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Nur sehr unwillig lässt sich der frischgebackene Inspektor Heimrich von der Staatspolizei New York dazu überreden, zusammen mit seiner Frau ein paar Wochen auszuspannen.
Und auf seiner Mittelmeer-Kreuzfahrt kann von Erholung kaum die Rede sein!
Denn ein vermisster Passagier und ein Mord an Bord halten ihn als Fachmann noch mehr in Atem als die übrige Besatzung des Luxusdampfers...
Der Roman Mord auf der Italia von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1971; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte im gleichen Jahr.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
F. R. LOCKRIDGE
Mord auf der Italia
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
MORD AUF DER ITALIA
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Nur sehr unwillig lässt sich der frischgebackene Inspektor Heimrich von der Staatspolizei New York dazu überreden, zusammen mit seiner Frau ein paar Wochen auszuspannen.
Und auf seiner Mittelmeer-Kreuzfahrt kann von Erholung kaum die Rede sein!
Denn ein vermisster Passagier und ein Mord an Bord halten ihn als Fachmann noch mehr in Atem als die übrige Besatzung des Luxusdampfers...
Der Roman Mord auf der Italia von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1971; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte im gleichen Jahr.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Keine einzige Schneeflocke fiel am Morgen dieses dreißigsten März. Heimrich hatte pessimistischerweise angenommen, dass es schneien würde; er hatte sogar mit einem Schneesturm gerechnet. Doch an diesem Morgen um halb acht Uhr rüttelte nur der Nordwestwind an dem flachen Haus auf dem Hügel hoch über dem Hudson. Der Wind jagte Wolken über den Himmel. Hier und dort zeigte sich sogar ein Stück Blau, und die Temperatur lag ein paar Grad über dem Gefrierpunkt. Der Nordwestwind würde dafür Sorge tragen, dass sich das änderte. Nachmittags Temperaturen unter Null, örtlich leichte Schneefälle. Doch da würden sie schon weg sein.
Heimrich verstaute seinen elektrischen Rasierapparat im Etui und das Etui in dem kleinen Koffer. Er schloss den Koffer und sah noch einmal nach, ob er mit einem Etikett versehen war. Dann trug er ihn hinaus ins Wohnzimmer und stellte ihn zu den anderen an der Tür.
Susan saß am Kamin, in dem jedoch kein Feuer brannte. Es war warm im Haus, doch sie trug ihren dicken Wintermantel. Merton Heimrich sagte nichts.
»Ich fühle mich ganz wohl«, sagte Susan. »Wirklich. Ich - ich habe den Mantel nur angezogen, damit ich gleich fertig bin, wenn er kommt.«
Sie sah aber gar nicht wohl aus, dachte Heimrich. Schlank war sie immer gewesen; doch jetzt war sie mager. Ihr Gesicht war schmal und fast ohne Farbe. Heimrich durchquerte das Zimmer, stellte sich vor sie hin und blickte auf sie nieder.
»Es geht mir wirklich wieder ganz gut, Liebster«, versicherte Susan.
Er sah weiterhin auf sie nieder.
Sie lächelte. Es war ihr altes Lächeln. Vor ein paar Wochen noch war ihr Lächeln fremd gewesen, bleich und dünn. Unter dem Lippenstift waren ihre Lippen auch jetzt noch blass.
»Natürlich«, erwiderte Heimrich und ließ sich in dem Sessel ihr gegenüber nieder. Er schenkte sich Kaffee ein und trank. »Natürlich«, wiederholte er. »Jetzt geht es dir wieder ganz gut.« Es sollte überzeugend klingen, doch er wusste, dass es nicht überzeugend genug klang.
Sie streckte die Hand über den Tisch, der zwischen ihnen stand, und legte sie auf die seine.
»Du machst aus der Mücke einen Elefanten, Liebster. Wirklich. Ich fühle mich vollkommen wohl. Es war doch nur eine Grippe. Jeder hat sie diesen Winter gehabt.«
Nicht jeder hatte sie gehabt. Merton Heimrich, Inspektor der Kriminalpolizei des Staates New York, hatte sie nicht gehabt. Doch Michael Faye hatte sie gehabt, wenn auch milde, und Dutzende andere Leute in der Ortschaft Van Brunt, Landkreis Putnam im Staate New York, hatten sie bekommen. Dieser Winter hatte es in sich gehabt. Mitte November schon war der erste Schnee gefallen und war liegen geblieben. Und den ganzen Winter hindurch hatte es nicht aufgehört zu schneien. Zweimal waren die Heimrichs völlig eingeschneit gewesen, einmal drei Tage lang, einmal zwei Tage lang. Merton Heimrich hatte nicht in den Dienst gehen können.
