Suche Hose, biete Rock - Annegrit Arens - E-Book
SONDERANGEBOT

Suche Hose, biete Rock E-Book

Annegrit Arens

3,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Liebe lieber italienisch … „Suche Hose, biete Rock“ von Annegrit Arens jetzt als eBook bei dotbooks. Alice hat eine Schwäche für Italien: Cremiges Stracciatella-Eis und würzige Pasta, strahlender Sonnenschein und Dolce Vita – das ist es, wovon sie träumt. Ab und zu dürfte es auch ein knackiger Latino-Lover sein … Stattdessen sitzt sie als biedere Unternehmergattin im nass-kalten Deutschland und ist darauf bedacht, den Nachbarn keinen Grund für Lästereien zu liefern. Dabei ist es ihr Mann, der jedem Rock nachjagt und bei der erstbesten Gelegenheit die Hosen runterlässt. Doch genug ist genug! Alice setzt sich nach Italien ab und gönnt sich selbst endlich mal Pizza, Pasta und Amore! Das ruft auch ihren Ehemann auf den Plan – mit unerwartet romantischen Ambitionen. Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Suche Hose, biete Rock“ von Annegrit Arens. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 746

Bewertungen
3,0 (18 Bewertungen)
5
3
2
3
5
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Alice hat eine Schwäche für Italien: Cremiges Stracciatella-Eis und würzige Pasta, strahlender Sonnenschein und Dolce Vita – das ist es, wovon sie träumt. Ab und zu dürfte es auch ein knackiger Latino-Lover sein … Stattdessen sitzt sie als biedere Unternehmergattin im nass-kalten Deutschland und ist darauf bedacht, den Nachbarn keinen Grund für Lästereien zu liefern. Dabei ist es ihr Mann, der jedem Rock nachjagt und bei der erstbesten Gelegenheit die Hosen runterlässt. Doch genug ist genug! Alice setzt sich nach Italien ab und gönnt sich selbst endlich mal Pizza, Pasta und Amore! Das ruft auch ihren Ehemann auf den Plan – mit unerwartet romantischen Ambitionen.

Über die Autorin:

Annegrit Arens hat Psychologie, Männer und das Leben in all seiner Vielfalt studiert und wird deshalb von der Presse immer wieder zur Beziehungsexpertin gekürt. Seit 1993 schreibt die Kölner Bestsellerautorin Romane, Kurzgeschichten und Drehbücher. Fünf ihrer Werke wurden für die ARD und das ZDF verfilmt.

Annegrit Arens veröffentlicht bei dotbooks unter anderem folgende Romane:

Bella RosaWeit weg ist ganz nahAus lauter Liebe zu dirWenn die Liebe Falten wirft

Eine Übersicht über alle Romane der Autorin finden Sie am Ende dieses eBooks.

Die Website der Autorin: www.annegritarens.de Die Autorin im Internet: www.facebook.com/AnnegritArens

***

Neuausgabe Januar 2016

Copyright © der Originalausgabe 1997 Bastei Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Josch

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-486-3

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren Lesestoff aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Suche Hose, biete Rock an: [email protected]

Gerne informieren wir Sie über unsere aktuellen Neuerscheinungen und attraktive Preisaktionen – melden Sie sich einfach für unseren Newsletter an: http://www.dotbooks.de/newsletter.html

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.twitter.com/dotbooks_verlag

http://instagram.com/dotbooks

http://blog.dotbooks.de/

Annegrit Arens

Suche Hose, biete Rock

Roman

dotbooks.

Kapitel 1 Kennst du das Land …?

»Mein Goethe ist weg!« Alice rückte den Stapel Zeitschriften zur Seite. Vielleicht dahinter? »K-a-a-a-r-1, hast du meinen Goethe …?«

»Ich hab nicht mal ein ordentliches Hemd.« Tür auf, Kopf rein, Karl schaffte es sogar in Unterwäsche, pedantisch auszusehen. »He, laß meine ›auto, motor, sport‹ in Ruhe!«

Das oberste Titelblatt zeigte das Volksauto in Nobelversion und Goldbraun. Sollte sie ihren Schülern die Schönheit der deutschen Sprache etwa an Kurbelwellen und Einspritzmotoren demonstrieren? Alice versetzte dem Zeitungsstoß einen Schubs. Er begriff es nicht. Er begriff’s einfach nicht. »M-e-i-n- G-o-t-t!«

»Zur Stelle!« Karl trat näher, brachte mit rechts seine Magazine in Sicherheit und langte mit links dorthin, wo er seit Jahren zweimal wöchentlich hingriff.

Alice sah automatisch Richtung Kalender, dann zur Uhr. Der Tag stimmte. Die Uhrzeit nicht.

»Stimmt«, sagte Karl und ließ Alice los, »zu früh. Und wie ist das nun mit meinem Hemd? Ich brauchte das neue gelbe.«

Alice zuckte die Schultern und ging hinaus, die Treppe hoch, ins Schlafzimmer. Karl suchte sein gelbes Hemd. Zitronen waren auch gelb, dufteten, in Italien taten sie das, im Reim auch. Alice schloß die Augen, deklamierte Goethes »Lied der Sehnsucht«, sah Zitronenhaine wogen, wogte mit, prall und sehnsüchtig: »Dahin! Dahin! Möcht’ ich mit dir, o mein Geliebter ziehn!«

»Erst das Hemd!« sagte eine Männerstimme hinter ihr.

Alice öffnete die Augen, sah sich, sah Karl, sah das Ehebett mit den straffgezogenen Laken: »Ich suche nur meine Lektüren!«

»In unserem Bett?« Er grinste. »Gedulde dich bis heute abend!«

Alice sagte nichts. Sie fand die dünnen Reclamheftchen schließlich in der Garderobe. Wenn sie eins wußte, dann dies: Es war nicht Karl gewesen, der mit ihr im Zitronenhain schwelgte. Wer schwelgte schon mit einem gelben Oberhemd?

***

»Kennst du das Land…?« Alice räusperte sich. Ihr war nicht wohl mit diesem Reclamheftchen in der Hand und dem Blick auf die schmuddelige Wand, auf der noch immer das Wort »FUCK!« durchschimmerte. Die Sprayer gingen um und versprühten ihre Null-Bock-Parolen. Ans Schulportal, im Fahrradkeller, in den Klassenzimmern des Hauptgebäudes und jetzt auch in ihrer eigenen 10c im Pavillon.

Kennst du das Land? Das Lied von Mignon war zart und poetisch, bei Goethe gehörten die Töne einer Zither dazu, hier krachte und bollerte es in den Heizungsrohren. Alice rückte sich auf der Pultkante zurecht, auf der sie immer saß, wenn sie vorlas, und begann noch einmal von vom.

»Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?« Die erste Zeile mußte feierlich und prächtig gesprochen werden, sie war die Verheißung von etwas Unglaublichem, so stand es im Text.

Ein Schnüffeln unterbrach Alice: »Geil, hey!«

Alice sah auf.

»Zitronen, du Arsch! Kein Koks.« Ein Ellbogen in einem lappigen Pulliärmel rammte den Schnüffler.

»Ach so.« Der Schnüffler sackte wieder auf seinem Stuhl zusammen.

Gelächter. Pfeifen. Stuhlscharren.

Alice schluckte. Sie könnte »Ruhe!« brüllen oder »Hefte raus!« kommandieren, sie könnte eine Arbeit über Goethes »Lehr- und Wanderjahre« androhen, sie könnte den Geil-Hey-Schnüffler ins Klassenbuch eintragen, oder den Arsch-Rufer, der zugleich Klassensprecher ihrer 10c war. Sie könnte all das tun, was viele Kollegen seit Jahren taten. Sie könnte »Mignon« und den »Harfner« und »Wilhelm Meister« und all ihre Romanhelden totschweigen. »Die Kolb spinnt!« Vielleicht spann sie. Lieber spann sie.

