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Eigentlich wollte Inspektor Heimrich von der Staatspolizei New York nur seinen Hund zum Tierarzt bringen. Dort jedoch erwarten ihn ein Toter, exotische Katzen, Gift und - der bizarrste Mordfall seiner Karriere als Kriminalbeamter!
Der Roman Sieben Leben hat die Katze von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1977; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1979.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
F. R. LOCKRIDGE
Sieben Leben hat die Katze
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
SIEBEN LEBEN HAT DIE KATZE
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Eigentlich wollte Inspektor Heimrich von der Staatspolizei New York nur seinen Hund zum Tierarzt bringen. Dort jedoch erwarten ihn ein Toter, exotische Katzen, Gift und - der bizarrste Mordfall seiner Karriere als Kriminalbeamter!
Der Roman Sieben Leben hat die Katze von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1977; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1979.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Es war kurz nach sechs Uhr abends, und es war Mitte Juli. Drüben, auf der anderen Seite des Hudson, ging langsam die Sonne unter. Als sie aus dem Haus gekommen waren, um sich auf die Terrasse zu setzen, hatte die Temperatur noch bei über dreißig Grad gelegen.
Inspektor M. L. Heimrich von der New York State Police und Susan Heimrich hätten es im Hause, wo die Klimaanlage lief, kühler gehabt. Sie hätten sich an das große Westfenster setzen und auf den in der untergehenden Sonne glitzernden Fluss hinausblicken können. Aber der Blick war lebendiger von der Terrasse aus, die teilweise von der großen Esche beschattet wurde. Lange allerdings würde der Schatten nicht bleiben. Wenn die Sonne noch ein wenig tiefer sank, dann würden ihre Strahlen schräg unter den niedrigsten Ästen des Baumes einfallen. Schon erreichten sie Mite. Der große schwarze Kater zuckte mit dem Fell, als könnte er so die allzu heiße Sonne vertreiben.
Aber das half nichts. Mite streckte sich, ohne aufzustehen. Dann stand er doch auf und streckte sich wieder. Er trottete ein paar Schritte weiter, in den Schatten, und legte sich nieder. Er rollte sich nicht zusammen. Voll ausgestreckt blieb er liegen.
»Er ist wirklich unheimlich lang, nicht?«, sagte Susan Heimrich und rührte ihren Gin-Tonic um, dass die Eiswürfel klirrten.
»Hm«, machte Merton Heimrich und fügte hinzu, »weißt du noch, als Colonel...?«
Er vollendete die Frage nicht, weil das gar nicht nötig war. Selbstverständlich erinnerten sich beide an den Tag, an dem ihre Dogge von einem Streifzug mit einem kleinen, nassen und fauchenden schwarzen Kätzchen im Maul zurückgekommen war und ihnen auf der Terrasse das Tier beifallheischend vor die Füße gesetzt hatte. Er hatte dafür einen Kratzer an der Nase abbekommen.
»Wo ist der verflixte Hund eigentlich?«, sagte Heimrich, aber es war keine Frage, die eine Antwort verlangte.
Susan schüttelte nur den Kopf.
Aus dem Südwesten kam ein schwacher Luftzug. Die Wettervorhersage war also höchstwahrscheinlich zutreffend. »Am Sonntag heiß und schwül, nachmittags und gegen Abend örtliche Gewitterschauer.« Die gleiche Vorhersage wie für diesen Samstag. Gewitterschauer allerdings waren noch nicht niedergegangen, und es gab auch kein Anzeichen dafür, dass welche nahten. Aber hier, Meilen über der Stadt, in Van Brunt, Putnam County, im Staat New York, kühlte die Temperatur nach Sonnenuntergang ab. Jedenfalls nach zweiundzwanzig Uhr. Wenigstens lebten sie nicht in der Stadt. Und in dieser Nacht würden sie zum ersten Mal in diesem Sommer die Klimaanlage eingeschaltet lassen.
»Kann sein, dass er auf Kaninchenjagd ist«, meinte Susan. »Obwohl ihn das in letzter Zeit nicht mehr so zu reizen scheint. Er wird alt, Merton. Wie...«
Als sie den Blick sah, den ihr Mann ihr zuwarf, brach sie ab. Es war nicht der Blick eines Mannes, der der Meinung ist, dass seine Frau alt wird oder alt aussieht.
