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Sie kämpfte gegen das Wachwerden, kämpfte, um die mollige Wärme des Schlafs wiederzugewinnen. Noch halb im Dämmerzustand zog sie die Decke noch fester unter ihr Kinn; sie lag auf der Seite, wie ein Igel zusammengerollt, und fing an, von Eis zu träumen, das langsam und beständig an ihrem Körper hochkroch. Sie wachte zitternd vor Kälte auf. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war. Dann fiel es ihr ein: bei den Halleys, in einem Gastzimmer. Sie musste unruhig geschlafen haben, schien es ihr, aber erst seit kurzer Zeit. Sie musste die Bettdecke heruntergeworfen haben. Sie musste...
Der Roman Party am Silvesterabend von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1962.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
F. R. LOCKRIDGE
Party am Silvesterabend
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
PARTY AM SILVESTERABEND
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Sie kämpfte gegen das Wachwerden, kämpfte, um die mollige Wärme des Schlafs wiederzugewinnen. Noch halb im Dämmerzustand zog sie die Decke noch fester unter ihr Kinn; sie lag auf der Seite, wie ein Igel zusammengerollt, und fing an, von Eis zu träumen, das langsam und beständig an ihrem Körper hochkroch. Sie wachte zitternd vor Kälte auf. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war. Dann fiel es ihr ein: bei den Halleys, in einem Gastzimmer. Sie musste unruhig geschlafen haben, schien es ihr, aber erst seit kurzer Zeit. Sie musste die Bettdecke heruntergeworfen haben. Sie musste...
Der Roman Party am Silvesterabend von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1962.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Auf seine Frage warum, antwortete Margaret Halley, weil es ihnen beiden guttun würde. Sie sagte das mit Entschiedenheit, wie fast alles, was sie sagte. Sie müssten einmal hier heraus, meinte sie, in eine andere Umgebung, den eintönigen Alltagstrott unterbrechen, etwas tun, was sie noch nie getan hätten.
»So ist es nun auch wieder nicht«, erwiderte ihr Mann. »Als ich noch jünger war... Aber heute?«
Er bekam die Antwort, dass man meinen könne, er sei ein alter Mann.
»Und das«, sagte Margaret, »ist nicht gut für dich, John. Alles andere als gut.«
»Aber mitten im Winter aufs Land zu fahren und dort eine Party zu geben – eine Silvesterparty das soll gut für mich sein. Warum, meine Liebe?«
»Weil es dir wieder etwas Auftrieb geben wird«, antwortete Margaret. »Es ist ein Teil der Therapie, den Patienten...«
»Schon wieder«, unterbrach John seine Frau. »Es fehlt mir nicht das geringste, meine Liebe. Natürlich bei allem Respekt, den ich als Laie für dich als Fachmann habe.«
Sie machte eine abweisende Handbewegung, als seien alle weiteren Worte unnötig. Natürlich, meinte sie, fehlte ihm nichts. Jedoch, und das habe sie ihm schon oft genug gesagt, sei das eine Behauptung, die man nie mit Sicherheit aufstellen könne. Über niemanden.
»Um es ganz einfach auszudrücken«, sagte Margaret, »ich möchte gern für ein paar Tage weg von hier. Wenn du einmal darüber nachdenkst, wirst du einsehen müssen, dass eine eintönig-regelmäßige Diät von Sie beendete den Satz nur mit einer Handbewegung. Sie hatte sehr hübsche Hände, dachte John. Noch. Sie würde das noch nicht gern hören und, um ehrlich zu sein, war es auch fast ebenso ungerechtfertigt wie ungalant. Sie war Mitte Vierzig und auf ihre Weise recht hübsch. Es war unnötig zu sagen, dass sie noch recht hübsch war. Vielleicht in fünfzehn Jahren. Falls sie noch so lange lebte.