Keiner konnte sich erinnern, je einen solchen Winter erlebt zu haben. Susan Heimrich war in Van Brunt aufgewachsen; sie konnte sich eines so harten Winters nicht entsinnen. Merton Heimrich, der in Van Brunt lebte, seit dort das Feuerwehrhaus abgebrannt war, konnte sich keines Winters erinnern, der so bitter und böse gewesen wäre. Viele Leute hatten sich die Grippe geholt, und einige waren daran gestorben.
Susans Grippe war nicht - auch wenn sie das steif und fest behauptete - die Grippe gewesen, die jeder gehabt hatte. Es hatten sich Komplikationen ergeben, und die Grippe hatte sich schließlich zur Lungenentzündung ausgewachsen. Fast den ganzen Februar hatte Susan im Krankenhaus gelegen. Als sie endlich nach Hause gekommen war, hatte sie sich nur qualvoll langsam erholt. »Mir geht’s heute schon viel besser«, hatte sie immer wieder versichert, wenn sie die Sorge in seinem Gesicht gesehen hatte. Und der Arzt hatte ihr beigepflichtet, hatte stets erklärt, sie erhole sich den Umständen entsprechend.
»Sie hatte einfach einen körperlichen Tiefpunkt erreicht«, hatte Dr. Forbes gesagt, »und keine Widerstandskraft mehr.
Zu viel Arbeit mit ihrem Laden und zu viel Sorge um Sie, mein Lieber. Kein Wunder, da Sie oft ganze Nächte unterwegs sind.«
»Das bringt mein Beruf nun mal mit sich«, hatte Heimrich darauf erwidert. »Ihnen geht’s ja auch nicht viel anders, Doktor. Die Leute werden zu den ungünstigsten Zeiten krank. Und Verbrechen werden auch zu den ungünstigsten Zeiten verübt.«
Dr. Forbes hatte ihm geraten, Susan dazu zu zwingen, dass sie sich mehr Ruhe gönnte. »Am besten wäre es, Sie brächten sie irgendwohin, wo anständiges Wetter ist. Wann es hier endlich einmal wieder erträglich wird, weiß der Himmel.«
»Das wird schwierig sein«, hatte Heimrich erwidert, und Dr. Forbes hatte nur wortlos die Achseln gezuckt.
Doch nachdem er sich den Vorschlag hatte durch den Kopf gehen lassen, erwies es sich als gar nicht so schwierig, ihn in die Tat umzusetzen. Er hatte aus dem vergangenen Jahr noch Urlaub übrig und in seiner Stellung war es ihm gestattet, seinen Urlaub zu nehmen, wann es ihm passte. Das Sparkonto würde zwar erheblich zusammenschrumpfen, doch Susan war so schmal und blass...
Michael, Susans Sohn aus erster Ehe, war auf dem College in Dartmouth gut aufgehoben. Colonel, die recht monströse dänische Dogge, und Mite, der rabenschwarze Kater, konnten im Tierheim untergebracht werden, auch wenn sie damit ganz und gar nicht einverstanden sein würden.
Susans Laden konnte man schließen. Selbst in milderen Wintern war das kleine Geschäft in der Van Brunt Avenue, in dem Susan ihre selbst entworfenen Stoffe verkaufte, nicht überlaufen. Die Leute, die sich Faye-Dessins leisten konnten, flohen im Winter, um die Saison in der Großstadt zu genießen. Trotzdem hatte Susan Heimrich bis zu diesem Jahr den Laden auch im Winter nie geschlossen. Selten von Kunden gestört, pflegte sie im Hinterzimmer zu stehen und in frohen hellen Farben zu schwelgen. Einige ihrer besten Entwürfe waren an grauen Wintertagen entstanden.
