MEIN NAME IST MARY SMITH - F. R. Lockridge - E-Book

MEIN NAME IST MARY SMITH E-Book

F. R. Lockridge

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Die späte Sonne des Juninachmittags schien in ihr Gesicht, stach in ihre Augen. Vom Gehsteig schlug ihr die trockene Hitze des Asphalts entgegen. Sie zog ihre Kostümjacke aus und nahm sie unter den Arm. Die Sonne brannte durch ihre weiße Bluse. In ihrem Versteck würde es kühl und dunkel sein. Dort würde sie nicht vom Licht geblendet werden.

Sie hatte kein Geld für ein Taxi. Nicht einmal für den Bus. Aber an diesem Abend - an diesem Donnerstagabend - hatten die Banken bis acht Uhr geöffnet. Bis dahin sollte sie es schaffen. Doch auch wenn sie es nicht schaffte oder einfach fand, dass es nicht der Mühe wert sei, war es letztlich egal.

 

Der Roman Mein Name ist Mary Smith von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1962.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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F. R. LOCKRIDGE

 

 

Mein Name ist Mary Smith

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

MEIN NAME IST MARY SMITH 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Die späte Sonne des Juninachmittags schien in ihr Gesicht, stach in ihre Augen. Vom Gehsteig schlug ihr die trockene Hitze des Asphalts entgegen. Sie zog ihre Kostümjacke aus und nahm sie unter den Arm. Die Sonne brannte durch ihre weiße Bluse. In ihrem Versteck würde es kühl und dunkel sein. Dort würde sie nicht vom Licht geblendet werden.

Sie hatte kein Geld für ein Taxi. Nicht einmal für den Bus. Aber an diesem Abend - an diesem Donnerstagabend - hatten die Banken bis acht Uhr geöffnet. Bis dahin sollte sie es schaffen. Doch auch wenn sie es nicht schaffte oder einfach fand, dass es nicht der Mühe wert sei, war es letztlich egal.

 

Der Roman Mein Name ist Mary Smith von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1962.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME. 

  MEIN NAME IST MARY SMITH

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Das Krankenhaus war unübersehbar groß. Vielleicht war es gerade deshalb. so leicht gewesen, es einfach zu verlassen. Schon überhaupt, nachdem sie sich endlich dazu entschlossen hatte, nicht mehr länger hierzubleiben. Außerdem, nahm sie an, hätte man sie nicht daran hindern können zu gehen. Sie hatte kein Verbrechen begangen. Sie hätte sagen können, dass sie nicht einsähe, warum man sie noch länger hierbehalten: wolle; sie fühle, sich wieder völlig gesund und sei entschlossen, nach Hause zu gehen. Niemand hätte etwas dagegen tun können.

Zuerst hatte sie mit der Ärztin sprechen wollen; sie hätte es auch getan, wenn der andere Weg nicht einfacher gewesen wäre, ohne Komplikationen und langatmige Erklärungen. Die junge Frau im Vorzimmer hatte gelächelt, freundlich und unpersönlich, und gesagt, dass Miss Fleming in wenigen Minuten zu ihrer Verfügung stünde. »Machen Sie sich keine Sorgen«, hatte sie hinzugefügt. »Miss Fleming wird alle erforderlichen Vorkehrungen treffen.«

Sie war ins Wartezimmer gegangen und hatte sich auf einen Holzstuhl gesetzt. Hinter der Tür traf wahrscheinlich Miss Fleming gerade die erforderlichen Vorkehrungen für jemand anders. Ihr gegenüber hatte ein alter Mann mit zitternden Händen gesessen, daneben ein junges Mädchen mit hellblondem Haar, das ein Baby hielt und darüber hinweg blickte, als sei ihr das Kind und überhaupt alles gleichgültig.

Die Luft im Wartezimmer war stickig gewesen. Wie sie Krankenhausgeruch hasste! Es hatte nicht den Anschein gehabt, als ob es Miss Fleming - so geschickt, geduldig und einsichtig sie auch sein mochte - sonderlich leichtfiel, erforderliche Vorkehrungen zu treffen.