Sie saßen vor einem Kamin, in dem ein helles Feuer flackerte – ein Feuer, das nicht angezündet worden war, um zu wärmen, sondern der Gemütlichkeit wegen. Ihr Lächeln war ebenso flüchtig wie das Züngeln der Flammen. »Es wird nicht anstrengend sein«, sagte sie. »Wir können die Speeds mitnehmen und sie ein oder zwei Tage vor uns hinausschicken. Sie werden sich um alles kümmern.«
»Anstrengend?«, fragte er. »Ich hatte es nicht als Anstrengung betrachtet. Wie kommst du überhaupt darauf?«
»Nun, weil eben auf dem Lande manches primitiver ist. Aber nicht einmal davon wirst du etwas merken. Und – es wird dir genauso guttun wie mir.«
Sie schwieg, um sich eine Zigarette anzuzünden. In aller Ruhe steckte sie die Zigarette in eine lange Spitze und knipste das Tischfeuerzeug an. Sie zog den Rauch tief in ihre Lungen. Dann hielt sie das Päckchen John Halley hin. Er schüttelte den Kopf.
»Es ist ein Fehler«, sagte sie schließlich, »sich so völlig mit dem Alltäglichen abzufinden. Das Alltägliche als unvermeidlich anzuerkennen. Es kann zu einer Art Zuflucht werden. Eine oberflächliche Friedlichkeit, aber letztlich eine gewisse Trägheit. Jedoch im Unterbewusstsein entsteht daraus...« Sie brach ab und zeigte mit ihrer langen Zigarettenspitze auf ihren Mann. »Wir sind nicht alt«, fuhr sie fort. »Ganz und gar nicht. Es ist nicht gesund, zu denken, dass wir alt wären.«
»Das habe ich auch nicht gedacht«, antwortete John. »Noch, dass wir – auf alle Fälle ich – ausgesprochen jung wären. Über Fünfzig.«
Sein Gesicht war hager und wirkte ziemlich lang, da seine vorderen Haare ausgegangen waren und seine Stirn noch höher aussah, als sie es sowieso schon war. Als er noch jünger war, hatte ihn das ziemlich gestört. Sein Gesicht und seine langen, schmalen Hände waren tief gebräunt.
»Um es einfach zu sagen«, meinte Margaret Halley, »mit den Worten eines Laien: Du bist schwerfällig geworden und brütest nur noch vor dich hin. Das ist der Hauptgrund.«
»Wofür? Dass ich von deiner Silvesterparty nicht begeistert bin?«
»Ja. Hier drückt es sich besonders aus. In der Art, was für dich diese Party darstellt.«
»Was sie für mich darstellt«, erwiderte er mit einem Kopfnicken, »ist eine Autofahrt von ungefähr hundert Kilometern, ein Haus, das monatelang unbewohnt war, Möbel, die in Ordnung gebracht werden müssen, eine Wasserpumpe, die angeworfen werden muss, und so weiter.«
»Eben, John«, sagte Margaret sehr ruhig. »Darauf wollte ich sowieso zu sprechen kommen. Du suchst geradezu nach Hindernissen, bis du so viele zusammen hast, dass sie dir den Weg versperren. Ich sagte dir doch, dass die Speeds für alles sorgen werden. Dass sie ein paar Tage vor uns hinfahren werden. Dass sie alles beschaffen werden, was wir brauchen. Falls der See zugefroren ist, können wir Schlittschuh laufen. Wir können draußen ein großes Silvesterfeuer anzünden und...«
»Ich nehme an, es ist schon alles arrangiert, was? Du hast den Speeds bereits geschrieben oder sie angerufen?«
Sie lächelte.
»Also ist alles weniger kompliziert, wenn wir fahren, als wenn wir es sein lassen?«
Immer noch lächelnd, nickte sie. Sie hatte einen sehr guten Kopf, ein auffallend feingeschnittenes, kluges Gesicht. Vor allem klug, dachte John. Klugheit – das hervorstechendste Merkmal von Margaret Halley. »Der See friert fast nie vor Mitte Januar zu«, sagte er. »Nicht so fest, dass Júan Schlittschuh laufen kann. Soweit ich mich erinnern kann -«
»Wühle nicht in Erinnerungen«, unterbrach sie ihn. »Es ist nicht gut für dich, in der Vergangenheit herumzustöbern.«
»Aber dort setzt du doch bei deinen Patienten an, nicht wahr?«, sagte er. »Es ist ein Teil der – Therapie, oder?«
»Unter Anleitung – ja. Wenn man einen bestimmten Zweck verfolgt. Unter Kontrolle, um die Ursache zu finden, nicht ein Versteck. Aber das weißt du ebenso gut wie ich. Und wie steht’s nun mit der Party?«
»Die Sache scheint beschlossen, oder nicht?«, sagte Halley. Er schaute seine Frau forschend an, als suche er in ihrem Gesicht etwas zu lesen, was hinter ihren Worten lag. Er lächelte schwach. »Warum behandelst du mich so oft wie einen deiner Patienten, Margaret?«, fragte er. Er sprach ohne Eindringlichkeit, als ob die Angelegenheit von geringer Bedeutung wäre.
