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Die Hoffnung, die im Dunkeln erstrahlt: Der Sammelband »Wie der erste Sonnenstrahl nach Regen« von Annegrit Arens jetzt als eBook bei dotbooks. Als würde ein Gewitter über sie hinwegrollen, schlägt das Schicksal zu ... Julia führt ein wundervolles Leben mit ihrer Familie. Doch dann gerät ihr Mann Ron in einen Unfall und stirbt. Wie soll Julia allein weitermachen? Mutig wagt sie einen Neuanfang ... Die ungleichen Schwestern Lisa und Hanna wurden von einem dramatischen Erlebnis in ihrer Kindheit entzweit. Werden sie es schaffen, die Vergangenheit zu überwinden und Frieden zu schließen? Und schließlich ist da auch noch das Model Sandra, die glaubt, ihr Glück gefunden zu haben, als sie mit dem charmanten Fotografen Andy zusammenkommt. Aber liebt er nur ihre Schönheit – und was ist, wenn sie diese einzubüßen droht? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Sammelband »Wie der erste Sonnenstrahl nach Regen« enthält die dramatischen Liebesromane »Der etwas andere Himmel«, »Die helle Seite der Nacht« und »Weit weg ist ganz nah« von Annegrit Arens wird die Fans von Gaby Hauptmann begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 1482
Über dieses Buch:
Als würde ein Gewitter über sie hinwegrollen, schlägt das Schicksal zu ... Julia führt ein wundervolles Leben mit ihrer Familie. Doch dann gerät ihr Mann Ron in einen Unfall und stirbt. Wie soll Julia allein weitermachen? Mutig wagt sie einen Neuanfang ... Die ungleichen Schwestern Lisa und Hanna wurden von einem dramatischen Erlebnis in ihrer Kindheit entzweit. Werden sie es schaffen, die Vergangenheit zu überwinden und Frieden zu schließen? Und schließlich ist da auch noch das Model Sandra, die glaubt, ihr Glück gefunden zu haben, als sie mit dem charmanten Fotografen Andy zusammenkommt. Aber liebt er nur ihre Schönheit – und was ist, wenn sie diese einzubüßen droht?
Über die Autorin:
Annegrit Arens hat Psychologie, Männer und das Leben in all seiner Vielfalt studiert und wird deshalb von der Presse immer wieder zur Beziehungsexpertin gekürt. Seit 1993 schreibt die Kölner Bestsellerautorin Romane, Kurzgeschichten und Drehbücher. Zahlreiche ihrer Werke wurden für die ARD und das ZDF verfilmt.
Annegrit Arens veröffentlichte bei dotbooks bereits die Romane »Der Therapeut auf meiner Couch«, »Die Macht der Küchenfee«, »Aus lauter Liebe zu dir«, »Die Schokoladenkönigin«, »Die helle Seite der Nacht«, »Ich liebe alle meine Männer«, »Wenn die Liebe Falten wirft«, »Bella Rosa«, »Weit weg ist ganz nah«, »Der etwas andere Himmel«, »Der geteilte Liebhaber«, »Wer hat Hänsel wachgeküsst«, »Venus trifft Mars«, »Süße Zitronen«, »Karrieregeflüster«, »Wer liebt schon seinen Ehemann?«, »Suche Hose, biete Rock«, »Kussecht muss er sein«, »Mittwochsküsse«, »Liebe im Doppelpack«, »Lea lernt fliegen«, »Lea küsst wie keine andere«, »Väter und andere Helden«, »Herz oder Knete«, »Verlieben für Anfänger«, »Liebesgöttin zum halben Preis«, »Schmusekatze auf Abwegen«, »Katzenjammer deluxe«, »Ein Pinguin zum Verlieben«, »Absoluter Affentanz« und »Rosarote Hundstage«.
Außerdem veröffentlichte sie die Jugendbücher »Die Liebesformel: Ann-Sophie und der Schokoladenmann«, »Die Liebesformel: Anja und der Grüntee-Prinz«, »Die Liebesformel: Tamara und der Mann mit der Peitsche«, »Die Liebesformel: Susan und der Gentleman mit dem Veilchen«, »Die Liebesformel: Antonia und der Mode-Zar« und »Die Liebesformel: Ann-Sophie und il grande amore«.
Die Website der Autorin: www.annegritarens.de
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Sammelband-Originalausgabe Februar 2023
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Kristin Pang, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (TWINS DESIGN STUDIO, KuLouKu)
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98690-133-2
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Annegrit Arens
Wie der erste Sonnenstrahl nach Regen
Drei Romane in einem eBook
dotbooks.
Annegrit Arens
Julia ist überzeugt: Ihr Leben ist wie im Paradies! Ihr Mann Ron liebt sie über alles, ihre Kinder führen ein glückliches Leben und sie hat ein wunderschönes Haus. Doch eines Tages kostet sie vom Apfel der Erkenntnis – offenbar hat Ron eine Affäre! Bevor sie ihn zur Rede stellen kann, gerät Ron in einen schweren Unfall und stirbt. Für Julia bricht die Welt gleich doppelt zusammen: Nichts ist mehr wie vorher und das Vorher ist plötzlich auch ganz anders.Julia nimmt all ihren Mut zusammen und versucht, mehr über die geheimnisvolle Fremde herauszufinden. Dabei erlebt sie mehr als eine Überraschung.
Als Julia wach wurde, ging es schon auf neun Uhr zu. Dabei hatte sie den Wecker wie immer auf halb sieben gestellt, um pünktlich das Frühstück richten zu können. Ron, dachte sie, er musste der Übeltäter oder vielmehr Wohltäter gewesen sein. Warum schläfst du nicht mal länger, wenn niemand mehr zu wecken und abzufüttern ist? Das war am Vorabend gewesen, sie hatte protestiert, denn schließlich war Ron kein Niemand. Und nun hatte er sie ausgetrickst und sogar schon für sie das Frühstück vorbereitet. Er hatte eine gelbe Tasse auf eine grüne Untertasse gestellt, dazu einen Teller in leuchtendem Orange. Merkwürdig! Denn auch wenn dieses Geschirr, wie Julias Tochter erst unlängst mit leisem Spott festgestellt hatte, das Geschirr der unbegrenzten Möglichkeiten war, bei dem jedes Familienmitglied zumindest farblich beliebig kombinieren konnte, bekam Julia sonst immer nur Vanillegelb. Weil das am besten zu ihr passte, deckte sie auch selbst für sich so ein. Eine Pastellfarbe, die mit allem harmonierte, dezent und freundlich.
Oder fad?
Julia nahm die unschuldige Tasse, goss Kaffee hinein und befahl sich, auf der Stelle mit diesem Unsinn aufzuhören. Alle hatten ihr prophezeit, dass die Umstellung auf einen weitgehend kinderlosen Haushalt ihr anfangs Probleme bereiten würde. Sie sah das anders. In Zukunft würde sie mehr Zeit für Ron und für ihre Arbeit und für all das haben, was das Leben sonst noch für sie beide bereithalten mochte, darauf freute sie sich wie eine Schneekönigin. Punktum. Ohne weiter nachzudenken, griff sie nach der Zuckerdose, gab drei gehäufte Löffel in ihren Kaffee, begann zu rühren und hielt abrupt inne. Es knirschte, das war der Zucker. Viel zu viel Zucker. Wenn sie so weitermachte, bedurfte es keiner Kaffeesatzleserei, um herauszufinden, was die nächsten Jahre ihr brachten. Ein Pölsterchen hier und ein Pölsterchen dort, bis sie wieder dort anlangte, wo sie als Teenager gestartet war.
Im Gegensatz zu ihrer Tochter war sie damals weder schlank noch hübsch gewesen, sie hatte sich ihre heutige Figur wie so vieles andere mühsam erarbeiten müssen. Diese plötzliche Gier auf Süßes war mordsgefährlich. Wehret den Anfängen! Sie kippte den Inhalt der Tasse in die Spüle und griff erneut nach der Warmhaltekanne, doch diese war so gut wie leer. Lediglich eine Pfütze bildete sich in ihrer Tasse, was aber auch Vorteile hatte, denn ohne Kaffee schmeckten ihr selbst frische Brötchen nur halb so gut.
Julia begnügte sich mit einer Hälfte, die sie obendrein aushöhlte und lediglich mit einem Teelöffel voll körnigem Frischkäse bestrich. Sie kaute bewusst langsam und ging zur Strafe für die gottlob nur beinahe erfolgte zuckersüße Entgleisung eine ganze statt einer halben Stunde aufs Laufband. Hinterher fühlte sie sich gleich viel besser, zumindest bis sie auf die Uhr sah. Der Vormittag war schon halb um, und sie hatte noch nicht mal mit ihrer Arbeit begonnen. Dabei musste die Brosche für Emilie Brodesser-Beck bis Freitag fertig sein. Den Auftrag hatte deren Mann, ein neuer Kollege von Ron am Oberlandesgericht Düsseldorf, Julia erteilt. Die Brosche sollte eine Überraschung zum Hochzeitstag werden. Und den Haushalt erledigen und einkaufen musste sie auch noch, für das erste Abendessen zu zweit wollte sie etwas Besonderes vorbereiten. Etwas, das Ron besonders gern aß.
