MIT OPTION AUF TOD - F. R. Lockridge - E-Book

MIT OPTION AUF TOD E-Book

F. R. Lockridge

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Beschreibung

Verkehrsunfall oder Mord? Inspektor Heimrich ist sich nicht ganz sicher, als er den Tod der alten Mrs. Powers untersucht.

Heimrich weiß, dass Mrs. Powers gewisse fanatische Kreise der Stadt gegen sich aufgebracht hatte. Und er weiß, dass die alte Dame recht vermögend war...

 

Der Roman Mit Option auf Tod von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1967; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1968 (unter dem Titel Tod nach Wahl).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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F. R. LOCKRIDGE

 

 

Mit Option auf Tod

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

MIT OPTION AUF TOD 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Verkehrsunfall oder Mord? Inspektor Heimrich ist sich nicht ganz sicher, als er den Tod der alten Mrs. Powers untersucht.

Heimrich weiß, dass Mrs. Powers gewisse fanatische Kreise der Stadt gegen sich aufgebracht hatte. Und er weiß, dass die alte Dame recht vermögend war...

 

Der Roman Mit Option auf Tod von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1967; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1968 (unter dem Titel Tod nach Wahl).  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME. 

  MIT OPTION AUF TOD

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Die Teerstraße zog sich die sanfte Erhebung hinauf. Alte Ahornbäume mit dem jungen Laub des Frühlings zu beiden Seiten davon bildeten einen hohen Bogen darüber. Am höchsten Punkt des Hügels angekommen, verminderte Eric Martin das Tempo und hielt dann den kleinen Sportwagen an. Beide Insassen blickten eine Weile schweigend auf den kleinen Ort North Wellwood hinunter. »Auf jeden Fall«, sagte dann Eric, »sieht das Nest friedlich aus. Und abgelegen.«

North Wellwood, Bezirk Westchester, im Staat New York - ein Städtchen in einem vor grünen Hügeln umgebenen Tal; ein Ort, der aus weiter nichts als einer Ansammlung von Häusern bestand, die vorherrschend weiß getüncht waren. Dort, wo sie sich am dichtesten zusammendrängten, ragte ein weißer Kirchturm auf. Doch, obwohl es sich offenbar um das Ortszentrum handelte, schienen die Häuser sich im Grün der Bäume zu verlieren - schienen in Eric und Ann Martins Augen im Schatten der Zweige zu schlafen.

»Ist es wirklich nur eine halbe Stunde von New Canaan entfernt?«, fragte Ann. »Ralph behauptet es. Es wirkt so himmelweit weg von überall, findest du nicht? Eine Ewigkeit von allem entfernt.«

Eric gab ihr recht und ließ den Wagen auf die Ortschaft zurollen. Er fuhr an einem Schild vorbei: North Wellwood - gegründet 1707. »Ja, nur eine halbe Stunde. Jetzt, wo wir den Weg kennen.«

Der Weg war nicht gerade schwer zu finden gewesen. Von der Merritt herunter auf die Route 123, hatte ihnen Ralph am Abend vorher gesagt. Dann... Dann auf dieser Straße und dann jener, und Vorsicht an einer bestimmten Straßenabzweigung; es war wichtig, dort rechts abzubiegen, weil es links nach Brewster ging. Ihr könnt nicht fehlgehen, hatte Ralph Barnes behauptet, worauf Eric mit einem langgezogenen zweifelnden Hm-m-m reagierte - mit dem Misstrauen, das ein Städter im Allgemeinen Landstraßen entgegenzubringen pflegt.

Aber es hatte sich alles reibungslos abgespielt an jenem sonnigen Samstagmorgen im späten Mai. Route 123 war leicht zu finden gewesen. Knappe zwei Meilen danach entdeckten sie auch das Reklameschild einer Getränkefirma, wo, wie Ralph Barnes versichert hatte, es zur Linken eine zweitrangige Landstraße und einen von einem Fliederbusch mehr als zur Hälfte verdeckten Wegweiser gab, der auf North Wellwood hinwies. Ein Stück weiter hatten sie sich an Ralphs Mahnung gehalten, die Straßengabelung zu beachten, die nach Brewster abzweigte, und waren rechts in die South Lane abgebogen.

Und nun, nach ihrem ersten längeren Blick auf das Städtchen, in welchem sie vielleicht, oder vielleicht auch nicht, den Sommer verbringen würden, hielten sie nach der Hauptstraße und der Verkehrsampel Ausschau, während der Wagen das leichte Gefälle des Hügels hinunterrollte. Die Hauptstraße überqueren und dann in die erste Straße rechts einbiegen. Das ist dann die Hayridge Lane.

Wie angekündigt war es die Hayridge Lane.

Fünftes Haus auf der rechten Seite, hatte Ralph Barnes gesagt.

Wenn ihr das Haus an der Ecke nicht mitzählt, hatte Lucile Barnes ergänzt. Das gehört nämlich zur South Lane.

Sie fuhren langsam die Hayridge Lane entlang. Links von ihnen befand sich ein Briefkasten mit der Aufschrift Walter Brinkley und rechts einer, auf dem der Name Powers stand. Dann noch etwa eine Meile, bis sie zu einem Briefkasten kamen, der mit Barnes gekennzeichnet war. Und dann, gleich dahinter, eine saubere, kiesbefahrene Einfahrt, die so an die hundert Meter weiterführte zu einem quadratischen weißen Haus mit kleinen vergitterten Fenstern. Es war von einem ziemlich weitläufigen Rasen von etwa einem Morgen Größe umgeben, der ein wenig verwildert aussah. Zu beiden Seiten der Einfahrt stand jeweils ein hoher Ahornbaum. Eine Hecke grenzte das Grundstück zur Straße hin ab und ließ nur für den Eingang eine Lücke frei. Die Vormittagssonne lag hell auf dem Haus.