»Doggen sind keine sehr langlebige Rasse«, bemerkte Heimrich. »Das habe ich mal irgendwo gelesen.«
»Ja, das ist möglich. Bei den reinrassigen Tieren jedenfalls. Den Ausstellungshunden. Die werden ja schrecklich überzüchtet. Ja, Mischlinge haben im Allgemeinen ein längeres Leben. Und Colonel wird ja bald...«
Sie sprach nicht fertig. Die große Dogge namens Colonel kam durch eine Lücke in der Steinmauer etwa hundert Meter von der Terrasse entfernt. Sonst hatte Colonel die Mauer immer übersprungen; jedenfalls bis vor einem Jahr oder so.
Und den Weg über die Wiese zur Terrasse hatte der große Hund immer in langen Sprüngen genommen. Wenigstens bis vor einem Jahr oder so. Jetzt ging er langsam, als kostete es ihn Anstrengung, überhaupt einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der alte Bursche wird langsam ein sehr alter Bursche, dachte Heimrich. Es ist allerdings auch sehr heiß. Diese Treibhaushitze macht jeden fertig.
Er reichte Susan eine angezündete Zigarette. Dann zündete er sich selbst eine an. Ihr Glas war noch zur Hälfte gefüllt; in seinem eigenen war nur noch ein Rest Flüssigkeit. Aber sie hatten es nicht eilig. An diesem schwülen Julitag war nichts eilig. Nicht einmal auf der Dienststelle der Troop K hatte es viel Hetze oder Hektik gegeben. In der Stadt stieg bei Hitze die Zahl der Gewaltverbrechen. Nicht so hier auf dem Land.
Sie beobachteten Colonel, der über das Gras trottete. Er tat sich schwer, das sah man ihm an; jeder keuchende Schritt schien ihm Mühe zu kosten. Und sein großer Kopf hing herunter, als wäre er zu schwer für seinen hochbeinigen, schlanken Körper. Er blickte nicht auf, um zu sehen, ob sie auf ihn warteten.
Die Terrasse lag kaum dreißig Zentimeter erhöht über dem Rasen. Aber als Colonel zu der Stufe kam, blieb er stehen und machte ein Gesicht, als hätte er sie nie zuvor gesehen; als hätte er sie nicht jahrelang mit einem unbekümmerten Sprung genommen, ohne überhaupt auf sie zu achten. Dann schließlich hob er eine Vorderpfote und dann die andere. Seine Hinterbeine knickten ein, als er taumelnd zur Terrasse hinauf kletterte.
Mite wälzte sich herum und stand auf, um seinen Freund zu beobachten, der sich so ganz anders bewegte als sonst.
Auf der Terrasse, aber noch nicht im Schatten der Esche, legte Colonel sich nieder. Mit einem harten Aufprall, fast genauso wie immer. Er hatte sich stets einfach hinfallen lassen, wenn er sich langlegen wollte. Aber wenn er dann ausgestreckt war, hatte er immer den Kopf gehoben, um aus traurigen, mutlosen Augen das zu betrachten, was sich gerade vor ihm befand. Colonel schien, wenn man nach dem Ausdruck seiner Augen gehen konnte, das Leben immer entmutigend empfunden zu haben.
Diesmal hob er den Kopf nicht. Er legte ihn auf seine ausgestreckten Pfoten.
»Meinst du, es ist die Hitze?«, fragte Susan.
»Vielleicht. Wenn er in der Sonne herumgerannt ist. Nur...«
Susan, die sich jetzt in ihrem Liegestuhl aufgesetzt hatte, sagte: »Ja, das frage ich mich auch.« Sie beugte sich vor. »Colonel?«, rief sie dem Hund zu, der ihr schon gehört hatte, ehe sie Heimrich geheiratet hatte. Vor zehn Jahren? War es wirklich so lange her? Er war noch ganz jung gewesen, als er mit Susan und diesem Mann, den er nicht gekannt hatte, in das Haus über dem Hudson gezogen war, das früher einmal eine Scheune gewesen war. Colonel war also über zehn Jahre alt. Ein stolzes Alter für eine Dogge.
Mite ging zu dem reglos daliegenden Hund hinüber. Er ging langsam, vorsichtig. Es war beinahe so, als wollte er sich an seinen alten Freund anschleichen. Als er noch etwa einen halben Meter entfernt war, blieb er stehen. Er schien den Hund zu beschnüffeln. Dann gab er ein leises Miauen von sich und wandte sich ab. Er trottete zu Merton Heimrich hinüber und setzte sich und blickte zu Heimrich auf. Es war beinahe so, dachte Heimrich, als stellte der große schwarze Kater eine Frage, als wollte er eine Erklärung haben.
