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Unmittelbar vor der St.-Patricks-Kathedrale war es dann passiert. Ein Windstoß hatte ihm das winzige Persönchen fast in die Arme geweht. Ihr leuchtendblauer Mantel war vor ihr her geflattert. Langes, braunes Haar fiel ihr über das zarte Gesicht, nahm ihr die Sicht. Mit einer feingliedrigen, kleinen Hand versuchte sie vergeblich die ungehörigen Strähnen einzufangen. Sie schien es eilig zu haben. Ihre hohen Absätze klapperten ein schnelles Stakkato über das Pflaster. Es war ihr Schritt, ihr Gang, der die Erinnerung in ihm wachrief - eine verschwommene, höchst unscharfe Erinnerung, noch ehe er ihr halb abgewandtes, unter der wilden Haarmähne verborgenes Gesicht gesehen und erkannt hatte. Er war bereits ein Stück an ihr vorbeigegangen, als ihn die Erkenntnis plötzlich wie ein Blitz durchzuckte.
Der Roman Nacht der Schatten von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1964.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
F. R. LOCKRIDGE
Nacht der Schatten
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
NACHT DER SCHATTEN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Unmittelbar vor der St.-Patricks-Kathedrale war es dann passiert. Ein Windstoß hatte ihm das winzige Persönchen fast in die Arme geweht. Ihr leuchtendblauer Mantel war vor ihr her geflattert. Langes, braunes Haar fiel ihr über das zarte Gesicht, nahm ihr die Sicht. Mit einer feingliedrigen, kleinen Hand versuchte sie vergeblich die ungehörigen Strähnen einzufangen. Sie schien es eilig zu haben. Ihre hohen Absätze klapperten ein schnelles Stakkato über das Pflaster. Es war ihr Schritt, ihr Gang, der die Erinnerung in ihm wachrief - eine verschwommene, höchst unscharfe Erinnerung, noch ehe er ihr halb abgewandtes, unter der wilden Haarmähne verborgenes Gesicht gesehen und erkannt hatte. Er war bereits ein Stück an ihr vorbeigegangen, als ihn die Erkenntnis plötzlich wie ein Blitz durchzuckte.
Der Roman Nacht der Schatten von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1964.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Das Haus, das er suchte, schien ganz am Ende des Blockes zu liegen. Fast schon Ecke Madison Avenue, Aber wenn man einen Parkplatz suchte, konnte man es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Nicht in einer Stadt wie New York, wo die Parkplätze Seltenheitswert besaßen.
Er fuhr ein Stück an der Lücke vorbei, bis er sich auf gleicher Höhe mit dem Steuer eines Kleinwagens befand. Er hoffte, dass der Platz für seinen Sportwagen ausreichen würde. Dann bremste er, schlug scharf ein und setzte zurück. Der rechte Hinterreifen prallte unsanft gegen die Bordschwelle. Er fuhr wieder ein Stück vor, drehte das Steuer bis zum äußersten Radius und glitt hinein - der Reifen hatte zwar unter misstönendem Quietschen den Kantstein gestreift, aber Hauptsache - es war geschafft! Er schaltete den Motor ab und trocknete sich die Stirn.
Jetzt, in der zweiten Septemberhälfte, war es plötzlich noch einmal Sommer geworden. Mit aller Macht sogar. Wie ein wildes Tier hatte die sengende Hitze New York angefallen. Ein schwüler Samstag wie der heutige bedeutete für alle, die arbeiten mussten, eine Qual. Auf der Straße war es kaum auszuhalten. Auch wenn es lange her war, so hätte er sich doch erinnern müssen, wie drückend heiß es hier sein konnte. Es wäre klüger gewesen, das Verdeck seines Kabrioletts nicht zu öffnen. An jeder roten Ampel war er sich auf seinem glühenden Ledersitz vorgekommen wie ein Hähnchen am Spieß. Er hätte den Wagen überhaupt von vornherein in der Garage stehen lassen sollen. Weshalb war er bloß nicht auf die Idee gekommen, ein Taxi zu nehmen, das ihn bequem direkt vor der Haustür absetzte? Dann wäre es ihm erspart geblieben, sich im wahrsten Sinne des Wortes im Schweiße seines Angesichts einen Parkplatz zu erkämpfen. Der obendrein noch weiß Gott wie weit von seinem Ziel entfernt lag.
Er fand sich im Großstadttrubel einfach nicht mehr zurecht, stellte Evans Parten reumütig fest; er benahm sich wie ein Bauernbursche, der zum ersten Mal nach New York kam.
Am Mittwoch war er klüger gewesen. Da war er zu Fuß gegangen. Den Wagen hatte er friedlich in der kühlen, dunklen Garage zurückgelassen. Am Mittwoch... Er war die Fifth Avenue hinuntergegangen. Der Wind hatte ihm den Sand ins Gesicht getrieben. Erstaunlich, was für ein steifer Wind hier in New York blasen konnte! Er hatte sich noch darüber gewundert. Ebenso, wie darüber, dass es im Herbst noch derart sommerlich schwül sein konnte. Ohne bestimmtes Ziel war er müßig dahingeschlendert. So, als wolle er sich die Stadt zurückerobern. Sie hatte ihm gehört - erstarrt hatte sie in der Hitze dagelegen. Sich taumelig vom Hauch des Hurrikans erholend, der sie gestreift hatte und dann an ihr vorbeigebraust war.
Unmittelbar vor der St.-Patricks-Kathedrale war es dann passiert. Ein Windstoß hatte ihm das winzige Persönchen fast in die Arme geweht. Ihr leuchtendblauer Mantel war vor ihr her geflattert. Langes, braunes Haar fiel ihr über das zarte Gesicht, nahm ihr die Sicht. Mit einer feingliedrigen, kleinen Hand versuchte sie vergeblich die ungehörigen Strähnen einzufangen. Sie schien es eilig zu haben. Ihre hohen Absätze klapperten ein schnelles Stakkato über das Pflaster. Es war ihr Schritt, ihr Gang, der die Erinnerung in ihm wachrief - eine verschwommene, höchst unscharfe Erinnerung, noch ehe er ihr halb abgewandtes, unter der wilden Haarmähne verborgenes Gesicht gesehen und erkannt hatte. Er war bereits ein Stück an ihr vorbeigegangen, als ihn die Erkenntnis plötzlich wie ein Blitz durchzuckte.