Es wäre wirklich sinnlos gewesen, darauf zu warten, von  ihr vorgelassen zu werden. Ihr Kopf hatte wieder angefangen zu schmerzen; doch auch das, hatte man ihr versichert, würde sich mit der Zeit geben.

Was hätte sie zu Miss Fleming sagen sollen? Dass man ihretwegen keine Vorkehrungen zu treffen brauche? Im Gegenteil, dass sie es nicht wünsche. Sie wollte nur frei sein - anonym, unbeachtet und frei.

Sie war nach wenigen Minuten wieder aufgestanden und aus dem Wartezimmer der Wohlfahrtsärztin Miss Fleming gegangen. Sie hatte der Sekretärin fast entschuldigend zu- gelächelt und war hinter der Tür zur Toilette verschwunden. Danach war alles kinderleicht gewesen. Durch einen zweiten Ausgang war sie auf einen der unzähligen Gänge gekommen und so lange dem Schild Pforte nachgegangen, bis sie schließlich auf der Straße gestanden hatte.

Von zu Hause wegzulaufen, wo man ebenfalls versucht hatte, erforderliche Vorkehrungen zu treffen, war weitaus schwieriger gewesen. Auch daheim, dachte sie, als sie durch die heißen Straßen ging, hätte man sie nicht halten können. Und doch glich ihr Weggehen einer Flucht - einer Flucht ohne Verfolger.

Ihr Kopf schmerzte. Sie fühlte sich noch ziemlich schwach.

Sie hatte lediglich im Unbekannten untertauchen und alles hinter sich lassen wollen - alles und jeden, jegliche Erinnerung. Sie hatte von neuem beginnen wollen und anfangs vorgehabt, als erstes ihren Namen zu ändern. Aber dann war es ihr bewusst geworden, dass sie keinen besseren Namen haben konnte als ihren eigenen.

Sie hatte den Nachtzug nach Chicago genommen, war kurz - unter ihren Namen - dort geblieben, und dann nach New York weitergefahren. In New York kannte sie niemanden.

Während sie im Krankenhaus gelegen hatte, war es Sommer geworden. Bevor man sie eingeliefert hatte, war es Frühling gewesen - nein, kein richtiger Frühling. Nur an einem einzigen Tag im April war das Wetter schön gewesen. Tn der Nacht, in der man sie ins Hospital gebracht hatte, musste es unfreundlich Und kalt gewesen sein. Sie konnte sich an jene Nacht nicht erinnern. Sie hatte offensichtlich ihr Winterkostüm getragen, da sie es jetzt trug, als sie die sechsundzwanzigste Straße hinunter auf das Versteck zuging, das sie gefunden hätte, um unterzutauchen. Erst heute Morgen, als sie das Kostüm angezogen hatte, war es ihr bewusst geworden, wie sehr sie abgenommen hatte. Noch vor einigen Wochen hatte es ihr wie angegossen gepasst. Heute hing die Jacke weit und formlos von ihren Schultern, der Roch saß auf den Hüften. Nicht, dass es ihr etwas ausmachte; diese Dinge machten ihr schon lange nichts mehr aus. Fünf Jahre - eine ewige Zeit.

Niemand würde sich nach einem blassen, mageren Mädchen umdrehen - nach einem Mädchen, dessen dunkelbraunes Haar kurz geschnitten und im Nacken wie bei einem Mann ausrasiert worden war. Dort, im Nacken, hatte sie die stechenden Schmerzen. Aber das würde sich mit der Zeit geben. Das war kein Grund zur Sorge.

Die späte Sonne des Juninachmittags schien in ihr Gesicht, stach in ihre Augen. Vom Gehsteig schlug ihr die trockene Hitze des Asphalts entgegen. Sie zog ihre Kostümjacke aus und nahm sie unter den Arm. Die Sonne brannte durch ihre weiße Bluse. In ihrem Versteck würde es kühl und dunkel sein. Dort würde sie nicht vom Licht geblendet werden.