Julias Werkstatt befand sich im ehemaligen Schuppen am Ende des Gartens, der schmal wie ein gefaltetes Handtuch hinterm Haus lag. Es war das kleinste Haus im ganzen Viertel, alles hier war klein, seltsam verwinkelt und vielleicht gerade deshalb so anheimelnd. Nicht im Traum wäre einer von ihnen auf die Idee gekommen, wie die Nachbarn radikal zu modernisieren oder gar woandershin zu ziehen. Die Ehrenwirts liebten ihr Knusperhaus, so wie es war, auch wenn Julias Sohn schon seit Jahren automatisch den Kopf einzog, bevor er durch eine Tür ging.
Wie jedes Mal wurde Julia ganz warm ums Herz, als sie am frühen Nachmittag endlich die Glasröhre passierte, die Ron vor ein paar Jahren eigenhändig gebaut hatte, damit sie nicht länger bei Wind und Wetter über die Wiese zu ihrer Werkstatt stapfen musste. Sie hatten diese Röhre in einem feierlichen Familienakt »Wintergarten« getauft, was die Besitzer richtiger Wintergärten ringsum ebenso wurmen mochte wie die Rostbeule mitten auf dem Rasen der Ehrenwirts, die nichts anderes als das zum Denkmal erhobene erste Auto von Julia und Ron war. Außer Dienst gestellt, hatte das verwitterte und halb zugewachsene Gefährt den beiden Kindern noch jahrelang als Klettergerüst und Spielhaus gedient. Mittlerweile war es nur noch eine weitere schöne Erinnerung.
Aber wer weiß, vielleicht turnte hier in ein paar Jahren schon das erste Enkelkind herum? Julia blieb kurz stehen und betrachtete versonnen den R4, für den alles Ersparte und Erpumptes obendrein draufgegangen war. Ron hatte studiert, sie selbst hatte gerade ihr BWL-Studium abgebrochen und eine Ausbildung zur Goldschmiedin begonnen, und von ihren Eltern annehmen wollten sie beide nichts. Also hatten sie jeden Pfennig zusammengekratzt und sich die noch fehlenden achthundert Mark bei Freunden geliehen. Der R4 war ein Vorführwagen und praktisch noch nagelneu gewesen, solch eine Gelegenheit kam so rasch nicht wieder, und sie hatten den Kauf nie bereut. Mit diesem Auto waren sie zu Feten und zum Baden an den Baggersee und bis nach Rom gefahren, darin hatten sie sogar noch ihr erstes Kind transportiert, vorschriftsmäßig zuerst in einer Babyschale und später im »Römer-Peggy«, wie dieser ebenso praktische wie hässliche Autokindersitz in Orange und Schwarz hieß. Erst unmittelbar vor Julias zweiter Niederkunft machte der R4 schlapp, zur Entbindung von Max hatten sie deshalb mit dem Taxi fahren müssen. Ron war ganz grün um die Nase gewesen, was wohl auch der Grund dafür war, dass der Taxifahrer zunächst ihn für den Patienten hielt.
Seltsam, dass das schon neunzehn Jahre her sein sollte. Jetzt absolvierte das Baby von einst mit einem Gardemaß von einem Meter zweiundneunzig seinen Militärdienst. Julia hätte nie gedacht, dass es ausgerechnet ihren großen Kleinen mit den dunklen Locken und warmen Kulleraugen zum Dienst an der Waffe drängen würde, irgendwie passte das nicht zu ihm, fand sie. Nicht zu ihm und nicht zum Klima in diesem Haus, trotzdem waren Ron und sie sich darin einig gewesen, ihrem Sohn nicht dreinzureden. Sie vertrauten ihm ebenso, wie sie einander vertrauten, ein gutes Gefühl, irgendwann würde auch Lucie aufhören, ständig zu sticheln und sich in seltsamen Andeutungen zu ergehen.
Mein Bruderherz wird schon wissen, warum es einen Ballermann zum Scharfschießen braucht, bei uns nennt man so was Kompensation. Dieses »bei uns« bezog sich auf Lucies Studium der Psychologie, sie hatte gerade erst angefangen, ließ aber trotzdem keine Gelegenheit aus, um ihre jüngsten Erkenntnisse über menschliche Verhaltensmuster und deren Wurzeln auf Teufel komm raus auf Familienmitglieder zu übertragen. Ein Spiel, eines von vielen.
Lucie liebte es, in eine Rolle zu schlüpfen und sich damit so sehr zu identifizieren, dass man sich mitunter fragte, welches denn nun die echte Lucie war. Das kokette Weibchen, die Schirmherrin ausgesetzter Haustiere oder die scharfzüngig Analysierende, möglicherweise wusste Lucie das selbst noch nicht so genau. So oder so fühlte sie sich sichtlich wohl in ihrer Haut, sie strotzte nur so vor Selbstbewusstsein. Davon hätte ich in ihrem Alter gern eine Scheibe abgehabt, dachte Julia und fragte sich, während sie durchlüftete und ihr Arbeitsmaterial bereitlegte, welchen Weg sie wohl eingeschlagen hätte, wenn sie sich in Lucies Alter nicht ständig selbst infrage gestellt und deshalb ins Liebsein geflüchtet hätte.
Mein Gott, wie sehr hatte sie, Julia, als junges Mädchen ihren zwei Jahre jüngeren Bruder beneidet, der sich schon lange vor dem Abitur bei Familienfeiern und Familienurlauben ausklinkte, lieber mit seinen Freunden loszog und sich immer weiter vom Elternhaus entfernte. Rucksacktourismus, Interrail, von überall kamen Postkarten, manchmal kam auch wochenlang gar kein Lebenszeichen, dann herrschte eine Grabesstimmung in Julias Elternhaus. Düstere Drohungen wurden ausgestoßen. So geht das nicht weiter mit dem Jungen, dann muss er eben in ein Internat. Aber wenn Andy dann tatsächlich wieder auftauchte, braun gebrannt und siegessicher und übersprudelnd, waren sie alle sofort wieder seinem Charme erlegen. Und sie, Julia, hatte unbeachtet im Zimmer gesessen, als ob es sie gar nicht gäbe.
Hallo, Julia, was ist mit dir los? Freust du dich gar nicht, dass ich heil wieder da bin? Sie war aufgeschreckt, als Andy sich irgendwann auf sie besann und so fragte, aber noch ehe sie antworten konnte, war ihre Mutter ihr zuvorgekommen. Deine Schwester träumt wieder mal ins Blaue, womöglich hat sie noch gar nicht mitbekommen, wie sehr wir uns um dich gesorgt haben. Eine kleine Spitze gegen Andy, die er überging, so wie er das noch heute tat, wenn ein Thema ihm lästig war. Er war aus dem Zimmer gerannt und mit einem Stein zurückgekehrt, das war sein Mitbringsel für seine »kleine große Schwester« gewesen. Ein grauer Stein mit weißen Adern, der sich kaum von den Kieseln am Rhein unterschied. Doch Andy beharrte darauf, dass es sich um einen magischen Stein handele.
Wenn du ihn reibst, bringt er dir Glück und vielleicht sogar deinen Romeo.
In gewisser Weise stimmte das. Bis zum heutigen Tag war Julia davon überzeugt, dass Ron ohne diesen Stein niemals auf sie aufmerksam geworden wäre. Sie hatte in der Mensa am Essensschalter angestanden, sie war noch immer dort essen gegangen, obwohl sie sehr zum Ärger ihrer Eltern und vielleicht gerade deshalb schon wieder exmatrikuliert war. Für die russischen Eier in der Mensa hätte sie sterben mögen, so etwas Gutes gab es bei ihnen zu Hause nie. Der Stein war ihr aus der Jackentasche geglitten, als sie ihr Tablett in Empfang nahm. Sie hatte sich zu weit vorgebeugt und eine Lawine ausgelöst. An jenem Tag hatte es gebackene Scholle, Kopfsalat, Püree und Götterspeise mit Vanillecreme gegeben. Alle waren beiseite gesprungen, was für eine Schweinerei, konnte sie denn nicht aufpassen? Nur dieser fremde, leicht linkische junge Mann war ihrem davonkullernden Stein gefolgt, hatte sich danach gebückt, ihn aufgehoben und ihr zurückgebracht. Du hast da was verloren.
Sie hatte den Stein wortlos an sich genommen und war aus der Mensa gestürmt, sie hätte in den Erdboden versinken mögen. Wieder und wieder hatte sie diese Szene vor sich gesehen und sogar davon geträumt. Und wie in einem Film kam zum Schluss regelmäßig die Nahaufnahme von zwei Schuhen, wie sie sonst nur ältere Männer trugen, blank polierte schwarze Schuhe mit Budapester Lochmuster, die sich leicht nach außen gestellt auf sie zu bewegten, und dann hob sich der wirre Wuschelkopf des Trägers und gab den Blick in ein Paar braune Augen frei. Du hast da was verloren!
Sie hatte fast drei Wochen warten müssen, bis sie ihn wieder sah. Zunächst hatte sie gehofft, ihn mittags in der Mensa zu treffen, doch er kam nicht, jedenfalls nicht zur gewohnten Zeit. Sie hatte alle möglichen Ausreden erfunden, um ihren Ausbildungsplatz immer wieder kurz verlassen zu können. Ihre Mutter war erkrankt. Sie selbst hatte Zahnschmerzen. Sie vermisste ihre Geldbörse. Sie war Augenzeugin eines Einbruchs geworden. Später, als sie Ron davon erzählte, hatte er sie mit ihrer »kriminellen Energie« aufgezogen und angedroht, sie als angehender Richter persönlich unter seine Fittiche zu nehmen. Eine Art Schutzhaft, hatte er augenzwinkernd gemeint.
