Ich besuche dich trotzdem! - Petra Weise - E-Book

Ich besuche dich trotzdem! E-Book

Petra Weise

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Beschreibung

"Du musst sofort kommen! Hörst du? Sofort!" Ehe ich fragen kann, was eigentlich passiert ist, hat Mutter den Hörer aufgelegt. So macht sie es immer. Sie sagt, was sie zu sagen hat und legt einfach auf. Sie fragt nicht, ob ich Zeit habe, sie bittet nicht um einen Gefallen, sie ordnet an. Schon als Kind schwor ich mir, niemals so zu werden wie meine Mutter.

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Einleitung

Genau am 20. Geburtstag meiner Mutter wurde ich geboren.

Alle sagen, ich wäre genau wie meine Mutter. Auch sie vertritt diese Meinung. Als kleines Kind war ich stolz darauf und wünschte mir, ebenso schön wie sie zu sein. Ich hatte ihre blauen Augen und ihre dichten dunklen Haare und wollte so wunderbar singen und reimen können wie sie.

Später, im Laufe der Jahre schwor ich mir, niemals so zu werden wie sie. Ich entdeckte zuerst zufällig und später bewusst die Unterschiede zwischen uns beiden und freute mich über jeden einzelnen.

Heute ist Mutter alt und lebt in einem Pflegeheim ganz in meiner Nähe. Ich bin höflich zu ihr, aufmerksam und verbindlich. Doch ich fühle mich ihr nicht verbunden.

Ich habe mein Leben lang vergeblich versucht, sie für mich zu interessieren.

Alte Leute sind hilflos wie kleine Kinder, man kümmert sich um sie und erwartet nichts dafür. Seit ich nichts mehr von meiner Mutter erwarte, kann ich sie endlich lieben.

Inhalt

Der Anruf

Im Krankenhaus

Hannis Geburtstag

Wieder im Krankenhaus

Wieder daheim

Schlüsseldienst

Vorsorgevollmacht

Bankkonto

Betreuung

1. April 2016

Kurzzeitpflege

Im Pflegeheim

Geburtstagsfest

Ständig neuer Ärger

Ärger mit Ärzten

Kaffeeklatsch

Besuche

Sommerfest

Urlaub

Der Anfang

Familie meines Vaters

Mutter und ihre drei Kinder

Familienleben

Mutter meiner Mutter

Riesa

Begegnungen

Veranstaltungen

Erinnerungen

Wahrheit

Herbstfest

Todesfall in der Familie

Vergessen

Fernsehen

Sturz

Im Rollstuhl

Weihnachtsmarkt

Weihnachtsfest

Schluss

Ich will nicht anklagen oder alte Wunden aufreißen, sondern meine Erlebnisse erzählen auf meine ganz persönliche Weise.

Der Anruf

„Du musst sofort kommen! Hörst du?

SOFORT!“

Ehe ich fragen kann, was eigentlich passiert ist, hat Mutter den Hörer aufgelegt. So macht sie es immer. Sie sagt, was sie zu sagen hat und legt einfach auf. Sie fragt nicht, ob ich Zeit habe, sie bittet nicht um einen Gefallen, sie ordnet an. Niemals meldet sie sich mit ihrem Namen, niemals fällt ein einziges persönliches Wort und niemals verabschiedet sie sich.

„Du wirst jetzt nicht nach Freiberg fahren!“, bestimmt Klaus.

Erstaunt schaue ich meinen Mann an.

„Deine Mutter hat nicht gesagt, was sie will.“ Ich zucke mit der Schulter. „Das tut sie nie.“

„Eben. Du musst nicht jedes Mal springen, wenn deine Mutter ruft.“

Wieder zucke ich mit der Schulter. Es ist ein resigniertes Zucken. Ich habe es längst aufgegeben, von Mutter einen normalen Umgang zu erwarten. Sie bestimmt, was ich zu tun und zu lassen habe, als wäre ich ein kleines Kind. Und ich wage nie, ihr zu widersprechen. Meist habe ich ohnehin keine Gelegenheit dazu.

Ich helfe ihr gern, doch wünsche ich mir, dass sie sich darüber freut. Leider scheine ich alles falsch zu machen, denn sie dankt mir nie, sondern schickt mich sofort weg, sobald ich ihr zu Willen war.