Sie hatte kein Geld für ein Taxi. Nicht einmal für den Bus. Aber an diesem Abend - an diesem Donnerstagabend - hatten die Banken bis acht Uhr geöffnet. Bis dahin sollte sie es schaffen. Doch auch wenn sie es nicht schaffte oder einfach fand, dass es nicht der Mühe wert sei, war es letztlich egal. Man hatte sie im Krankenhaus gezwungen zu essen. Selbst wenn sie keinen Appetit gehabt hatte. Jetzt, wenn ihr irgendetwas zu mühsam war oder sie keine Lust dazu hatte, würde sie niemand zwingen.

Schließlich kam sie zur Fifth Avenue und bog links ein. Nun konnte sie wenigstens auf der Westseite der Straße im Schatten gehen. An der nächsten Kreuzung überquerte sie die Fahrbahn. Ihr Kopf schmerzte immer noch. Es ist ein gutes Stück Weg, dächte sie, aber ich werde es schaffen. Ich -habe mir nicht überlegt, dass es so weit ist.

Am Washington Square wandte sie sich nach rechts. Sie war inzwischen sehr müde. Als sie gerade über die Seventh Avenue gegangen und nur noch wenige Blocks von ihrem Versteck entfernt war, überfiel sie plötzlich eine Schwindelwelle, und sie musste sich an einem Gartenzaun festhalten, bis es vorüber war.

Sie kam in die schmale, kleine Straße und stieg kurz darauf die Sandsteinstufen zur Eingangstür des Hauses hinauf. Sie hielt sich am Geländer fest und ging sehr langsam für eine Frau von sechsundzwanzig Jahren. Ich bin längst nicht so fest auf den Beinen, wie ich geglaubt habe, dachte sie. Ich werde heute Abend nicht mehr weitergehen. Nicht um alles in der Welt.

Sie stieg die zwei Stockwerke hinauf und stand endlich vor ihrer Wohnungstür. Jetzt erst kamen ihr zum ersten Mal Bedenken, ob wohl der Schlüssel noch da sein würde - der Extraschlüssel, den sie gegen ihre eigene Gedankenlosigkeit und Vergesslichkeit in Reserve versteckt hielt. Jemand konnte aus Versehen den Schlüssel heruntergeworfen haben.

Mrs. Peterson zum Beispiel, beim Treppenputzen. Falls der Schlüssel nicht da war, musste sie wieder in die Hausmeisterswohnung im Souterrain hinuntergehen und Mr. Peterson sagen, dass sie ihren Schlüssel verloren habe. Ob er gegebenenfalls zu Hause sein und ihr helfen würde?

Sie hatte fast fünf Monate in dem Appartement gewohnt, den- Hausmeister aber nur ein einziges Mal gesehen, als sie einzog und er ihr die Schlüssel überreichte. Die Wohnung war ihr damals von einer Angestellten des Immobilienbüros gezeigt worden. Die Miete wurde von der Bank überwiesen. Peterson hatte sich nicht im Geringsten für die neue Mieterin interessiert. Würde er ihr jetzt glauben und sie hereinlassen? Sie würde ihn zu überzeugen versuchen müssen. Davor graute ihr im Moment mehr als vor der Aussicht, die zwei Treppen wieder hinunter und anschließend ein zweites Mal heraufsteigen zu müssen. Sie lehnte sich an die Wand neben der Eingangstür zu ihrer Wohnung und fühlte eine schwarze Hoffnungslosigkeit in sich aufsteigen. Ich bin nur deswegen so verzweifelt, dachte sie, weil ich noch nicht wieder ganz bei Kräften bin. Doch ich darf jetzt nicht aufgeben.

Mit größter Willensanstrengung streckte sie sich auf die Zehenspitzen und tastete den Querbalken über ihrer Wohnungstür ab. Zuerst fühlte sie nur Staub. Wieder drohte ihr schwarz vor Augen zu werden, und sie klammerte sich mit einer Hand am Türrahmen fest. Sie riss sich zusammen und ließ ihre Finger weiter über das Holz gleiten. Da berührte sie das Metall des Schlüssels. Eine Flut der Erleichterung schlug über ihr zusammen.