Sie sperrten die Eingangstür auf und sahen sich um. Das Haus war größer, als sie erwartet hatten. Der Mietpreis, den Barnes ihnen genannt hatte, schien nun, da sie ein so geräumiges Haus vorfanden, überraschend niedrig. Eric, der gerade erst anfing, die Freunde seiner jungen Frau kennenzulernen, fragte sich im Stillen, was wohl mit dem Haus los sein mochte.

Davon abgesehen, dass es für ihren Bedarf zu groß war, gab es nichts daran auszusetzen. Es hatte mehr Zimmer, als sie brauchten, »Wir können endlich mal Leute einladen«, bemerkte Ann, »Wir schulden ohnehin bald jedermann eine Einladung.« Eric, der eine Tür zum Keller und zu den Heizanlagen suchte, antwortete nur mit einem geistesabwesenden Hm-m-m.

»Scheint tadellos im Stande zu sein«, murmelte Eric, als er wieder die Treppe vom Keller heraufkam. »Freilich verstehe ich so gut wie nichts von Ölbrennern.«

»Unsinn, natürlich tust du das«, widersprach Ann.

Ein Elektroingenieur, der sich mit den kompliziertesten und unerklärlichsten Maschinen befasste, musste über alles, was mit Technik zu tun hatte, Bescheid wissen. Das war Anns feste Überzeugung. Hurst Electronics, die Firma, in der Eric beschäftigt war, belieferte gerade zu dieser Zeit die Marine mit den neuesten und zum Teil noch im Stadium der Entwicklung stehenden Unterwasserortungsgeräten.

Nach und nach hatte sich Eric Martin an die Denkungsart seiner Frau gewöhnt. Er lächelte sie nachsichtig an. »Unterwasserortungsgeräte und Ölbrenner sind ziemlich verschiedene Dinge, Darling.«

»Beide haben was mit Elektrizität zu tun«, beharrte Ann. »Die Möbel sind in Ordnung nicht? Wir können natürlich umstellen, soviel wir wollen. Das Sofa dort steht im Weg.« Sie zeigte auf das Möbelstück, das ihrer Meinung nach im Weg stand. »Ist es wirklich nur eine halbe Stunde von New Canaan?«

»Ungefähr. Und nicht besonders weit von New York, übrigens. Mich wundert, weshalb sie das Haus nicht fürs Wochenende behalten. Soviel ich gemerkt habe, geht es ihnen doch nicht um die Miete.«

»Ralph und Vater waren eng befreundet«, erklärte Ann. »Solange ich klein war, nannte ich ihn Onkel Ralph. Das, und dass sie anscheinend das Landleben satt haben, dürfte wohl der Grund sein, weshalb sie das Haus aufgeben wollen. Geld spielt dabei keine Rolle, Großer Himmel, nein!«

»Hm-m-m«, machte Eric wieder. Ein Rest Vorsicht blieb.

»Eigentlich«, fuhr Ann fort, »ist es genau das, wonach wir suchten. Meinst du nicht?«

»Nu-un«, sagte Eric, was immerhin schon ein Fortschritt gegenüber seinem ewigen Hm-m-m war.

»Meinst du nicht?«

»Ja.«

»Dir gefällt es, wie?«

»Dann... ja.«

»Schön«, entschied Ann. »Dann wollen wir sie gleich anrufen und ihnen Bescheid sagen. Ja, das ist das Beste. Sonst kommt uns womöglich noch ein anderer zuvor. Hast du schon festgestellt, wo das Telefon ist?«

Er hatte. Es gab drei Apparate: einen in der Diele im Erdgeschoss, zwei in den oberen Räumen. Einer davon befand sich in dem Zimmer mit Schreibtisch und Bücherregalen, die glücklicherweise noch genug freien Platz für all die Bücher hatten, die zur Zeit in Anns kleinem Apartment - seit sechs Monaten ihr gemeinsames Apartment - aufgestapelt waren. Aber das Telefon war sicher außer Betrieb, da die Barnes’ schon letzten Herbst in ihre New Yorker Wohnung umgesiedelt waren. Wenn man ein Landhaus für den Winter schloss, pflegte man alles außer Betrieb zu setzen, einschließlich des Telefons.

Ann stand in der Nähe eines Lichtschalters. Sie drückte darauf, und das Licht ging an. »Ha!«, machte sie überrascht und befriedigt zugleich. Sie ging zu dem Telefon in der Diele, nahm den Hörer ab und lauschte auf das Freizeichen. Dann drehte sie die Wählscheibe - elfmal, wie es die Nummer verlangte.

Ralph Barnes freute sich, dass ihnen das Haus gefiel; freute sich, dass er sich nicht geirrt hatte, was die Entfernung von New Canaan betraf. Musste der Rasen gemäht werden?

»Könnte nicht schaden.«

»Ich will Mike anrufen«, versprach Ralph Barnes von seiner Wohnung in New York aus. »Das Gras wuchs schließlich zu meiner Zeit. Und..., ja, Liebes?«

Luciles Stimme war schwach im Hintergrund vernehmbar.