Sie blickte ihn ruhig an. Ihre Augen waren fast schwarz.
»Nun?«, sagte John. »Was ist mit mir los?«
»Es wird alles wieder in Ordnung kommen«, antwortete Margaret.
»Aber jetzt ist das nicht der Fall?«
»Doch. Wir werden also am dreißigsten hinausfahren? Das ist Donnerstag. Und bis Montag bleiben?«
»Ganz, wie du es geplant hast.«
»Wir laden demnach unsere Gäste für Freitagnachmittag ein. Dann können sie vor Einbruch der Dunkelheit da sein. Für die, die mit dem Zug kommen, käme dann der Drei-Uhr-Vierzig-Triebwagen in Frage. Speed kann sie mit dem Wagen an der Bahn abholen.«
»Ganz, wie du wünschst. Aber – es wird vielleicht nicht ganz leicht sein, deine Gäste für die Party zu begeistern. Vielleicht fehlt ihnen der Auftrieb. Wie mir.«
Sie schüttelte den Kopf und meinte, dass sie das nicht glaube.
»Wahrscheinlich hast du recht«, antwortete er. »Tom Kemper, nehme ich an? Aber klar, Tom Kemper.«
»Und Miss Latham«, fügte Margaret hinzu. »Die liebe Audrey.«
»Wir sind beide sehr verständnisvoll«, meinte er, jedoch ohne besondere Betonung. »Beide so gebildet und taktvoll. Also – was meinst du, meine Liebe? Ist so der richtige Ausgleich geschaffen?«
»Wolltest du es anders haben? Jemals?«
Er öffnete eine Silberdose, die auf einem Tischdien neben seinem Sessel stand und nahm eine Zigarre heraus, kerbte sie mit einem Taschenmesser ein und streckte seine Hand Margaret entgegen, um das Tischfeuerzeug zu bekommen. Bevor er es anknipste, bedankte er sich bei seiner Frau. Dann flackerte die Flamme für einen Moment hell auf und beleuchtete sein braungebranntes Gesicht.
Er hatte nicht geantwortet.
»Du siehst müde aus«, sagte sie. »Müde und deprimiert.«
»Woher sollte das denn kommen?«, meinte er. »Ich tue nichts und habe alles, was ich will. Hatte es immer. Wie du so off betonst. Also, Kemper, Audrey. Und – wer noch, meine Liebe?«
Das Wichtigste war, dass sie es fertiggebracht hatte, sich zu entschließen. Wie entscheidend diese Tatsache für alles Tun und Handeln war, kam ihr erst jetzt so richtig zu Bewusstsein. Nur diejenigen konnten das verstehen, die in der gleichen Lage gewesen waren; nur diejenigen, die in einer dämmrigen, grauen Welt gelebt haben, in der ein Entschluss unmöglich war. Selbst heute noch, wo alles vorüber war und sie – wie auch Margaret Halley sagte – nie wieder in jenen Zustand verfallen würde, erinnerte sie sich mit einem gewissen Angstschaudern an jene kalte Leere in ihrem Kopf. Sie hatte in einem Restaurant gesessen, mit der Speisekarte in der Hand, die zitterte, weil ihre Hände zitterten. Und sie war unfähig gewesen, zwischen Hühnerfrikassee und Hammelkotelett zu entscheiden.