Das Reisebüro Snell in Cold Harbor, einige Kilometer nördlich von Van Brunt gelegen, hatte zunächst die Karibische See vorgeschlagen. Herrliches Klima, tropische Landschaft, prachtvoller Strand, unbeschwertes Urlaubsleben. Die Bahamas? Die Virgin Islands? Jamaika vielleicht? Doch vielleicht wollten sie weiter reisen, hatten ein Ziel im Auge, das von den Touristen noch nicht so überlaufen war? Bekannte von Miss Gertrude Snell, Inhaberin des Reisebüros, verbrachten den Winter immer an der Costa del Sol am Mittelmeer in Spanien. So unverdorben wäre es da noch, berichteten sie. Phantastisch, nach allem, was sie gehört hatte.
Miss Snell war selbst noch nicht an der Costa del Sol gewesen, doch sie hatte gehört, es wäre bezaubernd dort. Fremdartig und interessant. Sie konnten vom Kennedy-Flughafen in New York nach Madrid fliegen und von dort aus - »Moment, ich sehe mal nach« - nach Málaga, da einen Wagen mieten und die Küste entlang fahren - »unberührte Fischerdörfer überall« -, bis sie ein Plätzchen fanden, das ihnen zusagte. Es war warm dort, auch um diese Jahreszeit; vielleicht nicht so warm wie beispielsweise in Jamaika, aber doch wesentlich wärmer als hier in New York.
Heimrich war verschiedentlich dienstlich mit dem Flugzeug unterwegs gewesen. Er flog nicht gern. Die langen Wartezeiten an den Flughäfen vor dem Abflug ärgerten ihn, das lange Kreisen der Maschinen über den Flugplätzen vor der Landung hasste er. Es störte ihn, dass Flugplätze gewöhnlich so abgelegen waren, dass man noch stundenlang fahren musste, ehe man sein Ziel erreichte. Und Susan begann schon wie Espenlaub zu zittern, sobald sich die Flugzeugtüren schlossen. Also vielleicht eine Schiffsreise?
Miss Snell meinte, Schiffe fuhren sicherlich auch dorthin. Es klang, fand Heimrich, als hätte sie das erstemal in ihrem Leben von der Existenz von Schiffen gehört. Sie könnte ja nachsehen. Sie würde Inspektor Heimrich dann anrufen.
Sie brauchte nur einen Tag, um festzustellen, dass eines der ersten Transportmittel, das der Mensch erdacht hatte, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, noch Verwendung fand. Es gab tatsächlich ein Schiff. Und es ging nach Málaga. Am dreißigsten März sollte es von New York auslaufen. Die Reise würde auf diese Art natürlich viel länger dauern als mit dem Flugzeug. Das Schilf, die S. S. Italia, würde erst am sechsten April in Málaga ankommen. Wenn Inspektor Heimrich und seine Frau eine so lange Seereise nicht scheuten, würde sie selbstverständlich Plätze für sie buchen. Erster Klasse?
Sie besprachen es. Susan sagte, die Reise wäre gar nicht nötig: es ginge ihr gut, und sie fühle sich mit jedem Tag wohler. Und es würde ja auch eine Menge Geld kosten. Wenn sie noch ein wenig warteten, dann würde der Frühling auch bei ihnen Einzug halten. Und wenn sie erster Klasse fuhren, dann würde Merton wahrscheinlich einen Smoking mitnehmen müssen. Und-
Doch ihre Augen waren strahlender als seit Wochen. In ihrer Stimme schwang etwas von der früheren Lebensfreude mit. Aber eigentlich konnten sie es sich wirklich nicht leisten. Und was sollten sie denn mit den armen Tieren tun? Und...
Kabine 82, Steuerbord, auf der S. S. Italia, die am dreißigsten März um zwölf Uhr mittags aus dem New Yorker Hafen auslief. Für einen Scheck über einen recht beachtlichen Betrag erhielten sie die Schiffskarten und die Etiketten für die Koffer. Ihre Pässe waren in Ordnung. Die Impfbescheinigungen stellte ihnen Dr. Forbes aus.
Und jetzt warteten sie im Wohnzimmer des Hauses auf dem Hügel auf einen Polizeibeamten, der in einem Dienstfahrzeug kommen wollte, um sie dann in ihrem Buick nach New York und an den Hafen zu fahren. Spätestens, um zehn mussten sie an Bord gehen, und jetzt war es - Heimrich blickte auf seine Uhr - jetzt war es zehn Minuten vor acht. Jeden Moment musste der Wagen kommen.
Von draußen hörten sie Motorengeräusch. Ein Wagen quälte sich den vereisten Fahrweg herauf. Heimrich ging zur Tür und öffnete sie.