»Schön, ich werde ihr’s sagen«, war Ralph zu hören. Und dann seine Stimme wieder nahe an der Sprechmuschel: »Lucile lässt dir ausrichten, dass du Bettwäsche und so weiter in dem Schrank oben neben der Treppe findest, wenigstens für den Anfang. - Kann sein, falls ich ihn erwische, dass Mike noch heute Nachmittag vorbeikommt.«

 

Ann und Eric waren an diesem Samstag genau sechs Monate verheiratet. Sie kannten sich erst ein knappes Jahr. Im März hatte Hurst Electronics den Betrieb von Long Island City in das Randgebiet von New Canaan im Staat Connecticut verlegt. Eric arbeitete bei Hurst Electronics.

Die Strecke Manhattan - Long Island City und zurück war als Zufahrtsweg zur Arbeitsstätte durchaus erträglich gewesen. Man schwamm sozusagen gegen den Strom der Vorortsfahrer.

Manhattan - New Canaan und zurück war eine ganz andere Sache. Die Verbindung mit der New-Haven-Bahnlinie war miserabel und noch viel unzureichender für jene, die den Vorortsverkehr im umgekehrten Sinn in Anspruch nahmen.

Für Ann und Eric schlug bald die Stunde, da sie sich mit Eifer auf die Mietanzeigen von Häusern stürzten. Sie sahen sich reihenweise Häuser in und um New Canaan an. Aber diejenigen, welche ihnen gefielen, waren nur zu kaufen, und das meist zu Preisen, die sie sich nicht leisten konnten.

Darüber waren sie sich jedes Mal schnell einig - ein bisschen zu schnell. Und keiner gab dem anderen gegenüber zu, dass die hastige Ablehnung nicht nur mit den Preisen zusammenhing. Für viele Menschen liegt im Kauf eines Hauses etwas Endgültiges, und um etwas Endgültiges zu tun, muss man seiner Sache ganz sicher sein. In der ersten Zeit einer Ehe jedoch ist Sicherheit etwas, das man erst langsam und Schritt für Schritt erwerben muss.

Seit ihrer Verheiratung hatten sie in Anns kleinem Apartment, das kaum für sie allein groß genug gewesen war, kampiert. Unvermeidlich waren sie einander dauernd im Weg; aber das war auch wieder schön gewesen. Aus der Notwendigkeit heraus hatten sie gelernt, nahe zusammenzuleben, und auch das war gut. Aber die tägliche Fahrt nach New Canaan war für Eric eine große Belastung. Kampieren ist eben doch nur lustig, solange es sich um eine vorübergehende Improvisation handelt.

Als sie an einem Freitagabend im Mai einer Einladung der Barnes’ zum Dinner in deren New Yorker Wohnung folgten, hatten sie nicht die leiseste Ahnung, dass sie dort ein Haus finden würden. Barnes’ waren gute, langjährige Freunde von Ann. Sie war praktisch mit deren Kindern zusammen aufgewachsen. Dass bei-diesem Dinner die Rede auf ein zu mietendes Haus in einer Ortschaft namens North Wellwood kommen könnte, war nicht vorauszusehen gewesen.

Sie hatten sich an diesem Abend verspätet, weil Erics Zug wieder einmal mit beträchtlicher Verzögerung angekommen war. Entschuldigungen wurden vorgebracht, zusammen mit den entsprechenden Erklärungen, die einigermaßen ungehalten ausfielen, ehe ein Cocktail Eric Martins Ärger dämpfte. Er war der überschlanke, leicht erregbare Typ, und die miserable Verbindung der New-Haven-Bahnlinie konnte selbst gelassenen Leuten auf die Nerven gehen.

Ein zweiter Cocktail stellte seine gute Laune endgültig wieder her, und er bemerkte entschuldigend, dass es schließlich nicht Barnes’ Problem war. Ralph und Lucile tauschten einen kurzen Bück, dann nickten sie sich zu. Ann, die diesen wortlosen Gedankenaustausch beobachtet hatte, sah ihren Mann an und dachte, dass er für einen Abend außer Haus eigentlich viel zu müde war.

Es war nach dem Dinner, dass Ralph und Lucile Barnes ihren stummen Gedankenaustausch in Worte kleideten. Es handelte sich um ein Haus in einer Kleinstadt namens North Wellwood, die etwa eine halbe Autostunde von New Canaan entfernt lag, zumindest im Sommer. Im Winter brauchte man vielleicht ein bisschen länger, aber der Staat New York hielt seine Landstraßen gut in Schuss, und Mike war immer zuverlässig mit seinem Schneepflug zur Stelle, um die Einfahrten freizuhalten.

Die Barnes hatten beschlossen, dieses Haus aufzugeben. »Ein Haus«, erklärte Ralph Barnes dazu, »fängt an eine Belastung zu werden, wenn man in die Jahre kommt.«

Er war, wie Ann wusste, erst knapp über Sechzig, Lucile mehrere Jahre jünger. Beide machten eigentlich nicht den Eindruck, dass sie sich alt fühlten.

»Wir haben es erst kürzlich zum Verkauf ausgeschrieben«, erklärte Barnes. »Bis jetzt hat sich jedoch noch kein ernsthafter Interessent gemeldet. Wenn ihr zwei...«

Wenn sie es bis zum Herbst mieten wollten, dann konnten sie es für eine Summe haben, die Eric interessiert aufhorchen ließ.