„Was soll schon sein?“, brummt Klaus.

„Vermutlich hat sie nur wieder ihr Handy verlegt. Und dafür fährst du vierzig Kilometer, um hinterher noch beschimpft zu werden.“

Mutter ruft mehrmals in jeder Woche an. Meist ist eine Glühlampe durchgeschmort. Das liegt an ihrem alten Sicherungskasten mit Schmelzsicherungen aus Porzellan und dem ebenso alten Stromnetz. Klaus hat eine alte Werkstatt ausfindig gemacht, wo er diese alten Schraubsicherungen nachkaufen kann. Irgendwann sollte der Vermieter das Stromnetz auf den neuesten Stand bringen und das gesamte Haus neu verkabeln.

Manchmal bestellt Mutter einen Kasten Wasser. Das tut sie leider erst, wenn sie die letzte Flasche öffnet und sie keinen einzigen Tag länger warten kann. Doch wir wollen nicht wegen sechs Euro Warenwert vierzig Kilometer fahren. Sie könnte leicht einen Getränkedienst nutzen, doch sie besteht darauf, dass wir das Wasser liefern, denn wir sind ihrer Meinung nach dazu verpflichtet. Zudem muss Klaus das Wasser im Keller deponieren und darf nur zwei Flaschen in die Küche stellen. Mutter steigt nie die vielen Treppen vom zweiten Stock bis in den Keller und hätte im Gästezimmer ausreichend Platz.

„Wasser gehört nun mal in den Keller und nicht ins Gästezimmer!“, befindet sie.

Dieses Mal stehen vier Kisten Wein im Flur.

„Die müssen auch in den Keller!“, bestimmt Mutter.

„Du hast im Keller sicher noch sechs oder acht Kästen“, sagt Klaus.

„Na und? Was geht dich das an?“

Klaus zuckt mit der Schulter. „Ich meine nur, du hättest nicht nachbestellen müssen.“

„Die Weinhandlung hatte angerufen. Außerdem kaufe ich immer bei denen. Ich mag den Burschen.“

Das klingt fast so, als kaufe sie keinen Wein, weil er ihr schmeckt, sondern weil sie dem Händler einen Gefallen tun will.

„Soll ich dir eine Flasche öffnen?“

Klaus weiß, dass Mutter mit dem Korkenzieher nicht zurecht kommt.

„Lass das! Ich brauche jetzt keinen Wein. Und nun geh!“

Ich frage mich, was sie heute von mir will und bin etwas beunruhigt. Das macht Klaus wütend.

„Du warst seit fünf Uhr arbeiten und fühlst dich schlapp und kraftlos. Deshalb ruhst du dich jetzt aus!“

Ich fühle mich wirklich wie ausgebrannt. Die Arbeit in der Großküche ist hart. Es müssen schwere Kübel geschleppt und die Einzelportionen eilig abgefüllt werden, damit die Fahrer pünktlich ausliefern können. Oft ist so viel zu tun, dass die Frühstückspause sehr kurz oder ganz ausfällt. Während der Arbeit kann ich keinen einzigen Moment sitzen.

Deshalb sinke ich erschöpft in mein Bett. Doch ich kann nicht einschlafen. Durch meinen Kopf sausen viele Gedanken. Alle kreisen sie um die Frage, was Mutter dieses Mal von mir will. Alles ist für sie eilig und muss sofort geschehen.

Dabei unterscheidet sie nie, was wirklich wichtig ist und was gut noch eine Woche warten kann.

Sie behandelt mich wie ein kleines Schulkind, obwohl ich bereits über 60 Jahre alt bin und mich mit eigenen Problemen plage. Mein linkes Knie funktioniert nicht mehr so, wie es sollte. Es schmerzt und knickt manchmal einfach weg.

Vermutlich liegt die Ursache in der körperlich schweren Arbeit der Großküche. Im Knie tuckert es, was mich nervös macht und beunruhigt.

Doch im Moment beunruhigt mich noch mehr der Befehl meiner Mutter, sofort zu kommen. Es ist besser, wenn ich mich darum kümmere. Also wähle ich ihre Nummer.