»Alison!«, rief er aus. »Alison Kent!«
Im ersten Augenblick hatte er das peinliche Gefühl, er müsse sich geirrt haben. Sie reagierte überhaupt nicht. Dabei konnte sie seinen überraschten Ausruf unmöglich überhört haben. Jeder, der unvermutet bei seinem Namen gerufen wird, schaut unwillkürlich auf. Ein reiner Reflex. Sie nicht! Dann aber zögerte sie doch, blieb stehen und wandte sich halb um. Ein Mann rannte in sie hinein, entschuldigte sich mit einem flüchtig gemurmelten »Pardon!« und eilte weiter. Auch er hatte sich umgewandt und sah ihr nun erwartungsvoll entgegen. Sie schüttelte ihr flatterndes Haar zurück, blickte ihn an, und in ihren Augen leuchtete ein jähes Erkennen auf.
»Mein Gott!«, flüsterte sie. »Du!«
»Ja, nach so langer Zeit«, gab er zurück. Und eigentlich hatten seine Worte nicht mehr zu bedeuten als das hastig hingeworfene Pardon des Mannes eben.
»Ich dachte, du wärst begann er, brach aber ab. Denn im gleichen Augenblick sagte Alison Kent: »Aber ich glaubte, du wärst Auch sie beendete ihren Satz nicht. Sie standen, da und sahen sich gegenseitig an. Nach einigen Sekunden brachen sie gleichzeitig in helles Lachen aus. Er schaute von seiner stolzen Höhe von einsvierundneunzig auf. sie herunter, sie von ihren winzigen einsneunundfünfzig zu ihm auf. Leute stießen sie an oder kamen gerade noch mit einer raschen Schulterdrehung an ihnen vorbei. Je nach Naturell murmelten sie eine kurze Entschuldigung oder brummten eine unwirsche Verwünschung vor sich hin. Ein Pärchen, das wie festgewurzelt dastand und sich schweigend anstarrte, bildete mitten im dichtesten New Yorker Mittagsverkehr ein entschiedenes Verkehrshindernis.
Nach einer Weile zuckte ein Lächeln um Alisons Mund. Und Evans erinnerte sich plötzlich wieder an dieses feine Lächeln, das von ihren Augen ausgehend schließlich das ganze Gesicht erhellte. Als ob er es nicht drei Jahre hindurch vollkommen vergessen hätte. Ein niedliches junges Ding, das ihm irgendwann einmal aufgefallen war. Wo war es eigentlich gewesen? Auf irgendeiner Party wahrscheinlich. Bei wem, wollte ihm im Augenblick nicht einfallen. Ein attraktives junges Mädchen, mit dem man zwei-, dreimal tanzen ging. Das man drei-, viermal zum Essen ausführte. Ein junges Mädchen, das noch sehr, sehr jung gewesen war und kurz vor dem Abschlussexamen der Dyckman Universität gestanden hatte.
»Nun?«, meinte sie und wartete lächelnd ab.
»Hübscher denn je«, ging er gehorsam auf die erwartungsvolle Frage in ihren Augen ein.
»Aufmerksam wie immer«, wehrte sie ab, in der Hoffnung, er möchte ihr widersprechen und sein Kompliment möglichst noch einmal wiederholen.
»Im Gegenteil, es war vollkommen ernst gemeint!« Sie strahlte. Ein Windstoß fuhr in ihre langen Locken und pustete sie ihr abermals ins Gesicht. Sie war so zierlich, dass sie fast unter diesem heißen Hauch zu schwanken schien. Er legte seine Hand auf ihre Schulter. Als wolle er sie stützen, vielleicht sogar beschützen. Die flüchtige Berührung rief eine andere Erinnerung in ihm wach. Es war wundervoll gewesen, mit Alison zu tanzen. Trotz ihres Größenunterschiedes. Eigentlich passen wir gar nicht zusammen«, hatte sie einmal geklagt. Wann war das doch gewesen? Ach ja, das letzte Mal, als sie zusammen ausgegangen waren! Am Abend bevor er nach Los Angeles abgeflogen war. Eigenartig, dass die Erinnerung jetzt so lebendig vor ihm stand. Nachdem er es all diese Jahre so vollständig vergessen gehabt hatte. Vergessen - nicht nur diesen letzten Abend - alles -, sogar das Mädchen selbst. Nicht, dass viel zum Erinnern dagewesen wäre! Ein wenig Tanzen, einige wenige Diners. Dass sie Alison Kent hieß und ein verteufelt hübsches Mädchen war, hübsch und unwahrscheinlich jung. Zu jung für einen Mann mit einem - zugegeben nagelneuen - Doktor der Naturwissenschaften der Technischen Hochschule in Boston und einem mit Gleichungen und Formeln vollgestopften Kopf.
»Alison«, meinte er, »hier wehen wir ja fort! Wollen wir nicht irgendwo zusammen zu Mittag essen?«
Seine Einladung überraschte ihn selbst ein wenig. Na, und wenn schon - er hatte ja sowieso nichts vorgehabt.
Sie schüttelte jedoch den Kopf.
Einen gut geschnittenen, kleinen Kopf - musste er denken. Feine, klare Züge. Damals war ihm das gar nicht so aufgefallen. Andererseits konnte sie sich doch nicht so sehr verändert haben? Und trotzdem: irgendetwas an ihr war verändert. Nun gut, sie war noch hübscher geworden, von einer etwas nichtssagenden, hohlen Schönheit. Und hübsch war sie heute auch, nur vielleicht ausgeprägter, charaktervoller in ihren Zügen und dabei noch genauso schlank und grazil. Aber jetzt ging noch etwas anderes von ihr aus, irgendwie Zwingenderes, grübelte Evans Parten. Diesmal würde er sie nicht mehr einfach sang- und klanglos vergessen.