Ohne den Stein von Andy und ohne ihre Ausdauer damals wäre es vermutlich nie so weit gekommen. Es war schon spät, über zwei Stunden nach der Ausgabe des Mittagessens, die Putzkolonne rückte gerade mit ihrem Wagen an, da sah sie genau zwanzig Tage nach ihrer ersten Begegnung durch den Treppenschacht zwei Stockwerke tiefer seine Schuhe aufblitzen. Schuhe mit Budapester Lochmuster. Sie war ihm nachgerannt.
»Hallo, ich würde mich gerne bei dir bedanken. Wie wär's mit einem Kaffee?«
»Ich trinke keinen Kaffee.« Nicht unfreundlich, eher leicht verwirrt, so als ob er überlegen müsse, woher er sie kannte, was nicht weiter erstaunlich war. Sie war nun mal eine von den jungen Frauen, die man leicht übersah, und außerdem nicht mal mehr immatrikuliert.
»Dann einen Tee? Oder eine Cola?«
»Ich trinke auch keinen Tee und keine Cola.«
»Und was trinkst du dann? Irgendwas musst du doch trinken.« Sie war für ihre Verhältnisse unglaublich hartnäckig geblieben. Glücklicherweise. Sie hatte dem Stein vertraut, der plötzlich zu leben schien. Da, das ist er! Das ist dein Romeo!
»Ich trinke Milch und, wenn's sein muss, noch Wasser.«
»Ich kenne sonst niemanden, der das tut. Oder es zugibt.«
»Dann kennst du halt keine Burschen vom Land.«
»Doch. Jetzt schon.« Sie waren wieder in die Mensa gegangen, die meisten Tische waren leer, es roch nach Putzmittel, und die Milch war homogenisiert und schmeckte seltsam künstlich, warm war sie außerdem auch noch. Sie hatten kaum etwas geredet, nach höchstens einer Viertelstunde war Andy aufgestanden. Na dann! Danke! Sie war sitzen geblieben und hatte auf seine Füße gestarrt. Du bist mutig, hatte sie gesagt. Darauf er: Du auch, alle anderen gucken schnell wieder weg, wenn sie meine Gehwerkzeuge sichten. Dann hatte er sie zu einer Milch eingeladen, die noch nach glücklichen Kühen schmeckte und zu seinem Budapester Lochmuster passte, so waren sie zusammengekommen. Er war ihr erster Mann gewesen und sie seine erste Frau. Sie hätte nicht gedacht, dass es so etwas noch gab. Und es gab sie noch immer, diese wunderbare Liebe, es gab sie seit mehr als einem Vierteljahrhundert.
Braver Stein, murmelte sie und nahm ihn wie jeden Tag, bevor sie sich an die Arbeit machte, in die Hand, massierte ihn zärtlich.
Ganz glatt war er im Lauf der Zeit geworden, auch heller. Damit sie ihn nicht verlor und stets bei sich tragen konnte, hatte sie ein Loch hineingebohrt und trug ihn nun an einer dünnen Kette um den Hals. Sie steckte ihn wieder unter ihr T-Shirt zurück, um nicht bei der Arbeit behindert zu werden, außerdem sollte ihr Talisman nicht mit ansehen müssen, wie sie an etwas arbeitete, was so protzig wie diese Brosche war. Rons Kollege hatte auf seinem Entwurf beharrt, Anzahl und Anordnung der Steine hatte er ebenso festgelegt wie deren Gewicht. Sie hätte Ron gern gefragt, ob sein Beisitzer im dritten Senat bei der Aufarbeitung eines Falls ähnlich festgelegt war, doch sie wusste, dass Ron lieber selbst entschied, wann er was sagte. Außerdem war Ron ausgesprochen loyal und bis zum Beweis des Gegenteils bereit, in jedem Menschen zunächst einmal das Gute zu sehen. Er muss ja auch keinen Kitsch produzieren, dachte sie.
***
Das Telefon klingelte sechsmal, dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Julia hielt kurz in ihrer Arbeit inne, um zu hören, wer da anrief, sie hatte auf Lautsprecher gestellt. Die Anruferin nannte ihren Namen nicht, das war auch nicht nötig. Überhaupt war ihre Mutter seit jeher der Meinung, von jedem blind erkannt werden zu müssen, das galt erst recht für ihre einzige Tochter. Es ging wie fast immer mit Klagen los. Etwas stimmte nicht mit der Bewässerungsanlage, aber man konnte doch nicht wegen jeder Kleinigkeit den Installateur kommen lassen, wer sollte das denn bezahlen? Ob Julia letzten Sonntag den neuen Seidenschal eingesteckt habe, es folgte eine detaillierte Beschreibung inklusive Preisangabe. Die Kohlrabi mittags waren strohig gewesen ...
Julia seufzte. Ihre Eltern hatten eine neue Zugehfrau, die auch für die beiden kochte. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin legte sie weder die Gurken schon am Vortag in Salzwasser ein, noch zerkochte sie das Gemüse, und mit der Diät für den Hausherrn nahm sie es auch genau. Hoffentlich, dachte Julia, ekelt meine Mutter Barbara nicht genauso aus dem Haus wie Manila und all die anderen und glorifiziert sie dann später wieder. Keine war wie ..., und überall klang durch, dass sie selbst noch immer die Größte war und ihre Tochter ihr nicht das Wasser reichen konnte. Du verstehst das sowieso nicht, Julia!
Warum regte sie sich nur jedes Mal aufs Neue über ihre Mutter auf? Weil sie noch immer das Gefühl hatte, in deren Schatten zu stehen? Weil es reichte, ihre Stimme zu hören, um wieder eine graue Maus mit schlechtem Geschmack und Speckröllchen zu werden? Eine, die einen vom Land mit Budapester Lochmuster geheiratet hatte. Was war Angelika Lüderscheid wohl übler aufgestoßen? Dass Ron von einer, wie sie sich ausdrückte, Bauernklitsche stammte und bis heute in sein zu den Mahlzeiten gereichtes Baguette hineinbiss, statt vorschriftsmäßig Stück für Stück davon abzubrechen, oder dass er der jüngste Richter gewesen war, der jemals zum Oberlandesgericht berufen wurde? Ausgerechnet Ron! Ihre Mutter konnte Ron nicht ausstehen, so viel stand fest, trotzdem schaffte sie es nicht, seinem ungekünstelten Charme bei den sonntäglichen Besuchen völlig zu widerstehen. Hinzu kam, dass Ron wiederholt in der Zeitung zitiert wurde und prominent war.
»Dein Vater hat Alzheimer!«
Was? Mitten hinein in die Aufzählung aller möglichen Bagatellen, denen Julia mit ihren eigenen Gedanken hatte entgehen wollen, knallte dieser Satz. Wie kam ihre Mutter dazu, so etwas zu sagen? Carl Lüderscheid hatte Diabetes, Herzrhythmusstörungen und Probleme mit seinen Knochen, aber was sein Gedächtnis betraf, konnte er mit manch Jüngerem mithalten. Wenn er von einem Gang mit den Hunden in den nahen Stadtpark erzählte oder wie schon wieder der Parkplatz der Firma aussah, die einmal seine eigene gewesen war, könnte man meinen, er sei als Protokollführer unterwegs gewesen. Der Weg hinterm Bootsverleih war nicht geharkt, überall spross Unkraut. Derselbe Müll lag seit drei Tagen herum. Die Rosenbüsche in der Anlage waren noch immer nicht beschnitten. Jemand fütterte schon wieder verbotswidrig die Tauben. Sogar die Klettergeräte waren voller Kot. Die Rutsche war noch immer nicht repariert. Er vergaß kein noch so nebensächliches Detail, ohne indes Ärger über das Beobachtete zu zeigen. Julias Mutter reagierte ausgesprochen allergisch auf solche »Protokolle«. Wie um ihn zu bestrafen, bog sie das Gespräch unweigerlich auf seine Krankengymnastik und die Massagen dreimal die Woche ab. Darüber berichtete er nie. Wenn Julias Mutter davon anfing, flüchtete er sich in ein Nickerchen oder legte eine Hand hinters Ohr und gab vor, sie nicht zu verstehen. Wohl weil er nicht daran erinnert werden wollte, dass die Zeit auch vor einem Carl Lüderscheid nicht Halt machte, zumindest soweit es seinen Körper anging.
Dein Vater hat Alzheimer! Nein und nochmals nein, warum musste sie sich nur ständig etwas Neues ausdenken?
Julia nahm ihre Schutzbrille ab, legte die fertige Fassung und die Pinzette mit dem Saphir beiseite und griff zum Telefon. Sie betätigte die Rückruftaste, ihre Mutter meldete sich sofort.
»Das dachte ich mir, dass du reagierst, wenn es um deinen Vater geht.«
»Du hast das also nur so gesagt?«
»Ich sage nie etwas nur so. Ich habe ihn gebeten, mir meine Stola zu bringen, und er kam mit einem Hundeknochen an.«
»Ich habe auch schon eine Ananas geschält und die Schale in die Schüssel und die Frucht in den Mülleimer getan.«
»Ja du.«
»Habe ich jetzt auch Alzheimer?«
»Ich wollte nur, dass du informiert bist.« Klick. Angelika Lüderscheid hatte aufgelegt.