»Ja, Mite, ich fürchte, so ist es«, sagte Heimrich und wandte sich dann an Susan, die aus ihrem Liegestuhl aufgestanden war und neben dem Hund kauerte. »Sie scheinen es immer zu merken, nicht wahr? Wenn einer von ihnen krank ist.«
»Er atmet«, stellte Susan fest. »Aber ganz flach.« Ihre Hand lag auf der Flanke des großen Hundes. »Wir müssen zum Tierarzt fahren. Vielleicht kann der etwas tun. Dr. Barton?«
Es gab zwei Tierärzte in der näheren Umgebung. Dr. Peabody war der nächste, aber er hatte sich auf die Behandlung großer Tiere spezialisiert. Er war der Mann für Pferde und Kühe. Kühe gibt es nicht allzu viele in der Umgebung von Van Brunt. Pferde gibt es mehr. Einige Meilen südlich, unmittelbar über der Grenze von Westchester County gibt es sogar eine Jagd.
Aber selbst der größte Hund ist nach tierärztlicher Ansicht kein Großtier.
Adrian Barton hatte kurz vor Cold Harbor an der Staatsstraße NY 11F eine Kleintierklinik. Seine Patienten waren in erster Linie Hunde, aber er nahm auch Katzen an, die manchen Tierärzten nicht sonderlich sympathisch sind. Katzen haben eine Neigung, plötzlich und unerwartet zu sterben. Man kann bei ihnen auch beinahe mit Sicherheit damit rechnen, dass sie kratzen und, wenn die Gelegenheit sich bietet, beißen. Keine Katze ist je davon zu überzeugen, dass man ihr etwas Unangenehmes zu ihrem eigenen Wohl antut. Hunde sind handsamer. Und ihre Krallen sind nicht so scharf.
Außerdem war Colonel schon einmal bei Dr. Barton gewesen, als er irrtümlicherweise geglaubt hatte, ein Stachelschwein hätte Lust, mit ihm zu spielen.
Colonel fuhr sein Leben lang mit Leidenschaft Auto, und wenn eine offene Autotür eingeladen hatte, war er augenblicklich in jeden Wagen gesprungen, um es sich auf dem Rücksitz bequem zu machen. Heimrich fuhr den Buick so nahe an die Terrasse heran, wie es möglich war, und öffnete die Tür. Colonel hörte das Geräusch und hob, kaum merklich, den schweren Kopf. Dann senkte er ihn wieder auf die Vorderpfoten.
Merton Heimrich trug den schweren Hund zum Wagen. Heimrich ist ein großer, kräftiger Mann. Susan ließ Mite ins Haus. Sie versprach ihm, dass er sein Abendbrot noch bekommen würde. Mite glaubte kein Wort und sagte das auch. Es war ja auch längst Zeit für Mites Abendbrot. Susan sah auf ihre Uhr. Ja, halb sieben.
Am besten vergewisserten sie sich erst einmal, dass Dr. Barton noch in seiner Praxis war. Sie schlug im Telefonbuch nach. Barton, A. Sie wählte. Sie bekam das Freizeichen. Bekam es wieder und wieder. Wahrscheinlich hielt Dr. Barton sich an die üblichen Bürozeiten. Möglicherweise schloss er wie manche Ärzte, die Zweibeiner und nicht Vierbeiner behandelten, seine Praxis an Samstagen. Manche Ärzte nahmen sich dazu noch den Mittwoch frei. Wie Friseure, dachte Susan, und ließ es weiter läuten bei Barton. Schließlich konnte man Tiere in einer Klinik nicht völlig ohne Aufsicht und Pflege lassen. Es musste doch jemand...
»Praxis Dr. Barton. Was kann ich für Sie tun?«
Es war eine weibliche Stimme, eine junge Stimme.
»Hier spricht Mrs. Heimrich«, sagte Susan. »Mrs. M. L. Heimrich.« Das M. L. half vielleicht. Es stand für Inspektor der State Police. »Unserem Hund geht es nicht gut, und es wäre uns lieb, wenn Dr. Barton ihn sich einmal ansehen würde. Ist der Doktor da?«
Es folgte eine Pause, offenbar zum überlegen.