Eine Erklärung dafür war lächerlich. Das war einem selbst ebenso klar wie jedem anderen. Eine derartige Entscheidung war es nicht wert, dass man auch nur ein Wort darüber verlor; es war der Kellnerin und überhaupt jedermann völlig gleichgültig, ob man nun sagte: »Bitte, das Hühnerfrikassee«, oder: »Ich glaube, ich werde ein Hammelkotelett nehmen.« Aber man saß da – die Speisekarte zitterte in der Hand und alles war dumpf und voll von Angst. Schließlich hatte sie den Kopf langsam hin und her gewiegt und angefangen zu weinen. Aus Mitleid mit sich selbst und weil das Leben tot und leer war. Sie war aufgestanden und weinend auf die sonnenüberflutete Straße hinausgegangen. Nach diesem Vorfall hatte ihr Vater sie zu Margaret gebracht.
Das dunkle Jahr nannte sie es in Gedanken. Es hatte nur ein Jahr, vielleicht etwas länger gedauert. Vor ihr, auf der Straße, lag ein Stück Eisenrohr. Es musste von einem Lastauto gefallen sein. Sie war in der Lage, den Wagen links daran vorbeizusteuern, ohne zu denken, ohne zu zögern, ohne sich zu fragen, ob links oder rechts. Erst einige Sekunden später wurde sie sich dessen bewusst. Vor zwei Jahren war sie nicht mehr imstande gewesen zu chauffieren – nicht einmal, zwischen schwarzen und braunen Schuhen zu wählen.
Auf die Einladung Dr. Margaret Halleys hin, aufs Land hinauszukommen und den Silvesterabend in einem Haus am See zu verbringen, hatte sie ohne Zögern zugesagt. Das war ein weiterer Beweis ihrer völligen Gesundung, ein Beweis, dass das dunkle Jahr hinter ihr lag. Es war nur erforderlich gewesen – aber unter welchen Schwierigkeiten! – zu begreifen, dass diese Dinge allen Menschen passieren konnten. Nicht nur ihr. Und dieses Verstehen und die Zeit, hatte Margaret ihr versprochen, würden sie zu sich selbst zurückfinden lassen und von Neuem Sonne in ihr Leben bringen.
Sie war wieder Lynn Ross. Die Nebensächlichkeiten, die ihr so große Sorgen gemacht hatten, die kleinen Mängel, waren nicht mehr wichtig. Sie bestanden zwar noch als ein Teil ihrer selbst, aber ihre Persönlichkeit war davon nicht mehr beeinträchtigt. Lynn Ross war groß – oh! immer noch viel zu groß –, eine Frau von vierundzwanzig Jahren, und fuhr gerade hinaus zum Lake Carabee. Man hatte ihr den Weg genau erklärt: Nach Bedford Hills, wo die große Autostraße endete, sollte sie sich nordöstlich halten und würde nach kurzer Zeit Katonah erreichen; dort, an der großen Kreuzung müsste sie nach Norden einbiegen, bis sie nach ungefähr fünf Kilometern zu einer Straßengabelung käme. Links läge der Club, der aber im Winter geschlossen sei, während die rechte Straße, die sie einschlagen müsse, um den See herumführe. Nach der Hälfte des Weges stoße sie dann auf die Villa der Halleys, neben der linker Hand das Bootshaus läge.
Es war Freitag, der einunddreißigste Dezember. Lynn schaute auf ihre Armbanduhr. Drei Uhr dreißig. Sie würde noch vor Einbruch der Dunkelheit ankommen, obwohl der Tag sich schon langsam neigt. Sie schaltete das Radio ein.
»...werden vermisst«, sagte eine Stimme. »Und hier das Wetter: Am Nachmittag und Abend aufkommende nordöstliche Winde, teilweise Schneefall. Tiefsttemperatur heute Nacht um minus acht Grad. Morgen teilweise bewölkt und weiterhin recht kalt. Und nun noch die Zeit...«
Nun, es war eben Winter. Wie so häufig stimmte die Wettervorhersage der Zeitung mit der des Rundfunks nicht überein. Lynn hatte heute Morgen nichts von Schnee gelesen, und die angegebene Temperatur hatte bei plus fünf Grad gelegen.