Mit peinlicher Vorsicht, als könne ihr der Schlüssel für immer entgleiten, steckte sie ihn ins Schloss, drehte ihn um und öffnete die Tür. Sie betrat schnell ihre Wohnung und zog die Tür hinter sich zu.

Es war ein langer, schmaler Raum mit zwei Fenstern am anderen Ende. Der Schlüssel hatte ihr die Tür in ihr Zimmer geöffnet.

Aber nichts in diesem Zimmer gehörte ihr.

Ihre großen, braunen, weit aufgerissenen Augen wanderten durch den Raum. Sie hatte nicht viel besessen - ein Bett, zwei Stühle und einen kleinen Tisch. Und natürlich Lampen, um das immer düstere Studio-Appartement zu beleuchten.

Jetzt standen fremde Möbel da. Die Couch - breiter als ihre gewesen war - war mit einem grellgelben Überwurf bedeckt und stand an der rechten Wand. Zwischen den beiden Fenstern war ein Tisch mit einer Schreibmaschine und einer Bürolampe darauf. An der linken Wand stand eine polierte Kommode. Zwischen Kommode und Fenster befand sich ein altes, zerschlissenes Sofa. Nichts, was sie an früher erinnert hätte.

Nichts - Moment! Der schmale, hohe Schrank in der rechten hinteren Ecke des Zimmers. Es war ein Einbauschrank. Ihr verschwommener Blick ruhte auf seinen Türen.

Es war unglaublich. Kurz bevor man sie ins Krankenhaus eingeliefert hatte, hatte sie ihrer Bank den Auftrag gegeben, die Miete bis Ende Juni zu überweisen. Sie hatte den Kontoauszug - sie brach den Gedanken ab. In Wirklichkeit hatte sie nichts. Sie habe nicht einmal eine Handtasche gehabt, als man sie fand, hatte man ihr gesagt - keine Tasche, keinen Ausweis, nichts. Und jetzt, wo jemand in ihre Wohnung gezogen war...

Sie ging hastig durch den langen, schmalen Raum. Im Wandschrank hatte sie in einer kleinen Blechschachtel die Dinge aufbewahrt, die nicht verlorengehen sollten: Ihren Mietvertrag, der bis zum ersten Oktober lief, die Auszüge

der Mietüberweisungen und, was das Wichtigste war, ihr Scheckbuch. Sie rüttelte an der Schranktür, die noch wie früher klemmte. Endlich sprang sie auf.

Wer sich auch immer zum unberechtigten Besitzer ihrer Wohnung gemacht hatte, benutzte den Eckschrank zum gleichen Zweck, wie sie es getan hatte. Auf dem obersten Brett lag ein schwarzer Aktendeckel, ein Stoß Schreibmaschinenpapier und eine Schale mit Bleistiften. Darunter Briefe und einige Bücher. Ihre Blechschachtel war nicht da. Sie schob die Bücher beiseite, räumte alles um, konnte aber ihre Schachtel nicht finden.

»Suchen Sie etwas?«, sagte eine Stimme, und im Moment dachte sie, dass diese Stimme nur in ihren Gedanken existierte. Dann drehte sie sich schnell um.

Ein großer Mann stand im Zimmer und blickte sie mit scharfen, harten Augen an.

»Nun?«, fragte er. »Was werden Sie mir jetzt erzählen? Denken Sie sich eine gute Geschichte aus.«

Sie schaute den großen Mann an - einen jungen Mann mit harten Zügen. Sie drehte sich zu ihm um und stand an die Tür des Eckschrankes geklammert da.

»Wer sind Sie?«, fragte sie und versuchte, ein Zittern in ihrer Stimme zu vermeiden. »Was machen Sie hier?«

Er stieß ein kurzes Lachen aus.

»Ich bin der Mieter dieser Wohnung«, sagte er. »Das beantwortet gleich beide Fragen, oder? Wie kamen Sie hier herein?«

»Mit dem Schlüssel. Mit meinem Schlüssel.« Sie legte eine Hand an ihren Nacken. Die Schmerzen ließen nicht nach.

