Schweigen nach dem Anruf - Petra Weise - E-Book

Schweigen nach dem Anruf E-Book

Petra Weise

0,0

Beschreibung

Die Geschichte beginnt mit einem ganz normalen Familienfest bei der Erzählerin Dagmar. Kurz darauf erhält sie einen Anruf und erfährt, dass ihre Schwester Jutta schwer an Krebs erkrankt ist. Nach dieser beängstigten Nachricht herrscht Schweigen, denn Juttas Ehemann gibt keine Auskunft und wünscht auch keinen Besuch - weder daheim noch im Krankenhaus.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 161

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Schwestern

sind verschiedene Blumen

aus dem gleichen Garten.

unbekannt

Inhalt

Besuch zu Weihnachten

Meine Schwester Ingrid

Meine Schwester Jutta

Eine schlechte Nachricht

Schweigen nach dem Anruf

Wir müssen handeln

In der Strahlenklinik

Eine mögliche Lösung

Die Katastrophe

Das plötzliche Ende

Es fing ganz harmlos an und zwar Weihnachten 2017.

Besuch zu Weihnachten

Seit mein Mann nicht mehr lebt, will ich die Kinder und Enkel um mich haben – auf jeden Fall zum Fest.

Zuerst hole ich Sabine ab, meine Jüngste. Sie sagt Dagmar zu mir, nicht Mutter oder Mama, sie will auf Augenhöhe mit mir sein. Zuerst wollte ich das nicht, doch inzwischen habe ich mich daran gewöhnt.

Ich freue mich auf sie. Noch mehr freue ich mich auf die kleine Lisa. Das Mädchen ist inzwischen drei Jahre alt und oft bei mir, denn Tochter und Enkelkind wohnen kaum vierzig Kilometer von meinem Wohnort entfernt. So kann mich Sabine jederzeit anrufen, wenn ich meine Enkelin aus dem Kindergarten abholen oder über Nacht behalten soll. Für mich ist das kein Problem, weil ich als Grundschul-Lehrerin nur vormittags unterrichte. Manchmal leite ich am Nachmittag eine Veranstaltung, korrigiere Arbeiten oder bereite mich auf den nächsten Tag vor, doch das kann ich meist leicht verschieben.

Sabine hat viele Interessen. Sie singt in einem Chor, bastelt in der Kirchengruppe und pflegt einen sehr großen Freundeskreis. Das wäre gar nicht möglich, wenn sie arbeiten ginge. Ihr Freund ist Blogger und betreibt von daheim aus eine Youtube-Seite. Die Bilder für diese Seite entwirft er zusammen mit Sabine, sie ist sozusagen sein Werbemodel. Damit verdienen sie ihr Geld. So richtig kann ich mir allerdings nicht vorstellen, woher dieses Geld kommt. Doch das muss ich auch nicht. Hauptsache, sie kommen zurecht.

Sabines Freund kann das Weihnachtsfest leider nicht mit uns verbringen, denn er besucht seine frühere Frau und das gemeinsame Kind aus dieser Beziehung. Nun hat Sabine kein Auto und mit dem Zug fährt sie nicht, das mag sie Lisa nicht zumuten. Deshalb hole ich die beiden ab.

Ich muss mich beeilen, denn auch mein Sohn kommt heute mit seiner Frau und den drei Kindern. Ihn sehe ich nur selten, denn er wohnt mit seiner Familie in Ingolstadt, 350 Kilometer entfernt von Chemnitz.

*****

Schon an der Haustür höre ich, dass Saschas Familie bereits im Haus ist. Von unten aus dem Keller tönt Gebrüll, das sind seine beiden kleinen Jungen. In der Küche klappert es. Ich vermute, dass seine Frau Maylin bereits Fleisch und Gemüse klein schneidet, obwohl noch nicht einmal Vesperzeit ist. Sie hat sich zwar noch nie über meine Gerichte beklagt, trotzdem bringt sie ihre Speisen und Gewürze mit und kocht lieber selbst, natürlich immer thailändisch. Sascha hat mir erklärt, dass für die Thais das Essen am allerwichtigsten im Leben ist. Deshalb kochen sie jeden Tag stundenlang. Wenn sie nicht essen, reden sie übers Essen und man muss solch ein Gespräch sehr ernst nehmen.