»Okay«, sagte sie, »Alex hat recht, es geht nicht um Kokain, sondern um Zitronen, Goldorangen und Sehnsucht.« Alice schwieg. Sehnsucht? Die Jalousie hing schief, ein blasser Lichtstrahl malte das Muster der Lamelle auf ihre Beine, die in anthrazitgrauen Strumpfhosen steckten. Alltagslicht, Alltagsstrümpfe, im Supermarkt gab’s die Zitronen im Netz. In Italien nicht. Nicht in ihrem Italien. »Was fällt euch denn so zu Italien ein?« fragte sie zögernd.

»Rimini!« – »Nee, Riccione ist besser!« Plötzlich wurden sie lebendig. Siebzehn Jungen und vierzehn Mädchen in Schlabberpullis, mit winterbleichen Gesichtern und strähnigen Haaren riefen durcheinander, waren allesamt Experten in Sachen italienische Gastronomie, italienische Nobelklamotten und italienische Popstars: »Die mit der Reibeisenstimme!« – »Gianna Nannini, du Ei!« – »Eros Ramazotti!« – »Nimm doch gleich Heino!« – »Madonna!« – »Madonna mia!« – »Hättste wohl gerne?« – »Mögen Sie Madonna?«

»Ich weiß nicht.« Alice zupfte an ihren Strümpfen. Blickdicht, kochfest, bei »Madonna« wär’s Latex oder Leder oder Haut pur vom Knöchel bis zum Schlüsselbein. »Madonna« stand für Sex, Skandal, Jungsein. Madonna war ein Idol, eins mit viel Busen. »Als ich so alt war wie ihr jetzt«, fügte Alice hinzu, »habe ich für Sophia Loren geschwärmt, ich hätte für mein Leben gern so wie die Loren ausgesehen, kennt ihr die?« Alice stockte. Im Stoffverteilungsplan stand Goethe. »Die Kolb spinnt!« Sie spann wirklich.

»Loren?« Oliver, der »Kokser« von vorhin, der für seine Anti-Sprüche bekannt war, schüttelte den Kopf. »Nee! Ich kenn’ höchstens Lore-Romane, die liest meine Mutter.«

»Hat die nicht gerade so ’ne Art Renaissance?« fragte jemand von hinten.

»Meine Mutter?«

»Blödmann! Die Loren. In irgendwas mit Edelklamotten.«

Edelklamotten waren auch »geil«. Markennamen umschwirrten Alice, erinnerten sie an Karl, obwohl dessen Hemden garantiert ein anderes Etikett trugen. Egal, irgendwann wurden aus Designerjeans Maßanzüge, Maßhemden, das »neue gelbe« war auch maßgeschneidert. Das Hemd war seinem Träger auf den Leib und auf den Charakter geschneidert. Gelb war nicht gleich gelb. Karl produzierte Sicherungskästen. Sie nicht.

»Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?« Alice betonte die ersten beiden Zeilen feierlich und prächtig. Sie brauchte keinen Text, um das Lied von Mignon vorzutragen. Sehnsuchtsvoll, bittend, treibend, vielversprechend: »Dahin! Dahin! Möcht’ ich mit dir, o mein Geliebter ziehn!«

Beim letzten »Dahin!« klingelte es. Die Tür wurde aufgerissen. Johlen, Kreischen, eine Horde Schlabberpullis stürmte nach draußen. Alice sah ihnen nach. Immerhin sieben Zeilen, dachte sie, und schrieb »Goethe/Lehrjahre« in das Klassenbuch, obwohl dort umgerechnet auf fünfundvierzig Minuten eher »Kolb/Jugendträume« stehen müßte.

Alice sah an sich hinunter. Keine Loren! Keine Renaissance! Die weite Hemdbluse ließ nur zwei sanfte Erhebungen erkennen, aber darunter saß das andere: Die Gier auf etwas, was wieder so prall war wie Goethes Zitronen und Goldorangen und Sehnen. Vielleicht waren sie doch nicht so weit von dem Thema entfernt gewesen, das sie eingetragen hatte.

Sie griff nach dem Schwamm, begann die Tafel zu säubern, erst außen und dann innen. Innen prangte eine Zeichnung, nicht sehr kunstvoll, trotzdem fiel es Alice nicht schwer, sich einen Reim auf die Kreidestrichelfrau mit Zeigestock zu machen, der gerade die Brüste aufgepumpt wurden. Ballonartig. Sophia- Loren-artig. Sie wischte, schniefte, kickte wütend gegen zwei leere Glasflaschen, hätte sie zerschlagen mögen. Tat eine ordentliche Lehrerin nicht!

Ordentlich?

Dort lag eine vergessene Bananenschale, daneben ein Apfelkitsch, es folgten Brotreste und festgepappte Kaugummiklumpen. Mechanisch ging Alice die Tischreihen ab. Heute war Freitag, die Putzfrauen machten einen Bogen um den Pavillon, und am Montag starteten alle zehnten Klassen zur Abschlußfahrt, dann machte hier erst recht niemand mehr sauber. Sie sah auf ihre beiden berstend vollen Mülltüten. Echt ätzend!

***

Alice stellte ihre Mülltüten im Lehrerzimmer ab und ärgerte sich. Auf ihrem Platz lag ein Zettel, der dreißig Mark Minus in der Kaffeekasse mit drei Ausrufezeichen anmahnte. Das Kaffeegeld wurde monatlich in der großen Pause eingesammelt, bei der letzten Sammelaktion war Alice wie üblich in ihrer Baracke am Ende des Schulgeländes gewesen, die dafür verantwortlich war, daß sie statt der ihr zustehenden zwei Tassen Kaffee täglich höchstens zwei Tassen wöchentlich konsumierte. Hochgerechnet auf ein Schuljahr verdiente sie statt diesem Mahnzettel eher eine Rückzahlung, und obendrein eine Belobigung als freiwillige Putzfrau. Von ihrer Freistunde blieben ihr noch exakt zehn Minuten für eine Tasse Kaffee, nur daß die Thermoskannen auf dem Tisch leer waren. Sie kam wieder einmal zu spät.

»Kaffeepäuschen?« fragte der Kollege, dessen Schüler soeben über den Flur lärmten.

»Schön wär’s.« Alice schüttelte demonstrativ die leere Kanne.

»Das haben wir gleich!« Der Kollege zwinkerte ihr zu, bückte sich unter den Tisch und kam mit einer Thermoskanne wieder hoch. »Eiserne Reserve«, sagte er und füllte galant zuerst die Tasse von Alice und dann seine eigene auf. »Milch?« fragte er und schwenkte den Gießer, woraufhin Alice stumm nickte.

»Eigentlich …«, setzte sie an.

»Eigentlich sind Sie gar nicht für Kaffeesahne vorgesehen«, sagte die Kollegin, die anscheinend ebenfalls ihre Schüler vor dem Klingelzeichen verabschiedet hatte und in diesem Jahr für die Vergnügungskasse zuständig war. Sie zückte ihre Kladde, glitt mit dem Finger die Namen entlang, stoppte und takkerte auf eine Stelle.

Alice brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, daß die Bleistiftspitze auf »Kolb, Alice« herumhackte, die mit dreißig Mark im Minus war und Kaffeesahne konsumierte, für die sie nicht bezahlte. Schwarzer Kaffee war fünf Mark billiger.

»Eigentlich trinke ich so gut wie gar keinen Kaffee mehr«, erwiderte Alice.