»Ja, er ist schon da. Aber die Praxis wird um fünf Uhr geschlossen. Außerdem operiert er im Augenblick. Wenn es natürlich ein dringender Fall ist, Mrs. Heimrich...?«
»Ja, es ist leider dringend«, antwortete Susan. »Kann ich Dr. Barton sprechen?«
»Ich darf ihn nicht stören, während er operiert. Aber wenn es wirklich dringend ist, dann ist es wahrscheinlich das Beste, sie bringen den Hund her. Ist es ein großer Hund?«
»Eine Dogge«, erklärte Susan und bekam als Antwort ein etwas verdattertes »Oh«.
Eine sehr junge Stimme, dachte Susan. Beinahe eine Kinderstimme. Ein Kind, das Angst hatte vor einer Dogge?
»Mein Mann wird schon mit ihm fertig«, sagte Susan. »Er ist ein ziemlich kräftiger Mann, Miss...«
»Carol Arnold, Mrs. Heimrich. In - oh, sagen wir in einer halben Stunde. Bis dahin müsste der Doktor eigentlich fertig sein. Er sterilisiert gerade eine Katze.«
»Gut, in einer halben Stunde dann«, erwiderte Susan.
Sie stieg über Mite hinweg, der ihr um die Beine strich. Mite erinnerte sie wieder an sein Abendessen. Diesmal bekam er es.
»Er lebt noch«, sagte Merton Heimrich, als sie zum Wagen zurückkam. »Aber ich hab das Gefühl, sein Leben hängt an einem dünnen Faden. Susan, ich fürchte...«
»Ja«, sagte Susan. »Ich auch. Ich habe den Tierarzt angerufen. Er erwartet uns. In ungefähr einer halben Stunde. Er sterilisiert gerade eine Katze. Ich habe mit seiner Sekretärin gesprochen. Oder Sprechstundenhilfe oder was sie sonst ist. Sie wird ihm Bescheid sagen.«
Heimrich steuerte den Buick die steile Auffahrt zwischen den Felsen hinunter; die steile, gewundene Asphaltstraße hinunter, die High Road hieß und in die NY 11F mündete, die innerhalb der Ortschaft noch als Van Brunt Avenue beschildert ist.
Normalerweise pflegte Colonel den Kopf aus dem Fenster zu strecken, sobald der Wagen, in dem er sich befand, anfuhr. Diesmal jedoch rührte er sich nicht; er blieb ausgestreckt auf dem Rücksitz liegen. Aber sie konnten seinen Atem hören, als sie nach Norden in Richtung Cold Harbor abbogen. Er kam keuchend und stoßweise.
Heimrich fuhr nicht schnell. Cold Harbor war nur ungefähr zwanzig Minuten entfernt; Dr. Bartons Praxis lag noch vor Cold Harbor.
Auf dem Schild stand Barton Lane, und es befand sich auf der rechten Seite. Die Straße war schmal und asphaltiert. Heimrich lenkte den Buick hinein. Nach etwa zweihundert Meter machte die Straße einen scharfen Knick nach links. Sie gelangten zu einem niedrigen, rechteckigen Backsteinbau. Dahinter, gar nicht weit entfernt, stand ein weißes Haus, ein ziemlich großes Haus. Ein Schild vor dem Backsteinbau verkündete:
Kleintierklinik – Adrian Barton.
Susan stieg aus und ging zur Tür der kleinen Tierklinik; Merton öffnete eine Wagentür und betrachtete Colonel, der diesmal den Kopf ein wenig hob und die Augen öffnete. Traurig blickten seine Augen immer. Jetzt jedoch blickten sie trauriger denn je, und Heimrich hatte den Eindruck, dass eine Frage in ihnen lag.
»Ich weiß nicht, alter Junge«, sagte Heimrich zu dem Hund.
Colonel schloss die Augen wieder. Er war, dachte Heimrich, als hätte der große Hund die Antwort akzeptiert. Nun, er war jedenfalls noch am Leben, und er war entschieden sehr groß. Es würde nicht einfach sein, ihn aus dem Wagen hinauszubugsieren, wenn nicht der Tierarzt sich dazu herbeiließ, zu helfen oder jemanden herauszuschicken, der helfen konnte. Heimrich legte seine Hand auf den Kopf des Hundes. Colonel zuckte mit einem Ohr.