»Warum denn nicht?«, fragte er laut.
Sie fuhr mit beiden Händen in die zerzauste Lockenfülle.
»Kann nicht! Dauerwelle«, erklärte sie und wies auf die riesige Fassade des Saks-Kaufhauses der Fifth Avenue. Dann warf sie einen Blick auf ihre kleine, goldene Armbanduhr. »Ich bin sowieso schon zehn Minuten zu spät! Und ich...«
»Dann morgen, ja?«
Abermals schüttelte sie bedauernd den Kopf. »Nein, morgen geht es leider auch nicht.«
»Dann nimm einmal an, ich wäre die ganze Woche durchgegangen, hätte dir jeden einzelnen Tag vorgeschlagen«, lächelte er. »Bis, sagen wir, nächsten Dienstag. Wann würde es dir einmal passen? Oder soll ich alle Tage für dich reservieren?«
»Samstag«, erwiderte Alison. »Bis dahin werde ich auch wieder in meine Wohnung eingezogen sein. Aber wir können uns ebenso gut irgendwo, in der Stadt treffen. Was schlägst du
»Ich pflege Damen, die ich zum Essen einlade, auch abzuholen«, scherzte er. »Also - wo?«
Sie sah schon wieder auf die Uhr. Wahrscheinlich ganz unbewusst, überlegte Evans.
»Komm, gehen wir«, sagte er und hakte sie unter. So gingen sie die Fifth Avenue entlang und überquerten die 50. Straße, denn das Kaufhaus lag auf der anderen Straßenseite. Auf der Kreuzung wandte Alison den Kopf zu ihm um.
»Weißt du noch?«, fragte sie.
Da hatte sie ihn! Nein, er wusste nicht mehr - hatte nicht die geringste Ahnung, woran er sich erinnern sollte.
»Drei Jahre sind eine lange Zeit!«, meinte er entschuldigend. »Es sind doch jetzt drei Jahre?«,
»Ja. Schon im Juni.«
»Drei Jahre. Du wohntest damals mit deinem Vater im Regis- Hotel. Weil eure Wohnung renoviert wurde.« In seiner Stimme lag fast eine Spur von Triumph. Daran zumindest hatte er sich erinnert!
Sie bogen in die 50. Straße ein und betraten das Saks-Kaufhaus durch einen der Seiteneingänge. Hier war es ruhiger. Es herrschte bedeutend weniger Gedränge.
»Puh!«, seufzte sie und strich sich zum letzten Mal das Haar aus der Stirn. »Ja, unsere Wohnung in der 65. Straße. Für die Dauer meines Frankreichaufenthaltes habe ich sie untervermietet. Morgen übernehme ich sie wieder.« Sie nannte Evans ihre Hausnummer. »Ich weiß selbst nicht so recht, weshalb ich dort wieder einziehe. Papa ist nämlich inzwischen gestorben, weißt du.«
»Nein«, sagte er. »Ich hatte keine Ahnung. Es tut...«
»Ist schon gut«, unterbrach sie ihn. »Ich weiß, dass es dir leid tut.« Aber trotzdem...« Sie brach ab und schüttelte, als wolle sie so ungebetene Gedanken abschütteln, den Kopf. »Aber nun muss ich mich wirklich beeilen«, sagte sie gehetzt. »Anatole wird bereits toben. Ein erstklassiger Friseur, aber leider mit einem südländischen Temperament behaftet. Also, es bleibt dabei: gegen halb eins, ja?«
»Punkt halb eins«, gab er zurück und hielt die Tür für sie auf. Alison ging hinein, blieb aber noch einmal stehen und wandte sich um.
»Acht A«, sagte sie. »Das ist die Nummer meines Appartements. Falls es inzwischen keinen Portier mehr geben sollte. Es hat sich ja inzwischen so viel geändert. Man kann nie wissen.«
»Acht A«, wiederholte er. »Um halb eins.«
Er sah ihr noch einen Augenblick nach, wie sie auf den Fahrstuhl zueilte. Seltsam, dass ihm ihr Gang im Gedächtnis geblieben war, er jedoch das Mädchen selbst und alles andere vollkommen vergessen hatte. Er notierte sich Straße, Haus- und Appartementnummer auf der Rückseite eines gebrauchten Briefumschlages. Und wenn er es sich jetzt überlegte, war es auch eigenartig, dass er dieses zauberhafte Geschöpf hatte vergessen können...
Die Wände der Vorhalle bestanden beiderseits aus Spiegelglas. Flüchtig betrachtete Evans Parten sich, als er vorbeikam. Er straffte seine Schultern und richtete sich auf.
Allmählich sah man ihm den Wissenschaftler schon von weitem an, konstatierte er. Er sah stets aus, als beuge er sich gerade höchst konzentriert über irgendwelche besonders kniffligen Formeln. In der Tat verbrachte er ja auch den größten Teil seines Lebens in strengster Abgeschlossenheit von aller Welt, in seine Diagramme, Zeichnungen und Gleichungen vertieft. Zum ersten Mal empfand er etwas wie Resignation bei diesem Gedanken. Wie häufig überfiel ihn ganz plötzlich eine seiner depressiven Stimmungen, in denen ihn, durch seinen Beruf bedingt, die Vorstellung der berühmten Stunde X niederzog und er sich ihre unübersehbaren - oder allzu übersehbaren, alles Leben vernichtenden Folgen nur allzu deutlich vergegenwärtigte. Er war kein Träumer - aber ein Grübler. Und vielleicht war er, weil er dem Ursprung allen Lebens so nahe war, ein wenig weltfremd geworden.