»Dann müssen Sie vorher abbestellen. Jetzt ist es zu spät. Wollen Sie sich auch nicht mehr am Sekt beteiligen?«

Alice schüttelte verneinend den Kopf, obwohl sie sich liebend gern nicht mehr an dem Sekt beteiligt hätte, der schlicht eklig schmeckte und zu jedem Ferienbeginn, Geburtstag, Ruhestand und Tauffest ausgeschenkt wurde. Es hätte unsolidarisch oder knickerig ausgesehen, wenn sie sich von der Vergnügungsliste streichen ließe.

Also zahlte sie ihre dreißig Mark Rückstand plus fünfzig Pfennig für den Extra-Blubb, was ironisch gemeint war, von der Kollegin aber lediglich mit einem Extrahäkchen in der Liste bedacht wurde. Dann wartete Alice den Ausschank des Sekts und die launigen Worte des Schulleiters ab, die heute einem Kollegen galten, der Vater geworden war. Vater von einem Sohn, weshalb er ein Steckkissen mit hellblauem Mäusezähnchensaum überreicht bekam. Einheitslook. Einheitspreis. Alice hatte eine Vision von zirkulierenden Steckkissen.

Wer stopfte sein Kind heutzutage schon noch in solch ein Futteral? Außer für’s Foto. Die Pinnwand im Lehrerzimmer wimmelte von Lehrer-Steckkissen-Polaroid-Babys: »Wir danken dem Kollegium …« Gleich daneben hingen die Fotos der Ruhestandskollegen mit dem obligaten »Tannenbaum-mit-Ballen«-Geschenk im Arm, die dankten ebenfalls in wohlgesetzten Worten.

»Auf den neuen Erdenbürger!« – »Zum Wohl!« – »Wohlsein!«

»Trinken Sie das etwa nicht?« flüsterte der Kaffeespender- Kollege neben Alice und zeigte auf ihr Glas, das sie randvoll auf den Tisch zurückgestellt hatte.

Alice schüttelte den Kopf.

»Also, ehe wir das gute Zeug umkommen lassen«, ein fragender Blick, und schon war ihr Glas so leer wie alle anderen.

Alice räumte ihre Tasche ein und bückte sich nach den beiden Müllbeuteln. »Also dann!«

»Lassen Sie sich ja nicht erwischen.« Ihr Nachbar zwinkerte ihr erneut zu und zeigte auf den Beutel, aus dem zwei Flaschenhälse aus Weißglas und einer aus grünem Glas lugten.

Alice nickte. Im Hinausgehen bekam sie gut hörbar mit, wie die Kollegin mit der Vergnügungskasse sich darüber ausließ, daß nun endlich heraus sei, wer das vorbildliche Müllentsorgungssystem des Gymnasiums fortlaufend boykottiere.

Alice steuerte die häßliche Mülltonnenparade an, welche der Schulleiter stolz neben dem Haupteingang hatte aufbauen lassen. Bei dem Versuch, die Metallkappen streng nach Vorschrift von dem liegengelassenen Leergut ihrer Schüler abzudrehen, schnitt Alice sich prompt in den Finger. »Scheiße!« Sie sah sich um, ob jemand sie gehört hatte.

»Na-na-na!« Der Zwinkerer stand hinter ihr und lächelte fröhlich.

»Sorry!« Alice machte, daß sie zu ihrem Auto kam. Es war ihr peinlich, laut fluchend erwischt zu werden. Echte Fäkalien gehörten ins Klo, gedachte in die Hirnkammer. Karl leistete sich gelegentlich solch derbe Aussprüche, er nannte es »Dampf ablassen«. Karl war ein Mann, wenigstens was derlei betraf.

Alice wickelte sich ihr Taschentuch und ihren Schal um den blutenden Finger und entriegelte ihren Kombi, der eigentlich Karl gehörte, weil der ihn als Behelfslieferwagen über seine Firma laufen ließ.

»Müllentsorgung will gelernt sein«, sagte jemand neben ihr, »schließlich üben wir ja auch erst seit gut einem Jahr.«

Alice knallte die Wagentür zu. Leider gab das mit Bandage wenig her.

***

»Kennst du das Land?« Alice hämmerte die Kohlrabiknolle auf das Holzbrett. Diesmal war ihre Stimme weit davon entfernt, feierlich und prächtig klingen zu wollen, obwohl kein einziger Schnüffler oder Rufer die Stille um sie herum störte. Sogar die Aussicht stimmte. Aus dem Küchenfenster sah sie in ihren Garten, der auch Mitte März schon seinen Reiz hatte. Vorausgesetzt, sie mußte nicht stundenlang Gemüse kleinschnibbeln. Karl liebte Kohlrabi in Sahnesoße und junge Bohnen mit Speck und süß-saures Fenchelgemüse mit Kümmel.

»Kennst du das Land?« Alice setzte das Wellschliffmesser an. Halbe Knolle, Knollenscheiben, Knollenstifte. Hauptsache, es war ein Land ohne den Zwang, einen Ehemann einmal täglich mit gutbürgerlicher Kost zu versorgen, und wenn sie auf Klassenfahrt ging, im voraus. Fenchel für montags, Möhren für dienstags, Kohlrabi für mittwochs und immer so fort. Sie war erst bei Mittwoch, diesmal fuhr sie sechs Tage lang weg. Kennst du das Land? Holland, Land der Treibhaustomaten und Treibhaustulpen. Nichts gegen Holland, nur was sollte sie dort mit einunddreißig Schülern und einem Kollegen, der einen kannte, bei dem man in der Vorsaison spottbillig einen umgebauten Kutter anheuem konnte. Leider! Sie hätte »Nein!« sagen sollen. Nein zum Abenteuer, ja zur Nullacht-fünfzehn-Jugendherberge mit Nullacht-fünfzehn-Ärger.

»Kennst du das Land?« Diesmal schmetterte Alice die Worte im Takt mit dem grünen Strunk. Irgendwo mußten noch ein paar holländische Tomaten hemmliegen. Ihr war nach Tomatenschmettern, aber das gab Sauerei, da nahm sie schon lieber eins von den Blumenkohlröschen, die zum Raupenkillen in Essigwasser schwammen. Der Blumenkohl war für Donnerstag gedacht. Ein Röschen, päng! Zwei Röschen, päng! Dann verarbeitete sie eben für den Donnerstag Tiefkühlkost, die war ungezieferfrei, arbeitsfrei, geruchsfrei. Da roch Kohl wie Blattgemüse, nämlich gar nicht.

Karl würde den Unterschied sowieso nicht mehr mitbekommen. Er wußte, wie es in seiner Firma roch, und wie sein Kölsch roch. Seine Highlights waren Kolb Sicherungskästen und Kölsch vom Faß, vielleicht noch Tennis, und freitags und sonntags die Ehenummer. Früher hatten sie sich zusammen über die Spießer lustig gemacht, die jeden Freitag in den Pfuhl und jeden Samstag in die Wanne stiegen. Früher! Alice spießte das letzte weiße Röschen auf und holte aus: »Zum ersten, zum zweiten, zum dritten!« Das aufgespießte Gemüse rumste auf das Holzbrett, beim dritten Aufprall hüpfte es von der Messerspitze und titschte über den Boden. Ein Titscher auf Schwarz, einer auf Weiß, der Küchenboden glich einem Hüpfekästchen. Weiß war »Himmel«, Schwarz war »Hölle«, als Kind hatte Alice leidenschaftlich gern Hüpfekästchen gespielt. Sie strengte sich an, um bei jedem Hopser auf Weiß zu landen.

»Märzstich?« fragte eine Stimme von der Tür.

Alice stoppte. Auf Schwarz. Es machte sie wütend, bis ihr klar wurde, daß sie kein kleines Mädchen mehr war und Karl ihr Ehemann. Sie bückte sich.