Der Mann, der aus der dunklen Limousine stieg, die allenfalls an der langen Funkantenne als Polizeifahrzeug zu erkennen war, war nicht der erwartete Wachtmeister. Es war Lieutenant Charles Forniss.
»Morgen«, sagte er und ging Heimrich entgegen.
»Tag, Charley«, begrüßte Heimrich den Mann, der seit Jahren mit ihm zusammenarbeitete und von dem er niemals verlangt hätte, als sein Chauffeur zu fungieren.
Forniss war nicht gekommen, um die Heimrichs abzuholen, weil es seine Pflicht war. Er war gekommen, weil es sein Wunsch war. Heimrich war kaum überrascht, doch sehr erfreut darüber. Nicht für den Vorgesetzten war Forniss früh aufgestanden, sondern für einen Freund.
Die beiden großen, kräftigen Männer luden die Koffer in den Polizeiwagen. Ganz vorschriftsmäßig war das nicht. Der Wagen stand für Privatzwecke nicht zur Verfügung. Doch Vorschriften lassen sich hin und wieder auch etwas großzügiger auslegen. So würde Forniss vom Hafen aus direkt in den Dienst fahren können und nicht erst den Umweg zu Heimrichs Haus machen müssen, um dort den Buick wieder gegen das Polizeifahrzeug einzutauschen.
Im Kofferraum des Wagens war genug Platz für das Gepäck, das recht umfangreich war. Sämtliche Koffer waren mit Etiketten versehen - S. S. Italia, 30. 3., Kabine 8k. Draußen vor der Tür war es glatt. Merton Heimrich legte seiner Frau den Arm um die Taille und geleitete sie zum Wagen. Lächerlich, wie besorgt er ist, dachte Susan. Nicht lächerlich. Rührend.
Der Wagen rutschte nur leicht, als sie den steilen Weg vom Hügel hinunterrollten. Die Landstraße war geräumt, und sie konnten zügig fahren.
Heimrich, der sich mit Susan in den Fond gesetzt hatte, legte den Arm um die Schultern seiner Frau und zog sie an sich. Susan hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Sie lächelte. »Ja, das finde ich auch«, murmelte sie, obwohl er gar nichts gesagt hatte.
Auf der Schnellstraße wurde der Verkehr dichter, und als sie zur George-Washington-Brücke gelangten, ging es nur noch im Schneckentempo vorwärts. Doch sie hatten den morgendlichen Stoßverkehr in ihre Berechnungen miteinbezogen. Nachdem sie den West Side Highway an der 57. Straße verlassen hatten, gerieten sie in ein Getümmel von Lastwagen. Doch auch damit hatten sie gerechnet. Es war kurz nach zehn, als sie beim Pier, wo die S. S. Italia vor Anker lag, anhielten.
Männer in grünen Uniformen, auf denen in roten Lettern Italian Line stand, verluden das Gepäck. Forniss und Heimrich schüttelten einander die Hände. Dann streckte Forniss Susan beide Hände entgegen. »Erholen Sie sich gut«, sagte er. »Pass gut auf sie auf«, fügte er, zu Heimrich gewandt, hinzu.
»Natürlich«, erwiderte Heimrich. »Halt du inzwischen die Festung, Charley.«
Mit Susan folgte er dem Mann, der den Gepäckwagen einen langen Pier entlangschob bis zu einer Gangway, die mit einem Schild Erste Klasse markiert war. Männer in weißen Jacken hoben die Koffer vom Wagen und verschwanden. Heimrich gab dem Gepäckträger ein Trinkgeld und trat zu einem Schalter, um Billets und Pässe einer dunkelhaarigen jungen Frau vorzulegen. Sie schritten die Gangway hinauf. Ein hochgewachsener Mann in weißer Jacke rief: »Bitte, meine Herrschaften, folgen Sie mir.« Er führte sie zu einem Tisch, hinter dem zwei Männer in Uniform saßen.
Der Mann, der vor Heimrich am Tisch stand, war beinahe so groß wie er selbst, doch sehr schlank. Er hatte graues Haar. Sein Nacken war tief gebräunt. Die Frau an seiner Seite trug einen Nerzmantel.
Der Schiffsoffizier am Ende des Tisches hatte einen Plan vor sich liegen, die Sitzordnung für den Speisesaal. Der große, schlanke Mann beugte sich zu ihm nieder.