Als er Samstagmittag aus seinem Kabriolett kletterte, gingen ihm im Zusammenhang mit dem Mädchen wieder allerhand konfuse Gedanken durch den Kopf. Schlagartig empfand er Furcht, er könnte Alison wieder vergessen haben, sie womöglich gar nicht wiedererkennen, wenn er ihr in wenigen Minuten gegenüberstehen würde. Bestimmt sah sie heute ganz anders aus. Sicher hatte sie nicht den gleichen blauen Mantel an. Ihr Haar würde nicht wild flattern. Es würde in einer neuen Dauerwelle gebändigt sein. Es war drückend und vollkommen windstill. Die Luft schien zu stehen.
Vom Bürgersteig aus betrachtete er kritisch sein rechtes Hinterrad. Der Reifen war in einem unnatürlichen Winkel gegen die Bordschwelle gepresst. Nachher, wenn er wieder herauswollte - Ach, zum Teufel mit seinen ewigen Problemen und Prognosen! Vermauert war dem Sterblichen die Zukunft. Im Großen wie im Kleinen. Wenn er das nur endlich einmal lernen würde. Es kam doch alles, wie es kommen musste. Müßig, sich im Vorhinein mit Grübeleien zu belasten. Es galt zu handeln, wenn und wie die jeweilige Situation es erforderte. Seine Formeln konnte er vorausberechnen - das Leben nicht. Das Leben konnte man nur meistern oder... nicht.
An das Nächstliegende musste man denken. Und das Nächstliegende war jetzt: mit einem hübschen jungen Mädchen essen zu gehen.
Er überquerte die Straße. Das Haus lag doch nicht so weit nach der Madison Avenue hinunter, wie er gefürchtet hatte. Es war ein düsteres, plumpes Gebäude aus dunkelroten Ziegeln. Die Halle, mehr ein langer, schmaler Gang, zog sich endlos zwischen dunklen Wänden hin. Zwar waren Lampen an den Wänden angebracht. Aber die schwachen Birnen vermochten die Finsternis nur wenig zu erhellen. Unter jeder zweiten Lampe stand eine kleine Bank, welche die unbehagliche Atmosphäre keineswegs wärmer zu gestalten vermochte. Das wenig vertrauenerweckende Entree lag still und verlassen da. Nach längerem blindem Umhertasten fand Evans Parten die beiden Selbstbedienungsfahrstühle. In ihrer funkelnden Chrompracht stachen sie seltsam unharmonisch und fremdartig aus ihrer Umgebung hervor. Er stieg ein, gleißende Helle umflutete ihn. Nachdem er auf sieben gedrückt hatte, setzte sich der Lift lautlos in Bewegung.
Hier oben war der Flur breiter und mit einem Läufer ausgelegt. Der Teppich war verschlissen und abgetreten.
Eine verstaubte Pracht, die darauf wartete, langsam zu sterben. Einen schlechteren, unpassenderen Ort hätte er sich für Alison kaum denken können. Evans ging den Flur entlang, bis er vor Nummer 8 A stand. Dort klingelte er. Es dauerte einige Zeit, bis er Fußtritte näher kommen hörte. Deutlich war das Klappern der hohen Absätze auf dem unbedeckten Fußboden hinter der Tür vernehmbar. Unbegreiflich wieso, aber er war überzeugt, dass es nicht Alison war, die dort näher kam. Seltsam. Als ob, noch dazu nach so viel Jahren, der Klang von Schritten ein Erkennungszeichen wäre...
Die Tür öffnete sich.
Die Frau war ebenfalls jung und fast so zierlich wie Alison. Aber sie hatte brandrotes Haar - feuerrot, wie man sagen würde. Sie trug einen dünnen Seidenpullover zu einem weißen, plissierten Leinenrock.
»Ja, bitte?«, fragte sie.
Evans wurde von Zweifeln geplagt, noch bevor er zu sprechen begann. Bewohnte Alison ihr Appartement nicht allein? Kaum anzunehmen. War dies ihr Dienstmädchen? Ebenso unwahrscheinlich.
»Ist Miss Kent bitte zu sprechen?«
Die rothaarige Frau sah ihn mit ausdruckslosen Augen an. Evans zwang sich zu einem Lächeln. »Ich wollte nicht zu Ihnen. Hier wohnt doch Miss Kent, nicht wahr?«
Die Frau musterte ihn weiter, ohne ein Wort zu sagen. In ihren Augen lag ein eigenartiger roter Schimmer, als spiegele sich ihr flammendes Haar darin wider.
»Da sind Sie hier verkehrt, mein Herr. Hier wohnt keine Miss Kent«, brach sie schließlich ihr Schweigen.
Er widerstand der Versuchung, den Briefumschlag, auf welchem er sich die Adresse notiert hatte, herauszuholen. Aber auch so sah er das 8 A deutlich vor sich.
»Dann erwarten Sie sie gewiss?«, fragte er.
Untervermietet, hatte Alison gesagt. Ob sie womöglich vergessen hatte, den Mietvertrag rechtzeitig zu kündigen? Das würde es erklären.
»Ich verstehe nicht gab die Frau zurück.
»Mir ist diese Adresse angegeben worden«, erklärte Evans leicht ungeduldig. »Dies ist die Wohnung, welche Miss Kent untervermietet hatte. Vermutlich an Sie. Miss...?«
»Mrs. Clement«, sagte die Frau. »Aber ich begreife nicht, wovon Sie eigentlich sprechen. Der Name Kent ist mir vollkommen unbekannt.«
»Aber
»Sie werden sich in der Adresse geirrt haben«, fuhr sie unbeirrt fort.
»Vollkommen ausgeschlossen. Ich bin mir absolut sicher«, widersprach Evans heftig. »Dies ist genau die Adresse, die sie mir angegeben hat. Sie war länger verreist. Während dieser Zeit hatte sie ihr Appartement untervermietet. Und zwar dieses Appartement.«
Die Frau mit dem feuerroten Helm zuckte gleichgültig die Achseln. »Hier wohnen die Clements, mein Herr. Mr. Anthony Clement und Frau - das bin ich. So leid es mir tut, von einer Miss Kent habe ich in meinem Leben noch nichts gehört.« Sie machte eine kleine Pause. »Was diese Dame Ihnen auch erzählt haben mag«, schloss sie dann und legte eine deutliche Betonung auf das Wort erzählt.