»Blumenkohl«, sagte sie, »ein Röschen war nicht in Ordnung, oder sollte ich dir das etwa untermischen?«

»Schuhwichse«, Karl nahm ihr das Gemüse aus der Hand. »Und Haare.« Karl zupfte drei, vier lange schwarze Haare ab und hielt sie in die Luft: »Nett, daß du mich von deinen Haaren im Essen verschonst.«

»So bin ich nun mal!« Alice deckte mit ihrem Oberkörper das Holzbrett mit den übrigen Kohlkadavern ab. So war sie nun mal. Nett. Zum an die Wand nageln nett. Nett doof! Sie mißhandelte Gemüse, okay. Aber erst, nachdem sie das Zeug bis zur Atomisierung kleingeschnipselt hatte. Es gab genug Kneipen ringsum, die »wie bei Muttern« kochten und obendrein zapffrisches Kölsch vom Faß boten. Trotzdem kaufte und schnipselte und brutzelte sie auf Teufel komm heraus, ein schnipselwütiges Eheweib, das von ein paar verschämten Hüpfern abgesehen tadellos funktionierte.

Ihre Mutter hatte auch tadellos funktioniert. Die Küche war ihr Lebensmittelpunkt gewesen. »Dieses ewige Kochen bringt mich noch um!« hatte sie gestöhnt, ein lustvolles Stöhnen, und umgebracht hatte das ewige Kochen allenfalls den Vater von Alice, der war nämlich an einer Darmverschlingung gestorben. Alice rechnete zurück, wie lange das her war, und wie alt ihre Mutter damals war. Dreiundfünfzig, so um den Dreh, eine Witwe von dreiundfünfzig, die wenige Wochen nach der Beerdigung zu einem Neffen in die Staaten flog, um sich von ihrer Trauer abzulenken. Zwei Monate später ließ sie sich die Rente überweisen, ab und zu kam noch eine lustige Postkarte, mal von hier und mal von dort, vom Kochen war nicht mehr die Rede. Höchstens vom Schnapsbrennen. Bei dem Gedanken, noch vierzehn Jahre schnipseln und brutzeln und tadellos funktionieren zu sollen, kam Alice eine illegale Schnapsbrennerei mit einem halb so alten Neffen geradezu erstrebenswert vor.

»Hm!« machte es nun neben ihr. Vermutlich war nicht ihr Liebäugeln mit Selbstgebranntem gemeint. Plötzlich roch es nach Mettwurst und Bohnenkraut. Karl hatte den Deckel von dem Kochtopf abgenommen, in dem der Eintopf für heute abend köchelte. »Hm!« machte er noch einmal, senkte den Kopf und schnüffelte genüßlich.

»Hast du schon mal gekokst?« fragte Alice. Einfach so, weil ihr der Geil-Hey-Schnüffler von heute früh in den Sinn kam.

»Na hör mal, wie bist du denn drauf?« Karl richtete sich auf.

»Aber gekifft. Gekifft hast du bestimmt«, sagte Alice, »im Republikanischen Club haben sie alle.«

»Damals.« Karl winkte ab und lachte. »Heute ist mir ein ordentlicher Eintopf und was Handfestes lieber. Ich bin schon mal oben, in Ordnung?«

Alice nickte. Was sollte sie sonst tun? Der Eintopf am Freitag und der Ehesex am Freitag hatten sich eingebürgert. Irgendwie. Zur Zeit der Griebenschmalzbrote und Matratzenfeten im RFC, mit »There’s a kind of hush all over the world« im Ohr und »rotem Libanesen« im selbstgedrehten Glimmstengel, hatten sie beide an jedem x-beliebigen Tag Freitag gespielt, und wenn’s zufällig wirklich ein Freitag war, hatten sie sich unter dem Motto »Jetzt spielen wir Spießbürger!« geliebt und ihre Gaudi gehabt.

»Gaudi!« Alice drückte den Deckel wieder fest auf den Topfrand. Ihr war nicht nach Eintopf und nicht nach »was Handfestem« vorweg oben in dem modernen Ehebett mit den einzeln höhenverstellbaren Kopfteilen und Fußteilen, der harten Matratze für Karl und der mittelharten für sie selbst.

Alice hob den Kopf. Genau über der Küche lag das Bad. Die Dusche war abgestellt worden, Schritte tapsten über die Holzdielen, es rumste. Einmal, zweimal, das waren die unterschiedlich hohen Lattenroste. Jetzt lagen sie plan.

»Kommst du?« rief es von oben.

Alice nickte, stellte die Automatikkochuhr am Herd auf sieben Uhr ein, und ging hoch. Sie duschte, trotzdem hatte sie das Gefühl, nach Kohl zu riechen, als sie wenig später zu Karl unter seine Daunendecke schlüpfte. Es mochte daran liegen, daß die Essensportionen für Donnerstag und Freitag und Samstag ihr noch im Kopf herumgingen. Blumenkohl, Spitzkohl,

Lauch. Karl. Sie hörte, wie sein Atem schneller wurde. Schnipseln-brutzeln-schnipseln-brutzeln, auf und nieder, der Eintopf für gleich war schon fertig. Packen! Packen mußte sie auch noch. Karl kitzelte sie, sein Pusten in ihrer Halskuhle kitzelte. Gleich mußte sie niesen. Niesen mittendrin war total unerotisch. Denk an was anderes! Eros Ramazotti, Madonna, Sophia Loren. Kennst du das Land? Zitronen, Goldorangen, Treibhaustomaten. Holland! Holland im März auf einem altersschwachen Kutter. Sie spann wirklich!

»Hey!« Das Schnaufen verebbte. Karl lag nun neben ihr. Ein Fuß robbte zu ihr hinüber. »Du hast ja schon wieder eiskalte Füße!« Karls Fußsohle schabte über ihren Fuß, erst über den einen, dann über den anderen, schließlich klemmte er alle beide zwischen seinen Schenkeln fest. »Komm, ich mach dich wieder warm!«

»Ja«, sagte Alice. Einen Moment lang war es schön.

»Wie das erst auf deinem holländischen Kutter werden soll. Im März! Der Skipper reibt dir bestimmt nicht deine Eisdinger warm.« Karl lachte auf. Ein satter Lacher. Guter Witz, hoho!

Alice schloß die Augen. Skipper? Ihre Erfahrung mit der Schiffahrt beschränkten sich auf zwei, drei Touren mit der Köln-Düsseldorfer auf dem Rhein. Einen echten Skipper stellte sie sich seeräubermäßig vor. Ein bärtiges Gesicht, breite Halsmuskeln, überhaupt massig Muskeln und kein bißchen Fett um die Hüften, so einer hatte jede Menge Haare an den Beinen. Die haarigen Beine klemmten ihre Eisfüße ein. Ihr wurde warm. Sehr warm.

»Hey!« Eine Hand tippte sie an.

Hey? Alice spürte ihr Becken, angespannt, die Bauchdecke zitterte, ihr war heiß.

»Für die Wechseljahre noch ein bißchen früh, wie?« Karl grinste. »Oder bist du am Ende…?«

»Der Eintopf.« Alice richtete sich im Bett auf und schob seine Hand weg. Unten klingelte es.

Karl schnüffelte. »Richtig!« sagte er zufrieden, »unser Eintopf ist fertig, pünktlich um sieben, perfektes Timing.«

Steck’s dir sonstwohin! hätte Alice gern gesagt. Aber natürlich sagte sie es nicht. Genausowenig wie sie laut aussprechen würde, daß es vielleicht besser wäre, wenn er gelegentlich kiffte, über die Stränge schlug, das Einerlei von »Eintopf und vorweg was Handfestes« sprengte.