Julia wusste, dass sie sich nicht aufregen sollte. Und erst recht gab es keinen Grund, über das Gesagte ernsthaft nachzudenken. Gerede. Sand ins Getriebe. Am besten arbeitete sie einfach weiter. Andererseits wäre es nicht verkehrt, schon einmal mit den Vorbereitungen fürs Abendessen zu beginnen, und wenn Ron dann kam, würde sie sich bei einem Glas Wein alles von der Seele reden und schon beim Reden merken, wie unsinnig ihre Ängste waren. Sie neigte nun mal dazu, sich in etwas hineinzusteigern, Ron wusste das. Dann würden sie den Abend zu zweit genießen und Pläne schmieden, beispielsweise für die nächsten Gerichtsferien, die weitgehend deckungsgleich mit den Schulferien waren. Bis vor kurzem war das wichtig gewesen. Nun zählten andere Dinge. Sie reisten beide für ihr Leben gern, und sie wollten schon seit langem nach Island. Zum ersten Mal brauchten sie keine Rücksicht auf die Wünsche ihrer Kinder zu nehmen, die beiden wollten immer nur in die Sonne, sie hatten sich mit Händen und Füßen gegen eine Reise nach Island gewehrt. In diesem Jahr würde Lucie ihren neuen Freund über die Ostertage nach Wien begleiten, wo seine Familie lebte, von dort sollte es weiter nach Budapest gehen. Ob es dort um Ostern herum so warm war, wie ihre Tochter das erwartete? Wie auch immer, das war allein Lucies Problem. Und Max war sowieso noch im Grunddienst. Während Julia den Wirsing und das Hackfleisch für die Füllung vorbereitete – ein Gericht, mit dem man die Kinder jagen konnte – und auch schon einmal die Tomaten für die Soße häutete und würfelte, sah sie sich bereits Hand in Hand mit Ron diese Insel erkunden, die es ihnen beiden seit langem angetan hatte. Geheimnisvoll, voller Gegensätze, ein echtes Abenteuer nur für sie beide.
Die Kohlrouladen waren ebenso fertig wie das selbst gemachte Kartoffelpüree, als erneut das Telefon läutete. Julia zögerte. Sie überlegte, ob sie drangehen sollte. Ron musste jeden Augenblick heimkommen, er war immer extrem pünktlich, und wenn ihm doch einmal etwas dazwischenkam, rief er stets so rechtzeitig an, dass sie mit dem Essen umdisponieren konnte. Julia hatte absolut keine Lust, schon wieder mit ihrer Mutter zu telefonieren. Andererseits, wenn es doch Ron war ... Sie wartete zu lange, der Anrufbeantworter trat in Aktion. Nur ganz kurz. Ron würde sich verspäten.
***
Etwas war anders. Julia wusste nicht sofort, was das war. Sie hatte sich aufs Sofa gesetzt und eine CD von Joe Cocker aufgelegt. Sie mochte diese rauchige Stimme, die diffuse Sehnsüchte weckte und sie dann gegen den Strich bürstete. Mit dem Essen wollte sie warten, bis Ron kam. Er hatte entgegen seiner sonstigen Gewohnheit keine präzise Uhrzeit für seine verspätete Heimkehr genannt. Sie war eingeschlafen, die Musik war längst verstummt, das Geräusch des Schlüssels und das Schleifen der ewig verzogenen Haustür mussten sie geweckt haben. Sie richtete sich noch leicht benommen auf und sah Ron näher kommen, sein Gang war noch immer derselbe wie damals, leicht linkisch, die Füße übertrieben nach außen gestellt, was daran liegen mochte, dass seine Schuhgröße – er trug Größe siebenundvierzig – in keiner Relation zu seiner Körpergröße stand. Mit seinen knapp ein Meter achtzig war er fast einen ganzen Kopf kleiner als sein Sohn.
»Ist etwas passiert?«, fragte sie.
»Es passiert immer etwas. Wenn nichts mehr passiert, ist man tot.« Es war eine seltsame Antwort. Erst recht zur Begrüßung.
Julia wusste nicht genau, wie sie darauf reagieren sollte. Sie zeigte auf seine Füße, jetzt wusste sie, was anders war. Diese konservativen Schuhe mit dem Lochmuster, denen er, solange sie ihn kannte, die Treue hielt, waren ziemlich auffälligen Slippern gewichen, die wie Fremdkörper an ihm wirkten.
»Was ist mit deinen Schuhen passiert?«
»Ich war in Köln und habe mir gedacht ... ob du es glaubst oder nicht, in Köln gibt es, zumindest was uns Männer angeht, viel bessere Geschäfte als in Düsseldorf« Ron beugte sich über sie und küsste sie wie immer zuerst auf die Stirn und danach auf die geschlossenen Augenlider, dann wollte er sich wieder aufrichten, aber Julia umschlang seinen Nacken mit ihren Händen und zog ihn zu sich herab.
»Du hast was vergessen.«
»Verzeih.« Er küsste sie auch noch auf die Nasenspitze und zuletzt auf die Lippen, dann rückte sein Gesicht ein Stück zurück, und er sah ihr in die Augen. »Verzeihst du mir?«
»Ich verzeih dir alles. Aber jetzt lass uns endlich essen, ich bin halb verhungert. Es gibt dein Lieblingsgericht. Machst du uns einen Wein auf? Ich backe nur kurz etwas Brot auf, du darfst auch abbeißen. Meine Mutter hat sich übrigens schon wieder etwas Neues ausgedacht, wie sie mich in Panik versetzen kann.«
»Panik ist immer der falsche Weg.«
»Ich weiß, aber du kennst sie doch. Und mich. Wenn du nicht da bist, schafft sie es immer wieder. Sie oder Lucie, manchmal denke ich, die beiden zusammen kriegen es noch hin, dass ich über Nacht wieder eine Tonne werde, die trotzdem keiner sieht, weil sie nichts hat, was man sich angucken muss oder will. Hättest du lieber Ciabatta oder Zwiebelbrot? Zu Kohlrouladen passt Zwiebelbrot eigentlich besser, ich habe sogar an Griebenschmalz gedacht, bin ich nicht gut?« Julia wartete seine Antwort nicht ab, was sollte er auf solch ein konfuses Gestammel auch sagen? Sie lief in die Küche, zog die Kasserolle aus dem Backofen und schaltete für das Brot auf zweihundert Grad hoch. Ron war ihr gefolgt, sie hielt ihm die beiden Brote hin.
»Also nun sag schon, was du lieber hast?«
»Dich.« Diesmal vergaß Ron nichts, als er sie in den Arm nahm.
Keiner küsste wie er, seine Küsse bauten sich langsam auf, er piekste auch. Sein Bartwuchs war beachtlich, sogar das liebte sie an ihm. Er hörte gar nicht mehr auf mit Küssen und Drücken.
»Ich liebe dich«, brummte er in die Kuhle über ihrem Schlüsselbein.
»Ich liebe dich auch«, keuchte sie, »aber wenn du so weitermachst, werden uns die Kinder am Wochenende als armselige Skelette am Küchenboden finden.«
»Max darf noch gar nicht kommen«, erinnerte Ron und bückte sich nach den Broten, die sie einfach hatte fallen lassen.
Zehn Minuten später saßen sie an dem liebevoll gedeckten Tisch einander gegenüber. Julia hatte viel dazugelernt, sogar wie man Servietten kunstvoll faltete. Sie hatte das gute Porzellan und das Silberbesteck aufgelegt und ein paar Blütenblätter auf dem Tischtuch verteilt, der Kerzenleuchter unterstrich die festliche Atmosphäre. Ihre Mutter, auch das schoss ihr durch den Kopf, würde weißen Damast und echtes Silber zu Kohlrouladen allerdings als glatten Stilbruch werten. Sie würde niemals verstehen, dass gerade die Stolperstellen das Leben interessant machten. So wie damals in der Mensa ...
»Weißt du noch?« Sie hob ihr Glas und sah ihn an.
Er wusste sofort, was sie meinte. »Ich werde nichts von alldem vergessen. Niemals.« Wie er das sagte und sie dabei anschaute, hatte beinahe etwas Theatralisches.
»Außer du bekämst Alzheimer. Stell dir vor, meine Mutter behauptet ernsthaft, mein Vater sei an Alzheimer erkrankt, nur weil er ihr einen Hundeknochen statt ihrer Stola gebracht hat.« Julia redete sich alles von der Seele, das tat gut. Zwischendurch aß sie, ein paar Mal redete sie wohl auch mit vollem Mund weiter, und die sämige Tomatensoße stippte sie mit dem Brot auf, danach leckte sie sich die Finger ab.
»Jetzt bist du dran. Hat sich etwas Neues im Fall Rosenfeld ergeben? Warst du deshalb in Köln?«
»Ja«, sagte er, »das war wohl der Auslöser.« Nicht mehr, und Julia fragte auch nicht weiter nach, das war eine stillschweigende Vereinbarung zwischen ihnen. Trotzdem überlegte sie, ob er eine neue Spur verfolgte. Ron begnügte sich nicht damit, andere recherchieren zu lassen, er war für seine unorthodoxen Methoden bekannt. Manche fanden das unpassend, doch der Erfolg gab ihm in aller Regel Recht. Die Dreistigkeit dieses Kölner Unternehmers, der in jüngster Zeit auffällig oft seinen Wohnsitz verlagerte, ging ihm besonders unter die Haut. Ein Mann, der nach außen hin stets Wohlanständigkeit und Erfolg verkörpert hatte ...