»Verflixt«, schimpfte der große Mann. »Was reden Sie denn für einen Unsinn?«

Er blickte sie scharf und musternd an. Erst jetzt schien er sie im düsteren Licht dieses Raumes zu erkennen. »Sie sehen krank aus«, stellte er fest.

»Ich komme eben aus dem Hospital«, erklärte sie langsam. »Wieso wohnen Sie hier? Sie behaupten, dieses Appartement gemietet zu haben?«

»Genau, und ich zahle auch dafür. Ich habe den Schlüssel und somit das Recht, die Polizei zu verständigen, wenn ich einen Einbrecher in meinem Zimmer ertappe. Einen Dieb.«

»Ich wohne hier«, entgegnete sie. »Ich zahle die Miete. Der Hausbesitzer wird es Ihnen bestätigen. Gehören Ihnen diese Sachen?«

Sie deutete mit einer weiten Handbewegung durch den Raum.

»Was ist eigentlich mit Ihnen los?«, fragte der große Mann. »Natürlich sind das meine Sachen. Ich heiße Martin Hale und habe vor zwei Wochen diese Wohnung gemietet.« Er sprach sehr langsam, als hätte er es mit jemandem zu tun, der Englisch nur schlecht versteht.

»Aber meine Sachen waren doch hier«, entgegnete sie. »Sie müssen hier gewesen sein. Was haben Sie mit meinen Sachen gemacht?«

»Sachen?«, wiederholte er. Seine Augen wurden schmal. »Sie sollten sich vielleicht besser hinsetzen.« Sie rührte sich nicht, sondern blieb an die Schranktür geklammert stehen. »Okay«, meinte er. »Ich werde die Polizei nicht rufen.«

»Möbel«, murmelte sie. »Nicht viel. Eben nur das Nötigste. Und - mein Scheckbuch. Mein Mietvertrag. Und einige Kleider.« Sie schloss einen Moment die Augen, als könne sie dadurch die Wirklichkeit verwischen, die Vergangenheit wieder herbeizwingen. »Nicht viele Kleider«, setzte sie hinzu und dachte dabei: Warum sage ich das überhaupt? Es ist doch völlig gleichgültig, ob viel oder wenig.

Das Zimmer begann vor ihren Augen zu schwimmen, war noch düsterer, noch schattiger, als sie es in Erinnerung hatte. Sie klammerte sich fester an die Schranktür. Ihre Finger schmerzten.

»Niemand hat das Recht, mir meine Sachen wegzunehmen«, sagte sie. »Sie hatten kein Recht dazu.«

»Nun setzen Sie sich doch endlich hin«, sagte Martin Hale, aber das Mädchen schien ihn nicht zu hören. Er wiederholte seine Aufforderung. Sie rührte sich nicht vom Fleck.

»Als ich einzog«, erklärte er, »war die Wohnung leer. Auch keine Kleider. Bewahrten Sie Ihr Scheckbuch in diesem Schrank auf? Haben Sie danach gesucht?«

»Natürlich«, antwortete das Mädchen. »Ich weiß gar nicht, was passiert ist. Was hier vor sich geht.«

Ihre Stimme war so leise, als ob sie zu sich selbst reden würde.

»Wie bitte?«

Sie wiederholte ihre Worte.

»Und ich erst recht nicht«, entgegnete Martin Hale. »Ich komme nach Hause, finde eine Frau vor, die in meiner Wohnung herumstöbert und...« Er brach ab. »Haben Sie einen Namen?«

»Selbstverständlich«, antwortete sie in das Halbdunkel hinein. Der große Mann verschwamm vor ihren Augen. »Natürlich habe ich einen Namen.« Es war eine so dumme Frage. Jeder Mensch hatte einen Namen.

Er blickte sie aus der Verschwommenheit, in der er für sie stand, an. Natürlich. Er hatte nach ihrem Namen gefragt. Sie nannte ihren Namen.

»So, so«, antwortete er. »Das ist also das Spiel. Nur, dass ich es nicht begreife. Weil ich nicht weiß, worauf Sie hinauswollen. Ich begreife es wirklich nicht.«

Sie konzentrierte sich. Das Bild vor ihren Augen wurde wieder etwas klarer.