»Grimes, Roland«, sagte er. »Einen Tisch für zwei, wenn es geht.«
Der Mann sprach mit gedämpfter Stimme und britischem Akzent.
Der andere Offizier, neben jenem mit der Sitzordnung, hatte mehrere mit Maschine beschriebene Blätter vor sich liegen. Mit einem Bleistift fuhr er eine Liste von Namen entlang.
»Kabinen sechzehn und achtzehn, Sir Ronald?«, fragte er.
Der große, grauhaarige Mann nickte nur. Der Offizier mit der Sitzordnung sah sich seinen Plan an. Er war mit kleineren und größeren Quadraten bedeckt. Der Offizier kreuzte eines der kleineren Quadrate mit Bleistift an.
»Tisch zweiundzwanzig, Sir Ronald«, sagte er und kritzelte die Zahl 22 auf einen Zettel, den er dem schlanken, großen Mann reichte.
»Danke«, sagte dieser und machte Heimrich Platz.
Heimrich gab dem Offizier mit der Passagierliste seinen Namen an. Seinen Vornamen nannte er nicht. Er konnte ihn nicht ausstehen.
»Mr. und Mrs. M. L. Heimrich«, sagte er. »Wir haben unser Reisebüro gebeten, uns einen Tisch für zwei Personen zu reservieren.«
Listen wurden durchgesehen. Der Offizier mit der Sitzordnung kreuzte ein weiteres kleines Quadrat an und sagte: »Tisch siebzehn, Inspektor.«
Heimrich hatte Miss Snell ausdrücklich gebeten, seinen Titel nicht zu nennen, die Buchung einfach für Mr. und Mrs. M. L. Heimrich vorzunehmen. Der Titel Inspektor fordert Fragen geradezu heraus. Was inspizieren Sie denn, Inspektor? Und die Antwort: In erster Linie Morde, wird mit Erstaunen quittiert oder, von weniger zurückhaltenden Leuten, mit Fragen nach Einzelheiten.
Miss Snell hatte sich nicht an die Anweisung gehalten. Es war wohl auch im Grunde nicht so wichtig.
Ehe sie zu ihrer Kabine gingen, ließen sie sich Liegestühle auf dem Promenadendeck reservieren. An Steuerbord. Sie würden in südlicher und östlicher Richtung fahren. Die Nachmittagssonne würde den rechten Teil des Schiffes treffen. Es würde guttun, endlich wieder in der Sonne zu sitzen. Susan konnte Sonnenschein und Wärme gebrauchen.
Kabine 82?
»Ponte superiore, Signor, Signora. Oberdeck, meine Herrschaften. Ascensore, Sir.« Eine Handbewegung.
Sie standen am Fuß einer breiten Treppe.
»Ja, nehmen wir lieber...«, begann Heimrich.
»Unsinn«, unterbrach Susan. »Ich bin kein Invalide.«
Er folgte ihr die Treppe hinauf. Es gab zwar ein Geländer, doch Susan berührte es nicht.
Sie durchschritten einen breiten Gang und gelangten mittschiffs zu einer offenen Tür mit der Nummer 82. Durch einen schmaleren Korridor gingen sie an Regalen vorbei, in denen ihre Koffer bereits aufgestapelt waren, kamen an einer geschlossenen Tür vorüber und befanden sich gleich darauf in einem Raum, der größer war, als er auf den Plänen, die sie in Van Brunt studiert hatten, ausgesehen hatte. Das eine Bett befand sich unter zwei geschlossenen Bullaugen; das andere stand gegenüber, an der Innenwand. Zwischen den Betten war eine Kommode eingebaut, und gegenüber standen die Türen zu zwei Wandschränken offen, zwischen denen ein hoher Spiegel angebracht war.
Susan blickte sich in der Kabine um.
»Weißt du«, sagte sie, »jetzt glaube ich es endlich. Geht es dir auch so?«
»Wirklicher kann’s nicht mehr werden«, versetzte Merton Heimrich. »Fühlst du dich wohl, Susan?«
»Ich«, erwiderte Susan, »bin im Urlaub. Ich fühle mich glänzend. Wir waren noch nie zusammen auf einem Schiff, stimmt’s? Wir haben eigentlich noch nie zusammen richtigen Urlaub gemacht.«
Sie setzte sich auf das Bett unter den Bullaugen und blickte zu ihm auf.