»Ist was?« fragte Karl, als sie beide im Badezimmer waren. Alice trippelte in der Duschtasse hin und her. Sie hatte den Wasserstrahl auf eiskalt gestellt. Anti-Flausen-Temperatur, die Kälte ließ den Unsinn in ihrem Kopf schockgefrieren, so wie das Gemüse, das gefroren eins wie’s andere roch. Kohl wie Blattgemüse, Männlein wie Weiblein.

»Nichts ist!« Alice ließ sich das Wasser über den Kopf plätschern. Ihre langen Haare legten sich vor die Augen, dieses nasse Gewusel im Gesicht war ein ekliges Gefühl. Strafe mußte sein! Besser, sie beschäftigte sich mit ihrer ramponierten Frisur als mit Seeräubern, die’s in echt nicht gab.

»Du hättest besser eine Duschhaube aufgesetzt. Dafür sind sie schließlich da.«

»Ja, Papi ¡«Alice rubbelte sich die Haare trocken. Karl schien immer genau zu wissen, was wofür gut war. Diese Ordnung der Dinge befriedigte ihn. Ob er vergessen hatte, daß er mal Straßenbahnschienen besetzt und »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!« gebrüllt hatte? Das war vor den Sicherungskästen. Lange vorher.

Kapitel 2 Kaperfahrt

Karl bestand darauf, Alice zum Bus zu begleiten, dessen Ausstattung zu checken, ihre Reisetasche selbst zu verstauen, ihrem Kollegen Hans einen letzten mißtrauischen Blick zuzuwerfen und ihr zum Abschied noch die Adresse eines Geschäftspartners in Flevo »für den Notfall« in die Hand zu drücken.

Alice nickte nur. Es brachte nichts, mit Karl darüber zu diskutieren, daß der Skipper sein Kapitänspatent hatte, die friesische Seenplatte nicht der Mississippi war und der Betreiber eines irgendwo am Ijsselmeer ansässigen Kraftwerks ihr gestohlen bleiben konnte. Sie war froh, als es endlich losging. Vorbei an winkenden Eltern und einem winkenden Karl, sie sah ihn die Lippen bewegen, aber der Text, der sie erreichte, war hundertprozentig nicht seiner.

»Glory of love, 1-o-v-e, 1-o-v-e«, dröhnte es über ihr aus den Lautsprechern. Der Siegeszug der Liebe nahm kein Ende, ihren Schülern schien’s zu gefallen, sie zuckten und wiegten sich synchron, manche sangen auch mit. Textfirm bis zur letzten Strophe, die Texte waren durchweg englisch und dumm, gräßlich dumm, was aber niemanden zu stören schien.

Alice strich den Zettel mit der Adresse wieder glatt. Diese Jaultöne über ihrem Kopf und hinter ihrem Rücken ließen Karls »Notfall« gar nicht mehr so abwegig erscheinen.

»Du wirst dich noch umschauen«, hatte Karl prophezeit, »gemessen an deinen Klosterschülerinnen in Rheinbach sind einunddreißig gemischte Großstadt-Teenager ein Thriller«.

Alice verspürte wenig Lust, sechs Tage in einem Thriller auf einem ehemaligen Zementfrachter mit dem sinnigen Namen »Geux« mitzuspielen. Geux. Bettler. Vor vierhundert Jahren hatten sich die Geusen auf Kaperfahrt begeben, für die rebellischen Edelleute und Bürger war das Bettelzeichen nur ein Symbol gewesen. Alice überkam die Furcht, ihr nachgestelltes Abenteuer könnte sich als echter Bettel entpuppen. Sie wußte nicht einmal, wie die sanitären Anlagen beschaffen sein würden. Sie hatte sich blind auf das »Genau richtig!« ihres Kollegen Hans verlassen, der ihre Schüler kannte, die Schiffseigner kannte, das Ijsselmeer kannte, der hausbooterprobt und überhaupt ausgesprochen handfest war. Ein Mann, der die Hefeteilchen aus der Bäckerei seiner Frau für sehr viel bedeutsamer als das pädagogische Geschwafel der »Raffkes« hielt, die erst Elan zeigten, wenn es ihnen an den Geldbeutel ging. Von der Raffgier mancher Kollegen konnte Alice ebenfalls ein Lied singen. Die nahmen alles, was kam, Hauptsache umsonst.

»Nimm mich jetzt, auch wenn ich stinke…«, dröhnte es munter.

Antonia zuckte zusammen. Das gab’s doch nicht. Das konnte es gar nicht geben. Sie sah zu den Lautsprechern hoch, drehte sich vorsichtig um, landete im Chor von einunddreißig Teenagern, die den unsäglichen Refrain aufgriffen und das Loblied von Achselschweiß und Ohrenschmalz schmetterten. Auf Deutsch. War’s doch nur Englisch!

Beim achten »Nimm mich...« begann Alice sich auszumalen, wie es wäre, wenn sie sich den Fuß verstauchte und umkehren dürfte. Heim zu Karl, heim in ihr eigenes Bett. Was war ein bißchen Mull ums Bein gegen diesen Ekel-Choral?

Der Ekelchoral war ein Hit. Seit Wochen in allen Charts. Die Interpreten nannten sich »Die Doofen«. Sie waren die Stars der Klasse 10c. Ein bißchen waren sie nun auch die Stars von Alice. Ihre Schüler hatten es geschafft, sie binnen weniger Tage davon zu überzeugen, daß sich hinter der Ode an den Körpermief ein handfestes Stück Jugendprotest und manchmal sogar ein echter Foxtrott verbarg: »Nimm mich jetzt, auch wenn ich stinke...«, 1-a-n-g-l-a-n-g-schnell- schnell, beim letzten »schnell« stieß sich der dicke Zeh schon wieder von der Fußmatte ab, von der Alice nichts sah und nichts wußte, weil sie Foxtrott tanzte: L-a-n-g-l-a-n-g- schnell-schnell, Rück-rück-Seit’-ran, ein wunderschöner, klassischer Foxtrott.

»Letzte Pinkelpause!« rief eine Männerstimme.

»Ist das auch von den Doofen?« murmelte Alice.

»Na, hören Se mal, Frollein!« Der Busfahrer drehte sich zu ihr um. Empört. »Meinetwegen müssen wir die Fahrt nicht unterbrechen, ich halt’s bis Köln aus.«

Protest ertönte. Einunddreißig Teenager buhten, etwa die Hälfte davon mußte sich erleichtern, der Rest buhte aus Solidarität. Sechs Tage Kaperfahrt hatten sie zusammengeschweißt, und die Krönung war die Abschiedsfete gestern abend gewesen. Schön. Wunderschön. Genaugenommen war es mit dem fremden Kleid losgegangen.

Alice hatte in der Kajüte gesessen und Luftballons aufgepustet, während ihr Kollege Hans mit ein paar Jungen in der Kombüse hantierte und die Mädchen das Deck mit Lampions schmückten, als die Tür aufschwang und jemand »Welche Größe haben Sie?« rief. Alice reagierte nicht gleich. Nach fünf Tagen Kaperfahrt hatte sie es sich abgewöhnt, bei jedem Brüll aufzuspringen. Es war müßig, einunddreißig Jugendlichen in nicht einmal einer Woche diese Brüllerei abgewöhnen zu wollen. Man könnte hingehen, um sich ein T-Shirt zu pumpen oder den neuesten Witz loszulassen, aber gebrüllt machte es einfach mehr Bock. Jedenfalls galt die Frage nach der Kleidergröße ihr, dahinter verbarg sich das Komplott von vierzehn Großstadt-Lolitas, ihrer Lehrerin für die geplante Fete ein neues Outfit zu verpassen. Alice hatte sich gesträubt. Wie käme sie dazu? Nie im Leben!