»Magst du noch einen Nachtisch?«Julia wusste, dass Ron nicht viel an einem süßen Finale lag, deshalb hatte sie auch keinen Pudding oder derlei vorbereitet. Immerhin barg die Tiefkühltruhe genügend Eissorten, und sie hatten auch noch einen Rumtopf.
»Ich will nur noch ins Bett. Kommst du?«
Der Rest der Woche brachte wenig Spektakuläres. Es sei denn, man hielte die Mitteilung, dass Julias Vater eigenhändig vier Säcke Katzenfutter gekauft hatte, für besonders bemerkenswert. Diesmal hatte Barbara, die Zugehfrau, bei Julia angerufen. Am besten, Sie kommen selbst vorbei, hatte sie gemeint. Ihre Mutter ist völlig außer sich. Dann hatte sie aufgelegt, im Hintergrund war noch die Stimme von Angelika Lüderscheid zu hören. Nicht besonders laut, sie wurde niemals laut, wenn sie wütend war, aber dafür umso durchdringender. Deine Mutter hat eine Stimme, mit der man Granit schneiden kann, pflegte Carl Lüderscheid zu sagen und handelte sich dafür regelmäßig einen Blick ein, der mit jedem Laserstrahl mithalten konnte.
Julia hatte also ihre Arbeit ruhen lassen und war auf der Stelle losgefahren. Voller Sorge um ihren Vater, denn seitdem dieser in den Ruhestand übergewechselt war, spiegelten sich die Stimmungen von Julias Mutter in der Befindlichkeit des Vaters. Sie war selten zufrieden oder gar glücklich. Er aß zu viel oder zu wenig, bewegte sich falsch oder nie, fütterte die beiden Hunde heimlich oder ließ seine Tabletten verschwinden, selbst das verstärkte Zittern seiner Gliedmaßen bei Meinungsverschiedenheiten wurde ihm gern als Absicht ausgelegt.
Es war, als ob er auf seine alten Tage noch lernen sollte, wie es war, ständig in Anspannung zu sein. Früher in seiner Firma war es genau umgekehrt gegangen; soweit Julia sich erinnerte, war er ein ziemlicher Patriarch gewesen, das galt auch für seine seltenen Gastspiele daheim. In den letzten Jahren war er anders geworden. Altersweise, dachte Julia, nicht resigniert, das nicht, obwohl sie es verstanden hätte. Er war ihr näher gerückt. Die Vergangenheit verblasste immer mehr.
Eine knappe halbe Stunde später stand Julia vor dem Corpus Delicti. Vier schwere Säcke, von denen sie je ein zufriedenes Katzengesicht ansah, dahinter der Sessel mit dem ausklappbaren Fußteil, in dem ihr Vater lag und friedlich schlief.
»Wie geht es ihm?« Julia umrundete das Katzenfutter und trat neben ihren Vater, beugte sich über ihn, aber er rührte sich nicht. Nur ein Augenlid zuckte ab und an, die Füße zuckten auch, das war der Parkinson.
»Wie es halt jemandem geht, der ohne Massagen und all die anderen teuren Behandlungen keinen Schritt mehr tun, geschweige denn etwas tragen kann und sich dann plötzlich klammheimlich ins Auto setzt und in die Stadt fährt und mit diesem Zeug da zurückkommt. Die Hunde haben es unter der Terrasse hinter dem Kaminholz aufgespürt. Royal Canin. Die teuerste Marke. Ich verabscheue Katzen.«
»Vielleicht hat er das Katzenfutter mit dem Hundefutter verwechselt.«
»Mir hätte klar sein sollen, dass du ihn auch noch verteidigst.«
»Es ist doch weiter nichts passiert, Mutter. Nur ein dummer Irrtum. Wenn du willst, tausche ich das Futter um, und alles ist wieder in Ordnung.«
»Und das glaubst du wirklich?« Plötzlich standen Tränen in den Augen ihrer Mutter.
Julia konnte sich nicht erinnern, wann zuletzt sie ihre Mutter hatte weinen sehen. Ein beängstigender Anblick.
»Mutter, wenn da etwas ist, das ich wissen sollte ... wenn der Arzt etwas gesagt hat ... ich meine, wenn da noch mehr ist als die Sache mit dem Hundeknochen und der Stola oder jetzt mit dem Futter ...? Es gibt inzwischen sehr gute Diagnosemöglichkeiten bei einem Verdacht auf Alzheimer, und in der Therapie ist man ebenfalls nicht stehen geblieben, ich habe extra im Internet nachgeschaut ...«
Julia stockte. Ihre Mutter hatte ihr den Rücken zugedreht und ging hinaus. Ohne sonderliche Hast, die schwere Schleiflacktür glitt mit einem vornehmen leisen Klicklaut hinter ihr ins Schloss. Sie vergaß niemals, die Klinke bis zuletzt festzuhalten, das hatte sie auch, solange Julia zurückdenken konnte, von ihren Kindern erwartet, als diese in das Alter kamen, in dem man die Musik gern etwas lauter aufdreht und die klassischen Ruhezeiten vergisst. Meine Nerven! Die Nachbarn! Kein unnötiges Toben und Lärmen und vor allem keine Überraschungen, derlei vertrug Julias Mutter nicht, noch nie. So war sie. Sie würde sich niemals ändern. Ihr Verhalten tötete jeden Anflug von Mitgefühl bei Julia.
***
Der Fall Rosenfeld musste Ron noch mehr beschäftigen, als Julia angenommen hatte. Ron schaffte es in dieser Woche an keinem einzigen Abend, pünktlich heimzukommen, und in der kurzen Zeit, die er anwesend war, blieb er ausgesprochen wortkarg und zerstreut. Sie hätte gern ausführlich mit ihm über den jüngsten Zwischenfall bei ihren Eltern gesprochen, doch sie tat es nicht, weil sie sich sagte, dass er auch so genug im Kopf hatte. Was war fälschlich gekauftes Katzenfutter gegen Kindesmissbrauch. Denn darum ging es letztendlich bei diesem neuen Fall, so viel wusste sie immerhin schon.
Obwohl Ron den Kopf voll hatte, vergaß er jedoch nicht, jeden Morgen liebevoll das Frühstück für sie vorzubereiten. Er bestand auch weiter energisch darauf, dass sie etwas länger schlief. Du brauchst deine acht Stunden Schlaf, das weißt du doch. Wenn du ausgeschlafen bist, kann dich nichts umwerfen. Sie hatte scherzhaft erwidert, dass er bei dieser Einschätzung wohl die Brosche außer Acht ließ, die sie fristgerecht für die Frau seines Senatskollegen anfertigen sollte und die neben Rons später Heimkehr der Grund dafür war, dass sie abends so lange in ihrer Werkstatt blieb. Er hatte leise gelacht und sie in den Arm genommen. Du schaffst das schon!
Okay, sie hatte es geschafft. Endlich. Aber auch nur, weil sie am Donnerstag bis Mitternacht durchgearbeitet hatte. Sie war mit dem Gedanken eingeschlafen, dass auch Ron mehr Schlaf brauchte. Er trieb Raubbau mit seinen Kräften, das würde sie ihm gleich am nächsten Morgen sagen, dazu war sie fest entschlossen. Doch dazu kam es nicht. Diesmal machte ihre Tochter ihr einen Strich durch die Rechnung. Noch ehe Julias Wecker klingelte, stand plötzlich Lucie neben dem Bett. Sie sagte nichts, trotzdem spürte Julia, dass da jemand war und sie ansah. Kritisch, lauernd, völlig anders als Ron, wenn er sie gelegentlich vor dem Aufwachen betrachtete. Ron fand ihre Schlafstriemen und verstrubbelten Haare niedlich und mochte auch ihre Nachthemden, die zugegebenermaßen altmodisch, dafür aber mollig warm und in jedem Fall gemütlich waren.
Ausgesprochen vorsichtig und mit leisem Unbehagen öffnete Julia an diesem Freitagmorgen die Augen und sah direkt auf ein Paar endlos lange, schlanke Beine in Röhrenjeans.
»Lucie? Was machst du denn schon so früh hier?«
»Morgenstund hat Gold im Mund. Das sagt Oma Angelika auch immer. Wo hast du nur immer diese schrecklichen Nachthemden her?«
»Ehrlich gekauft.« Es wäre Julia lieber gewesen, unbeobachtet aus dem Bett steigen zu können. Andererseits sagte sie sich, dass so etwas absolut lächerlich war. Sie hatte keine Lust zu warten, bis Lucie sich nach draußen bequemte. War dieses Nachtkleid wirklich so grässlich? Sie schlug die Bettdecke zurück, hangelte mit den Zehen nach ihren Pantoffeln, die eigentlich Max gehörten, und stand auf. »Das sind die Pantoffeln von meinem Bruder, sie sind dir mindestens drei Nummern zu groß.«
»Das stört mich nicht.«
»Warum ziehst du nicht die Pantoletten an, die Oma dir geschenkt hat?«
»Weil ich morgens früh nicht gut auf so hohen Absätzchen laufen kann, deshalb. Ich knicke immer darin um.«
»Aber sie sind sexy.«
»Ich gehe jetzt unter die Dusche, okay? Und dann erzählst du mir beim Frühstück, warum du wirklich schon so früh gekommen bist.«
Beim Gang ins Bad fiel Julia ihr Training ein. Sie hatte sich fest vorgenommen, ab sofort jeden Morgen auf ihr Ergometer zu steigen, komme, was da wolle. Andererseits wollte sie wissen, was Lucie einen Tag früher als geplant heimkommen ließ. Versteckte sich hinter ihrer obercoolen Art möglicherweise so etwas wie Heimweh? In Berlin musste alles fremd für sie sein, und sie war noch nie zuvor ohne die Perspektive, spätestens in ein paar Wochen zurückzukehren, von zu Hause weg gewesen. Ihr Nörgeln besagte nicht viel, das war oft nur Fassade, so viel verstand auch Julia von Psychologie. Oder hatte Lucie nur keine saubere Wäsche mehr? Oder Probleme mit dem Bügeln? Oder war ihr das Geld ausgegangen? Oder, oder, oder, Julia beschloss, sich lieber zu beeilen, statt weiter herumzurätseln. Dafür verzichtete sie auch ausnahmsweise auf ihr Training.