»Ich bin ganz aus dem Häuschen«, sagte sie. »Eigentlich müsste das mit Champagner begossen werden.«
»Nur mögen wir beide keinen Champagner«, entgegnete Merton Heimrich.
»Stimmt«, bestätigte Susan. »Und außerdem ist es noch so früh am Morgen. Aber - ist dir nicht auch so zumute? Als ob - oh, als ob alles ganz neu wäre?«
»Doch, mir ist auch so zumute«, antwortete Heimrich und ließ sich neben seiner Frau auf dem Bett nieder. Er musterte sie aufmerksam. Obwohl sie früh aufgestanden waren, um noch die letzten Kleinigkeiten zu packen, obwohl sie eine lange Autofahrt durch verstopfte Straßen hinter sich hatten, sah sie nicht mehr so müde aus. Und sie lächelte wieder so wie früher.
Sie hatten die Kabinentür nicht geschlossen. Während sie Seite an Seite auf dem Bett saßen, konnten sie durch den schmalen, kleinen Vorraum von Kabine 82 hinaus in den Korridor blicken. Menschen eilten auf und ab. Männer in weißen Jacken trugen Gepäck vorbei. In dicke Mäntel vermummte Passagiere gingen vorüber und sagten »Da sind wir« zueinander. Durch die Wand kamen Geräusche aus der Kabine nebenan. Die S. S. Italia füllte sich.
Eine dunkelhaarige junge Frau in adretter weiß-grüner Uniform klopfte an die offene Tür.
»Ja?«, sagte Susan.
Die hübsche junge Frau trat in die Kabine.
»Mein Name ist Angela«, sagte sie. »Ich bin Ihre Stewardess. Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
Sie sprach ein sorgfältiges, korrektes Englisch. Doch sie konnte nichts für sie tun.
»Sie brauchen nur zu läuten«, sagte sie und wies auf den Klingelknopf an der Wand über der Kommode. »Entweder komme ich, öder Guido kommt. Er ist der Steward.«
»Vielen Dank«, sagte Susan und setzte ihre Worte beinahe ebenso sorgfältig wie Angela. »Wir läuten, wenn wir Sie brauchen.«
»Das Mittagessen wird um ein Uhr serviert.«
»Danke«, sagte Susan wieder.
»Sie brauchen nur zu läuten«, wiederholte Angela. »Einer von uns kommt sofort. Entweder Guido oder ich.«
»Danke«, sagte Susan zum drittenmal.
Die Stewardess ging zur Tür. Sie blieb stehen und drehte sich um.
»Ich schließe die Tür, ja? Es ist so laut. Und so ein Durcheinander.«
»Ja bitte«, erwiderte Susan, und Angela ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Sie machte einen netten Eindruck. Darüber waren sie sich einig. Sie fanden, es wäre Zeit, auszupacken. Trotzdem saßen sie eine halbe Stunde lang tatenlos, glücklich und zufrieden, wie man sich fühlt, wenn ein Plan, den man lange mit sich herumgetragen, an dessen Verwirklichung man gezweifelt und auf dessen Zustandekommen man dennoch gehofft hat, endlich Wirklichkeit geworden ist.
»Wir sind tatsächlich hier«, sagte sie. »In einer Stunde geht es los.«
Sie drückte ihre Zigarette aus, und sie begannen auszupacken. Sie hängten Kleider und Anzüge in die Schränke, verstauten Unterwäsche und andere Dinge in der Kommode. Mertons Smoking hatte die Zeit im Koffer ohne ein Fältchen überstanden. Susans Kleid würde sich aushängen. Sie waren gerade fertig, hatten die Koffer wieder in den Regalen verstaut, als das Schiff sachte, beinahe unmerklich erzitterte.
»Die Maschinen laufen«, sagte Heimrich.
»Ja, jetzt fängt unser Urlaub wirklich an. Wollen wir nicht hinausgehen und schauen?«
Sie verließen die Kabine, schlenderten den Korridor entlang und gingen eine Treppe hinauf. Sie gelangten aufs Promenadendeck und sahen durch die großen Glasscheiben hinunter auf den Pier, der langsam nach rückwärts wegzugleiten schien. Die Schiffssirene dröhnte, als der Überseedampfer sich seinen Weg zum North River bahnte. Langsam zogen sie an Manhattan vorüber.