Es klingelt viele Male, doch sie geht nicht ans Telefon. Auch nicht an ihr Handy. Das Handy hat sie manchmal einstecken, wenn sie zum Einkauf unterwegs ist oder in einem Gasthof zu Mittag isst. Doch äußerst selten schaltet sie es an. Außerdem sitzt sie um diese Zeit daheim vor dem Fernseher und schaut ihre Serie, die sie nie verpasst. Wahrscheinlich hat sie wieder den Ton so laut gestellt, dass sie das Klingeln des Telefons nicht hört, obwohl sie überhaupt nicht schwer hört.

Plötzlich fällt mir ein, dass sie gestern meinte, ihr ginge es nicht gut. Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht schon früher daran dachte. Wenn sie nun krank ist?

„Denke an deinen Vater“, ermahnt mich Klaus.

„Der hoffte, dass sie nie ernsthaft erkrankt, weil sie ständig jammerte, auch dann, wenn ihr gar nichts fehlte.“

Ich nicke.

„Merkst du nicht, wie sie dich manipuliert? Und du fällst immer wieder darauf rein.“

„Ich fahre trotzdem zu ihr.“

„Jetzt?“

„Jetzt.“ Schnell drehe ich mich weg, um Klaus nicht ansehen zu müssen. Ich weiß auch so, wie entsetzt er jetzt schaut und dass er meine Fürsorge für übertrieben hält.

Die Fahrt von Chemnitz nach Freiberg führt über kurvige Straßen durch hügeliges Land.

Wenn ich nicht so besorgt um Mutter wäre, könnte ich diese schöne Landschaft und den Blick zur Augustusburg genießen.

Sie wohnt in der Neubausiedlung direkt am Ortseingang. Neu sind diese Häuser nicht, sie wurden Ende der Sechziger Jahre aus Beton-Fertigteilen gebaut, doch der Name Neubausiedlung ist geblieben. Ein Haus gleicht dem nächsten und ist alles andere als schön. Klaus ist hier aufgewachsen – ich zum Glück nicht.

Damals wohnten wir in einem alten Haus auf dem Land, das meine Mutter sofort nach Vaters Tod verkaufte.

Nach der Wende erfüllte sich Vater den Traum vom eigenen Heim, denn nun durfte er das Haus, in dem er mit Mutter wohnte, kaufen.

Überglücklich zahlte er den recht geringen Preis, während Mutter wütend schimpfte: „Soll ich hier in diesem Kaff versauern?“

Sie wollte in die Stadt, wo es Geschäfte, Cafés und ein Theater gab. Auf dem Land fühlte sie sich nur gelangweilt und hielt sich so oft und so lange wie möglich in Freiberg auf. Doch mit dem Hauskauf war sie noch mehr als bisher an das Dorf gebunden.

Allerdings musste das alte Haus saniert werden, denn zu DDR-Zeiten ist nichts daran gemacht worden. Es brauchte zuerst eine moderne Heizung, wofür Vater einen Kredit aufnahm. Nun musste nicht mehr während der kalten Jahreszeit der große Kachelofen in der Stube angefeuert werden.

Als Vater starb, war mir klar, dass Mutter die ungeliebte Hütte sofort verkaufte und in eine moderne Stadtwohnung zog. Mein Bruder Detlef verstand das nicht, er hätte das Haus gern geerbt. Doch Mutter konnte als Alleinerbe damit machen, was immer sie wollte.

Später hörte ich sie zu einer Verwandten sagen, dass ihr Mann sie mit einem Berg Schulden zurückgelassen hätte und sie nicht mehr ein noch aus wisse. Das konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, zumal sie sich für die neue Wohnung komplett neu einrichtete.

Also ging ich davon aus, dass der Verkauf die Restschuld tilgte und genug für neue Möbel übrig blieb.