Ernste Gespräche mit Maylin sind allerdings schwierig. Sie versteht zwar alles, doch ich verstehe sie kaum, obwohl sie bereits seit mehr als zehn Jahren in Deutschland lebt.

Lisa hat die Stimmen der Jungs gehört und springt eilig die Treppe zum Keller hinunter, ohne zuvor ihren Anorak und die Stiefel auszuziehen. Ich sehe ihr nach und halte dabei die Luft an, als ob das einen möglichen Sturz verhindern könnte. Bei meinen drei Kindern war ich nicht so ängstlich wie jetzt mit den Enkeln.

Pana ist ein Jahr älter als Lisa, der kleine Niti ein Jahr jünger. Tamika ist bereits zehn Jahre alt und wurde von Maylin in die Beziehung mitgebracht. Sascha das Mädchen als sein eigenes angenommen.

„Vesperzeit!“, rufe ich in den Keller hinunter.

Pana kommt als erster die Treppe hoch gestürmt, umarmt mich kurz und setzt sich an den Tisch. Sofort stößt ihn Lisa grob vom Stuhl und schreit: „Das ist mein Platz!“

„Setzt dich bitte auf einen anderen Stuhl!“, bitte ich leise das Mädchen.

Doch bevor es reagieren kann, zischt Sabine:

„Du sollst Lisa nicht kommandieren!“

Ich will keinen Streit, nicht zwischen den Enkeln und schon gar nicht mit meinen Kindern, deshalb sage ich nichts dazu. Allerdings weiß ich, dass Kinder Regeln brauchen. Sabine hält nichts von Regeln. Sie hält überhaupt nichts von Erziehung und meint, das sei reine Gewalt. Die Kinder könnten sich nicht frei entfalten, weil sie ständig korrigiert und eingeengt werden.

„Lisa weiß, was sie will“, erklärt Sabine.

Auch Pana weiß, was er will und haut Lisa auf den Kopf. Die Kleine schreit wütend auf. Sabine nimmt sie sofort in den Arm, schaukelt sie hin und her und flüstert: „Du wolltest auf deinem Stühlchen sitzen?“

„Nein!“, schreit Lisa und schlägt nach ihrer Mutter.

Tamika, Maylin und Sascha nehmen sich Stollen, Sabine gibt Lisa einen Keks aus einer Dose, die sie mitgebracht hat.

„Ich habe extra gebacken!“, sage ich und zeige auf die Keksschale, die von den Jungs schon geplündert wird.

„Da ist doch sicher Zucker drin!“, vermutet Sabine.

Ich nicke beschämt. Daran hatte ich gar nicht gedacht, dass Lisa keinen Zucker essen darf. Dabei wachsen Zuckerrüben ebenso auf dem Feld wie Gemüse und Getreide, sind also nichts tierisches. Sabine ernährt sich und ihre Tochter konsequent vegan. Ich glaube nicht, dass das gesund ist, denn ich weiß aus dem Biologie-Unterricht, dass der menschliche Magen und auch das Gehirn unbedingt Fleisch benötigen.

Lisa wirft den Keks auf den Boden und schaut ihre Mutter herausfordernd an.

„Möchtest du keinen Keks, Schatz?“, fragt sie freundlich, lässt aber den Keks auf dem Boden liegen.

Lisa zeigt mit dem Arm auf Pana, der sich bereits das dritte Stück Schokolade in den Mund schiebt.

„Das ist ganz doll ungesund. So etwas essen wir nicht, Herzchen.“

Das Herzchen haut nach der Mutter und kippt dabei sein Wasserglas um. Sicher hätte es auch lieber Kakao getrunken wie Saschas Kinder. Doch Sabine hält Milch für ungesund. Sie schaut innig verliebt auf ihre Tochter, während ich schnell aufstehe und den Lappen hole.

Kaum sitze ich wieder am Tisch, will sich Lisa an meinem Rock hochziehen und zu mir auf den Schoß kriechen.

„Meine Oma!“, schreit sie und schaut die Jungs triumphierend an.

„Ja, das ist deine Oma“, bestätigt Sabine lächelnd.

„Aber ich bin auch die Oma von Pana, Niti und Tamika.“

„Nein!“, schreit Lisa.

„Jetzt möchte ich in Ruhe Kaffee trinken und Stollen essen“, sage ich und stelle die Kleine nach unten.