»Die Cocktail-Bar ist hier auf diesem Deck«, bemerkte Heimrich. »Das habe ich auf dem Plan gesehen, den sie uns geschickt haben.«
Die Bar war sehr groß und begann sich zu füllen, als sie eintraten. Sie suchten sich einen Tisch und bestellten Drinks. Als die Cocktails gebracht wurden, stießen sie an.
»Auf eine glückliche Reise«, sagte Susan,
Sie hatten gerade ihre Gläser gelehrt, als geläutet wurde. Heimrich blickte fragend zu einem Steward hin, der in der Nähe stand.
»Ja, Signor. Das Mittagessen wird serviert. Darf ich Ihnen und der Signora noch einen Drink bringen?«
Sie lehnten ab. Heimrich schrieb 82 auf die Rechnung, und dann gingen sie.
Mit einem kleinen Aufzug fuhren sie zwei Decks tiefer und fanden den Speisesaal, der die ganze Breite des Schiffes einnahm. Man führte sie zu Tisch 17, der für zwei Personen gedeckt war. Ein Steward in grüner Jacke legte Speisekarten vor sie hin. Die Karten waren riesig, in Italienisch und in Englisch. Die Auswahl war beinahe überwältigend.
»Mein Name ist Lorenzo«, stellte sich der Steward vor.
Die Heimrichs enttäuschten Lorenzo. Sie begnügten sich mit Omeletts.
»Kein Hors d’oeuvre? Keine Suppe? Aber doch wenigstens etwas zum Nachtisch, Signora? Spumoni vielleicht? Soll ich Ihnen den Weinsteward schicken?«
»Heute Abend vielleicht«, erwiderte Heimrich darauf, und Susan sagte: »Ja, ich glaube, ich versuche Spumoni.«
Die vier Matronen am Nebentisch, die ebenfalls von Lorenzo bedient wurden, machten die Enthaltsamkeit der Heimrichs vollauf wett. Sie begannen mit Krabbencocktail, machten wacker weiter und beschlossen ihr Mahl mit je zwei Desserts.
Nach dem Mittagessen fuhren die Heimrichs mit dem Aufzug zum Promenadendeck hinauf. An Steuerbord schien die Nachmittagssonne durch die Scheiben. Ein Decksteward führte sie zu ihren Liegestühlen. Die Sonne strahlte auf die Stühle. Die S. S. Italia schien still zu liegen im ruhigen Wasser, doch wenn man hinunterblickte, konnte man den weißen Schaum ihrer Bugwelle sehen.
Die Heimrichs saßen in der Sonne, und das Schiff glitt sachte in östlicher Richtung über den Atlantischen Ozean. Kurz nach vier sagte Susan: »Ich gehe hinunter in die Kabine und schlafe.«
Sie kehrten in ihre Kabine zurück. Susan beschlagnahmte das Bett unter den Bullaugen. Sie zog sich aus und schlüpfte hinein. Wunderbar, dachte Heimrich. Sie braucht viel Schlaf. Schlaf kann ihr nur guttun. Am besten lege ich mich auch hin und bin ganz leise, damit ich sie nicht wecke.
Als er selbst erwachte, war es nach sechs, und ihr Bett war leer. Einen Moment lang packte ihn Angst, doch das war absurd. Es kam nur daher, dass er wochenlang in Angst gelebt hatte. Er trat zur Badezimmertür, lauschte und hörte das Rauschen der Dusche.
Er war überrascht über den tiefen Seufzer der Erleichterung, den er ausstieß. Er steckte sich eine Zigarette an und wartete, bis er an der Reihe war.
Es war wenige Minuten nach sieben, als sie die große Cocktail-Bar auf dem Promenadendeck betraten. Sie war voll. Und es war laut. Drei Männer in roten Boleros, der eine mit Gitarre, der zweite mit Geige, der dritte mit schmetterndem Tenor, wanderten von Tisch zu Tisch.
»Oh«, sagte Susan enttäuscht.
»Es gibt bestimmt noch eine andere Bar«, meinte Heimrich, »wo es ruhiger ist. Ganz sicher. Warte einen Moment.«
Der Oberkellner nickte ihnen zu, hob zwei Finger und winkte. Heimrich schüttelte den Kopf.
»Auf dem Bootsdeck«, sagte Heimrich, »ist eine Bar, wenn ich mich recht erinnere. Ganz vorn. Veranda belvedere.«