Meine Schulfreundin sprach mich ein Jahr später an und wollte wissen: „Warum habt ihr das eurer Mutter angetan?“

„Was meinst du?“

„Warum habt ihr sie gezwungen, das Haus zu verkaufen?“

„Das haben wir nicht.“

„Das habt ihr sehr wohl! Jeder hier im Dorf weiß, dass ihr drei Geschwister auf den Verkauf bestanden habt, weil ihr das Erbe wolltet. Dass du so geldgeil bist, hätte ich nicht gedacht.“

Ich spürte, wie sich eine Starre in mir ausbreitete, die mir die Luft nahm und mir keine Antwort ermöglichte. Plötzlich konnte ich die entsetzten Blicke der Dorfbewohner deuten. Sie hatten nicht wie ich glaubte Mitgefühl für meine Trauer, sondern allein mit Mutter, deren eigene Kindern sie aus reiner Geldgier aus dem Dorf trieben.

„Du weißt, wie sehr deine Mutter hier im Ort verwurzelt ist. Der Faschingsclub, die Frauengruppe, die Dorfzeitung, Kinderfeste und was weiß ich nicht alles. Sie hat so bitterlich geweint und mir furchtbar leid getan.“ Meine Freundin schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

„Aber das stimmt doch gar nicht!“, brachte ich schließlich stotternd hervor.

„Erzähle nicht!“, unterbrach sie mich. „Jeder weiß, das die Erbschaft den Menschen verändert. Bei euch ist es eben besonders schlimm gelaufen. Dafür solltest du dich in Grund und Boden schämen!“

Sie drehte sich um und ließ mich völlig fassungslos stehen. Hatte Mutter diese schlimme Geschichte in die Welt und damit ihre eigenen Kinder in ein denkbar schlechtes Licht gesetzt? Anders kann es nicht sein, denn so etwas denken sich die Leute schließlich nicht aus.

Ich habe davon meinen beiden Geschwistern nichts erzählt, denn sie hätten es nicht verstanden und möglicherweise auch nicht geglaubt. Doch ich fuhr damals sofort zu Mutter und stellte sie zur Rede. Sie schaute nicht einmal auf, als sie sagte: „So war es auch! Und jetzt lass mich in Ruhe und geh!“

Es dunkelt bereits, als ich vor Mutters Tür stehe und klingle. Doch mir wird nicht geöffnet. Einen Schlüssel besitze ich nicht. Den gibt sie mir nur, wenn ich während ihrer zahlreichen Reisen die Blumen gießen und den Briefkasten leeren soll.

Nun bin ich doch in Sorge und rufe im Krankenhaus an.

Im Krankenhaus

„Nein, eine Frau Müller wurde bei uns nicht eingeliefert“, sagt die freundliche Stimme von der Auskunft im Krankenhaus.

Doch bevor ich erleichtert auflegen kann, ruft sie: „Moment! Sie liegt in der Frauenklinik.“

Frauenklinik! Das klingt ernst. Mutter hatte vor vielen Jahren eine Totaloperation. Ich überlege, ob das nach dieser langen Zeit Komplikationen geben kann. Während der Fahrt zur Klinik werde ich immer nervöser und habe direkt Angst, ihr gegenüber zu treten.

Doch sie sitzt aufrecht neben dem Krankenbett auf einem Stuhl und isst mit Appetit ihr Abendbrot.

„Hast du Wäsche mitgebracht?“, faucht sie ohne eine Begrüßung. „Ich habe nichts da. Kein Waschzeug, nichts.“

Möglicherweise blieb ihr keine Zeit, eine Nottasche fürs Krankenhaus zu packen.

„Tut mir leid, Mutti. Ich wusste doch nicht, wo du bist.“

„Es gibt Telefon.“

„Auch für dich“, denke ich. Doch laut erkundige ich mich, ob sie Schmerzen hat.

Sie nickt und zeigt mit dem Finger auf ihren Bauch. Ich schaue in ihr schmerzverzerrtes Gesicht. Mir tut sie sehr leid und ich will sie umarmen.

„Siehst du nicht, dass ich esse?“, weist sie mich zurecht. „Gehe jetzt und besorge Wäsche und Waschzeug, bevor die Läden schließen!“

Erschrocken weiche ich zurück. Außerdem wundert es mich, dass ich die Sachen kaufen soll, die sie doch daheim stapelweise zu liegen hat. Deshalb frage ich: „Wäre es nicht besser, wenn ich dir die Sachen aus deiner Wohnung hole?“

„Quatsch! Der Laden ist gleich in der Nähe und meinen Schlüssel bekommst du nicht.“

Das hätte mir von allein klar sein müssen, dass sie mich lieber zum Einkaufen schickt, als mir ihren Schlüssel zu geben. Natürlich kann sie selbst entscheiden, wem sie ihren Schlüssel überlässt. Trotzdem bin ich gekränkt, weil sie mir offenbar nicht vertraut.