Alice hatte den Mädels erklären wollen, warum sie mit ihren neununddreißig Jahren kein orientalisches Flatterkleid von einem holländischen Trödelmarkt tragen konnte, erst recht kein fremdes. Aber ihr Mund pappte, nach all den Luftballons war das kein Wunder, dazu kam dieses »Irre!« Das Leihkleid wurde ihr vorgehalten: »Irre!« Irre Haare, irre Wimpern, irre Augen, irre dünne Taille. Alice ließ sich in ihre Kabine ziehen, die Haare öffnen, mit Kajalstift die Augen umranden und die Lippen rot betupfen. »Irre!« Dann stürmten die Grazien davon, um sich selbst hübsch zu machen, und Alice drehte und wendete sich vor ihrem Spiegel, kniepste sich zu, ›Spieglein, Spieglein, an der Wand...‹, so ein Handspiegel war verdammt klein, um »irre« Pluspunkte wiederzufinden.

Sie wurde bald vierzig, war Oberstudienrätin, promoviert, seit vierzehn Jahren im Schuldienst, elf davon in einer reinen Mädchenschule, von Nonnen geführt, dann war sie endlich nach Köln versetzt worden. Zwei Stunden Fahrzeit täglich gespart, Null-Bock-Parolen statt Morgenmesse, eine gemischte Kaperfahrt statt der gewohnten Abschlußfahrt ins Mutterhaus des Ordens, dem die Klosterschule in Rheinbach gehörte. Orden der »Schwestern unserer lieben Frau«. Alice hatte ihrem Spiegelbild zugezwinkert, ein dunkelbraunes Zwinkerauge mit hellen Sprenkeln, mit Kajalstift geheimnisvoll ummalt: »Hi, Sphinx!« Rundum war alles schwarz, schwarze lange Haare und ein schwarzgrundiges Flatterkleid, durch das ein schwarzes Bustier schimmerte, das Mieder war auch geliehen. Schwarz wie die Nacht und die Hölle …

Gerade als Alice sich überlegt hatte, ob sie nicht doch wieder ihre eigenen Kleider anziehen sollte, hatte sich der Stoffetzen bewegt, der ihre Schlafkoje von der ihres Kollegen trennte. Nur ein Lappen, der nachts das fremde Schnauben und Schnorcheln durchließ, der in Alice wilde Seeräuber-Skipper-Visionen aufschießen ließ, sobald die Geräusche dort stockten oder sich veränderten. Der Skipper der »Geux« war in echt eine Frau. Wilde Seeräuber gab es schon lange nicht mehr. Kollege Hans war kein Mann, von dem eine Frau träumte. Trotzdem puschten seit Tagen diese seltsamen Bilder in Alice hoch, und als ihr Nachbar den Vorhang beiseite schob und sie in ihrem geliehenen Kleid musterte, war es einen Moment lang wichtig, wie er sie fand. Alice wußte nicht mehr, was genau er gesagt hatte, jedenfalls reichte es, um sich so, wie sie war, aus der winzigen Kabine hinauszutrauen.

Sie war nicht die einzige im Flatterkleid gewesen. Etliche Schülerinnen hatten sich solch ein Kleid vom Markt mitgebracht, wippten darin die in Hufeisenform aufgestellten Tischreihen entlang, steckten die Köpfe zusammen, tuschelten, warfen die Köpfe nach hinten und wippten zurück, vorbei an ihren Klassenkameraden, die den Weg zur Kombüse versperrten und ihnen zusahen, die Hände in die engen Jeanstaschen gezwängt, während die Fußspitzen und die Köpfe dem Takt der Recordermusik und dem Tänzeln der Flatterkleider folgten: »Geil, hej!« Ohne die gewohnten Schlabberpullis und den schlurfenden Gang, in knallengen Jeans, die gestern abend schwarz oder signalrot waren, kamen auch die Jungen Alice seltsam erwachsen vor. Immerhin behielt Großmaul Oliver sein dumpfes Grinsen, und Klassensprecher Alex piddelte wie sonst auch an dem Bärtchen, das er sich auf der Oberlippe sprießen ließ. Die Gesichter kamen bei der Metamorphose zum Mannsein noch nicht mit. Bei den Mädchen war das anders. Geschminkt und in Kleiderhüllen, die bei jedem Schritt mitschwangen und im Gegenlicht weibliche Formen preisgaben, waren es echte Frauen, vierzehn Miniaturfrauen. Erst die Pekingente verwandelte sie wieder in kreischende Teenies. Die Pekingente wurde auf einer gewaltigen Silberplatte hereingetragen. Kroß gebraten, goldbraun und umlegt mit sattgelben Orangenscheiben, die Schlegel waren mit weißen Spitzenmanschetten umwickelt.

Es gab Standing Ovations für die Ente. Während des Festessens wartete Alice vergeblich auf das vertraute Schlürfen, Gurgeln, »was is’n das?«, einen umkippenden Stuhl oder einen satten Rülpser. Draußen wurde es dunkel, vor den Fenstern der Kajüte schaukelten die Lampions, auf den Tischen standen Schalen mit schwimmenden Teelichtern und Blütenblättern, statt Mineralwasser gab es passend zum Abschiedsbüffet Reiswein. Es hätte Alice gestern abend kaum noch gewundert, wenn ihre Schützlinge plötzlich perfekt mit Bambusstäbchen hantiert hätten.

»Und jetzt...!« Ihr Kollege Hans war aufgestanden. Die drei langen Tische wurden an die Wand geschoben, die Stühle wurden beiseite gerückt, der Korbsessel von Skipper Christine wurde in die Mitte der Kajüte getragen. Alice sollte auf den Sessel, der dort wie ein Thron aufgebaut stand. Es war schon schrecklich genug gewesen, sich als Kind hochleben lassen zu müssen: »Unsere Alice lebe hoch! Hoch! Hoch!« Mit drei Jahren hatte sie geweint, später hatte sie die Augen zugekniffen, mittlerweile konnte sie über die Fotos von der kleinen dummen Alice lachen, trotzdem war es ihr lieber, wenn rasch im Fotoalbum weitergeblättert wurde. Und dann sollte sie auf diesen Thronsessel, während alle anderen standen. Niemand lümmelte gegen die Wand gelehnt, kein Kaugummiknatschen, keine zotige Bemerkung, statt dessen erschienen Klassensprecher Alex und Stellvertreterin Mara mit einem Blumentopf, den sie feierlich vor Alice abstellten, den Recorder-Tusch abwarteten und das geblümte Tischtuch abzogen. Eine Tomatenstaude kam zum Vorschein.

»Eigentlich sollte es ein Zitronenbaum sein, wegen Goethe und so«, hatte der Junge erklärt, und Alice war gerührt gewesen, von ihrem Thron aufgestanden, endlich! Sie hatte sich tief über die Staude gebeugt und war hochgefahren, als die Marschmusik aus dem Recorder schlagartig in »Ohrenschmalz-Kragen- speck-Mundgeruch-und-Nageldreck« überwechselte. Der MIEF-Song war auch für sie bestimmt gewesen. Sie hatte die MC-Hülle in der Hand gehalten und an ihrem geliehenen Flatterkleid hinabgesehen und nicht gewußt, was sie sagen sollte.

»Foxtrott«, hatte sie endlich gesagt, »das ist ein richtig guter Foxtrott!« Einfach weil ihr nichts Besseres zu einem Lied über Körperausscheidungen eingefallen war. Und dann mußte sie tanzen. Ausgerechnet mit Oliver, weil keiner außer ihm Standard tanzte, nicht einmal Kollege Hans. Die schwere Metallkette am Gürtel des Schülers klirrte, der Hosenbund saß irgendwo unter dem feisten Bauch, der Dicke ignorierte die spöttischen Zurufe, rückte in Tanzpositur, berührte Alice mit dem schwarzen Jeansstoff, der an der Brust und am Ärmeleinsatz tiefschwarz war, das kam vom Schwitzen. Alice zwang sich, nicht vor der feuchtwarmen Hand auszuweichen, die auf sie zukam und ihre Finger umschloß. Alle traten zurück, der Recorder surrte, klickte, die Musik war wieder bis zum Liedanfang zurückgespult. Keine Chance!