Sofort tritt sie mit ihrem Fuß nach meinen Beinen. Ich halte sie mit meinem ausgestreckten Arm ein wenig zurück, damit sie nur noch in die Luft stampfen kann.

Lisa läuft davon und klettert flink auf die Anrichte. Dort stehen meine Räuchermänner und die Pyramide. Sabine wirft mir sofort einen strengen Blick zu. Soll ich etwa meine Weihnachtsdekoration entfernen? Noch ehe ich reagieren kann, hat Sabine eilig alles zur Seite geschoben.

„Bring mal eine Kiste für das Zeug!“, ruft sie mir zu.

„Vorsicht!“, rufe ich erschrocken und laufe eilig zur Anrichte. Sofort sehe ich, dass dem einen Bergmann der Arm fehlt, dem nächsten ist die Mütze abgebrochen und ein kleiner, geschnitzter Schlitten liegt zerbrochen am Boden.

„Tut mir leid“, versichert Sabine. „Warum baust du diesen alten Kram auf, wenn deine Enkel da sind?“

„Mai Kinda nix kaputt mache“, empört sich Maylin.

Ich nicke ihr zu, doch mir ist zum Heulen zumute. Die wunderschönen handgeschnitzten Räuchermänner sammle ich seit vielen Jahren und mag jeden einzelnen von ihnen. Sicher kann ich den Schaden beheben und die zerbrochenen Teile wieder leimen. Doch heute wird das nichts mehr.

*****

„Ihr könnt heute Nacht meine Schlafstube haben. Für den Kleinen habe ich das Bettchen aufgestellt, die beiden Großen dürfen in dein früheres Kinderzimmer“, lenke ich ab und schaue Sascha dabei an.

„Nein!“, schreit Lisa. „Mein Bett!“

Wenn sie bei mir übernachtet, darf sie manchmal mit ins Ehebett, wenn sie schlecht träumt oder Bauchweh hat.

„Du schläfst mit der Mama in Mamas Kinderzimmer.“

„Nein!“

„Wir können tauschen!“, schlägt Sabine vor.

„Wieso?“

Lachend schüttelt Sascha den Kopf und tippt sich mit dem Finger an die Stirn. Doch Sabine ist bereits die Treppen hinauf gelaufen und begutachtet die Zimmer.

„Ich nehme Mellis Zimmer!“, höre ich sie rufen.

Dort wollte eigentlich ich schlafen. Sabine sollte mit Lisa in ihrem Zimmer bleiben, wo seit letztem Jahr das neue Kinderbett steht.

„Kommt Melanie nicht?“, will Sascha wissen.

„Nein.“ Ich schüttle den Kopf. „Sie feiert mit ihrem Mann und den Kindern.“

„Melli nich hiea?“, wundert sich Maylin. „Musa aba bei Familia sai.“

Ich habe früher ebenso wie meine älteste Tochter den Weihnachtsabend nicht bei den Eltern, sondern daheim mit Mann und Kindern verbracht. Das behielten wir auch bei, als längst alle ausgezogen waren und eigene Familien gründeten. Zum Fest versammeln sich alle in meinem Haus. Nur Melanies Familie stößt erst am zweiten Feiertag dazu.

Ich höre Sabine oben in den Zimmern rumoren.

Es klingt, als ob sie Möbel rückt. Doch ich mag jetzt nicht hochgehen. Sollen sich die Kinder einigen wie sie wollen. Mir reicht es, dass ich acht Betten frisch bezogen und auch sonst allerhand eingekauft und geputzt habe.

Sabine poltert die Treppe hinunter.

Lisa schreit: „Melli kommt nicht, kommt nicht, kommt nicht!“

„So eine Kuh!“, schimpft Sabine. „Da treffen wir uns alle bei Mama und die feine Dame hält es nicht für nötig, bei ihrer Familie zu sein. Immer braucht diese Trulla eine Extra-Wurst.“

„So eine Kuh!“, schreit Lisa.

„Das darf man nicht sagen!“, schreit Pana.

„Doch! Mama sagt das auch.“

Damit hat sie allerdings recht.

„Und wo ist dein Freund?“, will Sascha wissen.

Darauf antwortet Sabine nicht und ich blinzle meinem Sohn zu, sage aber nichts.

