taille verschwunden war. »Oder wollen Sie gleich selbst, gnä’ Frau?« Sie hatte die Hand bereits auf der Türklinke.
»Nehmen Sie das Gespräch bitte an, Else«, murmelte die »raschelnde Zeitung«. »Vielleicht ist es ja für meinen Mann. Dann sagen Sie dem Anrufer gleich, dass mein Mann heute Vormittag nicht zu erreichen ist und dass er das Haus bereits verlassen hat.« Die Zeitung sank herab. »Hat er doch schon?«
»Schon vor einer halben Stunde, gnä’ Frau. Der Herr Direktor hat nicht einmal vernünftig gefrühstückt.« Das klang, als nähme die Haushälterin ihm dies übel. »Er hatte es sehr eilig.«
»Denk ich mir. Er hat heute einen auswärtigen Termin, der ihn sehr nervös gemacht hat.«
Die Haushälterin verließ den Raum. Die Tür ließ sie nur angelehnt. Es dauerte kaum eine Minute, bis Else Groß wieder im Erkerzimmer erschien.
»Ihre Mutter möchte Sie sprechen, gnä’ Frau.«
»In Ordnung. Ich komme.« Nina Severin nahm sich gar nicht erst die Zeit, die Zeitung ordentlich zusammenzufalten. Sie schlug nur unordentlich die Seiten übereinander und warf sie achtlos auf den nächsten freien Stuhl.
Else Groß stand schon wieder in Erwartungshaltung neben dem großen Esstisch.
»Kann ich Ihnen inzwischen noch irgendetwas bringen, gnä’ Frau? Vielleicht noch ein flaumweiches Ei, wie Sie es so gern mögen? Die Eier sind erst gestern geliefert worden. Direkt vom Bauernhof.«
Mit drei, vier langen Schritten war Nina Severin an der Tür.
»Danke, nein!«, rief sie über die Schulter zurück. »Sie können mir noch Kaffee nachschenken und danach abräumen, Else. Ich werde nur noch mein Brötchen aufessen.«
»Wie Sie wünschen, gnä’ Frau.« Else Groß, trotz ihrer nicht unbeträchtlichen Leibesfülle erstaunlich wendig, begann behände das Frühstücksgeschirr auf ein Tablett zu schichten, nachdem sie ihrer Gnädigen nochmals Kaffee nachgeschenkt hatte. Dann ergriff sie mit beiden Händen die seitlichen Henkel des hölzernen Tabletts. Mit dem rechten Ellenbogen stieß sie die nur angelehnte Tür auf, um sich in ihren geräumigen Küchenbereich im Souterrain der alten Severinschen Villa zurückzuziehen. Sie hörte gerade noch, wie ihre Chefin sich am Telefon meldete.
»Hallo, Mama! Es ist doch hoffentlich nichts passiert, weil du schon so früh anrufst?«
»Morgen, mein Kind«, kam es durch die Telefonleitung. »Nein, es ist nichts passiert. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass wir heute tagsüber nicht erreichbar sein werden. Bei dem schönen Wetter haben Papa und ich mit Diana eine längere Wanderung geplant. Wir werden voraussichtlich erst am Abend wieder zu Hause sein. Papa hat dem Kind extra für die Wanderung einen bunten Rucksack gekauft, auf den Diana mächtig stolz ist. Sie war schon in aller Früh nervös wie ein Rennpferd vor dem Start. Im Moment kaufen beide gemeinsam den Proviant für ein Picknick zusammen, das wir ihr dabei versprochen haben. Beide lassen euch grüßen. Und von Papa soll ich dir noch extra dafür danken, dass ihr uns das Kind diesmal drei volle Wochen überlasst. Man sieht sich bei dieser Entfernung von Haus zu Haus sonst ja auch leider viel zu selten«, klagte Frau Berthold. »Deshalb genießen wir es doppelt, unser Enkelkind mal länger als nur eine Woche bei uns zu haben.«
»Marius hat sich die dritte Woche schwer genug abringen lassen«, lachte Nina verhalten. »Du weißt doch, Mama, wie ungern er sich jeweils von seiner Tochter trennt.«
»Weiß ich doch. Deshalb freuen wir uns über die drei Ferienwochen ja auch umso mehr. Du weißt also Bescheid wegen heute. Wenn wir am Abend zurück sind, melden wir uns gleich bei euch und erstatten Bericht.«
»Ja, macht das, Mama. Grüß Papa von mir. Und gib meinem Spatz von mir einen dicken Kuss. Sag ihr, dass wir sie liebhaben. Und viel Spaß auch auf eurer Wanderung.«
»Danke, mein Kind.«
Nina Severin legte den Hörer auf und ging zurück ins Erkerzimmer, wo es heute ungewohnt still und deshalb außerordentlich erholsam war. Ihre lebhafte siebenjährige Tochter verbrachte gerade die Hälfte der Sommerferien bei ihren Großeltern mütterlicherseits. Und auch Marius, Ninas Mann, hatte heute wegen eines Auswärtstermins schon früh das Haus verlassen müssen. Dadurch war das gemeinsame Frühstück des Ehepaars Severin ausgefallen. So konnte Nina sich nun also völlig ungestört ihrer Zeitungslektüre widmen.