Dann trat sie einen Schritt in das Halbdunkel der Diele zurück. Ihre Hand lag immer noch auf der Klinke,
»Aber begann er.
Sie schüttelte den Kopf. Und zum ersten Mal erschien ein schwaches Lächeln auf ihrem Gesicht. Es war - unverständlicherweise - ein fast mitleidiges, freundschaftliches Lächeln.
»Vermutlich haben Sie die Nummer falsch verstanden«, versuchte sie ihm zu helfen. »Oder aber - nun, vielleicht hat sie Sie in den April geschickt, sich einen dummen Scherz mit Ihnen erlaubt?« Sie sah erwartungsvoll zu ihm auf, was er wohl dazu meinte. Evans blieb jedoch stumm. »Nun werden Sie mich wohl entschuldigen«, fuhr sie fort, trat zurück und machte ihm die Tür vor der Nase zu.
Evans Parten starrte auf die geschlossene Tür mit der 8 A darauf. Sowohl der Buchstabe als auch die Ziffer waren aus Messing und lange nicht mehr geputzt worden. Verwirrt zog er den Briefumschlag, aus der Tasche. Unmissverständlich stand dort: 8 A. Aber - was, zum Teufel, hatte dies ganze Theater zu bedeuten?
Er hörte die Schritte der jungen Frau sich entfernen, dann herrschte Stille.
Einen dummen Scherz mit ihm erlaubt? In den April geschieht? Aber, weshalb denn nur in Gottes Namen? Wenn die werte Miss Alison Kent keine Lust hatte, mit ihm zu essen, brauchte sie doch bloß ihren hübschen kleinen Mund aufzumachen und es zu sagen! Es gab Ausreden genug, die junge Mädchen für solche Fälle auf Lager hatten. Oder aber, sie konnte ihn doch, wenn er ihr wirklich inzwischen so unsympathisch geworden sein sollte, einfach ein für alle Mal zum Teufel schicken. Schließlich und endlich hatte er ihr doch nichts getan! Nichts, zumindest nichts, was einen derartig hässlichen Scherz gerechtfertigt hätte. Nein, das war schon kein Scherz mehr. Und es sollte auch niemals einer sein. Schön - und was dann?
Egal. Jedenfalls hatte es keinen Zweck, hier herumzustehen und die verschlossene Tür anzustarren. Evans ging den Flur entlang. An der nächsten Tür blieb er stehen. 8 B stand in den gleichen, angelaufenen Messingziffern darauf. Kindisch von ihm, sekundenlang zu glauben, er könne sich in der Tür geirrt haben.
Während er im chromfunkelnden Lift wieder nach unten fuhr, überlegte er, ob es wohl möglich war, dass Alison sich selbst geirrt hatte. Aber ihre eigene Wohnungsnummer, sogar die Straße vergessen - nein!
Nein, das war zu unglaubwürdig, entschied er, als die Tür des Lifts lautlos beiseite glitt. Die hübsche Kleine hatte ihm einen außerordentlich hässlichen Streich gespielt, das war alles. Es war vernünftiger, den Tatsachen ins Auge zu sehen, als wie die Katze um den heißen Brei zu schleichen. Aber - verdammt noch mal, weshalb denn bloß das Ganze? Er hatte mit ihr getanzt und sie ein paarmal ausgeführt. Sie hatten sich ein paar schüchterne Küsse gegeben. Küsse, kaum erwähnenswert, so hingehaucht, weil sie noch so jung, fast noch ein Kind gewesen war. Und sie waren doch als Freunde geschieden. Sie hatten sich mitten auf einer belebten Straße, rein durch Zufall, wieder getroffen und waren, zumindest hatte er das angenommen, genauso als Freunde geschieden.
Evans trat auf die heiße Straße hinaus. Die drückende Schwüle benahm ihm sekundenlang den Atem. Er blickte nach rechts und links den Bürgersteig entlang. Nein, sie war nicht da. Nicht, um mit ihm gemeinsam über ihren gelungenen Scherz zu lachen. Nicht, um sich über Evans lustig zu machen, dass er darauf hereingefallen war. Jetzt wurde ihm plötzlich bewusst, wie fest er damit gerechnet hatte, hier draußen von Alison erwartet zu werden.
Er überquerte die Fahrbahn und eilte zu seinem Wagen zurück. Das Auto vor ihm, der hässliche kleine Kombiwagen, war verschwunden. Stattdessen hatte sich ein riesiger Buick in die Lücke gequetscht. Die mächtige hintere Stoßstange der silberblauen Limousine hatte sich bis auf wenige Zentimeter an die vordere seines Sportkabrioletts herangeschoben.
Gottlob, dass hinten wenigstens etwas Platz war. Zwar auch nicht gerade übertrieben viel, aber es konnte ausreichen, um hier herauszukommen. Zu dumm, dass er den rechten Hinterreifen derartig an der Bordsteinkante festgefahren hatte. Sie lachte so gern! Wie würde sie jetzt über ihn und sein unglückliches Gesicht gelacht haben. Zu schade, dass sie nicht da war!
Sekundenlang erwog Evans, den Wagen einfach stehenzulassen, wo er stand, und zu Fuß weiterzugehen. Das Pierre zum Beispiel lag nur ein kleines Stück weiter die Straße hinunter. Im Grill würde es wohltuend dämmrig und kühl sein. Und die eisgekühlten Martinis waren dort ausgezeichnet. Eine verlockende Vorstellung! Aber nein! Den Spaß wollte er ihr nicht gönnen. Er beschloss, so schnell wie möglich spurlos vom Schauplatz seiner Niederlage zu verschwinden.