»Spiel?«, fragte sie.

»Okay«, entgegnete er. »Ich mache mit. Sie behaupten, Sie seien Mary Smith. Das sagen Sie doch, nicht wahr?«

Sie antwortete nicht. Sie hat sehr große, schöne Augen, dachte er. Aber sie sieht krank aus.

»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen«, wiederholte er. »Mit dem besten Willen nicht. Aber, bitte schön.«

Er hielt inne und blickte sie an. Sie stand an die Schranktür geklammert - ein sehr dünnes Mädchen mit einer Bluse, die lose von ihren Schultern hing. Einem Kostümrock, der viel zu weit war.

»Nun gut«, sagte er. »Vor mir wohnte tatsächlich ein Mädchen hier, das Mary Smith hieß. Nur - ist sie inzwischen tot, meine Dame. Seit einem Monat. Jemand - hat sie ermordet. Hat sie auf den Kopf geschlagen mit...«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Langsam kamen Schatten in den grauen, brausenden Nebel.

»Gott sei Dank«, sagte eine Stimme. »Sie scheinen wieder zu sich zu kommen. In wenigen Minuten wird alles

Die Stimme drang wie das Hallen eines Echos an ihr Ohr. Sie hatte diese Worte schon einmal gehört - fast die gleichen Worte. Aber damals, als sie langsam aus ihrer tiefen Ohnmacht erwacht war, hatte es nach Krankenhaus gerochen, und jetzt...

»Schon gut«, sagte die Stimme. »Ich gebe es ja zu. Ich bin ein grobschlächtiger Kerl. Ich hätte es wissen müssen und Ihnen die Geschichte nicht einfach ins Gesicht schleudern dürfen. Was auch immer hier gespielt wird.«

Sie lag flach ausgestreckt auf der Couch. Er saß neben ihr. Auf ihrer Stirn lag etwas Kaltes, Feuchtes. Sie tastete danach - ein nasses Handtuch. Nun kam die Erinnerung zurück.

»Ich bin nicht tot«, murmelte sie. »Ich - ich bin...«

»Bleiben Sie ganz ruhig«, sagte der große Mann. »Natürlich sind Sie nicht tot. Sie haben lediglich die Besinnung verloren, sind zu Boden gesunken, und ich habe Sie aufgefangen und auf die Couch gelegt. Jetzt geht es Ihnen schon wieder gut. Wollen Sie sich aufsetzen?«

Sie schob sich mühsam in die Höhe. Der große Mann stützte sie. »Lehnen Sie sich an«, sagte er, ging durch den Raum und kam mit einer Flasche und einem Glas zurück. »Ich möchte nichts begann sie.

»Doch«, unterbrach sie Martin Hale entschieden. »Sie werden es trinken, und es wird Ihnen guttun.«

Sie trank. Es schmeckte scheußlich. Aber nach einem Augenblick fühlte sie, wie die Wärme in ihren Körper zurückkehrte. Die Umrisse der einzelnen Möbelstücke nahmen wieder feste Formen an. Sie sah den Mann - den großen Mann mit seinem kurzgeschnittenen Haar und dem ziemlich kantigen Gesicht wieder klar und deutlich.

»Martin Hale«, sagte er, wie um sich nochmals vorzustellen. »Erinnern Sie sich?«

»Sie behaupteten«, entgegnete sie, »ich sei tot.«

»Moment«, erwiderte er. »Ich habe gesagt, Mary Smith ist tot. Das Mädchen, das vor mir in diesem Appartement wohnte. Sie behaupten, und nicht ich, dass Sie Mary Smith seien.«

»Und es stimmt.« Ihre Stimme war ohne Zittern. »Es - jemand hat sich getäuscht. Es liegt ein Irrtum vor. Als es passierte, dachte man, ich sei tot, und Sie hielt einen Moment inne. »Man schlug mich auf den Hinterkopf. Zumindest hat mir das die Schwester im Krankenhaus erzählt. Ich erinnere mich an nichts. Es geschah im Osten der Stadt. In der Nähe der First Avenue. Jemand, der mir alles abnahm, schlug mich zu Boden. Aber jetzt bin ich wieder gesund. Ich nehme an, dass ein Irrtum unterlaufen ist und das Protokoll über meinen Unfall verwechselt wurde. Dass man einen Fehler gemacht hat und...«