Feine Schneeflocken trieben gegen die Windschutzscheibe ihres Wagens. Lynn Ross schaltete die Scheibenwischer ein. Sie war froh, dass das trockene Wetter wenigstens bis hierhin angehalten hatte; trotzdem wünschte sie, eine halbe Stunde früher von zu Hause weggefahren zu sein. Sie kam jetzt nur noch recht langsam vorwärts. Katonah lag bereits hinter ihr, und es konnte nur noch ungefähr zwei Kilometer bis zur angegebenen Gabelung sein. Die Straße stieg in einer S-Kurve an, und hier rutschte der Wagen zum ersten Male. Lynn steuerte geschickt dagegen, schaltete herunter und hatte einen Moment Angst, dass die Räder durchdrehen könnten. Aber es ging alles gut. Es war inzwischen viel dunkler geworden, und obwohl sie mit Standlicht führ, schien der Strahl der Scheinwerfer an einer Mauer von Schnee vor ihr abzuprallen.
Die Straße war nun wieder eben, und nach einigen hundert Metern stieß sie auf die Gabelung. Es schneite nun nicht mehr ganz so heftig, und Lynn sah durch den Rückspiegel die Spuren, die ihr Wagen im Schnee hinterließ. Sie fuhr am See entlang, der schwarz und endlos weit in der weißen Landschaft lag. Es war jedoch nur ein kleiner See. Lynn wusste das von Margaret. Die Straße führte direkt am Ufer entlang und war links zum Wasser hin von einem ziemlich alt aussehenden Eisengeländer eingesäumt. Ein Schutz? Eigentlich mehr ein Wegweiser. Falls man ins Rutschen kam.
Man durfte eben nicht ins Rutschen kommen. Lynn fuhr vorsichtig und war froh, dass der See links lag. Sie kroch ganz nahe am Straßengraben entlang.
Noch einen Kilometer – dann sah sie in einiger Entfernung ein hellerleuchtetes Haus. »Wenn es dunkel wird, werden wir alle Lichter einschalten«, hatte Margaret versprochen.
Lynn war erleichtert, die Fahrt fast hinter sich zu haben. Rechts zeigte ein Wegweiser mit der Aufschrift John Halley auf eine Einfahrt, und sie bog ein. Wieder rutschte der Wagen leicht, aber jetzt machte ihr das nichts mehr aus. Sie fuhr sicher auf das fröhlich erleuchtete Haus zu. Das Licht auf der Terrasse ging an, und ein Mann mit einer Taschenlampe kam hinter der Garage vor und wies Lynn ein. Sie stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. »Puh«, sagte sie leise vor sich hin und griff nach ihrer Handtasche auf dem Nebensitz. Der Mann mit der Taschenlampe stand nun neben ihr und öffnete die Wagentür.
»Schlechtes Wetter, Miss«, sagte er. »Scheint auch nicht besser zu werden. Haben Sie Gepäck, Miss?«
Ja, sie hatte Gepäck. Lynn stieg aus und sperrte den Kofferraum auf. Sie schaute auf den kleinen, rundlichen Mann herunter, der ihren Koffer herauszog. »Ein Abendkleid und eine lange Hose mit einem Pullover. Nichts weiter«, hatte Margaret gesagt.
»Ich bin Abner Speed«, sagte der kleine Mann. »Sind Sie Miss Ross?«
»Ja«, antwortete das große Mädchen. Sie war viel größer als dieser kleine Mann.
»Ich trag’ es Ihnen geschwind rein«, sagte Abner Speed. »Wollte eben zur Bahn fahren und die anderen holen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Kombiwagen, neben dem Lyon ihr Auto geparkt hatte. Ich habe vorhin extra noch Schneeketten anmontiert«, meinte er. »Haben Sie welche dabei?«
»Nein«, antwortete sie.
»Hauptsache, Sie sind hier«, lächelte Abner. »In einer Stunde wird die Straße ohne Ketten sehr schlecht sein.« Er ging aus der Garage. »Vielleicht auch mit. Lassen Sie uns gleich hier quer durchgehen, das ist der kürzeste Weg.«
Er ging auf einem verschneiten Weg voran auf die Terrasse zu. Die Haustür öffnete sich, und Margaret Halley trat heraus. »Lynn?«, rief sie.
»Ja«, antwortete Lynn und achtete darauf, so aufrecht zu gehen, wie sie nur konnte, so groß als möglich zu erscheinen.
»Wenn Sie sich erst einmal dazu durchgerungen haben«, hatte Margaret gesagt, »dann haben Sie schon eine Menge gelernt. Die höchsten Absätze, einen geraden Rücken. Wie groß sind Sie, Miss Ross?«
»Einen Meter achtundsiebzig«, hatte Lynn geantwortet.