Die Ledersitze waren glühend heiß. Er spürte es durch den dünnen Hosenstoff hindurch. Es war noch mühsamer, noch qualvoller, als Evans es sich vorgestellt hatte. Einschlagen, zehn Zentimeter vor. Gegeneinschlagen, zehn zurück. Wieder einschlagen, diesmal zwanzig vor. Zurück, einschlagen. Vor... es war kaum ein Fortschritt zu bemerken. Der Schweiß lief ihm von der Stirn. Sein Hemd klebte ihm am Rücken. Zu der Hitze und Anstrengung kam der unterdrückte Zorn. Vor, fünfundzwanzig Zentimeter zurück. Einschlagen, vor... Endlich riss ihm der Geduldsfaden. Er schimpfte unterdrückt vor sich hin und beschloss, auf den Reifen zu pfeifen. Ergrimmt schaltete er den Rückwärtsgang ein und gab Vollgas. Sollten der Motor und der Reifen den Kampf allein ausfechten. Es quietschte jämmerlich, fast glich es einem Aufschrei! Er hatte keine Zeit, sich hinüberzulehnen und aus dem Fenster zu sehen, meinte aber den Geruch von verbranntem Gummi geradezu zu riechen. - Der Motor hatte gesiegt. Mit lautem Krachen prallte das Kabriolett gegen die Stoßstange des hinteren Wagens.
So scharf er konnte, schlug er nach links ein und schoss mit einem Riesensatz nach vorn, stieß scheppernd gegen die Stoßstange des Buicks vor ihm. Abermals das gleiche Spiel: einschlagen, Gas. Gegeneinschlagen, vor. Einschlagen, zurück. Der Reifen rieb abermals am Bürgersteig entlang. Evans arbeitete fieberhaft. Das Haar fiel ihm in die schweißüberströmte Stirn. Wütend, rücksichtslos gegen die Wagen vor und hinter sich, gegen seinen eigenen, gegen alle Wagen der Welt, kämpfte er sich frei. Es war, als ob er so ein Ventil für seine aufgestaute Wut auf das Mädchen gefunden hätte.
Noch zweimal vor und zurück - dann musste er es geschafft haben. Evans holte tief Atem und fächelte sich mit der Hand Luft zu. Mit bebenden Fingern zündete er sich eine Zigarette an. Als er genussvoll den ersten Zug tief inhalierte, glitt sein Blick zufällig auf die andere Straßenseite hinüber. Finster starrte er den unfreundlichen, düsteren Eingang an,
In diesem Augenblick trat Alison Kent aus dem schummrigen Halbdunkel des Entrees hinaus in die strahlende Helle. Einen Moment lang schloss sie geblendet die Augen, Sie trug das gleiche Kostüm wie am Mittwoch. Nur, dass es Mittwoch bedeutend kühler gewesen war. Für einen glühend heißen Tag wie heute war es doch viel zu warm, registrierte Evans automatisch.
Sie war nicht allein. Neben ihr stand ein Mann mit unbedecktem Kopf, sein glänzendes schwarzes Haar schimmerte in der Sonne. Er stand sehr, sehr dicht neben Alison. Als sie dann die Straße in Richtung auf die nächste Ecke hinuntergingen, presste er seinen rechten Arm geradezu auffällig gegen ihren linken. An der Kreuzung blieben sie stehen. Der Mann sah sich suchend um - offenbar wartete er auf ein freies Taxi.
Die Wut schlug wie eine rote Flamme über Evans Parten zusammen. Er schleuderte die halbaufgerauchte Zigarette aus dem Fenster und riss wild am Steuer. Abermals donnerte er gegen die Stoßstange des Buick vor ihm. Abermals setzte er zurück, und der Reifen quietschte durchdringend. Fieberhaft drehte er das Steuer. Ergrimmt trat er das Gaspedal durch. Der Wagen machte einen wilden Satz, und mit misstönendem Knirschen schob er sich am Buick vorbei.
Als er auf einer Höhe mit Alison und ihrem Begleiter war, drückte er den Hupring mit aller Kraft hinunter. Na, sollte sie doch lachen! Weshalb lachte sie ihn denn nicht aus? In dem offenen Wagen war er doch, weiß Gott, weithin sichtbar!
Beide wandten unwillkürlich den Kopf nach dem gellenden Hupen. Die Augen des Mädchens weiteten sich. Fassungslos starrten sie ihn an. Aber eigenartigerweise lag auch nicht die Andeutung eines Lachens in ihrem schmalen Gesicht. Ihr Mund öffnete sich leicht, als ob sie ihn anrufen wolle, dann presste sie die Lippen unvermittelt wieder fest zusammen. Schweigend, ohne einen Ton hervorzubringen, stand sie da.
Der schwarzhaarige Mann an ihrer Seite nahm die Hand nicht aus der Tasche.
Dann war Evans auch schon vorbei. Gerade, als er die Kreuzung erreichte, wechselte das Licht. Die Ampel wurde rot. Hier war er vollkommen ungeschützt. Der Schatten des Hauses auf der anderen Straßenseite reichte, als ob er ihn verspotten wollte, bis auf einen Viertelmeter an ihn heran. Die Sonne stach auf seinen ungeschützten Kopf herunter. Es war ein Wahnsinn gewesen, das Verdeck herunterzuklappen. Aber er hatte dem Mädchen damit eine Freude machen, ihr mit seinem schmucken, kleinen Sportwagen imponieren wollen. Jetzt verwünschte er diesen kindischen Ehrgeiz. Aber mitten auf der Fahrbahn, knapp einen Meter vor der Kreuzung, war kaum der rechte Ort, das Verdeck wieder zu schließen. Machtlos saß er da und ließ sich von der unbarmherzigen, erstaunlich intensiven Septembersonne rösten.
Im Rückspiegel bemerkte er ein näherkommendes Taxi. Unmittelbar hinter ihm hielt es ebenfalls an. Da - im Fond des Taxis saßen die beiden! Dieser schwarzhaarige Kerl und Alison. Er konnte sie im Spiegel ganz deutlich erkennen. Seltsam, dass sie ihr Kostüm anhatte. Er war sich ganz sicher, dass es das gleiche von Mittwoch war, und das bei dieser Hitze! Am Mittwoch, gut, da war es immerhin noch verständlich gewesen. Auch gestern hätte es noch seine Berechtigung gehabt. Aber heute?