Lucie saß an dem Platz, den Ron für Julia vorbereitet hatte. Sie hatte sich ihren üblichen Tee aufgebrüht und trank ihn nun aus Julias Kaffeetasse, obwohl sie lediglich den Schrank hätte öffnen müssen, um ans Teegeschirr zu kommen. Der schwarze Tee hinterließ Spuren, die auch die Spülmaschine nicht vollständig entfernte. Julia verkniff sich einen entsprechenden Hinweis, es kam ihr so vor, als ob Lucie es genau darauf anlegte. Sie nahm sich ein neues Gedeck aus dem Schrank und setzte sich auf den Stuhl, der noch warm von Rons Körper war.
»Er mästet dich«, sagte Lucie und zeigte auf den Brotkorb, in dem drei frische Brötchen lagen.
»Ein anderes Wort wäre verwöhnen«, schlug Julia vor und beschloss, sich nicht provozieren zu lassen. Sie entschied sich für ein Brötchen mit Sonnenblumenkernen, die sollten gut für die Nerven sein.
»Unterm Strich kommt dasselbe dabei raus, oder?« Lucies Tonfall ähnelte in diesem Moment dem ihrer Großmutter, wenn diese wütend war.
»Liebe«, bot Julia an und zog die Butterdose näher heran.
»Überflüssiges Fett«, korrigierte Lucie.
Sekundenlang verharrte Julias Messer über der goldgelben Masse, dann stach sie eine ordentliche Portion ab. Sie kaufte immer irische Butter, weil Ron und sie die am liebsten mochten. Die Kinder bevorzugten seit jeher Margarine, zumindest in diesem Punkt waren sie sich einig. Julia war fest entschlossen, gelassen zu bleiben. Betont langsam verteilte sie die Butter und gab eine Schicht Honig darüber. Erst als sie damit fertig war, sah sie Lucie an.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du extra einen Tag früher aus Berlin gekommen bist, um den Nährwert meines Frühstücks oder die Fürsorge deines Vaters zu kontrollieren. Also, wo liegt der Hund begraben?«
»Ich hoffe, nirgends. Ich möchte lediglich, wie es sich gehört, Peter meiner Großmutter vorstellen, sie ist schon sehr gespannt auf ihn. Und er kann nur heute, weil morgen seine Schwester ihre Matura feiert. Ich bin selbstverständlich mit eingeladen.«
»Ich denke, die Familie von deinem neuen Freund lebt in Wien.«
»Deshalb fliegen wir ja auch dorthin. Keine Sorge, Oma übernimmt mein Ticket, und wohnen werde ich selbstverständlich bei den Ortners.«
Julia biss in ihr Brötchen und kaute, das war das Beste, was sie tun konnte. Kauen, was das Zeug hielt, und dabei, wie es sich schickt, den Mund geschlossen halten. Auf diese Weise entfloh ihr auch kein einziges Wort, das sie hinterher vielleicht bedauern würde. Dabei gäbe es viel zu sagen. Beispielsweise, dass ihre Tochter und dieser Peter Ortner sich ihres Wissens erst knapp einen Monat kannten, sie hatten sich in Berlin kennen gelernt, wo dieser Peter an einer privaten Hochschule für angehende Manager studierte. Und dann könnte man auch fragen, weshalb Lucie – die doch neuerdings so viel Wert auf Etikette legte – ihren Freund nicht zuerst den eigenen Eltern vorstellte. Oder warum sie nicht wenigstens Bescheid gesagt hatte, dass sie ihre Pläne für dieses Wochenende geändert hatte ...
»Und was ist mit deiner Schmutzwäsche?« Julias Frage war ein Schuss ins Blaue. Der Schuss traf.
»Die habe ich dabei, das meiste hat Zeit bis Sonntagabend, wir müssen ja sowieso Peters Auto wieder abholen. Wir sind nämlich mit seinem Auto hergekommen, wir sind quasi die ganze Nacht durchgefahren. Horror! Peter hat jetzt einen Termin in Düsseldorf, deshalb bin ich auch so früh dran.«
»Und wer soll deine Wäsche waschen und bügeln, wenn du in Wien bist? Die Heinzelmännchen?«
»Das machst du doch immer, Mama. Außerdem habe ich dir auch etwas mitgebracht, sozusagen als Dankeschön. Du wirst Augen machen.«
Das stimmte. Julia wollte ihren Augen nicht trauen, als Lucie ihr die nagelneue Körperwaage überreichte. Was sollte das?
»Wir besitzen bereits eine Waage.«
»Ja, aber keine solche. Peter hat sie mir zum halben Preis besorgt, er hat Connections wie sonst was. Diese spezielle Waage misst exakt den Fettanteil.«
»Von der Butter?« Nichts als Galgenhumor und noch immer besser, als zu explodieren.
»Nein, natürlich von dir oder dem, der sich gerade draufstellt. Wenn du willst, zeige ich dir rasch noch, wie es geht. Du darfst eine Körperfettwaage immer nur barfuß benutzen, denk dran! Auch vermeintlich schlanke Menschen haben übrigens oft deutlich erhöhte Fettwerte, und eines Tages ...« Lucies Hände deuteten eine Explosion an, dabei lächelte sie. »Also ich will dir nur helfen ... ich liege übrigens bei elf bis zwölf Prozent. So, jetzt muss ich aber los, Peter ist immer extrem pünktlich, und er wollte mich um zehn aufpicken, Blumen für Oma müssen wir auch noch besorgen.«
Julia nickte. Sie blieb mit der Waage zurück. Schickes Design, fast nur Glas, die Digitalanzeige verlangte die Eingabe von Geschlecht, Körpergröße und Lebensalter, mit Plus- und Minustasten war das ein Kinderspiel, zum Abspeichern diente das Symbol einer Hand. Geschafft! Ein leiser Pfeifton ertönte. Julia entledigte sich der Pantoffeln und ebenso ihrer Strümpfe. Sekunden später wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Ihr Fettanteil betrug einunddreißig Prozent, das war beinahe das Dreifache von dem, was ihre Tochter auf die Waage brachte. Dabei trennte sie beide nur eine einzige Kleidergröße. Auch vermeintlich schlanke Menschen ... und eines Tages ... wider jede Vernunft rannte Julia zu dem großen Spiegel in der Diele. Sie sah aus wie immer, nichts spannte, noch nicht.
***
Auf der Visitenkarte stand »Dr. Leopold C. Beck«, das »C.« mit einem, wie Julia fand, affigen Schnörkel, aber möglicherweise war sie auch nur voreingenommen. Erst konnte dieser Mensch nicht schnell genug an die vermaledeite Brosche kommen, und dann ließ er sie stundenlang warten, dabei hatte er sich bis spätestens elf Uhr einfinden wollen. Unter der angegebenen Handy-Nummer wurde ihr lediglich auf Deutsch und Englisch mitgeteilt, dass der Teilnehmer dieses Anschlusses momentan leider nicht erreichbar sei. In seiner Privatwohnung konnte sie ihn kaum anrufen, ohne die geplante Überraschung zum Hochzeitstag zu gefährden. Und im Gericht meldete sich, wie erwartet, niemand mehr unter der Durchwahl zu Rons Senat.
Als Vorsitzender achtete Ron darauf, dass am Freitag möglichst nichts Wichtiges mehr anstand, meist feierte an diesem Tag auch die Sekretärin ihre zahlreichen Überstunden ab. Ron war zwar gewöhnlich noch im Büro, doch er reagierte grundsätzlich nicht auf das normale Telefon, sobald er in seine Akten vertieft war. Für Ron waren Telefone und überhaupt Unterbrechungen bei seiner Arbeit, die ja zum überwiegenden Teil aus der gründlichen Vorbereitung eines Falls bestand, die Pest.
Normalerweise hätte er sich wie die meisten seiner Kollegen genauso gut von zu Hause aus präparieren können und nur zu Terminen und Besprechungen mit den beiden anderen Richtern im Gericht erscheinen müssen, doch das scheiterte an einem geeigneten Arbeitszimmer in diesem Haus. Vor Jahren hatten sie überlegt, ob sie das zum Wohnraum hin offene Esszimmer abtrennen sollten, hatten sich dann aber dagegen entschieden, weil Ron hier niemals genug Ruhe gefunden hätte. Jetzt hingegen gab es neue Perspektiven, die beiden Kinder waren so gut wie flügge, und Lucie hatte ganz klar gesagt, dass ihr absolut gleichgültig war, was mit ihrem alten Zimmer passierte.