Stattdessen verkünde ich feierlich: „Melanies Kinder treten morgen in der Stadthalle auf. Sie hat für euch Freikarten besorgt.“

„Wir fahren schon morgen nach dem Mittagessen zurück“, sagt Sascha etwas kleinlaut.

Das überrascht mich, denn eigentlich sollten alle wie immer beide Feiertage hier bei mir verbringen. Ich habe extra allerhand eingekauft und vorbereitet.

„Warum?“, will ich wissen.

„Maylins Schwester hat uns eingeladen.“

Ich nicke, verstehe aber nichts, denn Maylins Schwester wohnt im gleichen Haus wie sie. Sie sehen sich also täglich. Außerdem feiern die Thais normalerweise kein Weihnachtsfest.

Enttäuscht lehne ich mich zurück. Ich habe mich so auf zwei schöne Tage mit den Kindern und Enkeln gefreut. Doch es nützt nichts, sich zu ärgern. Schließlich kann ich nicht über die Zeit meiner Kinder verfügen und muss froh sein, dass sie bei all ihrer Arbeit überhaupt die weite Strecke von fast 350 Kilometern auf sich nehmen.

„Das Konzert ist am Vormittag, zehn Uhr.“

„So zeitig? Da müssen wir arg früh aufstehen.“

Ich nicke und sage: „Spätestens halb neun Uhr.“

Normalerweise schlafen die Kinder immer recht lange, während ich die Enkel erst bade und dann mit ihnen spiele.

*****

Melanie unterscheidet sich in jedem Punkt von ihren Geschwistern, schon äußerlich. Wir sind alle blond, auch mein Mann war blond und hatte wie wir glatte Haare, Melanie dagegen dunkelbraune Locken. Im Internet habe ich gelesen, dass Melanie die Schwarze, Dunkle bedeutet, und mich im Nachhinein gefreut, dass ich ihr zufällig den passenden Namen gab. Sie sieht haargenau so aus wie meine älteste Schwester. Deshalb halten die Leute Melanie für Ingrids Tochter. Auch vom Wesen her gleicht sie eher meiner Schwester als mir.

Natürlich habe ich auch im Internet nachgeforscht, was Ingrid bedeutet. Es bedeutet die Schöne. Nun, das ist Geschmackssache. Ich mag weder Locken noch schwarze Haare.

Melanie hat einen argentinischen Pianisten geheiratet. Jahrelang begleitete sie ihn zu seinen vielen Konzerten auf der ganzen Welt. Doch seit sie Kinder haben, reisen sie nur noch selten. Sie spielt ebenfalls Klavier. Ich weiß nicht, woher sie dieses Talent hat, denn keiner aus unserer gesamten Familie ist Musiker. Sie ist Musiklehrerin und überwacht die täglichen Übungsstunden ihrer Kinder. Martina ist acht Jahre alt, Valentin bereits zehn. Beide spielen Klavier, Martina zusätzlich Geige und der Junge Oboe. Die Kinder gewannen schon viele Preise bei Talent-Wettbewerben und treten häufig gemeinsam auf. Morgen spielen sie im kleinen Saal der Chemnitzer Stadthalle vor fünfhundert geladenen Gästen.

*****

„Ah, die Wunderkinder stehen wieder einmal im Mittelpunkt“, bemerkt Sabine boshaft.

Schon als kleines Mädchen wachte sie eifersüchtig darüber, nicht zu kurz zu kommen und forderte unentwegt die volle Aufmerksamkeit.

Zum Glück war Melanie ein stilles Kind, das sich lieber in seinem Zimmer verkroch statt wie Sabine im Mittelpunkt zu stehen.

„Und so gut erzogen!“, ergänzt Sascha nicht weniger bissig.

„Gedrillt trifft es wohl eher“, giftet Sabine. „Die Bälger funktionieren wie Zirkustiere.“

Sascha tippt mit dem Finger an seine Stirn und meint: „Du bist doch nur neidisch.“

Lisa hat ihren Pulli und die Hose ausgezogen und saust in Schlüpfern durch die Stube. Mir gefällt das nicht. Es ist zwar warm in der Stube, doch man läuft nicht nackt herum.

„Nein“, sage ich sehr bestimmt. „Melanies Kinder werden zu nichts gezwungen. Sie haben Freude am Musizieren, sie machen das freiwillig.“

„Das glaubst auch nur du!“ Sabine lacht gehässig.