 

Man konnte es am Montag sehen, dass Mike mit seiner Mähmaschine dagewesen war. Ann Martin lenkte kurz nach elf Uhr vormittags den schwerbeladenen' Kombiwagen in die Einfahrt hinein. Der Rasen, der vorher leicht verwildert ausgesehen hatte, breitete sich nun glatt und leuchtend grün um das weiße Haus. Der April hatte zur freudigen Überraschung sämtlicher Einwohner dieser Gegend Regen gebracht.

Ann hielt den Wagen an, sobald sie von der Straße weg war, stieg aus und ging zum Briefkasten zurück, weil das Signalfähnchen aufgestellt war. Es war schon lange her, seit sie auf dem Land gelebt hatte. Damals war sie noch ein kleines rothaariges Mädchen gewesen, das off genüg durch die Lücke in dem Heckenzaun des Landhauses auf Long Island gekrochen war, um die Spielkameraden im Nachbarhaus, das den Barnes’ gehörte, zu besuchen. Das war nun zwanzig Jahre her, und das rothaarige Mädchen war damals erst sieben gewesen und hatte noch Ann Langley geheißen.

Dass ein aufgestelltes Fähnchen an einem Landbriefkasten etwas zu bedeuten hatte, wusste sie jedenfalls noch. Wir müssen Martin darauf schreiben, dachte sie, während sie auf den Briefkästen mit der Aufschrift Barnes zuging. Post konnte wohl kaum drinnen sein; das Signalfähnchen musste etwas anderes bedeuten. Es war ihnen am Samstag gerade noch vor Beendigung der Amtszeit gelungen, im Postamt ihren Adressenwechsel zu melden. Sie hatten die entsprechenden Formulare ausgefüllt und dem Beamten erklärt, dass jegliche Post an Mr. und Mrs. Eric Martin oder - was vielleicht ein wenig verwirrend sein mochte - Miss Ann Langley in Zukunft in den Briefkasten der Barnes geworfen werden sollte. Aber so schnell konnte das doch nicht funktionieren?

Sie machte den Briefkasten auf und fand ein Flugblatt darin. Es war eines dieser vervielfältigten Dinger und trug keinerlei Adresse. Sie nahm es heraus - schließlich mietete man mit einem Haus auch den Briefkasten samt Inhalt -, trug es zum Wagen und stopfte es ungelesen in eine Lücke zwischen den Gepäckstücken. Dann fuhr sie den Kombi die Einfahrt entlang auf das Haus zu, das ihr aus sonnenbeschienenen Fenstern freundlich zublinzelte.

Alles, was schwer war, sollte sie nicht allein ausladen: die größeren Koffer, in die sie den ganzen Sonntag lang Kleider und eine Anzahl unentbehrlicher Bücher gestopft hatten - und ein oder zwei Bilder, die Ann besonders gern mochte. Außerdem das große Badetuch, das Eric unbedingt brauchte, und eine Kaffeemaschine und einen Reisewecker, ohne den Ann seit Jahren nirgendwohin gereist war. Dazu etwas Silber, das Eric von seiner Mutter bekommen hatte. Sie hatten auch noch Anns Reiseschreibmaschine eingepackt, die beiden Tennisschläger und Erics Golfschläger. Natürlich auch Bettwäsche und die elektrisch geheizte Decke, unter der Eric, unverständlich für Ann, zu schlafen pflegte. Auch ein paar unentbehrliche Flaschen, Brot, Corned beef und Kaffee zur Überbrückung.

Lass alles, was schwer ist, im Wagen, hatte ihr Eric ans Herz gelegt, ehe er sich mit dem kleinen Sportwagen auf den Weg nach New Canaan zu Hurst Electronics machte. Hast du verstanden? Ich lade es aus, sobald ich heimkomme.

Ja, Darling. Ich habe dich verstanden, hatte Ann gesagt.

»Zu dumm, dass ich bei dieser Konferenz dabei sein muss, Ann! Jetzt bleibt der Löwenanteil des Umzugs an dir hängen. Aber es ist wichtig. Kommen bis von Key West her, diese Leute.«

»Mach dir keine Gedanken, Eric, ich komme schon zurecht«, beruhigte ihn Ann.

»Und wenn du Schecks ausschreiben musst, denke daran, dass du mit Martin unterschreibst. Es bringt bloß die Banken durcheinander, wenn du mit Langley unterzeichnest.«

»Ich werde schon daran denken. Ich bin nicht ganz so hilflos, wie du meinst.«

»Weißt du noch den Weg?«

»Ja, Eric. Ich komme schon zurecht. Und die schweren Sachen lasse ich im Wagen.«

Sie ließ wirklich das meiste Gepäck im Wagen. Aber sie schleppte trotzdem noch eine Menge Zeug ins Haus. Den großen Koffer mit Bettwäsche, Handtüchern und der elektrisch zu heizenden Decke versuchte sie anzuheben, stellte fest, dass er mindestens einen Zentner wog und begnügte sich damit, nur die Sachen herauszunehmen, die sie für das Schlafzimmer brauchen würden/bis sie fertig ausgepackt hatten. Sie bezog die Betten mit der Bettwäsche, welche die Barnes’ hiergelassen hatten, verteilte Handtücher im Badezimmer und entdeckte, dass sie ihren Toilettenkoffer und einen Karton mit Seife auf dem Sitz im Kombi liegengelassen hatte. Als sie unten das Vergessene aus. dem Wagen holte, sah sie wieder das vervielfältigte Flugblatt. Sie zog es heraus und nahm es mit ins Wohnzimmer, ehe sie nach oben ging und Waschbecken und Badewanne mit Seife versorgte. Zeit für eine kleine Pause, entschied sie - eine Pause einschließlich Sandwich und einem Glas geeisten Kaffee.