»Sie haben eine schlechte Haltung, wissen Sie das? Sie gehen mit gekrümmtem Rücken. Sie tragen flache Schuhe.«
»Ich weiß. Ich war immer – schlaksig. Mein großes, schlaksiges Mädchen, nannte mich mein Vater. Mein Riesenbaby.«
Dann hatte sie sich im Behandlungszimmer von Dr. M. Hailey hingelegt, und Margaret hatte hinter ihr Platz genommen.
»Sie fangen an zu begreifen«, hätte die Ärztin gesagt. »Einen Teil dessen zu verstehen, was Ihre Depression verursacht – eine einfache Depression, wie wir es nennen. Vergessen Sie nicht, wenn Sie aufstehen; werden Sie eins-zweiundachtzig groß sein. Sie werden größer sein, Ihren Kopf hoch tragen und Ihre Schultern aufrecht. Und Sie werden sich die höchsten Absätze kaufen, auf denen Sie nur gehen können.
»Ich weiß nicht. Ich habe immer...«
Und nun stapfte sie einen verschneiten Pfad entlang, auf die Terrasse zu, auf der Margaret Halley stand und ihr beide Hände entgegenstreckte. Lynn trug die höchsten Absätze, auf denen sie gehen konnte. Gut, es war vielleicht nicht gerade das geeignete Schuhwerk für dieses Wetter, aber sie wollte groß sein – so groß wie nur irgend möglich.
»Ich freue mich sehr, dass Sie gekommen sind«, wurde sie von der Ärztin begrüßt.
»Und ich freue mich, dass ich kommen durfte«, antwortete Lynn Ross herzlich. Sie schaute auf Margaret herunter und lächelte. »Vielen Dank, Margaret – ich darf Sie doch so nennen?«
»Ich bitte Sie sogar darum«, sagte Mrs. Halley. »Aber warten Sie einen Moment, Abner.« Speed hatte sich umgedreht und wollte eben zur Garage zurückgehen. »Bringen Sie dies mit, ja?«, bat ihn Margaret und gab ihm einen Zettel.
»Ich weiß nicht, ob die Zeit dazu reicht«, antwortete Abner. »Ich muss langsam fahren bei dem Wetter, Madam.«
»Na, dann eben, wenn Sie Zeit haben«, sagte Margaret. »Sie werden es sich schon irgendwie einrichten können.«
»Ja, Mrs. Halley.« Der kleine Mann nickte mit dem Kopf.
Lynn folgte Margaret in das hellerleuchtete Haus, durch eine große, quadratische Diele in ein riesiges Wohnzimmer. Im Kamin brannte ein loderndes Feuer. Sie müsse ja völlig durchgefroren sein, meinte Margaret. Ob Lynn einen Drink haben wolle, oder vielleicht lieber Tee? Sie entschloss sich für Tee; sie solle sich doch neben den Kamin setzen und sich erst einmal aufwärmen; der Tee sei in einer Minute fertig. Lynn fragte, ob es auch nicht zu viel Mühe mache?
»Aber wo!«, antwortete Margaret. Wie anders doch diese Margaret war, dachte Lynn, als die Frau, die sie als Dr. M. Halley in der Privatpraxis auf der Park Avenue kennengelernt hatte. »Finden Sie es nicht auch herrlich, dass es geschneit hat?«, fragte Margaret. »Es gehört irgendwie einfach dazu.« Mit diesen Worten verließ sie den Raum, um sich um den Tee zu kümmern.
Lynn stand mit dem Rücken zum Feuer und fühlte sich angenehm wohl. Ihr Blick wanderte zum Fenster hinaus. Draußen tanzten die Schneeflocken in dem Lichtstrahl, der durch die Vorhänge in die Dämmerung hinausfiel. Ja, es gehörte einfach dazu. Zu Silvester. Es war hübsch – und gemütlich, wenn man im Warmen war.