„Dürfen wir aufstehen?“, fragt Pana.

Maylin nickt und sagt etwas in ihrer Sprache.

Sofort rutscht der kleine Niti vom Stuhl direkt unter den Tisch. Dort legt er sich auf den Bauch und schmiert sicher Schokolade auf meinen Teppich.

Melanies Kinder waschen sich vor und nach dem Essen von ganz allein die Hände. Ich bewundere die beiden sehr, denn sie spielen nicht nur jeweils zwei Instrumente, sondern sprechen sogar mehrere Sprachen.

„Normal ist das jedenfalls nicht, wenn so kleine

Kinder mehrere Sprachen sprechen“, sagt Sabine.

„Mai Kinda au swai Spracha spreche. Das gutt“, erklärt Maylin.

Ich stimme ihr zu, während Sabine nur albern kichert.

Sascha ergänzt: „Und Tamika lernt schon Englisch in der Schule.“

„Je früher die Kinder Sprachen lernen, umso besser“, sage ich.

„Mit Deutsch sollten sie anfangen“, giftet Sabine.

Martina und Valentin sprechen deutsch mit ihrer Mutter, spanisch mit ihrem Vater und lernen außerdem noch Italienisch, weil das ihrer Meinung nach die Sprache der Musik ist. In Italien gibt es sicher fast ebenso viele berühmte Komponisten wie in Deutschland. Jedenfalls halte ich Melanies Kinder für außergewöhnlich begabt und hochintelligent.

*****

Am Abend gebe ich vier Paar Wiener in heißes Wasser und stelle meinen traditionellen Kartoffelsalat auf den Tisch. Es ist eine kleine Schüssel, denn nur Sascha, Tamika und ich werden davon essen. Maylin hat einen riesigen Topf Duftreis und eine große Pfanne gemischtes Gemüse gekocht. Der Geruch ihrer Gewürze zieht durch meine Wohnstube. Ich mag ihr Essen gern, doch am Weihnachtsabend gehört für mich Kartoffelsalat unbedingt dazu. Auf dem Tisch brennen vier rote Kerzen und auf der Anrichte dreht sich die große Bergpyramide. Ich habe Musik aus dem Erzgebirge aufgelegt und schaue glücklich in die Runde.

Die Kinder beeilen sich beim Essen und zappeln ungeduldig mit den Füßen, sie wollen endlich ihre Geschenke auspacken.

„Darf ich aufstehen und vor die Tür schauen?“, will Pana wissen.

„Ja, ja, ja!“, schreit Niti und flitzt an die Haustür.

„Nichts!“, rufen sie wie aus einem Mund.

Ich hatte ihnen erklärt, dass der Ruprecht entweder klingelt oder einfach den Sack mit allen Geschenken vor die Tür stellt.

„Wieso weiß der Weihnachtsmann, dass wir bei dir sind, Omi?“

„Der weiß alles. Der weiß auch, ob du brav bist.“

„Nua blawe Kinda bekommen“, erklärt Maylin.

„Lisa kriegt nichts. Die haut mich immer“, beklagt sich Tana.

„Nein!“, schreit Lisa und haut dem Jungen ihre Puppe auf den Kopf.

Schnell nehme ich ihr das Spielzeug aus der Hand, während sie mit ihren Füßen um sich tritt. Sabine hockt sich neben ihre Tochter, nimmt sie in den Arm und redet leise auf sie ein. Doch Lisa windet sich aus der Umklammerung und schreit immerzu: „Nein! Nein!“

Ich seufze. Solch eine Trotzphase sollte spätestens mit dem zweiten Lebensjahr beendet sein. Lisa wird bald vier. Wenn ich allein mit ihr bin, stellt sie sich nicht so an.

Dann ist sie einfach meine süße kleine Maus, die ich unendlich gern habe.

Endlich finden die Kinder den Sack vor der Tür. Es ist ein wahrhaft riesiger Sack, in den nicht einmal alle Geschenke hinein passten, einige in buntes Papier eingewickelte Pakete liegen daneben. Ich habe in diesem Jahr nur die Anoraks besorgt, die die Eltern für ihre Kinder wünschten. Statt Spielsachen bekommt jeder ein Buch von mir, auch die Erwachsenen.