»Ohrenschmalz…«!

Alice hatte sich auf den Grundschritt beim Foxtrott konzentriert, auf Rück-rück-Seit’-ran -vor-vor-Seit’-ran, was ein Blödsinn war, weil diese Tanznummer so oder so zur Lachnummer verdammt war.

»Kragenspeck …« ein Arm wie ein Schlegel faßte ihr ins Kreuz.

»Mundgeruch …« hatte er, garantiert, Alice gab dem vordrängenden Schritt nach, von wegen Tanz-Profi! Der Grundschritt ging anders, doch beim Tanzen führte der Herr, von wegen Herr! Sie war ein Opfer dieser unappetitlichen Körpermasse. Rück-rück-zweimal kreuzen-rück-rück, das war gerade ein Kreuzschritt, der Junge konnte wirklich tanzen. Kreuzschritt, Kreiseldrehung, dreimal pendeln, doppelt kreuzen, sogar der Mäuseschritt war wieder da, ein blitzschneller Fußwechsel fast auf der Stelle, dann folgten wieder weit ausholende Gleitschritte, quer durch die Kajüte, manchmal störte eine Tischkante, egal. MIEF, MIEF, MIEF, ein Ohrwurm, ein klassischer Foxtrott mit einem Fettwanst, der über die Holzbohlen schwebte und uralte Melodien in Alice zum Klingen brachte. Früher hatte sie leidenschaftlich gern getanzt. Tanzen war ein Rausch, abheben, leicht werden, davonfliegen …

***

»Hoffentlich hat die Telefonkette funktioniert.«

»Wie?« Alice öffnete die Augen. Vor ihr war der Nacken des Busfahrers, der Bus fuhr wieder weiter, die letzte »Pinkelpause« war vorbei, und ihr Kollege sorgte sich um die Telefonkette, über die Familie A sich mit Familie B verständigte, bis zuletzt alle Beteiligten wußten, wann ihre Kinder abzuholen waren.

»So wie der aussieht, hat er statt der Elternpflegschaft die Telefonseelsorge angerufen.« Hans Kurschildgen nickte zu dem Klassenprimus hinüber, der mit zugekniffenen Augen in seinem Plüschsitz hing und Kaugummiblasen produzierte. Plop! Jetzt hing nur noch ein zäher Strang über die Unterlippe. Knatsch! Der Kiefer des Jungen malmte und knirschte erneut. Neue Blase, neues Glück. Der Platz neben Alex war frei. Auf der Hinfahrt hatte dort Mara gesessen. Klassenbeste, Klassenschönste, bis gestern wurden die beiden als Paar gehandelt, bis zu dem Moment, als ein Fettsack zu tanzen begann, war das so. Auf »Mief« war »It Must Have Been Love« gefolgt, eigentlich hatte der Primus den Titelsong aus »Pretty Woman« für sich aufgelegt, aber daraus wurde nichts. Vier Minuten lang sahen alle zu, wie ein Außenseiter sich mit der Besten und Schönsten wiegte, sie blitzschnell zurückschnellen ließ, wieder an sich zog, sie hielt, bis ihr nacktes Bein sich um seinen massigen Schenkel wand und sein Mund ihren nackten Hals berührte und jeder ahnte, was passierte.

Alice sah sich suchend um.

»Letzte Reihe«, sagte ihr Kollege. »Pretty Woman hat den Lover gewechselt, wenn das mal gutgeht, und ich habe meiner Frau versprochen, ihr noch die Torten für die Hochzeit in Stommeln auszuliefern, wo kriegt man schon samstags Personal her?«

»Ich mach’ das schon.« Alice beugte sich vor. Im Rückspiegel des Busfahrers konnte sie den Werbeaufdruck an der Heckscheibe und auf der langen Bank darunter das neue Paar sehen. Nur die Hände der beiden berührten sich, aber jedesmal, wenn das Fahrzeug nach rechts oder links ausscherte, schob sich blitzschnell ein Armschlegel vor und fing den zarten Mädchenkörper auf. »Ich mach’ das schon«, wiederholte Alice, »auf dem Schulhof, meine ich.«

»Und Ihr Mann, kommt der Sie nicht abholen?«

»Ich weiß nicht.« Alice wußte es wirklich nicht. Der Reiswein gestern abend mochte schuld sein, jedenfalls hatte sie vergessen, Karl anzurufen.

»Also, ich nehme Sie natürlich gerne mit.« Hans Kurschildgen richtete sich auf.

»Nicht nötig.« Alice sah aus dem Fenster. Ihr Kollege sollte sich besser auf seine Hochzeitstorten konzentrieren. Karl war ihre Sache. Bis nach Köln waren es noch knapp dreißig Kilometer. Ob Karl auf gut Glück zum Kaiser-Wilhem-Gymnasium kam?

***

»Da steht ja Ihr Mann.« Hans Kurschildgen zeigte aus dem Fenster. »Und jede Menge Eltern. Halleluja!«

»Halleluja!« wiederholte Alice. Auf die Entfernung konnte sie noch nicht erkennen, wie Karl gelaunt war. Trotzdem war sie sich sicher, daß er mit einem Vorwurf beginnen würde: ›Du hättest ja wenigstens anrufen können!‹ oder so ähnlich.

»Sind dir die Telefongroschen ausgegangen?« Karl drückte Alice einen Kuß auf die Wange, dann assistierte er dem Busfahrer beim Entladen des Gepäcks. Er brachte System in die Aktion, verscheuchte die im Weg stehenden Abhol-Eltern und die rücksichtslosen Selbstbediener, dirigierte das Weiterreichen der Rucksäcke und bedankte sich zuletzt im Namen seiner Frau bei dem Busfahrer: »Um den Job beneide ich Sie auch nicht!«

Die beiden Männer waren sich einig, sie schüttelten sich die Hände.

»So’n Arsch!« murmelte es hinter Alice. Sie war sich nicht sicher, ob diesmal nur der Fahrer gemeint war. Ihre Schüler hatten dem Mann mit der Vorliebe für deutsche Schnulzen nicht viel abgewinnen können.

»Wir können.« Karl tauchte mit ihrer Reisetasche auf.

»Wir können nicht.« Alice drehte sich um, rannte zurück zu dem Bus, bei dem sich gerade die Türen schlossen, rief: »Stop!« Um ein Haar hätte sie ihren Tomatenbaum vergessen.

»Tomaten?« Karl starrte entgeistert auf den Topf in ihrem Arm.

»Sie duften sogar.« Alice schnupperte an den kleinen roten Früchten, die einen eigenartigen Geruch verströmten.

»Ich denke, du magst keine holländischen Wassertomaten.«

»Zwergtomaten«, korrigierte Alice. Als ob dieses buschige Gewächs etwas mit seinen Treibhauskollegen gemein hätte.

»Stehst du neuerdings vielleicht auch auf Hefeteilchen und Sahnetorten?«

»Dann schon eher auf Tanzen.« Alice sah Karl an.