An der Tür zur Praxis hing ein Schild. Bitte läuten und eintreten stand darauf. Susan läutete und drehte den Türknauf. Die Tür war abgeschlossen. Susan läutete noch einmal. Diesmal hörte sie von der anderen Seite Schritte. Es waren schnelle leichte Schritte. Und dann wurde die Tür geöffnet.
Es war kein Kind, das da stand. Es war eine junge Frau, wahrscheinlich Mitte Zwanzig, ausgesprochen hübsch. Das blonde Haar lag weich und schimmernd um ihren Kopf, und ihre blauen Augen waren auffallend groß. Sie trug eine weiße lange Hose und einen weißen Kittel darüber. Ihr Lächeln war beinahe so unpersönlich wie das einer routinierten Krankenschwester.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Nach fünf schließen wir immer ab. Sind Sie die Dame, die angerufen hat? Wegen der kranken Dogge?«
»Ja, ich bin Susan Heimrich. Hat Dr. Barton jetzt Zeit für uns?«
»Er ist sicher bald fertig«, antwortete das Mädchen. »Ich bin Carol Arnold. Ich mache hier so eine Art Praktikum. Während der Sommerferien. Ich studiere nämlich Tiermedizin. An der Cornell-Universität. Sie sind mit dem Hund hier?«
»Ja, Miss Arnold. Soll mein Mann ihn hereinbringen?«
Susan blickte sich in dem kühlen Raum um, als sie eintrat, und erinnerte sich von jenem ersten Besuch her vage daran. Es war früher Nachmittag gewesen damals, und das kleine Zimmer war nicht leer gewesen. Es war beinahe überfüllt gewesen von Menschen und kleineren Tieren - Hunden an Leinen und Katzen in Tragtaschen und Käfigen. Eine der Katzen, eine siamesische, der es nicht gefallen hatte, in einem Käfig zu sitzen, hatte sich lautstark beschwert.
An diesem Abend warteten keine anderen Patienten auf den Arzt. Der grüne Bezug des kleinen Sofas war so trist, wie er ein Jahr zuvor gewesen war, als Colonel aus eigener Kraft in die Klinik hineinmarschiert war; das heißt, man hatte ihn hereinziehen müssen, weil ihm der Geruch in der Praxis nicht geheuer gewesen war.
»Ich hole etwas, wo er sich drauflegen kann«, sagte Carol Arnold. »Vielleicht könnten Sie ihren Mann bitten, ihn jetzt hereinzubringen. Der Doktor muss jeden Moment kommen.«
Die hübsche junge Frau verschwand durch eine Tür aus dem Wartezimmer. Susan ging zu der anderen Tür und winkte Merton zu, der sich daran machte, Colonel aus dem Buick zu hieven.
Ein hochgewachsener junger Mann, der ein leichtes, helles Sakko trug und eine rote Hose, kam aus dem großen weißen Haus hinter der Klinik. Bei Heimrich blieb er stehen.
»Der ist aber wirklich groß, was?«, meinte er. »Kann ich Ihnen helfen? Wie wär's, wenn ich auf die andere Seite hinübergehe und ihm einen kleinen Puff gebe?«
»Ja, das wäre eine Hilfe«, antwortete Heimrich.
Gemeinsam bugsierten sie Colonel aus dem Wagen, und Heimrich trug ihn zur Tür der Praxis. Susan trat zurück, um ihn vorbeizulassen. Der junge Mann folgte ihnen. Und Carol Arnold kam mit einem großen Schaumgummikissen durch die andere Tür. Der hilfsbereite junge Mann trat rasch zu ihr, um ihr zur Hand zu gehen.
»Hallo, Lathe«, sagte sie. »Ich schaff’ das schon. Legen Sie ihn einfach auf das Kissen, Inspektor.«
Heimrich ließ Colonel auf das Kissen hinunter. Colonel ließ es willig mit sich geschehen.
»Er ist schon ziemlich alt, nicht wahr?«, meinte Carol Arnold. »Man sieht es an seiner Schnauze.«
Colonels Schnauze begann grau zu werden. Sie schien Susan und Merton Heimrich grauer als je zuvor. Ja, er war wirklich schon ziemlich alt.
»Inspektor?«, echote der junge Mann in der roten Hose.