»Nein«, unterbrach er sie. »Das Mädchen wurde umgebracht. Da besteht kein Zweifel. Mary Smith wurde ermordet. Geht es Ihnen wieder so gut, dass ich Ihnen die Angelegenheit erzählen kann?«

Er blickte sie fragend an. Sie fühlte seine Zweifel.

»Ich bin vom Krankenhaus zu Fuß hierhergekommen«, antwortete sie. »Es ist ein weiter Weg, und ich bin noch nicht wieder so kräftig, wie ich es mir eingebildet habe. Schon bevor Sie sagten, dass -. Wirklich, es geht mir gut.« Die großen braunen Augen, die so weit aufgerissen und leer gewesen waren, blickten ihn lebhaft an. Ein Jammer, dass sie so gar nichts aus sich macht, dachte er kurz. Es ging ihm zwar nichts an, aber ein Mädchen, das nicht auf sein Äußeres achtete, war letztlich verflixt dumm. Natürlich, sie war krank gewesen. Darüber bestand kein Zweifel. So dubios auch sonst alles klang. Wahrscheinlich waren ihre Nerven nicht in Ordnung. Offensichtlich hatte sie von der Ermordung Mary Smiths gehört. Die Zeitungen waren voll davon gewesen, besonders da man über das Opfer nichts weiter herausbringen konnte, als dass es im Stadtteil Greenwich Village gewohnt hätte und in seinem Appartement erschlagen worden war. Das Mädchen vor ihm musste davon gelesen haben und hielt sich nun, weil sie irgendwie seelisch und nervlich angeknackst war, für Mary Smith.

Und, dachte Martin Hale, ausgerechnet mir fällt sie nun zur Last, wo ich mich doch gerade von allem freigemacht habe, um ungestört arbeiten zu können. Was, zum Teufel, soll ich mit ihr anfangen?

»Der Unfall, von dem Sie sprechen«, sagte er, »wann passierte die Geschichte?«

»Ungefähr vor einem Monat«, antwortete sie. »Ich war angeblich sehr lange bewusstlos. Über eine Woche. Schädelbasisbruch. Ich musste operiert werden. Aber ich lebe.«

»Gewiss«, sagte er.

»Und ich weiß sehr genau, wer ich bin.« Sie sprach schnell und heftig. »Wenn Sie glauben sollten, dass ich nicht ganz richtig im Kopf bin und

»Moment!«, unterbrach er sie und lächelte sie an. Wenn er lächelte, waren seine Züge nicht so hart. »Das habe ich nicht gesagt.«

»Ich«, fuhr sie fort, »kann mich nicht daran erinnern, wie ich in den Osten der Stadt gekommen bin, wo man mich angeblich gefunden hat. Ich kann mich nicht daran erinnern. - Das letzte, was ich weiß, ist, dass ich die Stufen der öffentlichen Bibliothek hinunterging. Sie wissen schon, Ecke zweiundvierzigste Straße und Fifth Avenue. Es war ein kalter Abend, und es sah nach Regen aus. Als nächstes erinnere ich mich daran, dass ich jemand - eine Schwester im Hospital sagen hörte: Sie kommt langsam zu sich! Von da an ist alles wieder klar. Alles. Und - ich bin Mary Smith.«

»Schon gut«, besänftigte er sie. »Schon gut. Regen Sie sich nur nicht auf.«

»Wenn ich nicht Mary Smith wäre, woher sollte ich dann diese Adresse wissen? Wie hätte ich dann den Schlüssel finden können? Wollen Sie mir das vielleicht sagen?«

»Schon gut«, wiederholte er. »Sie sind Mary Smith. Sie sind nicht tot. Alles beruht auf einem Irrtum. Es ist reiner Zufall.«