Sie saßen sehr ruhig, sehr dicht nebeneinander. Vorhin, auf der Straße, hatte der Mann nicht viel größer als das Mädchen ausgesehen. Jetzt, im Sitzen, überragte er sie beträchtlich. Also musste er einen langen Oberkörper und kurze Beine haben - überlegte sich Evans. Nun, Alison Kent schien eben Männer mit kurzen Beinen zu schätzen. Über Geschmack ließ sich bekanntlicherweise streiten. Deshalb hatte sie dem Kerl wahrscheinlich auch den Vorzug gegeben. Er war ihr eben einfach zu groß. Hatte ihr zu sehnige, lange Beine.
Sie sah starr vor sich hin. Ohne den Kopf zu bewegen. Kein Muskel zuckte in ihrem Gesicht. Fast hätte man glauben können, sie bemühe sich, an dem Rücken des Fahrers vorbei, mitten in seinen, Evans, Rückspiegel hineinzublicken. Aber das war natürlich pure Einbildung. Trotzdem, sie starrte unverändert in das kleine rechteckige Glas, mehr noch, direkt in seine Augen. Also wollte sie sich auch noch über ihn lustig machen, diese kleine Hexe! Na, sollte sie! Es würde der letzte üble Scherz sein, den sie sich mit ihm erlaubte.
Jetzt wandte sich der dunkelhaarige Mann zu ihr um. Er saß überhaupt halb Alison zugekehrt. Aber sie schien ihm nicht die geringste Beachtung zu schenken. Die regungslose Starre, mit der sie ihn übersah, hatte beinah etwas Unnatürliches. Auf diese Entfernung vermochte Evans ihren Gesichtsausdruck nicht zu enträtseln. Aber eigenartigerweise schienen weder ihre Züge noch die Augen
Belustigung oder Schadenfreude auszudrücken. Soweit er das von hier aus beurteilen konnte.
Die Ampel wurde grün. Das Taxi hinter ihm hupte ungeduldig.
Bevor er Gas gab, warf Evans noch einen letzten Blick in den Rückspiegel. Es kam ihm fast so vor, als recke Alison ihren Kopf hoch auf und als drücke sie die Schulter zurück, wie jemand, der im Begriff steht, etwas zu rufen. Bevor er wieder auf die Straße sehen musste, hatte er noch den flüchtigen Eindruck, als öffneten sich die Lippen des Mannes neben ihr einen kurzen Augenblick; gerade lange genug, um ihr ein scharfes, knappes Kommando zuzuzischen.
Dann fuhr Evans endgültig an. Er hatte die Madison Avenue überquert, ohne es recht zu merken. Ein kurzer Blick in den Spiegel sagte ihm, dass das Taxi mit dem Mahn und dem Mädchen in die Madison Avenue eingebogen war. Eben bog ein neues Taxi direkt hinter ihm in seine Straße ein. Es hupte mit der typischen Ungeduld der Taxifahrer, wenn ihr Wagen besetzt war. Evans zögerte nicht länger. Er gab wieder Gas und brauste davon.
Trotzdem wollte ihm Alisons Gesichtsausdruck nicht aus dem Kopf gehen. Er war irgendwie eigenartig gewesen. Oder bildete er sich das nur ein? In einem Rückspiegel konnte man nicht allzu viel erkennen. Nicht genau genug zumindest, um mit Gewissheit sagen zu können, ob ein Mädchen, das sich gerade einen üblen Scherz mit einem erlaubt hatte, nun erschreckt und furchtsam aussah statt belustigt, wie zu erwarten gewesen wäre. Sie musste in der Wohnung gewesen sein und jedes Wort seiner Unterhaltung mit der rothaarigen Frau gehört haben. Wahrscheinlich hatte sie sich königlich amüsiert dabei. Seine Verblüffung, seine Zweifel mussten ihr einen Heidenspaß bereitet haben. Aber, zum Teufel noch mal, es war doch einfach nicht zu verstehen, was das Ganze eigentlich sollte?
Da er nun schon mal in diese Richtung fuhr, konnte er auch geradesogut im Algonquin zu Mittag essen. Er hatte irgendwo gehört, das Algonquin wäre eins der wenigen Lokale in New York, das noch an seiner alten Tradition festhielt. Es würde angenehm kühl sein, ruhig und bequem. Das Essen ausgezeichnet und die Drinks erstklassig. Vielleicht erinnerte sich der Oberkellner sogar noch an ihn. Wie hatte der Mann doch noch geheißen...? Ach, ja - Raul!
Gerade, als Evans die Fifth Avenue erreichte, wechselte das Licht wieder auf Rot. Heute schien sich aber auch alles gegen ihn verschworen zu haben. Diesmal reichte der Schatten der Häuserfront auf der anderen Straßenseite schon bedeutend weiter. Er berührte gerade noch Evans’ linke Hand, die am Steuer lag. Als ob sogar die Sonne und der Schatten ihn zum Narren halten wollten.
Zu eigenartig, dass sie bei dieser Hitze ihr dickes Wollkostüm angehabt hatte. Er selbst war nach dem Frühstück noch einmal ins Hotel gefahren, um sich einen leichteren Anzug anzuziehen. Schließlich war Alison in New York zu Hause! Und sie konnte doch nicht nur ein einziges Kostüm besitzen! Nein, das war völlig ausgeschlossen! Wenn ihr Vater zwar auch nicht gerade ein Vanderbilt gewesen war, so doch zumindest außerordentlich wohlhabend. Ein Kleid mehr oder weniger konnte für ein Mädchen wie Alison doch gar keine Rolle spielen.
Ein Taxi überholte die Wagenreihe hinter ihm und hielt direkt neben ihm an. Der Fahrer hatte beide Vorderfenster heruntergedreht.