»Ja. State Police, Mr...«
»Dr. Latham Rorke.«
»Latham ist ein Freund von mir«, erklärte Carol. »Hin und wieder kommt er einfach - schaut er mal vorbei.«
»Braves Mädchen«, sagte Rorke ohne ersichtlichen Grund. Er fügte hinzu, »ich hab mal eben aus White Plains vorbeigeschaut, wo ich ein kleiner Assistenzarzt bin. Mit einem freien Abend im Monat.«
»Zwei«, korrigierte Carol. »Vielleicht ist Dr. Barton schon gegangen und sitzt zu Hause beim Essen. Aber...«
»Von da komme ich gerade«, meinte Rorke. »Von Adrian war keine Spur zu sehen, und Louise bat mich, ihm zu sagen, dass das Essen fertig ist. Es ist schon fast verkocht. Und dir soll ich das auch sagen, Carol. Außer - hast du Lust, ins Bird and Bottle zu fahren?«
Susan und ihr Mann empfanden das Gespräch als sprunghaft. Es war ein beiläufiges Gespräch, wie es zwischen zwei Menschen üblich ist, die einander gut kennen, und doch, dachte Susan, knisterte da eine gewisse Spannung. Die Erwähnung des Bird and Bottle erklärte einiges. Es war ein Restaurant in der Nähe - ein mäßig bekanntes Restaurant.
»Ja?«, sagte Dr. Rorke zu dem hübschen jungen Mädchen.
Die Heimrichs hätten ebenso gut überhaupt nicht vorhanden sein können.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Carol Arnold. »Louise hat das Essen fertig.« Sie schien sich plötzlich der Anwesenheit der Heimrichs bewusst zu werden. »Das ist Mrs. Barton«, erklärte sie. »Ich wohne den Sommer über bei ihnen. Bist du sicher, dass er nicht im Haus ist, Lathe?«
»Wenn er da ist, dann weiß jedenfalls Louise nichts davon«, antwortete Rorke. »Also, Carol Kind, kommst du mit ins Bird and Bottle?«
»Vielleicht«, meinte Carol. »Wenn Dr. Barton sich den Hund angesehen hat. Und wenn er mich nicht braucht. Er muss jetzt wirklich jeden Moment kommen, Mrs. Heimrich. Er sterilisiert eine von Mrs. Cummins’ Katzen, Lathe. Im Allgemeinen dauert so etwas gar nicht lange. Es ist eine Siamesin namens Jenny, die sie wahrscheinlich jemandem verkaufen will. Jemandem, der nicht züchten will, sondern nur ein Haustier möchte.« Sie sah auf ihre Uhr. »Aber er braucht diesmal wirklich sehr lange. Ich hoffe nur, es hat keine Komplikationen gegeben. Ausgerechnet bei einer Linwood-Katze.«
»Du könntest ja mal an die Tür klopfen und fragen«, schlug Rorke vor.
»Wenn Adrian operiert, darf ich ihn nicht ablenken. Das weißt du doch, Lathe. Du müsstest es jedenfalls wissen.«
»Ablenken, das gefällt mir«, meinte Rorke. »Ja, das gefällt mir ausgezeichnet.«
In seiner Stimme, fand Susan, lag ein ätzender Unterton. Das ist nicht unsere Sache, dachte sie. Warum kommt dieser verdammte Tierarzt nicht endlich heraus und kümmert sich um unseren Hund? Sie blickte auf Colonel hinunter. Jedenfalls atmete er noch. Aber den Bemühungen von Dr. Adrian Barton war das nicht zu verdanken.
»Dr. Barton müsste jeden Moment kommen, Mrs. Heimrich«, sagte Carol zum dritten Mal. Sie schien Dr. Latham Rorkes Bemerkung gar nicht gehört zu haben, die Schärfe seines Tons gar nicht bemerkt zu haben. »Aber im Moment scheint er ja sowieso nur zu schlafen.«
Er, vermutete Susan, war Colonel. Auf Dr. Barton konnte sich das kaum beziehen. Oder vielleicht doch. Konnte er denn in seinem Operationsraum keine Stimmen hören? Oder wollte er sie nur nicht hören?