Nachdem sie die Schlagzeilen gelesen hatte, vertiefte Nina sich zunächst in den politischen Teil. Die Kurzmeldungen aus aller Welt überflog sie nur.
Mehr Aufmerksamkeit widmete sie anschließend den Lokalnachrichten. Und ähnlich eingehend befasste sie sich auch mit den Kulturnachrichten. Schließlich blätterte sie auch noch weiter bis zu den Kleinanzeigen, von denen sie allerdings nur die Rubrik VERMISCHTES interessierte.
Hier ließ sich mitunter recht Amüsantes, manchmal auch Kurioses finden. Doch heute fand sich nichts darunter, was irgendwie zum Schmunzeln reizte.
Ein Mann mit klingendem Künstlernamen, der sich als Hellseher bezeichnete, empfahl sich jenen, die schon mal einen vorausschauenden Blick in ihre Zukunft tun wollten.
Eine Frau bot als Partygag ihre Dienste als Bauchtänzerin an.
Jemand versuchte auf diesem Weg doch noch Zeugen für einen Unfall aufzutreiben, der sich wenige Tage zuvor ereignet hatte.
Ein anderer schien endlich den Stein der Weisen gefunden zu haben. Er versuchte Übergewichtige davon zu überzeugen, dass sie mit seiner Hilfe in kürzester Zeit ihre überflüssigen Kilos loswerden konnten, ohne deswegen hungern zu müssen. Ein privater Fernsehsender suchte Frauen als Kandidatinnen für eine Talkshow zu dem Thema …
Nina Severin, die bis dahin emotionslos die Anzeigen überflogen hatte, bekam augenblicklich feuchte Hände. Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Sie ließ die Zeitung sinken und lehnte sich schwer atmend zurück.
Mein Gott, wie konnten diese Fernsehleute nur glauben, jemand könne sich ausgerechnet zu einem so heiklen Thema wie diesem vor einem Millionenpublikum in eigener Sache äußern? Welche Frau würde sich so etwas wohl antun, sich gewissermaßen selbst an den Pranger zu stellen?
Wenn es auch ungeheuer erleichternd sein musste, sich diesen Druck einmal – ein einziges Mal nur! – von der Seele laden zu dürfen, indem man darüber sprach, dachte Nina aufseufzend.
Um diesen Punkt begannen nun all ihre Gedanken zu kreisen. Durch die Aufforderung eines Fernsehteams urplötzlich bis ins Innerste aufgewühlt, gab sich Nina Severin einem gefährlichen Gedankenspiel hin.
Dem, was es schlimmstenfalls für Folgen nach sich ziehen könnte, falls sie sich heimlich als Kandidatin für diese Sendung anbot – und dabei von jemandem erkannt wurde …
Wie Marius wohl reagieren würde, falls ihm jemand ihre Teilnahme hinterbrachte? (»Du, was deine Frau da öffentlich an die große Glocke gehängt hat, war aber schon ein starkes Stück!«)
Wie Freunde und Bekannte danach wohl über sie denken würden, wenn auf eine solche Weise ihr Geheimnis plötzlich offenbar werden würde? Ihr Geheimnis, das außer ihr selbst bisher nicht ein einziger anderer Mensch kannte …
Die Folgen – nicht ausschließlich für sich selbst – wagte die hübsche Nina sich gar nicht in allen Einzelheiten auszumalen. Bei aller Verlockung nicht, die diese Möglichkeit in sich barg.
Aber hatte sie nicht schon davon gehört, dass das Aussehen von Kandidaten auf persönlichen Wunsch hin von Maskenbildnern verändert werden konnte, um das Erkennen einer Person zumindest zu erschweren – wenn nicht gar unmöglich zu machen?
Ninas Erregung wuchs, je intensiver sie sich eine solche Beichte ausmalte. Sie war eine Verlockung, der nur schwer zu widerstehen war.
Und wenn sie als Betroffene sich nun tatsächlich bei jenem Privatsender melden würde – mit der Forderung, ihr Aussehen so zu verändern, dass nicht einmal der nächste Angehörige sie wiedererkennen konnte?