Keine zehn Pferde bekommen mich mehr aus Berlin weg, das flüstere ich euch. Außerdem gibt es ja auch noch Orna, sie hat Platz genug für mich in ihrem Riesenhaus, wenn ich übers Wochenende komme. Julia hatte nicht widersprochen. Sie war froh gewesen, dass ihre Tochter ausnahmsweise einmal nicht quer schoss, wie sie es sonst tat, und sei es aus Prinzip. Hoffentlich verplapperte Lucie sich nicht, bevor alles fertig war. Julia war fest entschlossen, noch an diesem Freitag damit zu beginnen, Lucies altes Zimmer unterm Dach in ein Arbeitszimmer für Ron umzuwandeln. Ihre Tochter würde deshalb noch lange nicht zu den Großeltern auswandern müssen, wenn sie heimkam. Im so gut wie nie genutzten Haushaltsraum war Platz genug für Lucies Schlafcouch und den Kleiderschrank, ihre sonstige Habe war sowieso längst mit nach Berlin umgesiedelt. Natürlich musste man alles etwas wohnlich herrichten, das nötige Zubehör hatte Julia bereits besorgt.
Es juckte sie in den Fingern, wenigstens schon einmal mit dem Ausmisten zu beginnen. Doch das ging nicht, solange dieser Dr. Leopold C. Beck nicht endlich seine Brosche abgeholt hatte. Oben unterm Dach hörte man die Klingel ebenso schlecht wie im Souterrain, außerdem wollte sie nicht verstaubt und durchgeschwitzt die Tür öffnen. Sie war zwar auf Sauberkeit im Haus bedacht, das bedeutete aber nicht, dass sie all den alten Krempel, der sich mittlerweile in dem zur Rumpelkammer mutierten Raum türmte, regelmäßig mitputzte. Wenn sie nur schon mal loslegen könnte. Dieses sinnlose Warten machte sie verrückt.
Aus lauter Frust aß Julia eins von den beiden Brötchen, die morgens übrig geblieben waren und mittlerweile wie Gummi schmeckten, weshalb sie den Belag verdoppelte. Hinterher verachtete sie sich erst recht, ihre Gedanken wanderten automatisch zu der Waage, die so harmlos aussah und einen via Fettanalyse fertig machte. Gegen zwei Uhr war Julia es endgültig leid. Zwar hatte Ron mit dieser Verspätung nichts direkt zu tun, andererseits war er es gewesen, der ihr diesen unzuverlässigen Kunden angeschleppt hatte. Deshalb musste er wohl oder übel in Kauf nehmen, dass sie ihn ausnahmsweise über Handy kontaktierte. Ron verabscheute Handys noch mehr als normale Telefone, deren Radius wenigstens regional begrenzt war. Er hatte sich auch nur überreden lassen, das alte Nokia von Max einschließlich Prepaid Card zu übernehmen, damit er für Familiennotrufe erreichbar war, beispielsweise wenn etwas mit den Kindern oder – was wesentlich wahrscheinlicher war – mit Julias Vater war. Die Nummer kannte nicht mal ein halbes Dutzend Leute. Julia entschied mit Blick auf das letzte Gummibrötchen im Brotkorb, dass dies ein Notfall war.
Ron meldete sich erst nach dem achten Klingeln. Seine Stimme war sehr leise und irgendwie weit weg. Bestimmt war er wieder einmal vollständig in einen Fall abgetaucht.
»Tut mir leid«, sagte sie gleich zur Einleitung, »aber ...«
»Schon gut. Ich rufe dich in fünf Minuten zurück.« Ron legte auf, gleichzeitig verstummten Hintergrundgeräusche, auf die sie sich keinen Reim machen konnte. Zu seinem Büro passten sie jedenfalls nicht. Perplex starrte Julia auf das Telefon in ihrer Hand. Immerhin hielt Ron Wort. Keine zwei Minuten später meldete er sich wieder, diesmal untermalt von Verkehrslärm.
»Was ist passiert?«
»Nichts. Das ist es ja. Ich sitze hier seit einer kleinen Ewigkeit und warte darauf, dass dein Leopold C. Beck endlich auftaucht und seine Brosche abholt, ich erreiche ihn auch nirgends, allmählich reicht es mir wirklich.«
»Das war mein Fehler.« Rons Stimme rückte näher, er sprach jetzt beinahe wieder normal, trotzdem verstand sie nicht, wie er das meinte.
»Wieso ist es dein Fehler, wenn dein Beisitzer unpünktlich ist? Bist du dafür jetzt auch schon verantwortlich?«
»Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass wir die Brosche heute Abend mitbringen sollen. Wir sind für acht Uhr bei den Becks eingeladen.«
»Zum Hochzeitstag? Wir kennen die Leute doch kaum, zumindest nicht privat.«
»Deshalb fand Leopold ja, es wäre eine gute Idee, unseren Senat einzuladen. Wir kennen uns praktisch alle noch kaum. Ich sehe zu, dass ich gegen sieben da bin, Blumen bringe ich mit, wenn du nur bitte die Brosche hübsch verpacken kannst. Sei nicht böse, bitte!« Julia sah auf ihre Armbanduhr, und als sie den Kopf hob, direkt in den Dielenspiegel. Ihre Haare waren womöglich noch störrischer und ihr Gesicht noch blasser als sonst, außerdem hatte sie keine Ahnung, was sie anziehen sollte. Ob noch andere Gäste kamen, solche, die nichts mit dem Oberlandesgericht zu tun hatten? Auf jeden Fall lernte sie heute dann ja auch die neue Frau in Rons Senat kennen. Sie hieß, so viel wusste Julia immerhin schon, Ramona und hatte einen kleinen Sohn, kam bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad ins Gericht und tauschte noch vor dem Gebäude ihre praktischen Freizeitschuhe gegen farblich exakt auf ihre Garderobe abgestimmte Pumps aus, obwohl man von ihrer Kleidung unter der Richterrobe sowieso nichts sah.
»Ramona muss mehr Stöckelschuhe als normale Menschen Unterhosen haben, aber sonst ist sie sehr patent, sie wird dir gefallen«, hatte Ron gesagt.
Julia entschied, dass diese erste Begegnung unter einem ausgesprochen ungünstigen Stern stand, wenn sie nicht umgehend etwas für ihren äußeren Menschen tat. Oder vielmehr tun ließ. Umräumaktion ade! Sie würde zum Friseur gehen, sich auch gleich eine Maniküre gönnen und zusehen, dass sie wenigstens noch eine hübsche Bluse und eine frische Tönungscreme – die alte Tube war völlig ausgetrocknet – ergatterte. Ein Paar neue Schuhe, die nicht ganz so langweilig wie das waren, was sie im Schrank stehen hatte, wäre auch nicht übel. Sie konnte wohl kaum die zierlichen Pantöffelchen anziehen, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte, nur weil die als einzige in ihrem Besitz befindliche Fußbekleidung halbwegs elegant aussahen und Absätze hatten, die diesen Namen verdienten.
Bei ihrem Stammfriseur war kein Termin mehr frei, Julia ging einen Block weiter, dort hatte ein neuer Salon aufgemacht. Alles war sehr schick. Sie ließ sich zu ein paar Foliensträhnen überreden, um ihr Aschblond zu beleben, wie der Friseur sich ausdrückte. Ein hübscher Kerl, der um sie herumtanzte und vorschlug, ihre Haare mit dem Messer in Form zu bringen, das wirkte flotter, außerdem würde er sie gerne schminken, ohne etwas extra dafür zu berechnen.
»Es wäre mir eine Ehre«, meinte er, »Sie haben ein sehr interessantes Gesicht. Da kribbelt es einem wie mir in den Fingerspitzen. Ich habe nämlich bis vor kurzem bei Viva in der Maske gearbeitet.«
»Ich habe sehr viel Gesicht«, korrigierte Julia und überlegte, ob Maskenbildner in einem Gesicht wie dem ihren womöglich eine besondere Herausforderung sahen. Ein paar Mal hatte sie sogar selbst versucht, Schminktipps aus einschlägigen Frauenzeitschriften umzusetzen und so Fläche wegzumogeln. Es hatte grässlich ausgesehen. Wie eine blasse Scheibe mit Zebra-Appeal.
»Darf ich?«
»Meinetwegen.« Ich kann's zu Hause ja immer noch wieder abwischen, dachte Julia und ließ sich gegen ihren Willen davon gefangen nehmen, wie dieser Friseur, während er noch mit den Foliensträhnen zugange war, über »ihre Farben« sprach und wie sie aussehen würde, wenn man nur ihre Pluspunkte etwas betonte.
»Ganz natürlich, niemand soll sehen, dass Sie überhaupt geschminkt sind, und dann sollten Sie auf jeden Fall viel Grün tragen, das betont Ihren hellen Teint und vor allem die Augen.«
»Aber ich habe blaue Augen«, widersprach Julia. »Wenn schon, so müsste ich dann ja wohl viel Blau tragen.«
»Blau ist viel zu kalt für Sie. Und zu langweilig. Ich sehe Sie förmlich in satten Grüntönen schwelgen und dazu etwas Rotes, das gilt übrigens auch für Ihre Lippen. Ein kräftiges Rot würde Ihnen phantastisch stehen.«
Doch so weit kam es nicht. Gerade waren die Alupäckchen abgezogen und die überschüssige Farbe abgespült; als Julias Handy loslegte. Sie bekam es angereicht, ihr Kopf lag nach hinten gelehnt halb überm Becken. Obwohl sie noch Wasser in den Ohren hatte, wusste sie auf der Stelle, wer sie anrief.