Margaret kam nach kurzer Zeit mit einem silbernen Tablett zurück, auf dem ein silbernes Teeservice und zwei Tassen und Untertassen standen. Sie stellte alles auf ein kleines Tischchen vor dem Kamin. »Ich finde es nett«, sagte sie und goss ein, »dass wir noch einen Moment miteinander plaudern können, bevor die anderen kommen. John hat sich ein wenig hingelegt, um sich auszuruhen. Ich bestand darauf. Der Arme Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern fragte stattdessen, ob Lynn den Weg ohne zu viel Mühe gefunden habe.
»Aber natürlich«, antwortete Miss Ross. »Ihre Beschreibung war perfekt, Margaret.« Sie hatte einen Moment gezögert, bevor sie den Namen ausgesprochen hatte. Sie war es gewöhnt, Doktor zu sagen, und diese Anrede kam ihr im Moment noch angebrachter vor. Nicht, dass Lynn jene übertriebene Ehrfurcht des Patienten vor dem Arzt gehabt hätte, aber sie respektierte Margaret Halley sehr.
Was für eine hübsche Frau sie ist, dachte Lynn. Und sie musste – oh, über Vierzig sein.
»Geht es Mr. Halley nicht gut?«, fragte sie.
»John? Doch, doch – ganz gut. Natürlich musste hier so manches getan werden. Das Haus steht seit Monaten leer, und weder mein Mann noch ich sind an körperliche Arbeit gewöhnt. Sie wissen ja, wie das ist.«
Lynn wusste es zwar nicht so recht, fragte aber nicht weiter. Sie schlürfte ihren Tee, und die Wärme breitete sich über ihren langen, schlanken Körper aus.
»Sie werden die anderen sympathisch finden, glaube ich«, fuhr Margaret nach einer Weile fort. »Soll ich Sie einstweilen ein wenig einweihen?«
Lynn meinte, das könne nie etwas schaden.
»Brian Perry«, begann Margaret. »Haben Sie schon von ihm gehört?«
»Ich glaube kaum«, antwortete Lynn und schüttelte den Kopf. »Ist das jemand Bekanntes?«
»Nein. Ich nehme nicht an. Zumindest nicht so, dass ihn Gott und die Welt kennt. Dr. Brian Perry, nie gehört?«
»Nein«, sagte Lynn. »Ich bin nicht sehr gebildet. Aber das wissen Sie ja.«
Margaret schaute sie einen Moment mit den scharfen Augen der Ärztin an. Lynn beobachtete die Flammen im Kamin.
»Er ist ebenfalls Psychiater«, erklärte Margaret. »Und Neurologe. Er hat einige sehr interessante Behandlungsmethoden entwickelt und damit schon recht bemerkenswerte Resultate erzielt. Er stützt sich auf gewisse Theorien, wobei natürlich ein oder zwei dieser Theorien...« Sie brach wieder mitten im Satz ab. »Er ist ein großer Mann, Lynn. Viel größer als Sie. – Groß und schlank – seine weiblichen Patienten verlieben sich wahrscheinlich prompt in ihn. Was übrigens sehr hilfreich sein kann, wissen Sie. Wenigstens bis zu einem gewissen Grade. Er kam früher immer fürs Wochenende zum See heraus. Sie hatten ein kleines Grundstück in der Nähe des Clubs.«
»Der große, schlanke Herr wird also Dr. Perry sein«, sagte Lynn. »Sprachen Sie von sie?«
»Ja. Er und seine Frau«, antwortete Margaret. »Sie ist tot. Ihr Name war Carla.«
Es wäre grässlich, nicht am Leben zu sein, dachte Lynn – Lynn, die vor kaum mehr als einem Jahr eine Schlaftablette genommen hatte, und dann noch eine, und noch eine, weil das Leben grau und freudlos war und ihr die Kehle zuschnürte. »Wie schrecklich«, sagte sie, und Carla Perry, die sie nie gesehen hatte, und die nun tot war, tat ihr leid.
»Und Struthers Boyd«, fuhr Margaret fort. »Sie haben ein Haus auf der anderen Seite des Sees. Er und John spielen zusammen Golf. Es ist schade, dass Grace in Florida ist. Ich glaube, sie würde Ihnen gut gefallen.«
Grace musste allem Anschein nach Boyds Frau sein. Sie war nicht tot. Sie war in Florida.