Nina erhob sich und trat ans Fenster. Aber nicht mit der Absicht, in den Garten hinauszuschauen. Sie suchte in der Fensterscheibe ihr Spiegelbild. Und sie musterte es gründlich. Was ihr da entgegenspiegelte, war eine schlanke mittelgroße Frau von dreiunddreißig Jahren mit langen honigblonden Haaren, einem hübschen ebenmäßigen Gesicht und jetzt ernst blickenden blauen Augen.
Nina versuchte sich vorzustellen, wie sie mit einer schwarzhaarigen Perücke und großer dunkler Brille aussehen mochte, die schlanke Figur zusätzlich vielleicht noch ein wenig ausgepolstert und auf »Pummelchen« getrimmt.
Zu machen war das gewiss. Und wer würde sie so wiedererkennen?
Nina riss sich von ihrem Spiegelbild los und ging zum Tisch zurück. Sie nahm nochmals die Zeitung zur Hand und las langsam, Wort für Wort das Motto, unter dem jene geplante Sendung stehen sollte.
Es lautete: »Mein Mann ahnt nichts davon, dass er das Kind eines anderen großzieht …«
♥♥♥
Nahezu eine Stunde lang dachte Nina Severin über die Möglichkeit nach, sich als Kandidatin bei dem privaten Fernsehsender »TV-HUH – HIER UND HEUTE« zu melden. Dann ließ sie sich von der Auskunft die Telefonnummer des Fernsehsenders geben.
Entschlossen rief sie bei TV-HUH an. Sie bezog sich in einem kurzen Gespräch mit der Frau, die ihren Anruf entgegengenommen hatte, auf die Zeitungsannonce.
»… müsste ich Sie schon bitten, sich mit dem Hinweis auf dieses Thema schriftlich mit ein paar persönlichen Daten an die entsprechende Redaktion zu wenden«, unterbrach die unverbindlich klingende weibliche Stimme Ninas Redefluss. »Bei bestehendem Interesse wird sich dann jemand aus unserem Haus mit Ihnen in Verbindung setzen. Wenn Sie wollen, kann ich aber schon mal Ihre Adresse notieren und diese an das zuständige Team weiterleiten. Wie ist bitte Ihr Name?«
»Hoppla, ganz so weit bin ich noch nicht!«, wehrte Nina verwirrt ab. »Ehe ich mich dazu entschließe, mich bei TV-HUH zu bewerben, habe ich zuvor erst mal eine generelle Frage, die Sie mir schon beantworten müssten. Ist es mö…«
»Tut mir leid, meine Dame, aber wir von der Telefonzentrale sind nicht dazu da, Auskünfte zu erteilen. Wir leiten die Gespräche nur weiter. Bitte, bleiben Sie dran. Ich verbinde Sie mit der zuständigen Redaktion.«
In der Leitung knackte es. Dann erklangen sanfte Tanzrhythmen, unterbrochen in regelmäßigen Abständen von einer anderen weiblichen Stimme, die die Anrufer in der Warteschleife stereotyp bat: »Bitte waren. – Bitte warten. – Bitte warten …«
Nach vielleicht zwei, drei Minuten knackte es abermals. Und wieder meldete sich eine Frauenstimme, diesmal mit Namen.
»Golz. Wen, bitte, möchten Sie sprechen?«
Inzwischen noch nervöser geworden, sagte Nina nun zum zweiten Mal ihr Sprüchlein auf. Wieder berief sie sich auf die Zeitungsannonce. Dann jedoch druckste sie ein wenig unzusammenhängend herum.
»Ihnen ist doch wohl klar«, begann sie schließlich wieder in vollständigen Sätzen zu reden, »um welch heikles Thema es sich für Beroffene handelt. Und dass eine Teilnehmerin dabei unter Umständen eine Menge riskiert, wenn sie sich outet.«
»Dessen sind wir uns bewusst«, versicherte die Frauenstimme. »Aber wir zwingen schließlich niemanden, öffentlich Farbe zu bekennen. Wenn Frauen sich dazu entschließen, vor laufender Kamera ihre Geheimnisse auszuplaudern, dann tun sie dies ganz ohne Zwang und absolut freiwillig. Verstehen Sie?«
»Sicher. Das ist vollkommen klar«, gab Nina zu. »Die Frage, die ich in diesem Zusammenhang dazu habe, ist auch nur: Spricht Ihrerseits etwas dagegen, das eigene Aussehen so weit zu verändern, dass keine Rückschlüsse auf die wahre Identität mehr möglich sind?«