Eric war es gewesen, der daran gedacht hatte, das Fach für Eiswürfel zu füllen und den Kühlschrank einzuschalten.

Ann ließ sich im Wohnzimmer neben einem Tisch nieder. Von hier aus konnte sie auf den grünen, frisch gemähten Rasen hinausschauen, konnte den Duft des Grases einatmen und den Vögeln lauschen, wie sie lärmten und trillerten. Vielleicht sollte ich mir ein Buch über Vögel anschaffen, überlegte sie. Das wäre hier die richtige Beschäftigung. Wenn mir das Fernsehen nicht mit einem Auftrag dazwischenkommt. Das Zusammentragen von Tatsachenmaterial und Meinungsforschung für Dokumentarberichte im Fernsehen - Anns Beruf - pflegten sie oft genug wochenlang irgendwo festzuhalten, Ihr letzter Auftrag fesselte sie mehr als einen Monat an Mississippi, wo sie sich nicht gerade beliebt gemacht hatte mit ihrer Tätigkeit.

Sollte jedoch ihr Job mit einem Sommer auf dem Lande und der glücklichen Festigung ihrer jungen Ehe in Konflikt kommen, würde man auf ihre Mitarbeit verzichten müssen. Sie nippte an ihrem Kaffee und stellte das Glas auf dem Flugblatt ab, das sie vorher auf den Tisch geworfen hatte.

Sind Sie mit diesem Country-Club einverstanden?

Die Überschrift sprang ihr in die Augen. Offenbar wurde eine Antwort gefordert. Sie überflog die Seite. North Wellwood sah einer Krise entgegen. Seine Einwohner mussten eine ungeheuer folgenschwere Entscheidung treffen. Sie - die Einwohner - hatten zum großen Teil keine Ahnung von der drohenden Katastrophe. Jemand musste sie aber wohl haben. Anns Augen suchten nach der Unterschrift. Hier war sie: Die Gesellschaft zur Erhaltung von North Wellwood.

Es war, wie sie weiterlesend herausfand, der ländliche Charakter der Gemeinde, welcher auf dem Spiel stand, welcher sich in unmittelbarer Gefahr befand. Beim Grundbuchamt war ein Antrag eingereicht worden, die Erlaubnis zu erhalten, den alten Craig-Besitz, oder vielmehr einhundertfünfzig Morgen davon, in einen Country-Club zu verwandeln. Das Land war, nach Ansicht der von Der Gesellschaft zur Erhaltung von North Wellwood konsultierten Experten, nicht im mindesten für einen Club geeignet. Einer der führenden Golfprofis - sein Name blieb ungenannt - hatte das Grundstück sogar als absolut ungeeignet bezeichnet.

North Wellwood war, wie Ann weiterhin aus dem Text erfuhr, unvergleichlich in seiner ländlichen und kolonialen Atmosphäre. Dürfte all das zerstört werden?

Der beantragte Club plante eine Mitgliedschaft von dreihundert Personen. Doch niemand konnte garantieren, dass sich die Mitgliedschaft nicht vergrößern würde. Und die Mitglieder würden auf jeden Fall Gäste mitbringen. Das durfte man mit Sicherheit erwarten. Sie würden zum größten Teil nicht aus Einwohnern dieses stillen Tales bestehen. Im Gegenteil, die meisten von denen, welche die Annehmlichkeiten des Clubs in Anspruch nehmen würden, kamen von außerhalb der Gemeinde. Für jedes Sommerwochenende konnte man getrost an die tausend Besucher erwarten. Autos würden die stillen Straßen North Wellwoods verstopfen, ihre Insassen die Landschaft verunreinigen. Zur Bewältigung des Verkehrs würden Polizeibeamte und anderes Personal angestellt werden müssen. Das Leben unserer Kinder war in Gefahr! Die Gemeinde, weit davon entfernt, an erhöhtem Steuereinkommen zu profitieren, würde bankrott machen.

Wenn das Unglück noch in letzter Minute abgewandt werden sollte, so mussten die Einwohner North Wellwoods zu den Waffen eilen. Sie mussten sofort beim Grundbuchamt Beschwerde einreichen.

Sonst, wie Ann Martin daraus schloss, würde über North Wellwood der Himmel einstürzen. Und sie war überrascht über so viel Aufstand und Wutgeschrei, ganz abgesehen von dem freigebigen Gebrauch dickgedruckter Buchstaben. Unwillkürlich fiel sie in ihre Berufsgewohnheit, in Gedanken einen Aufruf zu formulieren: »Sturm über North Wellwood! Ländliche Gemeinde befürchtet ihre Ausrottung!« Dann schweiften ihre Gedanken wieder zu ihrem Kaffee und zu dem offenbar ungestörten Getriller der Vögel zurück. Lärm machten eigentlich nur Menschen.

Und, fügte sie im Stillen hinzu, ihre Autos. Ein hellbrauner Sportwagen bog rasant in die gewundene Einfahrt herein, Kiesel spritzten hinter ihm hoch, als er auf heulend herankam. Sein Dach war zurückgeschoben, falls er überhaupt eines hatte, und am Steuer saß eine zierliche Dame mit glänzendem, schneeweißem Haar.