»Ein großer Mann«, sagte Margaret, »sehr herzlich. Der Typ des guten Freundes. Dann kommt noch ein Mann namens Kemper. Und Audrey Latham. Haben Sie schon mal von Audrey Latham gehört?«
Wie es Lynn schien, hatte sie noch von niemandem gehört. Sie schüttelte den Kopf und hörte weiterhin zu. Audrey Latham, erfuhr sie nun, komponierte. »Schlager. Meistens über jemanden, der jemanden nicht vergessen kann. Wissen Sie?«
»Ja«, antwortete Lynn.
»John glaubt, dass sie sehr begabt ist«, sagte Margaret, »und es eines Tages zu etwas bringen wird. John hat sich schon immer für Musik interessiert, wissen Sie.«
Wieder etwas, was Lynn neu war. Aber sie kannte John Halley kaum – wusste nur, dass er älter war als seine Frau und eine Menge Geld hatte. Schon immer gehabt hatte.
»Für Musik«, erzählte Margaret weiter, »für Malerei, für Literatur. Er hat als junger Mann selbst ein wenig geschrieben, wissen Sie.« Wieder musste Lynn den Kopf schütteln. »Als er in Frankreich lebte«, sagte Margaret, »schrieb er vor allem kleine Sketches. Über irgendwelche Leute und Vorkommnisse des Alltagslebens. Es waren lustige, charmante Sachen. Doch das war lange, bevor John und ich uns kennenlernten. Mein Gott, wie die Zeit vergeht! Noch etwas Tee?«
Lynn nahm noch eine Tasse.
»Und damit haben wir es schon.« Margaret stellte die Kanne zurück aufs Tablett. »Brian und Struthers, Boyd und Tom und Miss Latham John, ich und Sie. Keine große Party – und ein Mann zu viel, weil Grace schon alles für ihre Floridareise vorbereitet hatte. Aber...«
Sie hielt inne, um sich eine Zigarette anzuzünden.
»Um ganz ehrlich zu sein«, fuhr sie schließlich fort, »war John in letzter Zeit sehr oft irgendwelchen Stimmungen unterworfen. Er ist etwas schwerfällig und gleichgültig geworden. Tja, und deswegen, meine Liebe, ist die Party ein Teil einer Therapie. Hübsche, junge Frauen – Sie und Miss Latham. John hat gern hübsche, junge Frauen um sich. Geistige Anregung – Brian. Gemütlichkeit – der immer gutgelaunte Struthers. Und die gute, alte Zeit und so weiter. Ein fröhlicher Anfang für das neue Jahr. Und...«
Wieder brach sie ab. Sie drückte ihre Zigarette, die sie eben erst angezündet hatte, im Aschenbecher aus und trank den letzten Schluck Tee aus ihrer Tasse.
»Aber, vergessen Sie die Therapie. Wir werden uns alle amüsieren. Noch etwas Tee?«
»Nein, danke«, sagte Lynn.
»Ja«, meinte Margaret. »Man hat nach zwei Tassen wirklich genug. Wenn die anderen kommen, werden wir Cocktails trinken – oder vielleicht jetzt schon einen?«
»Wenn die anderen kommen. Könnte ich aber bitte...«
»Natürlich«, unterbrach Margaret. »Sie wollen sich etwas frisch machen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles.«
Sie stand auf und ging Lynn in die Diele voran. Margaret bestand darauf, den Koffer zu tragen und stieg eine Treppe hinauf. Im ersten Stock lag Lynns Zimmer am Ende eines breiten Flurs im rückwärtigen Teil des Hauses. Es war verhältnismäßig klein, hatte aber, da es über Eds ging, zwei Fenster. Daran angrenzend war ein Badezimmer.
»Was für ein hübsches Zimmer«, sagte Lynn, und Margaret lächelte daraufhin nur. Sie hoffe, und damit deutete sie aufs Bett, dass Lynn nichts gegen eine Heizdecke habe.
»Etwas dagegen haben?«, fragte Lynn. »Wieso?«
»Es gibt Leute, die Angst haben, in Brand zu geraten. Manche Menschen fürchten sich vor einer Unmenge von Dingen.«
»Ich nicht. Nicht mehr. Abgesehen davon, kann ich mich nicht erinnern, je vor einer Heizdecke Angst gehabt zu haben.«