Ich fahre also eilig zum Supermarkt und kaufe Unterwäsche, zwei Nachthemden, Seife und Zahnputzutensilien. Zusätzlich bringe ich noch eine Flasche Orangensaft und etwas Obst mit.

„37 Euro habe ich bezahlt.“

„In Ordnung“, erwidert sie.

In Ordnung? Will sie mir das ausgelegte Geld nicht zurückgeben? Für mich sind diese fast vierzig Euro viel Geld. Seit dem ersten Januar 2015 verdiene ich zwar nicht mehr nur fünf Euro pro Stunde, sondern 8,50 Euro, also immerhin fast zweihundert Euro mehr pro Monat, doch große Sprünge machen kann ich davon nicht. Die Rente von Klaus beträgt vermutlich nicht einmal die Hälfte von Mutters Rente. Es wäre also eher in Ordnung, wenn sie Ordnung macht und bezahlt. Allerdings wage ich nicht, sie konkret dazu aufzufordern.

„Bin gespannt, wie lange Christa braucht, mich hier zu finden“, überlegt sie laut.

„Du hast deine Freundin nicht angerufen?“

„Natürlich nicht.“

Natürlich nicht. Sie informiert niemanden. Sie erwartet, dass sich alle um sie kümmern, sich um sie sorgen und ihre Wünsche erfüllen. Die Welt soll sich um sie drehen, während sie in der Mitte auf einem Podest steht und dirigiert. Mich ärgert das.

„Weißt du was, ich sage Christa, wo sie dich findet, damit du Besuch bekommst. Ich kann nicht jeden Tag von Chemnitz aus hierher fahren.“

„Natürlich kannst du. Du bist sogar dazu verpflichtet. Schließlich bin ich deine Mutter“, empört sie sich.

„Du weißt, dass ich arbeite.“

„Ach was, deinen Laden kannst du auch mal zumachen.“

Ich habe keinen Laden, sondern arbeitete bis vor zwei Jahren in einem Vertriebsbüro. Seit dieses Büro geschlossen ist, helfe ich halbtags in einer Großküche. Das sollte ihr eigentlich bekannt sein. Doch so genau hat sie mir wohl nie zugehört oder einfach vergessen, was ich mache. Offenbar ist ihr auch nicht klar, dass mich jeder Besuch fast drei Stunden Zeit kostet wegen der Entfernung, vom Benzingeld ganz abgesehen.

Trotzdem besuche ich sie nun jeden zweiten Tag.

Manchmal hasse ich mich dafür, wenn ich Mutter so zu Willen bin.

„Deine Mutter ist durch und durch boshaft. Ich weiß nicht, was ich machen würde, wenn es meine Mutter wäre. Ich verstehe nicht, wie du immer wieder Verständnis für sie aufbringen kannst.“ Klaus ist entsetzt.

„Es ist nun mal meine Mutter.“

„Das ist noch lange kein Grund, freiwillig zu ihr zu gehen und sich beleidigen zu lassen.

Hinterher weinst du.“

Ich weine tatsächlich fast jedes Mal, wenn ich von Mutter komme. Sie schafft es immer und immer wieder, mich zu kränken, zu verletzen und zu demütigen. Ich finde einfach keine Möglichkeit, mich zu wehren, weil mich ihre seltsamen Vorwürfe zuerst schockieren und dann lähmen. Bei keinem Menschen bin ich um eine Antwort verlegen, nur Mutter gegenüber fällt mir nichts ein.

Sie war Lehrerin und es gewöhnt, andere zu kommandieren, zu belehren, zurechtzuweisen und zu manipulieren. Doch das war vor vielen Jahren und es waren Kinder.

In solchen Momenten denke ich an meinen Vater und seinen Lieblingsspruch: „Es gehören immer zwei dazu.“ Ich weiß, dass ich selbst einen Teil der Schuld trage. Denn dass mich jemand verletzen will, ist die eine Seite – dass ich mich verletzen lasse, die andere.