»Ja«, sagte Susan, »er scheint tatsächlich zu schlafen. Aber könnten Sie Dr. Barton nicht fragen, wie lange es noch dauert, Miss Arnold? Ich meine, wir warten jetzt doch schon eine ganze Weile. Er braucht sich Colonel ja nur einmal anzusehen und uns zu sagen, was er meint. Ob er überhaupt etwas tun kann. Natürlich nur, wenn er mit Mrs. Cummins Katze wirklich fertig ist.«
»Na schön«, meinte Carol Arnold, »er wird zwar nicht erfreut sein, aber es ist wahrscheinlich das Beste...«
Sie erklärte nicht, was sie für das Beste hielt. Stattdessen ging sie zur Tür am Ende des Wartezimmers und klopfte. Sie klopfte zaghaft. Dann sagte sie: »Doktor? Dr. Barton?«
Sie öffnete die Tür weit und hielt mitten in der Bewegung inne und rief: »Oh - oh, nein.« Mit jedem Wort wurde ihre junge Stimme lauter. Das Nein schrie sie beinahe.
Sie wich von der offenen Tür zurück. Sie schien zu schwanken, aber als Rorke mit langen Schritten durch den Raum eilte und sie in die Arme nahm, hatte sie ihr Gleichgewicht schon wiedergefunden. Doch Rorke ließ sie nicht los.
Heimrich konnte in das kleine, hellerleuchtete Operationszimmer hineinsehen. Eine Leuchtstoffröhre bestrahlte grell den Operationstisch. Aber der war leer.
Auf dem Boden neben dem Operationstisch lag ein Mann. Es war ein ziemlich großer Mann, aber er wirkte wie ein armseliges Bündel, wie er dort auf dem Boden lag. Er trug einen weißen Kittel.
Als Heimrich in den Operationsraum ging, konnte er hinter sich die Stimme des Mädchens hören.
»Nicht ich, Lathe«, sagte Carol Arnold. »Nicht ich - Adrian. Du bist doch Arzt, oder? Oder nicht, Lathe?«
Dr. Latham Rorke kniete neben dem reglos daliegenden Mann im weißen Kittel nieder. Er suchte den Puls; er wälzte Adrian Barton auf den Rücken und beugte sich über ihn, um nach Herztönen zu lauschen. Dann richtete er sich auf und sah Heimrich an.
»Er hat bestimmt irgendwo ein Stethoskop«, meinte er. »Da drüben in dem kleinen Schrank wahrscheinlich. Neben dem Kühlschrank.«
Heimrich öffnete den Schrank, auf den Rorke hingewiesen hatte. Das Stethoskop lag darin. Er gab es Rorke, und Rorke hängte es sich um. Er hörte die entblößte Brust an verschiedenen Stellen ab, schließlich richtete er sich auf und blickte wieder zu Heimrich hinauf. Er nahm das Stethoskop aus seinen Ohren.
»Nichts«, sagte er. »Er ist tot, Inspektor.« Er stand auf und sah das Mädchen an, das wieder unter der Tür stand. »Tut mir leid, Carol«, sagte er. »Adrian ist tot.«
Carol Arnold sagte nichts. Sie drückte eine Hand auf ihren Mund.
Heimrich war zuvor schon sicher gewesen, dass der Mann auf dem Boden tot war.
»Woran ist er gestorben, Doktor?«, fragte er.
Rorke zuckte die Achseln. In einer Geste der Ratlosigkeit breitete er die Hände aus.