Wenn sie sich das Sakko, den Schlips und das Oberhemd weg- und die Locken dazudachte, die sich früher bis über die Ohren gekringelt hatten, könnte es wieder der Karl von damals sein. Einer mit Falten in den Mundwinkeln und um die Augen, logisch, dafür aber auch ohne die Klassenkampfparolen im Kopf, die Verführkleidchen und Tanzengehen ausschlossen. Als sie sechzehn war, galt Hübschmachen als bourgois, im Grunde war schon ein sauberer Hals verdächtig. Alice war aus dem Fenster geklettert, nur um mit dem wildgelockten Karl Kolb für den Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr demonstrieren zu können. Offiziell ging es immer um den Klassenkampf. Heute könnten sie beide ungeniert die Spießerfreuden genießen, ganz nach Laune, mit und ohne Flatterkleid.

»Rock’n’Roll in der Backstube?« Karl sah zu dem Lieferwagen mit der Aufschrift »Backland« und den aufgemalten Teilchen und Torten hin.

»Mein Kollege kann nicht tanzen, wenn du das meinst.«

»Und wer ist dann für deine Tanzgelüste verantwortlich?«

»Du glaubst es nicht.« Alice überlegte, wie sie ihm den Zauber schildern sollte. »Siehst du den Jungen dahinten? Neben dem Mofa?«

»Den Fettwanst?« Karl folgte ihrem Blick.

Alice sah hastig wieder weg. Natürlich hatte sich nichts an der Figur des Jungen geändert. Äußerlich hatte sich nichts geändert. »Er tanzt göttlich«, sagte sie, »leicht, unglaublich leicht.«

»Du hast mit diesem Monstrum getanzt?«

Alice nickte. »Foxtrott. Wiegeschritt, Kreuzschritt, Mäuseschritt, Pendelschritt, alles, und dann, na ja, kennst du ›Pretty Woman‹?« Es war durchaus möglich, daß Karl die Filmromanze kannte, gelegentlich brachte er sich solche Sachen aus der Videothek mit. Es war ihr plötzlich wichtig, daß er verstand, was dort auf der »Geux« am letzten Abend passiert war. Sie verabscheute Kitsch und Fettleibigkeit, diese Filmmusik war schnulzig, der Tänzer war ein Fettwanst, alles blieb, äußerlich, bis es sich bewegte, dann wurde es leicht und schön und echt.

»Pretty Woman, wie?« Karl setzte die Reisetasche von Alice mit einem Knall ab. »Paß ja auf!«

»Aufpassen?«

»Du bist Lehrerin, Pädagogin. Was glaubst du, was los ist, wenn jemand ausstreut, daß Frau Oberstudienrätin Dr. Kolb für einen minderjährigen Fettwanst Pretty Woman spielt?«

»Du spinnst. Du spinnst total.« Alice zwängte sich ihre Tomatenstaude unter den Arm und griff mit der freien Hand nach ihrer Reisetasche. Mit ihr doch nicht!

»Willst du mich unmöglich machen?« Karl umschloß ihre Finger, ein kurzer Fight um den Griff der Tasche, dann gab Alice nach. Natürlich wollte sie kein Aufsehen erregen, und vielleicht spann sie ja wirklich. Eine fast vierzigjährige Germanistin mit einer tiefen Begeisterung für Johann Wolfgang Goethe, die plötzlich von »Mief« und »Pretty Woman« und einem leichtfüßigen Fettsack schwärmte.

»Was summst du denn da?« Karl ging neben ihr her, er mit der Reisetasche, sie mit dem Blumentopf.

Summen? Sie summte wirklich. Rück-rück-Seit’-ran, 1-a-n-g-l-a-n-g-schnell-schnell, Foxtrott, Ohrenschmalz, Kragenspeck, ein Ohrwurm: MIEF. »Nichts«, sagte sie laut.

Auf der Heimfahrt unterhielten sie sich über die Sehenswürdigkeiten der Friesischen Seenplatte, die Aussüßung des Ijsselmeers, den überaus bemerkenswerten Staudamm, die Holländisch-Ostindische und die Holländisch-Westindische Kompanie: »Nein, die Adresse von deinem Geschäftsfreund habe ich nicht gebraucht, aber danke trotzdem.«

Es war wie immer.

Einmal begegnete Alice ihrem Bild im Seitenspiegel. Sie sah rasch wieder weg. »Pretty Woman, wie?« – »Die Kolb spinnt!«

Kapitel 3 Hecheln! Pressen! Raus!

Alice hatte die schmutzige Wäsche auf den Fliesenboden gekippt. Seine Wäsche, ihre Wäsche. Sechs Herrenunterhosen, sechs Damenslips, dazu seine Unterhemden und die Handtücher. Sie stopfte alles zusammen in die Edelstahltrommel vor sich und stellte »Kochwäsche« ein. Die erste Maschine lief. Als nächstes kamen seine Oberhemden, das waren sieben Stück, eins zuviel für sechs Tage, aber auch dafür gab es eine sinnvolle Erklärung: Auf einem Hemd saß ein großer Fleck, dunkelbraun, Alice tippte auf Donnerstag, weil es da Gulasch zum Blumenkohl gegeben hatte. Nur einmal stutzte sie.

Das schwarze Spitzending dort gehörte nicht ihr.

Umrahmt von Karls Socken und Hemden, auf dem weißen Küchenboden, kam ihr das schwarze Bustier fast frivol vor. Sie stopfte es rasch unter den nächsten Wäscheberg, als sie Karl kommen hörte. Es war müßig, ihm erklären zu wollen, daß die Mädchen aus ihrer Klasse keine Ruhe gegeben hatten. »Pretty Woman, wie?« Darauf konnte sie verzichten.

»Deine Intima hat übrigens angerufen.« Karl öffnete die Kühlschranktür.

»Ellen? Wann?«

»Frag besser, wann nicht. Sie nervt allmählich.«

»Sie bekommt ein Kind.«

»Ich weiß, ein Lustkind. Deine Freundin ist ein Lustmensch. Zuerst Lehrerin, dann Buchhändlerin und demnächst Lustmutter. Fragt sich nur, ob der Erzeuger genauso lustvoll zahlt.«

»Was hat sie gesagt?«

»Das Übliche, ich hab nicht so genau hingehört.« Karl setzte den Flaschenöffner an, es zischte kurz, als die Metallkappe absprang. »Hörte sich so an, als ob sie endlich kapierte, daß ledige Frauen über vierzig besser kein Kind mehr bekämen«, fügte er hinzu. »Willst du auch ein Bier?«

»Ich rufe Ellen an.« Alice sprang auf.

Der ausgerechnete Termin für das Baby war erst in zwei Wochen, aber eine Geburt war keine Rechenaufgabe, Gott sei Dank nicht. Sie hatte ihrer Freundin versprochen, mit in den Kreißsaal zu kommen. Karl fand das abartig: »Ist schon albern genug, wenn Männer plötzlich Hecheln üben, aber dann geht es immerhin noch um den eigenen Nachwuchs, was hast du mit dem Wahnwitz dieser Person zu tun?« Alice hatte versucht, Karl klarzumachen, daß diese Person seit vielen Jahren ihre Freundin war, ihre einzige Freundin, auch wenn es in all den Jahren nur ab und zu eine Verabredung ins Theater, zum Kino oder ein Treffen in dem Buchantiquariat gegeben hatte, das Ellen gehörte. Ellen paßte nicht in die Welt der Kolbs. Sobald sie Karl begegnete, kehrte sie all das heraus, was ihm zuwider war: Schrille Töne, Schwanz-ab-Parolen, durchsetzt mit philologischen Spinnereien. Sie legte es darauf an, Karl zu provozieren. Vielleicht, weil sie mal von einem wie Karl enttäuscht worden war. Alice erinnerte sich nur noch schwach an den Fachleiter: Ein As, soweit es um deutsche Dichtung ging, verheiratet, damals als junge Referendarin hatte sie ihn fast spießig gefunden. Ellen nicht, sie hatte sich in den Mann verliebt…

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!