Zwei Wochen später darf ich Mutter abholen und nach Hause bringen.

„Die sind unfähig!“, schimpft sie. „Die haben nichts gefunden.“

Mit die meint sie die Ärzte des Krankenhauses.

„Sei doch froh!“, versuche ich zu trösten.

„Dich freut es noch, wenn sie mir nicht helfen können.“

„Nein, mich freut, dass du offenbar gesund bist.

Denn etwas anderes kann es nicht bedeuten, wenn die Ärzte nichts finden. Schließlich bist du gründlich untersucht worden.“

„Was besagt das schon?“

Mutti stößt grob meine Hand weg, die ich ihr auf den Arm legen will.

„Und woher kommen dann meine Bauchschmerzen?“

Ich weiß, dass Mutter viel zu viel isst. Vielleicht verkraftet ein alternder Magen diese Mengen nicht mehr.

„Sicher solltest du vorsichtiger bei deinem Essen sein“, wende ich ein.

„Du spinnst!“, weist sie mich zurecht.

Hannis Geburtstag

Tante Hanni heißt eigentlich Johanna und ist Vaters älteste Schwester. Sie war einmal eine wahre Schönheit und hatte entsprechend viele Verehrer. Einer davon, ein Zahnarzt, wollte sie heiraten, doch Hannis Mutter gab ihre Zustimmung nicht. Denn sie brauchte das Gehalt und die Hilfe der Tochter, um ihre noch minderjährigen Kinder zu ernähren und zu versorgen.

Nach dem Krieg wurde Hanni mit ihren elf jüngeren Geschwistern, ihrer Mutter und deren Mutter aus ihrer Heimat Pommern vertrieben.

Sie fanden erst nach einem monatelangen, qualvollen Fußmarsch in der Nähe von Freiberg eine Bleibe für die große Familie, die sich ohne jede Habe mühevoll durchschlagen musste.

So kam es, dass sich Hanni für ihre Geschwister ihr ganzes Leben lang verantwortlich fühlte. Das änderte sich auch nicht, als einer nach dem anderen heiratete und Kinder bekam. Sie half, wo sie nur konnte und pflegte zu jedem gewissenhaft den Kontakt.

Entsprechend voll ist der Festsaal zu ihrem 80.

Geburtstag, denn alle wollen persönlich gratulieren.

Sogar meine Schwester Jutta ist extra aus Düsseldorf angereist, um im Kreis unserer großen Verwandtschaft mitzufeiern. Zuerst fahren wir zu unserer Mutter, um sie abzuholen, doch die ist nicht daheim.

„Wo ist eure Mutter?“, erkundigt sich Hanni, als wir ihr gratulieren.

„Wir wollten sie mitbringen, aber sie war nicht da. Also glaubten wir, jemand anders hätte sie bereits abgeholt.“

„Hier ist sie jedenfalls nicht.“ Hanni denkt nach.

Schließlich fällt ihr ein: „Sie gratulierte mir gestern schon und sagte, dass sie vielleicht ins Krankenhaus muss.“

„Krankenhaus?“ Jutta zuckt erschrocken zusammen, stößt mich an und ruft aufgeregt:

„Wir müssen sofort zu ihr ins Krankenhaus!“

Mein erster Schreck legt sich schnell, denn ich vermute, dass dies wieder eines von Mutters Theaterstücken sein könnte.

„Ich werde dich nicht begleiten“, sage ich deshalb.

„Wieso?“ Bevor ich antworten kann, spricht Jutta weiter. „Bringst du es übers Herz, hier fröhlich zu feiern, wenn Mutter im Krankenhaus liegt?“

„Weißt du, ich glaube nicht, dass sie krank ist.“

„Spinnst du? Was redest du da?“

Ich erinnere mich genau an Mutters letzten Krankenhaus-Aufenthalt. Doch ich weiß nicht, wie ich das meiner Schwester erklären kann.

Deshalb rate ich ihr, erst einmal anzurufen, denn Mutter wird ihr Handy mitgenommen haben. Insgeheim denke ich, dass sie wohl nicht abheben wird, wenn sie auf dem Display sieht, dass Jutta nach ihr sucht. Ein Anruf wird Mutter nicht genügen, sie will sicher, dass Jutta zu ihr kommt.