Der funkelnde Wagen hielt mit elegantem Schwung hinter dem Kombiwagen. Ann ging zur Tür, immer noch den empörten Aufschrei der Gesellschaft zur Erhaltung von North Wellwood in der Hand. Die weißhaarige kleine Dame hüpfte flott aus dem Wagen, und Ann trat auf die Veranda hinaus. Vermutlich wollte sie was verkaufen. Kosmetikartikel oder etwas dieser Art. Ann war nun nahe genug, um zu sehen, dass der Sportwagen einen Mercedes-Stern trug.

»Ich hoffe«, begann die quicklebendige, zierliche Dame, »dass ich nicht störe, meine Liebe. Sagen Sie es mir ruhig, wenn es so ist. Sie sind doch Ann Martin, nicht wahr?«

Das Lächeln auf dem glatten runden Gesicht war warm. Sie muss sich schon den Siebzig nähern, schätzte Ann. Trotzdem steuerte sie den Wagen mit dem Elan einer jungen sportlichen Frau. Sie lächelte der munteren kleinen Person unwillkürlich zu und sagte: »Ja, das bin ich.«

»Und ich bin Faith Powers, Ihre nächste Nachbarin, meine Liebe.«

»Wollen Sie nicht hereinkommen, Mrs. Powers?«, lud Ann ein.

»Nur auf eine Minute. Ich sehe, Sie haben noch massenhaft zu tun.«

Ann hielt ihr die Tür auf, und sie ging hinein und steuerte so zielstrebig auf das Wohnzimmer zu, dass Ann dachte, sie müsse schon oft hier gewesen sein.

»Die liebe Lucile«, bemerkte Faith Powers lächelnd, »hat eine solche Vorliebe für grün, nicht wahr? Sie sagte mir, sie hofft nur, dass Sie und Ihr Mann diese Vorliebe teilen. Gestern, als sie mich anrief. Und sie machte den Vorschlag, dass ich vorbeischauen sollte, um Ihnen guten Tag zu sagen. Und, natürlich Willkommen in North Wellwood.«

Das machte die Sache klarer. Ann, der diese neue, wenn auch zugegebenermaßen sehr prompte Nachbarin gefiel, wunderte sich nur leise, warum Lucile Barnes sich gar so besorgt zeigte. »Das war sehr freundlich von ihr«, sagte sie schließlich. »Und von Ihnen auch. Ich habe mir eben eine Pause und dazu einen Kaffee genehmigt. Darf ich Ihnen auch etwas anbieten?«

»Ja, gerne«, nahm Faith Powers die Einladung an. »Darf ich es mir selbst holen? Ich weiß, was ein Umzug ist. Und außerdem kenne ich mich im Haus aus. Ich...«

Ann schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ah, was bin ich doch für eine lästige alte Person«, sagte Faith sofort. »Es ist natürlich Ihr Haus, Mrs. Martin.«

Ann nahm ihr Glas vom Tisch und legte das Flugblatt, das sie immer noch in der Hand hielt, auf einen anderen. Als sie mit den zwei Gläsern zurückkam, fand sie Mrs. Powers, das Flugblatt in einiger Entfernung von ihren Augen haltend, am Tisch sitzend vor. Sie hielt es ein wenig ungeschickt, weil der Zeigefinger ihrer rechten Hand in einem Verband steckte.

»Danke sehr, meine Liebe«, sagte sie und hob ihr Glas, nachdem Ann ebenfalls Platz genommen hatte. »Willkommen in North Wellwood.« Und dann fügte sie zu Anns leiser Verwirrung hinzu: »Und nieder mit unseren Feinden!«

Sie tranken beide.

»Haben Sie das gelesen?«, fragte Faith und wedelte mit dem Flugblatt.

»Nur überflogen«, antwortete Ann. »Die scheinen mächtig aufgeregt zu sein.«

»Die Beschützer des ländlichen Charakters«, sagte Faith Powers. »Ja. Und prompt, nicht wahr? Ich meine, Sie damit zu überfallen.«

»Das war sicherlich für die Barnes’ bestimmt und nicht für die Sommermieter«, meinte Ann.

Faith Powers schüttelte den Kopf.

»Nein, das ist an Sie gerichtet. Die Barnes’ waren seit Monaten schon nicht mehr hier gewesen, und das weiß hier jedermann. Es ist eine kleine Gemeinde, Mrs. Martin. Neuigkeiten machen schnell die Runde. Sie und Ihr Mann waren am Samstag im Postamt und besprachen Ihre Adressenänderung mit Adam Ferguson. Und - Sie erhielten ein Honorar vom Fernsehsender für Ihre Mitarbeit bei dem Dokumentarbericht über die Südstaaten, nicht wahr? Unter Ihrem Berufsnamen natürlich.«

»Stimmt.«

»Vermutlich finden Sie das alles amüsant, nicht wahr? Kurios sogar, hab’ ich recht?«