»Ach, Verzeihung!«, beugte Evans sich hinüber. »Können Sie mir vielleicht sagen, wie ich hier zum nächsten Polizeirevier komme?«
Wer einmal ein Sonderling war, der blieb auch einer, in allen Lebenslagen, musste Evans denken. Er sah sich nicht gerade in einem allzu schmeichelhaften, rosigen Licht. Darüber konnte kein Zweifel bestehen.
Er suchte und fand - diesmal auf Anhieb - einen Parkplatz. Entschlossen manövrierte er sein Kabriolett in die Lücke. Er sah sich um und hoffte, dass Parken hier erlaubt sein würde. Dann stieg er aus. Drüben auf der anderen Straßenseite befand sich das Polizeirevier der 67. Straße. Ohne noch länger mit fruchtlosen Grübeleien kostbare Zeit zu vertun, eilte er hinüber und trat ein. Na, die Polizisten würden sich ganz schön über ihn lustig machen - davon war er überzeugt!
Dem diensthabenden Sergeant sah man den Polizisten auf hundert Schritt Entfernung an. Ein wahrer Riese mit grob geschnittenem, rotem Gesicht. Trotz seiner Größe musste Evans zu ihm hinter seiner schützenden Holzbarriere aufsehen und bekam direkt einen steifen Nacken. Die Züge des Beamten verrieten nichts von seinen Empfindungen, sie drückten weder Zustimmung noch Ablehnung aus. Er benahm sich wie ein Mensch, der von seiner stattlichen Höhe schon auf Legionen hilfeheischender Jammergestalten heruntergeblickt hat. Im Laufe der Jahre schien sein Interesse an deren Nöten und Kümmernissen ihn ermüdet und abgestumpft zu haben.
»Ja, Sir?«, fragte der Beamte trotzdem höflich. In dem milden Ton, in dem man mit Kindern und Geisteskranken zu sprechen pflegt. »Kann ich etwas für Sie tun?«
Evans war schon dort draußen, in seinem Auto, klar gewesen, dass es ziemlich kompliziert werden würde. Aber jetzt, hier drinnen in der Wachstube, fühlte er sich ausgesprochen unglücklich in seiner Haut. Was konnte er denn schon Vorbringen? Wie sollte er in klare Worte fassen, was ihm selbst nur als ein ungewisser Verdacht vorschwebte? Unsicher, wie er war, musste er mit seiner gestammelten Schilderung auf diesen sturmerprobten Felsen da vor ihm doch einen verheerenden Eindruck machen!
»Es betrifft ein junges Mädchen«, begann er und räusperte sich. »Besser gesagt, eine... eine junge Dame«, fügte er hastig hinzu. »Ich Damit war er am Ende seines Lateins angelangt. Es war verteufelt schwierig, in dieses höflich abwartende, völlig ausdruckslose Gesicht da über ihm hineinzusprechen. Zu sprechen, ohne eigentlich zu wissen, womit man beginnen sollte...«
»Ich fürchte, dass ihr etwas zugestoßen ist«, fuhr er schließlich lahm fort. »Wir waren verabredet. Ich hatte sie zum Essen eingeladen. Und dann Abermals brach er ab, weil er nicht mehr weiter wusste.
Ja - und dann? Wie sollte er es in Worte fassen. Wie es diesem Monument an Wissen, Kraft und Sicherheit verständlich machen? Sollte er sagen: Das letzte Mal, als ich sie sah, saß sie mit einem anderen, einem schwarzhaarigen Mann, in einem Taxi? Aber ich bilde mir ein, ihr Gesicht wäre ganz versteinert gewesen vor Angst? Mit Bestimmtheit kann ich jedoch nicht einmal das behaupten, denn ich habe sie ja nur im Rückspiegel meines Wagens sehen können?« - Evans vermeinte direkt die stechende Hitze zu spüren, das Flimmern zu sehen, das über dem Asphalt der Straße gehangen hatte.
Der Sergeant wartete höflich, schweigend.
»Und sie ist nicht gekommen?«, fragte er nach einer Weile gelassen. »Das kommt häufiger vor, mein Herr. Da sind Sie nicht der einzige, dem das passiert.«
Er war ganz sachlich. Kaum zu fassen! Er lachte ihn nicht einmal aus. Ja, nicht einmal innerlich schien er sich über Evans’ besorgtes Gestammel lustig zu machen. An ihm waren viele Menschen vorbeigezogen. Männer, Frauen und junge Mädchen. Er hatte sich bestimmt schon öfter verzweifelte Klagen versetzter Liebhaber anhören müssen. Er kannte das. Er blieb ganz ruhig. Er meinte lediglich, so etwas käme häufiger vor. Passiere auch anderen. - Das war alles.
»Es wäre ja möglich«, meinte der Beamte geduldig in Evans’ Gedanken hinein, »dass die junge Dame es sich anders überlegt hat. Auch das soll häufiger vorkommen.«
»Ich sollte sie doch bei ihr zu Hause abholen«, sagte Evans, als erkläre das alles. Er kam sich schrecklich kindisch vor. Aber er musste weitersprechen. Da war doch noch so vieles zu sagen. Außerdem kam er sich schon seit mindestens einer halben Stunde entsetzlich kindisch vor. »Ich war ganz pünktlich. Und sie - eine andere Frau machte mir die Tür auf und sagte, sie hätte den Namen des Mädchens noch nie zuvor gehört. Hier wohne sie jedenfalls nicht. Und dabei war es genau die Adresse, die sie mir gegeben hatte. Darüber konnte kein Zweifel bestehen. Ich hatte sie mir ja notiert. Ich hatte
Nach einigem Suchen fand er den zerknitterten Umschlag in der Tasche seines Jacketts. Triumphierend zog er ihn heraus. Wenigstens etwas Handgreifliches. Etwas, was er vorzeigen konnte!
»Sehen Sie!«, seufzte er und reichte dem Sergeant den vollgekritzelten Umschlag.