Jutta drückt die Wähltaste ihres Handys und lässt es so lange klingeln, bis die Verbindung abbricht. Beim zweiten Versuch hört sie eine Ansage, dass diese Nummer zur Zeit nicht erreichbar ist.

„Vielleicht ist im Krankenhaus kein Empfang?“

„Glaubst du das wirklich?“

Ich erzähle nun doch, dass Mutter beim letzten Krankenhausaufenthalt ihre beste Freundin absichtlich nicht informierte, um sie suchen zu lassen und ende mit den Worten: „Genauso macht sie es jetzt mit dir.“

Jutta schüttelt ungläubig ihren Kopf. „Sie weiß doch, dass ich hier bin.“

„Eben. Überlege doch mal, wäre Mutti wirklich krank, hätte sie nicht bereits gestern Tante Hanni gratuliert und angedeutet, dass sie vielleicht ins Krankenhaus muss.“

„Ich verstehe immer noch nichts“, klagt Jutta.

„Heute ist Tante Hanni die Hauptperson.“

„Na und?“

„Du weißt, dass Mutti gern im Mittelpunkt steht.

Also spielt sie dieses Theater, damit jeder über sie redet.“

„Du bist einfach nur boshaft!“, schimpft Jutta, greift wieder nach ihrem Handy und wählt noch einmal Mutters Nummer. „Ich verstehe das nicht. Das Handy ist angeschaltet. Sie sieht doch meine Nummer!“

„Genau deshalb hebt sie nicht ab“, denke ich, verkneife mir aber diese Bemerkung.

Es kommt, wie es kommen muss. Während der gesamten Feier drehen sich die Gespräche nur um Mutter.

„Ihr müsst euch kümmern!“, befiehlt eine unserer Tanten.

„Vorgestern war ich bei ihr“, erkläre ich. „Da war sie noch gesund. Ihr kennt Mutti und ihren Hang zum Theaterspielen.“

Die Tante schüttelte entsetzt den Kopf, weil ich so garstig über meine kranke Mutter spreche.

„Sie kann gestürzt sein.“

„Möglich“, räume ich ein. „Doch dann hätte sie NACH dem Sturz aus dem Krankenhaus angerufen und ihn nicht bereits gestern angekündigt.“

Den ganzen Abend lang fragen uns Hannis Gäste, weshalb wir nicht wissen, wo unsere Mutter ist, wie es ihr wohl gehen mag, was passiert sein könnte, warum wir nichts unternehmen, ob wir kein Herz hätten.

Jutta wählt aller halben Stunde Mutters Nummer. Mal geht sie nicht ran, mal ist keine Verbindung. „Ich halte es nicht länger aus. Ich will jetzt wissen, wo sie ist und fahre ins Krankenhaus.“

„Mach das! Aber ohne mich. Das Krankenhaus hätte sich gemeldet, wenn es etwas ernstes wäre.“

„Du hast Recht, aber mir lässt es keine Ruhe.“

„Auch wenn das jetzt wieder boshaft klingt: genau das bezweckt sie.“

Jutta hat zwar ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht sofort ins Krankenhaus eilt, doch sie kennt schließlich unsere Mutter und ihr Theaterspiel ebenso gut wie ich und fährt am nächsten Morgen verärgert zurück nach Düsseldorf, ohne weiter nach Mutter zu suchen.

Wieder im Krankenhaus

Zwei Tage später klingelt mein Telefon und ich höre Mutters altbekannten Kommandoton.

„Wo bleibst du denn? Ich brauche frische Wäsche!“

„Welche Wäsche?“, rutscht es mir spontan heraus. Viel eher hätte ich fragen müssen: „Wo warst du, als wir Hannis Geburtstag feierten?“

„Ich bin im Krankenhaus.“ Das klingt direkt triumphierend.

„Nanu?“

„Ich hätte sterben können in der Zeit. Keiner kümmert sich um mich. Informiere wenigstens Jutta!“

Und schon ist die Verbindung unterbrochen, Mutter hat aufgelegt. Ich kann ihr nicht einmal sagen, dass Jutta längst wieder abgereist ist.