»Ein bisschen schon.«

»Ja, für einen, der von draußen kommt, kann es gar nicht anders sein.« Faith nickte. »Ein Sturm im Wasserglas. Aber es ist mitnichten amüsant, Mrs. Martin. Nicht für die im Wasserglas. Nein, kein bisschen. Sehen Sie, diese Beschützer des ländlichen Charakters von North Wellwood sagen keineswegs, was sie wirklich denken. Oder, genauer ausgedrückt, bei weitem nicht alles, was sie denken.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Walter Brinkley, Professor für Englische Literatur an der Dyckman-Universität, jetzt im Ruhestand, strich mit energischen Bleistiftstrichen zwanzig Zeilen einer Manuskriptseite durch, womit der größte Teil einer Seite seiner Abhandlung Bemerkungen zu den Unterschieden der Aussprache des Amerikanischen in den einzelnen Landesteilen der Überarbeitung zum Opfer fiel. Er tat es mit Bedauern, aber in der Einsicht, dass eine persönliche Anekdote nicht unbedingt hierher gehörte. Dass seine Kenntnis der verschiedenen Formen, wie das Wort Wasser in den Vereinigten Staaten ausgesprochen wurde, einmal seinem Freund Merton Heimrich geholfen hatte, einen Mordfall aufzuklären, war in diesen Aufzeichnungen sicher fehl am Platze. Also, fort damit. Um seinen Entschluss zu betonen, zog er dicke, diagonale Linien durch den Absatz. Aber einen Seufzer konnte er doch nicht ganz unterdrücken.

Er hatte nun seit mehreren Wochen jeden Morgen Grund gehabt zu seufzen. Es ist eine traurige Sache, so vieles auszustreichen, was man mit Bedacht und Sorgfalt geschrieben hatte. Aber sein Manuskript war zugegebenermaßen beträchtlich angewachsen im Laufe der Jahre, die Brinkley daran gearbeitet hatte. Gearbeitet - darüber war er sich durchaus klar -, um die Illusion zu nähren, dass er nicht bloß ein alter, ausgedienter Professor war, der seine Pension verzehrte. Gearbeitet auch, um sein Leben auszufüllen, das nach dem Tode seiner Frau ein bisschen leer geworden war. Und gearbeitet obendrein noch auf einem Gebiet, das eigentlich nicht das seine war. Ein Hobby, wenn man es genau nahm. Nein, er war in Wirklichkeit kein waschechter Phonetiker; sein Fachgebiet war Englische Literatur des siebzehnten Jahrhunderts, mit besonderer Betonung auf der Dichtung Miltons.

Selbst wenn er ein qualifizierter Experte auf dem Gebiet der Phonetik wäre, würde man 637 Buchseiten wohl kaum ohne Untertreibung eine Bemerkung« nennen können, gestand er sich ein. Aber Bemerkung durfte auf keinen Fall geändert werden. Unterschiede der Aussprache des Amerikanischen allein ging nicht; es klang viel zu anmaßend, wenn man bedachte, dass er schließlich nur ein gut beschlagener Amateur war!

Wie auch immer, das Manuskript war unzweifelhaft zu lang geraten. Er hatte sich das bereits seit einiger Zeit eingestanden. Und sein künftiger Verleger, der ihn anrief, um zu wissen, wann er damit fertig sein würde, wenn überhaupt jemals, hatte seine steigende Bestürzung noch bekräftigt. Sechshundertsiebenunddreißig Seiten?, hatte der Verleger gestöhnt. Uff, Walter! 

Brinkley legte die Seite mit der gestrichenen Anekdote sorgfältig auf einen bereits beachtlichen Stoß Blätter und begann die nächste Seite zu überprüfen. Seite 403. Hier ging es um die Aussprache des Buchstaben r, wie in drawing. Das konnte stehenbleiben.

Für heute reicht es, dachte Walter Brinkley. Mit siebzig ermüdet Kopfarbeit verhältnismäßig schnell. Von 8.30 Uhr morgens bis - er schaute auf seine Uhr - 12.30 Uhr mittags. Lange genug. Walter Brinkley nahm seine Lesebrille ab und legte sie auf Seite 403. Er stand von seinem Schreibtisch auf und öffnete die Tür seines Arbeitszimmers.

Er kam gerade noch zurecht, um Harry das Eis aus dem Behälter brechen zu hören. Das weiße Haus in der Hayridge Lane war ziemlich hellhörig. »Guten Tag, Harry«, sagte Brinkley die Treppe hinunter, und Harry Washington antwortete: »Guten Tag, Professor«, von unten herauf. Sie waren sich zwar schon zur Frühstückszeit begegnet und hatten sich einen Guten Morgen gewünscht. Aber, was man beim Frühstück sagte, zählte nicht wirklich.

Nun, bei Harrys steifem Guten Tag, Professor fühlte sich Brinkley leicht ungemütlich. Harry war offenbar aus dem Gleichgewicht gebracht. Denn seit einigen Monaten, und nicht nur in Harry Washingtons Augen, standen die Dinge in North Wellwood nicht zum besten. Er und Harry hatten zwar nicht darüber gesprochen, dennoch ließ sich nicht übersehen, dass der Frieden in dem stillen, abgelegenen Städtchen in immer kürzeren Abständen gestört wurde. Wenn sie sich in ihren Unterhaltungen überhaupt mit solchen Themen befassten, hatten sie natürlich über die erschreckenden Anzeichen der Gewalttätigkeit gesprochen, die sich in diesen Jahren überall in Amerika zeigten. Dass einer von ihnen ein Weißer war und der andere einen braunen Teint hatte, hatte bei diesen Gesprächen nie eine Rolle gespielt.