»Mutter, ich kann jetzt nicht, es ist unmöglich, ich bin beim Friseur.«
»Wenn dir deine Frisur wichtiger ist ...«, es gluckerte im Abfluss, »... er ist hinüber ... nicht mehr zu retten ... ich habe es kommen sehen.«
»Er? Welcher er?« Sie hatte bestimmt auch noch Reste vom Shampoo in den Ohren, dazu dieses Gluckern, sie drehte noch durch.
»Hörst du mir eigentlich nie zu? Immerhin bist du die nächste Blutsverwandte.«
»Mutter, redest du etwa von Vater? Hallo, bist du noch dran? So sag doch etwas!«Julia schoss hoch, es tropfte auf ihre Schultern und überallhin, die Panik schnürte ihr den Hals zu. Was war passiert? Die Verbindung war unterbrochen, und es meldete sich auch niemand, als Julia einen Rückruf versuchte. Nur der Anrufbeantworter sprang an.
Von Freitagmittag bis Sonntagmittag hatte Barbara frei, dann waren ihre Eltern auf sich gestellt. Das Essen für den Freitagabend wurde fix und fertig vorbereitet, und samstags gingen ihre Eltern, solange Julia zurückdenken konnte, ins Theater oder Opernhaus und hinterher in die Opernterrassen. Nicht mal das ging ohne Beschwerden im Nachhinein ab.
Er ist eingeschlafen, dein Vater ist in einer der exzellentesten Bearbeitungen der Zauberflöte eingeschlafen, er hat so laut geschnarcht, dass die Leute vor und hinter uns sich umgedreht und uns angestarrt haben, stell dir das vor! Das war noch gar nicht lange her. Julia hatte wie immer versucht, die Sache herunterzuspielen. Das neue Medikament, Mutter, ich habe gelesen, dass es sehr müde macht.
Und jetzt, was war jetzt? Sie konnte unmöglich ihren Mann meinen. Er ist hinüber, so redete man doch nicht von dem Menschen, mit dem man eine kleine Ewigkeit verheiratet war.
»Sie schon«, murmelte Julia und sprang auf. »Tut mir leid, ich muss gehen.«
»Aber Sie sind nicht mal richtig gewaschen, geschweige denn geschnitten und geföhnt, und schminken wollte ich Sie auch noch.«
»Ich muss trotzdem los. Was bin ich Ihnen schuldig?«
»Kommen Sie wieder, das reicht. Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«
Julia nickte. Der Mietwagen war binnen weniger Minuten da. Diese Zeit nutzte ihr Figaro, um ihr wenigstens notdürftig über die Haare zu föhnen. »Sie holen sich ja sonst den Tod.« Bei dem Wort Tod musste Julia automatisch wieder an »hinüber« denken, das Wort ließ sie nicht los, auch wenn sie sich auf der Fahrt zu ihrem Elternhaus damit zu beruhigen versuchte, dass bestimmt wieder mal ihre Phantasie mit ihr durchging. Nur, welcher blutsverwandte »Er« sollte sonst hinüber sein?
Die Antwort war lapidar, beschämend, provozierend, dreist, alles auf einmal. Lucie hatte vom Flughafen in Wien aus angerufen, es hatte ihren Koffer erwischt, das Transportband war defekt und mit dem beziehungsweise der nahen Blutsverwandten war Lucie gemeint. Und nun brauchte sie dringend Ersatz, um abends bei der Familienfeier ihres neuen Freundes bestehen zu können.
»Und deshalb jagst du mir einen Todesschreck ein? Was stellt Lucie sich eigentlich vor? Dass ich ihr als Kammerfrau hinterherfliege?«
»Du übertreibst schon wieder maßlos, Julia. Alles, was von dir erwartet wird, ist, dass du rasch Lucies cremefarbenen Hosenanzug und dazu ihre schwarze Samtkorsage heraussuchst und zum Flughafen bringst. Die Feier findet sehr stilvoll in einem Schloss statt, es gibt ein festliches Dinner, dann werden die Reifezeugnisse überreicht, und zuletzt wird auch noch getanzt. Wiener Walzer, bestimmt fängt man in Wien mit einem Wiener Walzer an, als junges Mädchen habe ich leidenschaftlich gern ...«
»Ich bin heute Abend mit Ron eingeladen«, fiel Julia ihrer Mutter ins Wort. »Ich sehe wie eine nasse Katze aus, umziehen muss ich mich zufällig auch noch, wie stellst du dir das vor?«
»Bei dir geht das doch immer sehr fix, außerdem ist es noch früh. Warte, ich gebe dir Geld, dann kannst du Lucies Garderobe von einem Taxifahrer zur Abendmaschine nach Wien bringen lassen, und vergiss die passenden Schuhe und die Handtasche nicht, die ich Lucie geschenkt habe.«
Was sollte sie tun? Schreien? Protestieren? Endlich einmal ihre ganze Wut herauslassen? Wut auf wen? Auf ihre Mutter oder eher auf ihre Tochter oder auf sich selbst? Und um sieben wollte Ron zu Hause sein. Wie sie ihn kannte, hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, was er anziehen wollte. Ein Großteil seiner Hemden lag noch im Bügelkorb, es hatte ja ein ganz ruhiges, gemütliches Wochenende werden sollen. Nur am Sonntag würden sie wie immer ihre Eltern besuchen, aber nicht mal dann trug Ron Schlips und Kragen, schon aus Protest nicht. Deine Mutter sagt doch immer, dass ich ein ungehobelter Klotz vom Land bin, und wenn sie es nicht laut sagt, denkt sie es. Ich darf sie schließlich nicht enttäuschen! Gewöhnlich zog Ron bei diesen Besuchen ein Polohemd oder ein Freizeithemd an, so konnte er wohl kaum zu einer Dinner-Einladung anlässlich des Hochzeitstags von Emilie Brodesser-Beck gehen. Allein dieser Name. Und was war mit ihr selbst? Mit ihren Haaren, ihrem Make-up, ihrer Garderobe?
***
Es war zwanzig vor acht, als Ron das Haus betrat. Julia hatte einen Fleck aus Lucies cremefarbener Hose entfernt und diese ebenso wie das raffinierte Oberteil noch einmal aufgebügelt und zuletzt ein Taxi bestellt, das sie natürlich von ihrem eigenen Geld bezahlte. Bei alldem fragte sie sich, warum sie das tat, statt sich endlich um ihr eigenes Aussehen zu kümmern. Sie hatte auch Rons dunklen Anzug, mit dem er nichts falsch machen konnte, herausgehängt, dazu ein klassisches weißes Hemd, das sie rasch noch von Hand gewaschen, ausnahmsweise in den Trockner gesteckt und schließlich ebenfalls gebügelt hatte. Zwischendurch hatte sie sich wenigstens ein paar Lockenwickler in die Haare gedreht, die sich wie Stroh anfühlten und auch so aussahen, sie war nicht mal mehr zum Duschen gekommen. Ein halbblinder Griff in den Kleiderschrank, dorthin, wo die Sachen hingen, die eher selten zum Einsatz kamen, beispielsweise wenn sie ihre Mutter anstelle des Vaters in die Oper begleitete oder das alljährliche Weihnachtsessen mit Rons Kollegen anstand.
Sie erwischte ihr dunkelblaues Kostüm, damit lag sie immer richtig. Erst als Ron endlich kam und sie musterte, fiel ihr wieder ein, was der Friseur vor ein paar Stunden zu ihr gesagt hatte. Kein Blau, Blau ist nicht Ihre Farbe. Irrte sie sich, oder las sie in Rons Augen etwas wie Enttäuschung? Er sah anders aus als sonst, das lag keineswegs nur an den neuen Schuhen. Dieses Hemd kannte sie ebenso wenig wie die Hose, alles Ton in Ton in einem leicht glänzenden Grauton; in den Stoff war ein heller Faden eingewebt, der den Korallenton der Krawatte wieder aufgriff.
»Wir können«, sagte er und küsste sie auf die Stirn. »Wenn du fertig bist, können wir sofort losfahren.«
»Du wolltest um sieben da sein.«
»Dafür bin ich schon fix und fertig umgezogen. Ich habe mir gedacht, es ist praktischer, wenn ich mir unterwegs etwas Passendes für heute Abend kaufe. Ich konnte sowieso mal wieder etwas Neues gebrauchen.« Seine Augen glitten über ihr Kostüm. Du auch, schienen sie sagen zu wollen, oder bildete sie sich das auch nur ein? War das überhaupt noch ihr alter Ron, der einkaufen gehen hasste und so lange in seinen Sachen herumlief, bis sie nicht mal mehr für den Basar an der Kirche taugten, weil sie völlig aus der Mode waren?
»Ja«, stimmte sie zu, sonst nichts. Ihre Gedanken glitten zurück, was war das für ein Geräusch gewesen, als sie Ron übers Handy kontaktierte? Eine Art metallisches Scheppern, unregelmäßig, wieso musste sie ausgerechnet jetzt daran denken?
»Hast du die Brosche?«