Der kleine Niti sitzt zwischen einem großen Bagger aus Plastik und einer ausgeschütteten Werkzeugkiste. Lisa beachtet ihren Arztkoffer nicht mehr, nachdem sie alle Teile kreuz und quer durch die Stube geschmissen hat und fährt mit ihrem Laufroller gegen die Schränke.

„Sabine, bitte sei so gut und stelle das Rad in den Flur! Am besten, du packst es gleich ins Auto.“

„Auto? Habe ich Auto gehört? Habe ich ein Auto hier?“

„Nein! Nein!“, schreit Lisa und klammert sich kreischend am Lenker fest.

Pana bastelt an einem Kran mit Fernsteuerung und versteckt eine Feuerwehr aus Blech unter seinen Beinen, wobei er Lisa nicht aus den Augen lässt. Seine Vorsicht ist begründet, denn das Mädchen stürzt sich unvermittelt auf die Spielsachen der anderen Kinder.

Tamika kuschelt sich in eine blaugrüne Decke, die eine Flosse wie eine Meerjungfrau hat, und blättert in einem Buch. Entsetzt sehe ich, dass neben ihr ein Set mit verschiedenen Lippenstiften und Nagellackflaschen steht. Sascha folgt meinem Blick und erklärt lachend: „Das sind Textmarker, die nur so aussehen, als wären es Lippenstift und Nagellack.“

„Bitte bringt eure Kinder ins Bett! Ich werde hier schnell noch Ordnung schaffen.“

„Nein! Oma soll mich ins Bett bringen“, bestimmt Lisa.

„Ich habe zu tun, die Mama bringt dich ins Bett.“

„Bist du müde, Schatz?“, fragt Sabine.

„Nein!“, schreit die Kleine.

„Was möchtest du denn, mein Engel?“

„Raus! Ich will auf den Spielplatz.“

„Draußen ist es kalt. Da musst du deinen Pulli, die Hose und die warme Jacke anziehen.“

„Nein!“

Mir geht dieses Nein-Geschreie auf die Nerven.

Außerdem ist es bereits nach 21 Uhr und für so kleine Kinder höchste Zeit zum Schlafengehen.

Sabine hält nichts von festen Schlafenszeiten, Lisa darf darf selbst entscheiden, wann sie ins Bett möchte.

„Du wirst mit deiner Erziehung, die gar keine ist, noch dein blaues Wunder erleben!“, kündigt Sascha an.

„Es ist mein Kind. Ich weiß am besten, was gut für es ist.“

Das bezweifle ich, doch ich sage nichts dazu.

Wenn man ein Kind zu sehr verwöhnt, beschränkt man seine Entwicklung. Deshalb bin ich ganz froh, dass Lisa in den Kindergarten geht.

Tamika und die Jungs geben mir einen Gute-Nacht-Kuss und verschwinden lautlos.

Sascha mixt sich einen Gin Tonic und öffnet eine weitere Flasche Bier.

Sabine schaut in meinen Schrank und fragt:

„Hast du keinen Roibush-Tee?“

„Nein“, antworte ich. Ich habe keine Ahnung, was das sein soll.

„Auch keinen grünen Tee?“

„Nur schwarzen und das, was da ist.“

Sabine hat offenbar gefunden, was sie sucht, denn ich höre den Wasserkocher blubbern.

Ich staple die vielen Teller und Gläser in die Spülmaschine und wasche die Töpfe und Pfannen ab, Maylin trocknet das Geschirr mit einem Tuch und räumt ihre Dosen und Schachteln beiseite. Dann legen wir das viele bunte Geschenkpapier zusammen, das sich bergeweise auf dem gesamten Teppichboden verteilt.

Eigentlich bin ich hundemüde, doch ich setze mich zu meinen Kindern und höre ihren Gesprächen zu. Endlich kann ich in Ruhe meinen Wein trinken und lächle vor mich hin, weil mir einfällt, wie mir Sabine das Glas vorhin aus der Hand riss und streng sagte: „Nicht vor den Kindern!“

Lisa ist inzwischen unter dem Tisch eingeschlafen und ich trage sie nach oben ins Bett.

*****

„Oma!“, schreit Lisa am nächsten Morgen und kriecht zu mir unter die Bettdecke.