Wirklich, Walter Brinkley fühlte sich ernsthaft bedrückt, während er schnell und elastisch die Treppe hinunterlief. Harry in seiner fleckenlosen, weißen Jacke, wie immer, stand neben der Terrassentür und hielt sie für den Professor auf. In seiner Linken balancierte er ein Tablett, auf dem ein kleiner Krug mit Eis und einer hellen Flüssigkeit und ein dünnstieliges Cocktailglas mit zerdrücktem Eis standen. Das tägliche Ritual blieb unverändert, selbst wenn das Gleichgewicht gestört war. Walter Brinkley trat auf die Terrasse hinaus und ging zu einem Tisch im Schatten. Die Maisonne hatte an diesem Montagmittag schon eine beachtliche Kraft.

Harry leerte das zerdrückte Eis aus dem Cocktailglas auf den Rasen, der immer noch, trotz der Regenfälle im vergangenen Monat, alles an Feuchtigkeit gebrauchen konnte, was nur irgendwie zu haben war. Er goss den Martini in das Glas, drückte die Zitronenschale darüber aus und rieb mit der ausgepressten Schale den Glasrand ein. Dann trug er die Schale zu einem Abfallkorb am anderen Ende der Terrasse, kam zurück und blieb vor Professor Walter Brinkley stehen, um ihn zu fragen, ob Eier in Sahne gebacken und Würstchen genehm wären. Er sagte doch tatsächlich genehm, und Brinkley fühlte sich mehr bedrückt denn je.

Brinkley nippte an seinem Glas. Der Martini war, wie immer, perfekt.

»Also schön, Harry«, sagte Brinkley. »Was ist Jos?«

»Gestern Abend wurde Mr. Peters angeschossen«, antwortete Harry Washington. »Mr. Thomas Peters. Eine Fleischwunde, wie ich hörte. Nichts Ernstes. Ein unglücklicher Zufall, behauptet er. Irgendein Junge mit einem neuen Gewehr beim Scheibenschießen. Muss versehentlich danebengeschossen haben. Es passierte schon einmal, sagte Mr. Peters. Vor etwa einer Woche. Damals wurde er nicht getroffen. Aber er stand neben einem Baum auf seinem Grundstück, und die Kugel ging in den Baum.«

»Das ist übel, Harry. Setzen Sie sich und erzählen Sie mir die ganze Geschichte.«

Daran war nichts Ungewöhnliches, noch wäre es die Einladung zu einem gemeinsamen Drink gewesen. Zwei Männer, die in einem großen Haus allein leben, pflegen, wenn sie sich sympathisch sind, nicht allzu viel Wert auf die strenge Einhaltung von Formalitäten zu legen. Harry saß oft mit seinem Arbeitgeber zusammen und, wenn er eingeladen wurde, trank er auch mit ihm. Bei solchen Gelegenheiten legte er jedoch immer seine Rolle als altes Familien-Faktotum ab.

An diesem Tag jedoch unterließ Brinkley die übliche Einladung zu einem Drink, weil Harry bei der Aufforderung, sich zu setzen, steif wie ein Ladestock vor ihm stehen blieb und den Kopf schüttelte.

»Nein, Doktor«, lehnte Harry ab. »Die Terrasse ist von der Straße her einsehbar.«

Das war doch allerhand! Brinkley, der zwar den Doktortitel besaß, legte durchaus keinen Wert darauf, damit angesprochen zu werden. Und das wusste Harry genau und hatte sich bislang daran gehalten. Es schien, als wollte er eine Wand zwischen ihnen aufrichten.

Und, was die Terrasse betraf, wusste Brinkley sehr genau, dass man sie von der Straße her sehen konnte; doch warum das Harry abhalten sollte, sich zu ihm an den Tisch zu setzen, ging absolut über seine Begriffe.

Nachdem er eine Weile schweigend zu Harry hochgesehen hatte, sagte er: »Na und?«

»Die Dinge sind nicht mehr, wie sie einmal waren«, erklärte Harry einigermaßen unklar. »Eier in Sahne sollten langsam gebacken werden, Doktor.«

Auch das war Brinkley nicht neu. »Dafür ist noch genug Zeit. Vielleicht genehmige ich mir noch einen zweiten Martini, Harry.«

»Ja, Sir.«

»Hat sich Mr. Peters an die Polizei gewandt wegen dieser unglücklichen Schießerei?«

»Nein. Er will keine Anzeige machen. So, wie die Dinge stehen.«

»Verflixt noch mal, Mann«, schimpfte Brinkley. »So setzen Sie sich doch! Wollen Sie, dass ich ein steifes Genick bekomme, wenn ich die ganze Zeit zu Ihnen hinaufschauen muss?«

»Schon gut, schon gut«, murmelte Harry schließlich und zog sich endlich einen Stuhl heran, aber nicht wirklich nahe, und setzte sich auf die Kante, was einigermaßen schwierig war, weil es nur ein kleiner Gartenstuhl war.

»Man könnte wirklich meinen«, fuhr Brinkley fort, »Sie glauben, ich hätte auf Mr. Peters aus dem Hinterhalt geschossen.«

»Nein, nein. Das würde niemand denken. Aber jemand hat es getan. Er weiß es. Wir alle wissen es, Doktor.«

Es gibt eine gewisse Art, das Wort wir zu gebrauchen. Es ist eine Art, die andere unmissverständlich ausschließt. Brinkley hatte es nie zuvor von Harry auf diese Weise gehört, hatte nie zuvor erlebt, dass ein einziges Wort eine Mauer zwischen zwei Männern aufrichten konnte. Das Haus, in dem sie beide wohn- ten - Harry in seinem eigenen Apartment im Erdgeschoss war groß, aber nicht groß genug für eine Mauer.