Die Sache mit dem Schlüssel ist seltsam, dachte er. Ich weiß ziemlich sicher, dass ich die Tür abgeschlossen habe. Aber offensichtlich täusche ich mich. Und natürlich musste ihr der Raum fremd Vorkommen, denn sie hatte ihn nie gesehen, sondern nur eine Beschreibung gelesen. Deshalb - »Dieses Mädchen«, sagte er, »Diese - andere Mary Smith wurde vor ungefähr einem Monat hier in dieser Wohnung umgebracht. Darüber besteht kein Zweifel. Die Sache passierte, bevor ich bei meiner Zeitung aufhörte. Ich habe selbst den Bericht über den Mord geschrieben.« Sie sah ihn fragend an. »Ich habe«, fuhr er fort, »vor zwei Wochen bei meiner Zeitung gekündigt, um...«

Er sprach seinen Satz nicht zu Ende. Wozu eigentlich, dachte er, soll ich ihr das alles erzählen?

»Sie wurde vor ungefähr einem Monat umgebracht«, fuhr er fort. »Ungefähr zu der Zeit, wo Sie angeblich zu Boden geschlagen wurden.« Er hielt inne. Sie reagierte nicht auf das angeblich. »Nachts. Allem nach von jemandem, den sie in die Wohnung gelassen hatte. Der Täter versetzte ihr mehrere harte Schläge. Wahrscheinlich mit einem Eisenrohr, das er extra zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Bei ihr lag kein Irrtum vor. Sie war tot. Einwandfrei tot.« Das Mädchen fuhr sich unbewusst mit der Hand über den kurzgeschorenen Hinterkopf. »Ich kenne keine Menschenseele in New York«, sagte sie. »Wie kam sie in meine Wohnung? Und warum kam sie in meine Wohnung? Wollte sie vorgeben, ich - Mary Smith zu sein?«

»Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich weiß eben nur...«

»Woraus schloss man denn, dass dieses Mädchen ich sei? Dass sie Mary Smith sei?«

»Das«, sagte er, »kann ich Ihnen beantworten. Sie wohnte hier. Die Kleider im Schrank passten ihr. Sie hatte einen Ausweis in ihrer Handtasche. Im Eckschrank, in dem Sie herumsuchten, lagen weitere Papiere, die bewiesen, wer das Mädchen war.«

»Ein Scheckbuch - mein Scheckbuch.«

Er schüttelte den Kopf. Sie lehnte sich nach vorn und starrte ihn Ungläubig an.

»Es sei denn, die Polizei hat es der Presse verschwiegen«, sagte er. »Ich weiß nichts von einem Scheckbuch. Sie hatte einige Hundert-Dollarnoten in der Handtasche. Was übrigens die Polizei davon überzeugte, dass es sich nicht um Raubmord handelte. Von einem Scheckbuch war nicht die Rede, und ich glaube ziemlich sicher, dass uns die Polizei nichts vorenthalten hat, denn sie wollte mehr über das Mädchen in Erfahrung bringen - jede Kleinigkeit. Man wusste lediglich, dass sie vor fünf Monaten dieses Appartement unter dem Namen Mary Smith gemietet hatte und auch bewohnte. Man fand keine Briefe, nichts, woraus man irgendwelche Schlüsse hätte ziehen können. Ihre Fingerabdrücke waren in keiner Kartei. Man hat alles Mögliche versucht und sogar eine Zeichnung von ihr anfertigen lassen. So, wie sie ungefähr ausgesehen haben muss. Es war nur eine Skizze

Er zuckte mit den Schultern und tippte mit einer unmissverständlichen Handbewegung an sein Gesicht. Es war ja klar, was er damit ausdrücken wollte. Es war klar, dass die Verletzungen des Opfers... Sie zwang sich, den Gedanken nicht zu Ende zu denken.

»Wir druckten die Skizze«, fuhr er fort. »Sie wurde in allen Zeitungen gebracht, nicht nur in New York. Niemand erkannte sie. Oder zumindest meldete sich niemand, der sie kannte.« 

Er blickte das Mädchen an, das steif und aufrecht auf der Couch saß.