»Herzversagen«, meinte er. »Kann auch ein tödlicher Schlaganfall gewesen sein. Oder diabetisches Koma. Um es mit Sicherheit sagen zu können, müsste man eine Autopsie vornehmen. Sehen Sie...«
»Dr. Barton war Diabetiker, Doktor?«
»Ja, das hat er mir einmal erzählt«, erwiderte Rorke. »Er sagte, es wäre ein milder Fall, aber er musste Insulin nehmen. Vierzig Einheiten pro Tag. Ich war nicht sein Arzt, wissen Sie. Er war bei einem Kollegen namens Chandler in Behandlung.«
»Und er hat vergessen, sein Insulin zu nehmen?«, sagte Heimrich. »Und in Folge davon ist das Koma eingetreten, und er ist gestorben. Ist das Ihre Vermutung, Doktor?«
»Es ist wirklich nur eine Vermutung«, erwiderte Rorke. »Eine Möglichkeit. Wie gesagt, Gewissheit darüber kann nur eine Autopsie bringen. Vorausgesetzt, Louise ist damit einverstanden.«
»Selbst wenn sie nicht einverstanden ist, wird, fürchte ich, eine Autopsie vorgenommen werden müssen. Dr. Chandler wird ganz gewiss keinen Totenschein ausstellen. Und ich weiß nicht, ob wir ihn annehmen würden, wenn er es täte. Halten Sie es denn für wahrscheinlich, dass Dr. Barton seine Insulinspritze einfach vergessen hat, Doktor? Immerhin war er selbst Mediziner.«
»Nein, das würde ich nicht für wahrscheinlich halten. Und bei Diabetikern läuft das Spritzen nach einiger Zeit ganz automatisch. Außerdem hat er an der Cornell-Universität medizinische Grundkurse besucht. Das ist Voraussetzung für das tiermedizinische Studium. Nein, ich halte es für höchst unwahrscheinlich, dass er die Spritze einfach vergessen hat. Im Allgemeinen wird eine halbe Stunde vor jeder Mahlzeit injiziert. Vielleicht...«
Er brach ab, als er merkte, dass Heimrich ihn gar nicht ansah. Heimrich blickte auf den Toten hinunter. Er blickte auf eine Injektionsspritze, die auf dem Boden lag, teilweise verborgen unter einer Falte von Bartons weißem Kittel. Sie lag nicht weit von der schlaffen rechten Hand.
»Ziehen Sie ihn ein Stück weg, Doktor«, sagte Heimrich. »Zu Ihnen hinüber.«
Als Rorke das getan hatte, konnten sie beide die Spritze sehen. Rorke streckte die Hand danach aus.
»Nein, Doktor«, sagte Heimrich. »Die nehme ich.«
Auf dem schmalen Tisch unter dem Hängeschrank neben dem kleinen Kühlschrank stand eine Schachtel Kleenex. Er nahm mehrere heraus und hob mit ihnen die Spritze auf. Sorgfältig wickelte er sie in den Zellstoff ein und steckte sie in seine Tasche.
»Du meine Güte«, rief Rorke. »Sie tun ja, als wäre das - ich weiß nicht recht, wie ich es formulieren soll. Sie - nun ja, Sie benehmen sich wie ein Kriminalbeamter.«
»Ich bin Kriminalbeamter«, erwiderte Heimrich. »Und plötzliche Todesfälle sind uns nie geheuer. Schon gar nicht unerklärte plötzliche Todesfälle.«
»Wahrscheinlich hat er die Spritze gebraucht, um der Katze ein Barbiturat zu verabreichen«, meinte Rorke. »Ich meine, bevor er sie operierte. Das nimmt man im allgemeinen für die Anästhesie.«
»Und, um sie, wie man so schön sagt, einzuschläfern«, sagte Heimrich. »Das heißt, um sie zu töten. In Ihrem Beruf ist so etwas natürlich nicht erlaubt.«
»Jedenfalls noch nicht«, meinte Rorke. »Aber ich habe schon Fälle gesehen, wo...«
Er beendete den Satz nicht. »Jemand muss Louise Bescheid sagen«, sagte er.
Heimrich stimmte ihm zu. »Miss Arnold?«, fragte er.
Carol Arnold stand immer noch an der Tür. Susan hinter ihr. Heimrich hatte Carol nicht angesprochen, aber sie antwortete - mit erstickter Stimme.
»Nein«, rief sie. »Bitte nicht. Inspektor. Ich - ich schaffe das nicht.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Rorke. »Ich werde es tun.«
Doch da sagte Carol wieder »nein«. Sie erklärte: »Das muss schon ich übernehmen, nicht wahr? Aber kommst du mit, Lathe? Für den Fall - nun, für den Fall, dass sie etwas braucht?«
Rorke sah Heimrich an, und Heimrich nickte.
»Ja«, meinte Heimrich, »Sie gehen am besten beide. Aber kommen Sie auf jeden Fall beide noch einmal hierher, sobald Sie das
Gefühl haben, dass Mrs. Barton Sie nicht mehr braucht.«
Sie verließen das Wartezimmer nicht durch die vordere Tür. Sie gingen stattdessen durch die Tür hinaus, durch die Carol gekommen war, als sie das Schaumgummikissen für Colonel gebracht hatte.
»Schau, Schatz«, sagte Susan. »Er hat sich umgedreht. Er liegt jetzt in der anderen Richtung.«
Es stimmte. Colonels Kopf lag jetzt am anderen Ende des Kissens. Und sie hatten beide den Eindruck, dass er leichter atmete.